Rezension: Kein König außer dem Kaiser? (Stefan Felber)

Stefan Felber
Kein König außer dem Kaiser? –
Warum Kirche und Staat durch Zivilreligion ihr Wesen verfehlen

Freimund Verlag, 2. Aufl., 2021. Brosch., 244 Seiten |
ISBN 978-3946083603

Herausgeber des Buchs ist ein kleiner Verlag im mittelfränkischen Neuendettelsau, der vor allem Bücher und Kleinschriften lutherischer Prägung erscheinen lässt (Website).

Zum Autor. Pfr. Dr. Stefan Felber hat in Deutschland und Kanada evangelische Theologie studiert und 1997 mit einer Arbeit über das Christuszeugnis im Alten Testament promoviert. Er ist (bis Sommer 2020) Dozent für Altes Testament am Theologischen Seminars St. Chrischona (CH) und seit 2016 Gastdozent für Altes Testament an der Staatsunabhängigen Hochschule Basel. Seit Juni 2022 leitet er den Gemeindehilfsbund in Deutschland. Seine Website gibt detaillierter Auskunft über seine Veröffentlichungen und Vorträge.

Zum Inhalt. Stefan Felber belegt und diskutiert, warum und inwiefern sowohl die Gemeinde Gottes als auch der Staat (die „Obrigkeit“) ihr jeweils von Gott zugewiesenes Wesen – und mithin göttliches Mandat mit Auftrag und Autorität – gefährden oder gar verlieren, wenn sie ihre gottgegebenen Mandatsgrenzen überschreiten: In solcher Entartung und Perversion wird Kirche dann zur diesseitigen, politischen Veranstaltung und der Staat zur Ersatzreligion mit immer größerem Absolutheitsanspruch, zur sog. Zivilreligion. Die bittere Ironie ist greifbar: Ein Staat, der seine Legitimierung durch den einen wahren Gott leugnet und in einem falschem Verständnis der Trennung von Kirche und Staat Gott als ganz entbehrlich (oder gar schädlich) deklariert, macht sich unausweichlich selbst zu Gott, denn ein gottloses Vakuum bietet dem Menschen und seinem friedvollen Miteinander keine Überlebensatmosphäre. Unsere Freiheit und Menschenwürde ist nicht realisierbar getrennt von Dem, der uns diese Freiheit und Menschenwürde gegeben und anvertraut hat, damit wir sie leben, wahren und beschützen. Es ist alarmierend, wenn Vertreter des Staates davon sprechen, dass sie (zumal unbescholtenen) Bürgern deren (gottgegebenen und damit vor-politischen und unveräußerlichen) Grundrechte „wieder geben“ oder „einschränken/nehmen“ wollen.
Karl Baral, der Autor von Zivilreligion oder Christusnachfolge? (Nürnberg 2019) schreibt über dieses sachliche und gut fundierte Buch: »Manche Vorgänge sind hochwirksam, aber wenig bekannt und selten benannt. Dazu zählt auch „Zivilreligion“, wodurch Staat und Kirche vermischt werden. Dabei sieht eine breite Zeugenschaft aus Bibel, Luther, Barmen 1934 und die deutsche Verfassung eine klare Unterscheidung vor. Staat und Kirche sind unaustauschbar und unersetzlich, doch Zivilreligion verwischt die Grenzen mit fatalen Folgen. Es ist Felber sehr zu danken, wie er in diese Problematik einführt. Sein Weg zur Klärung verdient breite Beachtung!« [Fettdruck hinzugefügt].
Prof. Dr. Dr. Daniel von Wachter, Philosoph und Theologe, bringt den Inhalt so auf den Punkt: »Viele Staaten entfalten in unserer Zeit einen religiösen Charakter wie einen Gottesersatz oder Heilsbringer. Sogar Kirchen dienen sich solchen Staaten an. Stefan Felber hilft dem Leser, sich darüber im Lichte des Alten und des Neuen Testaments ein Urteil zu bilden. Hochaktuell!« [Fettdruck hinzugefügt].

Merk-Punkte aus der biblisch-theologischen Besinnung (Langzitat)

Stefan Felber liefert nach ausführlicher Analyse und biblischer Begründung eine Zusammenfassung seiner (Zwischen-) Ergebnisse in 16 Punkten, die m. E. wert sind, gelesen zu werden. Ich erlaube mir daher ein Langzitat, empfehle jedoch dem Interessierten unbedingt die Lektüre des gesamten Buches, da es neben der wertvollen Herleitung auch viele Referenzen und weiterführende Zitate bietet.

»1.    „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe“ (2. Mose 20,2): Gott offenbart sich, sein Recht und sein Heil nicht nur einzelnen Menschen, sondern gerade auch im Gegenüber zum Staat und zu Staaten. Er kann sein Volk preisgeben oder befreien und erretten aus der Hand aller Großmächte der biblischen Zeit: der Ägypter, Assyrer, Babyionier, Perser und Römer (von den kleineren Nachbarstaaten Israels abgesehen189). [Endnoten s. u.]

2.    Der Glaube, den das Volk Israel, geprägt durch seine Zeit in Ägypten, durch die Erfahrungen der Plagen, des Auszugs, geprägt vor allem durch die Sinai-Offenbarung und die Wüstenwanderung – bzw. in Gestalt des Pentateuch – mitbrachte, unterscheidet sich von der ägyptischen Religion markant: Israel war viel diesseitiger orientiert, pflegte keinen Totenkult, keinen Herrscherkult, kein weibliches Priestertum. Die völlig andere Gestalt der israelitischen gegenüber der ägyptischen Religion gegen alle religionswissenschaftliche Wahrscheinlichkeit ist ein starkes Indiz für das Eingreifen des redenden Gottes in einem Meer von stummen, aber politisch und religiös sehr einflußreichen Götzen. 

3.    Nach dem Neuen Testament sind die dem Bürger übergeordneten Mächte gottgegebene, aber vorläufige, ja im Argen liegende Gebilde (Eph 6,12; 1. Joh 5,19). Sie werden von Christen also weder prinzipiell negiert noch kritiklos hingenommen. Anders als die Zeloten zahlen Christen Steuern nicht zähneknirschend, sondern als Gottesdienst. Die Steuer dem Staat, das Leben Gott: Von Gleichrangigkeit beider kann keine Rede sein, ein staatlicher Totalitätsanspruch ist von vornherein abgewiesen.190 „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen!“ (Apg 4,19; 5,29) 

4.    Von Staatsbeamten muß nicht Förderung und Privilegierung des christlichen Glaubens erwartet werden. Religion ist nicht Aufgabe der Herrschenden! Auch ein heidnischer Staat besitzt ein relatives Wissen um Gut und Böse. Was das Gute und das Böse ist, ist dem Staat im Wesentlichen vorgegeben und nicht neu zu erfinden (Röm 13,3f., Konkretion durch die Gebote des Dekalogs: V. 8-10). 

5.    Damit können nur Recht und Gerechtigkeit die Legitimationsgrundlage des Staates bilden, nicht ein König, der angeblich das Heil bringt wie in Ägypten oder Rom, nicht das Volk (wie im konsenstheoretischen Ansatz, siehe das folgende Kapitel), kein Nationalismus und keine Geschichtsphilosophie (wie im Marxismus). Anerkennt der Staat diese Vorgegebenheit, dann kann er sein, was er im Wesen sein soll: Rechtsstaat (wie Augustin betonte) und darin Gottes Diener. Für das Recht, für das Gute und gegen das Böse ist ihm Macht (griech. exousia) von oben her gegeben (Joh 19,11; Röm 13,1), also nicht von unten her, sei es vom Volk oder in der besonderen Eignung einzelner Führer. Das Recht begrenzt den Staat nicht nur, sondern konstituiert ihn auch. Solange der Staat dies anerkennt, haben Christen in ihm jedenfalls für ihr Christsein nichts zu fürchten. 

6.    Er ist von oben her, aber sein Standort ist nicht oben, sondern unten. Die Mosebücher erwuchsen in Abgrenzung zur pharaonischen Selbstvergottung, das Neue Testament in Abgrenzung zum römischen Kaiserkult, um dessentwillen ungezählte Christen in den Tod gingen. Man denke auch an den kommunistischen Personen-und Parteikult! Diese Staatsüberhöhungen waren Versuche, den eigenen Standort ins überirdische zu erheben, und sie sind zugleich modellhaft für das Wirken der antichristlichen Tiere von Offb 13ff. 

7.    Ein guter Staat ist nicht Wohlfahrts-oder Sozialstaat, der eine gleichmäßigere Verteilung von Gütern, Bildung oder die Hebung der Gesundheit erzwingt (Nanny- oder Bevormundungsstaat, „Nudging“). Hier würde das Gewaltmonopol für alle möglichen, auch wechselnden Zwecke mißbraucht werden, die willkürlich von Obrigkeit oder Volk festgelegt werden. 
Die christliche Erwartung an den Staat wirkt im Vergleich zum antiken wie zum heutigen Gefüge höchst sparsam. Wie beim rechtstheoretischen Ansatz (s. 3.2.1) sieht Paulus das staatliche Gewaltmonopol begrenzt auf die Durchsetzung von Recht und Frieden. Der Kult gehört definitiv nicht zu den staatlichen Aufgaben.

8.    Christen werden ihrem Staat in kritischer Solidarität  zugewandt sein, d. h. ein Wächteramt wahrnehmen, wie er sich zu den göttlichen Ordnungen verhält. Es ist der Liebesdienst der Kirche am Staat, seinen Vertretern die göttliche Schöpfungs- und Erhaltungsordnung mit allem Ernst der Gebote zu sagen, sie über das Gesetz staunen (5. Mose 4) oder daran scheitern zu lassen (2. Kön 17; 24f.).

9.    Die Verhaltensweisen des Pilatus und des Judentums beim Prozeß Jesu offenbaren Abgründe des Menschseins: Abgründe, die der Religion wie dem Staat möglich werden, wenn ihre Vertreter die Verpflichtung zur Wahrheit – hier: die Unschuld des Angeklagten – unter die Verpflichtung zum sozialen Frieden stellen. Pilatus fürchtet Menschen mehr als er dem Recht Ehre gibt; so wird sein Staat zum Spielball wechselnder Interessen. Nicht mehr das Recht, sondern die Gunst regiert.

10.  Indem die jüdischen Führer sagen „Wir haben keinen König außer dem Kaiser“ (Joh 19,15), verabschieden sie sich von der Messias-und Erlösungshoffnung des Alten Testaments. Sie legen ihre Zukunft in die Hand eines heidnischen Staates. Jesu Tränen über sein Volk und die herannahende Zerstörung Jerusalems sind wohlbegründet. 

11.  Der Staat überschreitet seine Grenzen, wenn er religiös-ideologisch auf Glauben und Gewissen seiner Bürger zugreift (Staatsreligion, Zivilreligion), sein Gewaltmonopol zur Expansion der Landesgrenzen mißbraucht oder seine Zuständigkeit auf immer mehr Felder von Gesellschaft, Familie und erst recht bei Eingriffen in den Gottesdienst ausdehnt. Aus dem Rechtsstaat wird dann der Gewaltstaat. Seien wir wachsam! 

12.  Jesu Ankündigung, daß die Jünger vor Fürsten und Könige geschleppt werden „um meinetwillen, ihnen und den Völkern zum Zeugnis“ (Mt 10,18) besagt nicht, die Kirche werde immer vom Staat verfolgt werden, wohl aber, daß sie immer damit zu rechnen hat. Tut sie es? 

13.  Alle Mächte dieser Erde stehen unter dem Auferstandenen, der sie ihrer Macht entkleidet hat (Kol 2,15; vgl. 1. Kor 15). Das durch die Menschwerdung Jesu nahe gekommene Gottesreich stellt alle weltlichen Ordnungen unter einen „eschatologischen Vorbehalt“, ihre Legitimität bleibt vorläufig, ja auf göttlichem Prüfstand. 

14.  Der christliche Gehorsam gegenüber dem Staat ist also unbedingt hinsichtlich des vorfindlichen Staates als Institution, aber inhaltlich nicht unbegrenzt, sondern konkretisiert durch die Gebote (Röm 13,8-10), ferner zeitlich begrenzt durch den bald wiederkommenden Christus als Herrn aller Herren (V. 11-14). 

15.  In der Obrigkeit begegnen uns fehlbare und sterbliche Menschen, auf die Juden und Christen nicht vertrauen sollen.191 Politik ist ein menschliches, irdisches Geschäft, nicht ein religiöses. Beanspruchen Herrscher und Staaten die Stelle Gottes, z. B. indem sie das kirchliche Personal bestimmen, gottesdienstliches Leben inhaltlich füllen, reglementieren oder auch verhindern wollen, werden sie zu Dämonen, gewinnen antichristliehe Züge, und verfallen dem Gericht.192

16.  Röm 13 und Offb 13 bilden, wie Cullmann gezeigt hat, keinen Gegensatz. Unsere Deutung der Vorgegebenheit von Gut und Böse für den Staat bei Röm 13 bewährt sich bei Offb 13. Die christliche Haltung zur Obrigkeit wird gemäß beiden Kapiteln von „Geduld und Glaube“ (Offb 13,10) geprägt sein, von kritischer Vorsicht gegenüber einer Obrigkeit, die Gott dienen kann, aber einst gewaltig über ihre Grenzen hinauswachsen und so zum endzeitlichen Instrument antichristlicher Verführung und Verfolgung werden wird. Dem Staat der Gegenwart sollen Christen mit kritischer Solidarität begegnen, dem Verfolgerstaat der Endzeit mit der Bereitschaft zum Martyrium (Offb 12,11; vgl. unten Epilog). 

In der spätmodernen Theologie werden diese Ergebnisse der biblischen Besinnung vielfach unwirksam gemacht, weil man die eigene Zeit und Erkenntnislage als eine höhere Norm ansieht.193 Damit öffnen sich die Kirchentore und lassen die kalte Luft der zivilreligiösen Moden hereinströmen…«

Ein Trost und eine Aufgabe. Wer bzgl. der öffentlichen Verlautbarungen der Obrigkeit frustrierend wiederkehrend Psalm 5,10 erlebt hat, muss unbedingt auch die Verse 12–13 lesen. Der gottesfürchtige Bibelleser weiß: Die Rettung wird nicht von irgendeiner „Obrigkeit“ kommen, sondern „von Oben“! Der Ausgang des „Endspiels“ steht nämlich göttlich fixiert fest, siehe Psalm 2. Bis dahin gilt für alle Glaubenden der dringende Appell des Apostels Paulus: »Ich ermahne nun vor allen Dingen, dass Flehen, Gebete, Fürbitten, Danksagungen getan werden für alle Menschen, für Könige und alle, die in Hoheit sind, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und würdigem Ernst.« (1.Timotheus 2,1-2). Solche Glaubenden sind die besten Bürger, die sich eine Obrigkeit wünschen kann – und wünschen und beschützen sollte.


Endnoten

189  Vgl. Ps 136,10-24; die Geschichtspsalmen (bes. 78; 105; 106) und die weitgespannten und kritischen Blicke der Propheten über die Nachbarn Israels.
190  Cullmann aaO. 25f.
191  Ps 62,10; 118,8-9; 146,3; Jes 2,22; 30,2; 31 ,1; 36,6; Hes 29,7; Has 5,13; Hiab 12,21 ; 34,18.
192  Vgl. Dan 3+6; 2. Thess 2; Offb 13.
193  Über den Progressivismus ausführlich: Martin Erdmanns „Siegeszug des Fortschrittsglaubens“, vier Bände.