Machtmenschen in der Gemeinde

Dr. Volker und Martina Kessler haben recht gute Hilfestellungen für das Phänomen des Machtmenschen geliefert. Dieses Phänomen ist in fast allen Gruppen der Gesellschaft zu beobachten und wird entsprechend von der Soziologie erforscht. Besonders schädlich und widernatürlich ist es aber in Gruppen, die sich als christlich verstehen und darstellen (Gemeinden, Kirchen, Missionen, Bibelhauskreise u.ä.). Auch dieses wurde verschiedentlich beobachtet und erforscht, oft mit der Motivation, seelsorgerische Hilfen und Überlebenshilfen für Gemeinden und Einzelne zu bieten. Das Folgende ist eine gute Zusammenfassung des Problems und möglicher Lösungen aus der Hand des Autoren(ehe)paars Kessler.

»„Machtmenschen – Gibt es so etwas in der Gemeinde?“ Viele Gespräche und Reaktionen zu Vorträgen haben uns erschreckt, weil wir merkten, wie viele Christen unter Machtmenschen leiden. Bei aller Unterschiedlichkeit zeigen die Erfahrungsberichte auffallende Parallelen. 

Ankündigung von Machtmenschen 

Das Neue Testament kündigt Machtmenschen in der Gemeinde an. Jesus warnt in der Bergpredigt: „Hütet euch vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen! Inwendig sind sie aber reißende Wölfe. An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen…“ (Mt 7,15f). Ebenso mahnt Paulus die Ältesten von Ephesus zur Vorsicht: „Habt acht auf euch selbst und auf die ganze Herde … Ich weiß, dass nach meinem Abschied grausame Wölfe zu euch hereinkommen werden, die die Herde nicht verschonen.“ (Apg 20,28.29) 

Wir interpretieren diese Verse häufig in Bezug auf Irrlehrer. Aber die Gemeinde ist nicht nur durch Irrlehrer bedroht. Ein Machtmensch kann vordergründig die „richtige Lehre vertreten“ und dennoch die Gemeinde missbrauchen. Mit der Bezeichnung „Wölfe“ wird ein bekanntes Bild aus Hesekiel aufgegriffen. Gott spricht über die Führer von Juda: „Seine Obersten sind in seiner Mitte wie Wölfe, die Beute reißen, um Blut zu vergießen, Seelen zugrunde richten, damit sie unrechten Gewinn erlangen.“ (Hes 22,27) Die Obersten sind Hirten, „die sich selbst weiden“ (Hes 34,2). Wölfe, die sich als Hirten tarnen, benutzen die Herde für ihre Bedürfnisse, anstatt sich um die Bedürfnisse der Anvertrauten zu kümmern. 

Diotrephes – ein typischer Machtmensch 

Ein Machtmensch wird sogar beim Namen genannt: Diotrephes (3Joh 9.10) ist in mancherlei Hinsicht sehr typisch für Machtmenschen in Gemeinden. (Um der besseren Lesbarkeit wegen benutzen wir im folgenden immer die männliche Form. Aber es gibt auch Machtfrauen.) 

1. Wo Machtmenschen auftreten, entsteht eine gewisse Unruhe. 
Manche Geschwister sind beunruhigt, sie fühlen, dass etwas nicht in Ordnung ist, und merken, dass dies mit einer bestimmten Person zusammenhängt. Es werden Gespräche geführt, Briefe geschrieben. 

2. Der Machtmensch hat ein Ziel: herrschen, möglichst alleine. 
Wo er mitarbeitet, bestimmt er die Richtung, unabhängig davon, ob er diesen Kreis offiziell leitet. Er will Aufmerksamkeit um jeden Preis. Negative Aufmerksamkeit ist ihm lieber als gar keine. Wenn die Leute sich über ihn ärgern –wunderbar– so steht er doch alleine im Mittelpunkt! 

3. Der Machtmensch nimmt Kritik nicht wirklich an. 
Er lebt nach dem Motto: „Ich kann gar nicht verstehen, dass es vielen Christen so schwer fällt, sich zu entschuldigen. Wenn ich Fehler machte, würde ich mich sofort entschuldigen.“ 

4. Der Machtmensch profitiert vom kurzen Gedächtnis der anderen. 
Viele vergessen, was schon alles gelaufen ist. So kann sich der Machtmensch auch über gemeinsame Beschlüsse hinwegsetzen. Die anderen erinnern sich ja nicht mehr an diese Entscheidungen. 

5. Der Machtmensch fühlt sich durch kritisches Nachfragen bedroht. 
Menschen, die er als Bedrohung empfindet, verleumdet er. Dies kann öffentlich geschehen (typisch für Machtmänner), es kann aber auch in vielen kleinen Gesprächen passieren (typisch für Machtfrauen). Wenn sie mal hier, mal dort im persönlichen Gespräch ein Wort gegen eine Person sagt, werden diese Worte weitergetragen und zeigen Wirkung. Auf einmal hat die so verleumdete Person keine Vertrauensbasis mehr in der Gemeinde und wundert sich, dass das Klima gegen sie gekippt ist. 

6. Wenn ein Machtmensch befürchtet zu verlieren, wird er alles tun, um wieder Oberhand zu bekommen. 
Er wird zu immer stärkeren Mitteln greifen. Er wird gegebenenfalls auch lügen – obwohl er Gemeindeglied ist. 

7. Der Machtmensch bildet Allianzen. 
Er sammelt einen Freundeskreis um sich, der ihn unterstützt. Er polarisiert: Wer ist für mich, wer gegen mich? 

8. Wer ihm zu gefährlich ist, den stößt er aus der Gemeinde. 
Vordergründig schützt er damit die Gemeinde. Denn er hat jene mit dem „kritischen Geist“ aus der Gemeinde verbannt. Bei manchen Machtmenschen lässt sich über die Jahre hinweg eine Reihe von „Leichen“ verfolgen. Leute kommen neu zum Hauskreis / Gemeinde, sie arbeiten mit, nach zwei Jahren werden sie geistlich selbstständig und damit dem Machtmenschen zu gefährlich. Er mobbt sie hinaus und holt sich neue Leute. Der Kreislauf beginnt von neuem. 

Machtmenschen sind machtsüchtig 

Die meisten Menschen haben gelegentlich Machtgelüste. Wer sich dem kontinuierlich hingibt, kann machtsüchtig werden. Es ist ein Unterschied, ob man gelegentlich seine Kompetenzen überschreitet, gelegentlich seine Macht missbraucht oder ob man machtsüchtig ist. Genauso wie es ein Unterschied ist, ob man gelegentlich zu viel Alkohol trinkt oder ob man alkoholsüchtig ist. Damit wird der gelegentliche Missbrauch nicht schön geredet. Es ist jedoch wichtig, den Unterschied zu sehen. Mancher, der in Leitungsverantwortung steht, überschreitet im Eifer des Gefechts seine Kompetenzen. Ich (Volker) habe Entscheidungen getroffen, von denen mir nachher bewusst wurde, dass ich sie mit anderen hätte absprechen müssen. Wurde ich daraufhin angesprochen, so tat mir dies leid und ich zügelte mich das nächste Mal. Persönlichkeit macht die Art und Weise aus, wie jemand die Dinge gewöhnlich sieht, wie er normalerweise zu anderen Menschen steht und mit ihnen umgeht. Es ist die Kontinuität der Sünde, die die Persönlichkeit krank macht. 

Dominanter Typ ist nicht gleich Machtmensch 

Häufig werden dominante Menschen mit Machtmenschen gleichgesetzt. Diese Gleichsetzung ist in beide Richtungen falsch. Denn es können auch andere Persönlichkeitstypen zum Machtmenschen werden. Da ist z.B. der Gewissenhafte, der aus Angst davor, dass etwas falsch läuft, die Kontrolle über alles haben will und überall eingreift. Es kann sein, dass der Machtmensch in der Öffentlichkeit kaum auffällt, aber dennoch die Gemeinde völlig bestimmt. Außerdem ist nicht jeder, der dominant auftritt, ein Machtmensch. Kriterien zur Unterscheidung sind: Wie steht die Person zu gemachten Fehlern? Gibt sie gelegentlich auch Verantwortungsbereiche ganz ab oder vergrößert sie immer nur ihren Einflußbereich? Ist es möglich Dinge zu klären und auszuräumen oder verstärkt sich der Druck auf den, der Probleme anspricht? 

Literatur zu Kennzeichen von Machtmenschen 

In seinem Buch Wölfe im Schafspelz – Machtmenschen in der Gemeinde (Brendow-Verlag [Titel korrigiert zur Fassung 2013; vorher (1997): Wölfe in Schafspelzen…]) fasst der Norweger Edin Løvås seine Erfahrungen „Nach vierzig Jahren seelsorgerlicher Arbeit bin ich entsetzt darüber, welches Ausmaß von Leiden durch Machtmenschen einzelnen Christinnen und Christen und christlichen Gruppen und Gemeinden zugefügt wird.“ Er beobachtet, dass Machtmenschen häufig charmant und intelligent sind und sehr geistlich wirken. Außerdem sind sie erfolgreich, das Werk oder die Gemeinde wächst. So fällt es schwer, sie zu enttarnen. 

„Das Schuldgefühl anderer ist die Lieblingswaffe von Machtmenschen.“ Sie missbrauchen das feine Gewissen der anderen. Sie sind scharfe Beobachter und äußern selten unhaltbare Beschuldigungen. Wenn sie jemandem sagen: „Das hast du falsch gemacht!“, dann zuckt derjenige innerlich zusammen. Er weiß ja, dass nicht alles richtig war. Wer ständig diesen Anklagen ausgesetzt ist, wird dünnhäutig. Es entsteht folgende paradoxe Situation: Einerseits lehnt das Opfer den Machtmenschen ab, andererseits guckt es ihm nach den Augen, um nicht wieder Kritik zu ernten. Mit der Schuldwaffe untergräbt der Machtmensch das Selbstwertgefühl des anderen. Irgendwann ist der andere völlig verunsichert und weiß nicht mehr, was und wie er etwas tun soll. Hilflos wendet er sich an den Machtmenschen. Dieser tröstet ihn: „Vertraue mir, mach es so, wie ich es dir sage, dann machst du es richtig.“ 

Hilfreich sind die Beobachtungen des Amerikaners George K. Simon in dem (säkularen) Buch Wölfe im Schafspelz (mvg-Verlag). Machtmenschen sind häufig versteckt-aggressiv, d.h. sie erreichen ihr Ziel durch geschickte Manipulation statt durch offene Aggression. „Wenn sich Opfer versteckt-aggressiver Menschen zum ersten Mal an einen Therapeuten wenden, wissen sie meistens nicht, warum sie sich schlecht fühlen. Sie wissen nur, dass sie verwirrt, verängstigt oder deprimiert sind. Allmählich erkennen sie jedoch, dass es der Umgang mit einer bestimmten Person in ihrem Leben ist, der ihnen das Gefühl gibt, nicht normal zu sein. Sie vertrauen diesem Menschen nicht, wissen aber nicht warum. Sie ärgern sich über diesen Menschen, aber aus irgendeinem Grund, fühlen sie sich selbst schuldig.“ Dieses Phänomen hören wir häufig von Opfern von Machtmenschen. Bei den meisten gab es in der Auseinandersetzung einen Punkt, an dem sie das Gefühl hatten: „Ich bin nicht normal!“ Dies erzählen gestandene Leiter mit Personalverantwortung! Man führt Gespräche, will Dinge klären, meint auch zunächst, sie geklärt zu haben, aber irgendwie wird alles nur noch schlimmer. Das verwirrt. 

Die Verantwortung der „Mitspieler“ 

Der Gemeinde zu Korinth zeigt Paulus auf, wie sie sich durch die „übergroßen Apostel“ lähmen lässt: „Denn ihr ertragt es, wenn jemand euch knechtet, wenn jemand euch aufzehrt, wenn jemand euch einfängt, wenn jemand sich überhebt, wenn jemand euch ins Gesicht schlägt.“ (2Kor 11,20). Erstaunlich: Christen ließen (und lassen) sich freiwillig knechten. Paulus verdeutlicht der Gemeinde ihre Mitverantwortung, denn sie lassen es zu, dass sie jemand ausbeutet! 

Machtmenschen haben nur deshalb eine Chance, weil die anderen so prima mitspielen. Jeder ärgert sich über den Dauerredner, der beim Grußwort in einer Festversammlung 25 Minuten statt der vorgegebenen fünf Minuten redet. Aber keiner bremst ihn! Ein Dauerredner kann nur deshalb die Gelegenheit missbrauchen, weil die anderen ihn reden lassen. 
Auch christliche Gemeinden bieten Machtmenschen ein gutes Umfeld, ihre Machtgelüste auszuleben. Erstens haben geistliche Leiter Macht über andere. Deshalb kann diese Macht auch missbraucht werden. Zweitens hegen manche Christen eine falsche Illusion: „Das gibt es in der Welt, aber nicht bei uns in der Gemeinde.“ Drittens darf es gemäß dem eigenen hohen moralischen Standard so etwas in der Gemeinde nicht geben. Was nicht existieren darf, wird dann auch nicht wahrgenommen. Viertens spielt die Demutshaltung der Christen dem Machtmenschen in die Hände. Wir sind –zu Recht– mit harten Urteilen über andere zurückhaltend. Wir haben gelernt, dass die anderen nicht wirklich die bösen Absichten haben, die uns unser Gefühl nahelegen will. Hier wäre es gut, seine Gefühle wahrzunehmen. Fünftens gibt es ein übertriebenes Harmoniebedürfnis unter Christen. Interne Probleme anzusprechen ist in unseren Gemeinden nicht beliebt. Wer auf ein mögliches Problem hinweist, steht als Nörgler und Kritiker da und muss sich anhören: „Du bist das Problem!“ Sechstens sind – gerade in „Brüder„-Gemeinden – die Leitungsstrukturen häufig unklar. Wenn nicht geklärt wird, wer was entscheiden darf, setzt sich immer der mit den stärksten Ellenbogen durch. Siebtens können sich Machtmenschen in christlichen Leitungspositionen auf die göttliche Autorität als Leiter berufen. Wer sie in Frage stellt, stellt scheinbar damit Gott in Frage. 

Typische Opfer von Machtmenschen 

Nicht jeder wird Opfer eines Machtmenschen. Es kann passieren, dass Person A jemanden als Machtmensch erlebt, während Person B völlig erstaunt darüber ist, dass A solche Anschuldigungen über diesen dritten erhebt. Wer keine Bedrohung für den Machtmenschen darstellt, wird häufig liebevoll umworben. 

Ob man Opfer wird, hängt auch von der eigenen Persönlichkeit ab. Manche Frauen leiden darunter, dass ihr Mann trinkt und sie schlägt. Nachdem sie es endlich geschafft haben, sich von diesem Mann zu lösen, wählen sie sich einen neuen Partner, der trinkt und sie schlägt. Genauso geraten manche immer wieder an Machtmenschen. Wer einmal Opfer war, tut gut daran, zu reflektieren, warum gerade er Opfer wurde. Folgende Persönlichkeitstypen sind besonders gefährdet: 

Menschen mit frühkindlich eintrainierter Ohnmacht haben sich einen Lebensstil angeeignet, der ausgezeichnet zur „beherrschenden“ Seite des Machtmenschen passt. Er ist gekennzeichnet von Unterordnung, Harmoniesucht, Gefühl der eigenen Schuldhaftigkeit und Minderwertigkeit. Warnsignale der eigenen Seele und manchmal auch des Körpers werden übergangen und zu Schuldgefühlen gegenüber dem Machtmenschen umfunktioniert. 

Ein gewissenhafter Mensch strebt danach, immer alles richtig zu machen. Ein Machtmensch kann ihn zu Wachs in seinen Händen machen, wenn es ihm gelingt, ein Gefühl von „nicht genug“ zu vermitteln. Er sei nicht sorgfältig genug, nicht aufmerksam genug, nicht geistlich genug etc. Gewissenhafte Menschen gehen gewissenhaft mit anderen Menschen um und erwarten dies auch von anderen. Sie setzen sich für Personen ein, denen Unrecht geschieht. Damit sind sie eine Gefahr für einen Machtmenschen, der es nur gut mit sich meint. 

Beziehungsorientierte Menschen sind bereit, viel in eine Beziehung zu investieren. Manche opfern sich selbst für eine Beziehung. Ferner können sie vom Machtmenschen als Schutzschild missbraucht werden. Sie verteidigen ihn bei Angriffen und werden so selbst missbraucht. 

Tipps für den Umgang mit Machtmenschen 

1. Beten und handeln Sie! Als David sich gegenüber seinem eigenen Sohn wehren musste, betete er darum, dass dieser die falsche Entscheidung träfe (2.Sam.15,31). Gott erhörte dieses Gebet (2Sam 17,14). 

2. Schätzen Sie den Charakter des anderen realistisch ein. Achten Sie mehr auf die Ergebnisse (seine „Früchte“ Mt 7,16) als auf seine Worte. Die Aussage „Ich habe es doch nur gut gemeint!“ zeigt Dominanz pur (er bestimmt was gut für Sie ist) und sollte Sie nicht beeindrucken. 

3. Machen Sie sich ihre eigene Achillesferse bewußt. Wo sind Sie verletzlich, wo angreifbar? Wieso geraten Sie gerade in solche Situationen? 

4. Beachten Sie die drei Phasen der Gesprächsführung gemäß Mt 18,15–17: erst alleine, dann mit einer dritten Person, dann öffentlich in der Gemeinde. Versuchen Sie dabei Vereinbarungen zu treffen, die angemessen, klar definiert, durchsetzbar, bis zu einem gesetzten Datum zu erledigen und überprüfbar sind. Eine solche Vereinbarung wäre z.B., dass derjenige bis zum Soundsovielten eines seiner sechs Leitungsämter in der Gemeinde niederlegt. 

5. Machen Sie die Taktiken von Machtmenschen transparent, so wie Johannes die Taten des Diotrephes in Erinnerung brachte und offenlegte (3Joh 10). Machen Sie die anderen in der Besprechung darauf aufmerksam, wenn Beschlüsse nicht eingehalten werden, der andere vom Thema ablenkt usw. Tun Sie dies an Ort und Stelle, damit die anderen merken, wovon Sie reden. 

6. Seien Sie auf die Konsequenzen gefasst! Es kann passieren, dass Sie verleumdet werden, dass Ihre Familie in Mitleidenschaft gezogen wird, dass Sie aus der Gemeinde ausgeschlossen werden (3Joh 10).

7. Vermeiden Sie aussichtslose Kämpfe. Manchmal ist Flucht die einzige Rettung (Mt 2,13; Apg 9,25; 17,10)! 

Gibt es Hoffnung für Machtmenschen? 

Løvås ist in seinem Buch sehr pessimistisch. Wir sind froh, dass wir inzwischen Zeugnisse von Menschen kennen, die sich als Machtmenschen erkannten und dann an sich arbeiteten. Eigenes Verhalten, welches sie früher als normal ansahen, erkennen sie jetzt als Sünde. Eine Frau hatte erfolgreich einen anderen Mitarbeiter aus der Gemeinde gemobbt und ihm Jahre später diese Schuld bekannt. Ein Gemeindeleiter, der früher seine Gemeinde beherrschte, kann ihr jetzt ein dienender Leiter sein. Gott kann Wunder tun! Hoffnung gibt es aber nur dann, wenn Machtmenschen erkennen, dass es nicht nur eine einzelne Situation ist, bei der sie sich ungeschickt verhalten haben, sondern dass ihr ganzes Streben auf falsche Ziele ausgerichtet ist. Ein Alkoholsüchtiger hat nur dann eine Chance auf Umkehr, wenn ihm seine Sucht deutlich wird und er nicht mehr versucht, sein „Bierchen“ zu verniedlichen. Langjährig antrainerte Verhaltensweisen abzulegen erfordert Zeit.

Nachwort

Es gibt zwei gegensätzliche Gefahren. Die erste ist, das Phänomen „Machtmenschen in der Gemeinde“ nicht wahrhaben zu wollen. Damit verharmlost man krankhafte Situationen. Die zweite Gefahr ist, dass z.B. ausgelöst durch Artikel wie diesen Hetzjagden entstehen. Leute überlegen, wer in ihrer Gemeinde wohl Machtmensch ist und fangen an, anderen Geschwistern dieses Etikett anzuheften. Das ist nicht in unserem Sinne. 

Wir ermutigen diejenigen, die in der Gemeinde Machtmissbrauch zu erkennen meinen, dies offen und gegebenenfalls auch öffentlich anzusprechen. Es ist einfacher mit Gefühlen und Eindrücken umzugehen, die „auf dem Tisch liegen“, als mit verdeckten Empfindungen. Die Gefühle beeinflussen sowieso unser Denken und unser Handeln. Wo Gefühle nicht gesagt werden (dürfen), werden Scheinargumente benutzt. Scheinargumente führen zu Scheingefechten, die Zeit und Kraft kosten, die Ursache des Konfliktes aber nicht beheben. Eine offene Subjektivität ist besser als eine Scheinobjektivität. Gefühle auszusprechen erfordert Disziplin. Damit dies in guter Weise geschehen kann, ist es manchmal hilfreich, einen externen, unbeteiligten Moderator einzubeziehen, der auf die Einhaltung gewisser Gesprächsregeln achtet. 

Einen Machtmenschen mit der geballten Macht einer Gemeinde fertigzumachen ist lieblos. Ganze Heiligung geschieht dort, wo Gemeinde und Machtmensch heil werden. Finden Machtmenschen ihren gesunden Weg vor Gott, sind sie ebenso wertvolle Mitarbeiter im Reich Gottes wie andere auch.«

Textquelle und Referenzen

Textvorlage im Web-Archiv: https://web.archive.org/web/20141224051143/http://www.irrglaube-und-wahrheit.ch/sutra5913.html (Administrator-Beitrag auf www.irrglaube-und-wahrheit.ch vom 11.03.2007)

Edin Løvås, Wölfe im Schafspelz. Machtmenschen in der Gemeinde. 5. Auflage (Moers: Brendow & Sohn, 2010), 96 Seiten, ISBN 978-3870678821. Kindle-Version seit 2013 erhältlich. Vorher: Wölfe in Schafspelzen: Machtmenschen in der Gemeinde (Edition C – M), übersetzt von Andreas Ebert (Brendow, 1997), 80 Seiten, ISBN 978-3870673925.

Martina und Volker Kessler, Die Machtfalle: Machtmenschen – wie man ihnen begegnet. 5. vollständig. überarb. Auflage (Gießen: Brunnen, 2017), 144 Seiten, ISBN  978-3765543241.

George K. Simon, Wölfe im Schafspelz. Wie Sie mit üblen Typen souverän umgehen. (MVG, 1998) 158 Seiten, ISBN 978-3478086035. Orig.: In Sheep’s Clothing. Understanding and Dealing with Manipulative People (Little Rock, AK: Parkhurst Brothers, 2010).

Fritz Weber, Gibt es ein „Recht auf Verletztsein“? Teil 1 in Bibel und Gemeinde 118, Band 1 (2018), Seiten 49–56; Teil 2 in Bibel und Gemeinde 118, Band 2 (2018), Seiten 57–70. »Empfindlichkeit ist auch unter Christen weit verbreitet. Und wem Böses angetan wurde, der nimmt sich oft für lange Zeit das Recht auf Verletzt- und Beleidigtsein.« (Fritz Weber). Ein ausgewogener Artikel über Kritik an Leitungspersonen. Er betrachtet sowohl aktive wie passive Kritikfähigkeit anhand biblischer Beispiele.

(Mit Vorbehalt:) Paul und Liz Griffin, Missbrauch hat viele Gesichter. Opfer finden Hoffnung und Heilung. (cap, 2008), 140 Seiten, ISBN 978-3867730648.

David Johnson und Jeff VanVonderen, Die zerstörende Kraft des geistlichen Missbrauchs. 1 Auflage (Hünfeld: CMD, 2016), 336 Seiten, ISBN 978-3945973004. (Orig.: The Subtle Power of Spiritual Abuse. Minneapolis, MN: Bethany House Publ., 1991.)

(Mit Vorbehalt:) Inge Tempelmann, Geistlicher Missbrauch. Auswege aus frommer Gewalt. Ein Handbuch für Betroffene und Berater. (Wuppertal: SCM R. Brockhaus, 2015), 358 Seiten, ISBN 978-3417262001 (auch als Kindle erhältlich). 

Titelbild: © Drittewahl (Frank, fotocommunity.de) [evtl. nicht verwendet].

Totgesagte leben länger | Ein Blick in das Gruselkabinett der Häretiker

Warum sollte man sich anstelle einer ausführlichen Beschäftigung mit den guten und richtigen Lehren der Heiligen Schrift über das Heil und den Heiland (Soteriologie) überhaupt mit der dunklen Seite der Irrlehren beschäftigen? Warum sollte man zumindest die größten Irrlehren bzgl. des Heils kennen?

Als Hirte und Lehrer in der Gemeinde Jesu Christi fallen mir dazu spontan zwei Argumente ein: (1) Die Heilige Schrift, Jesus Christus und die Apostel machten dies ebenso. Ihr Vorbild und ihr Befehl verpflichten: „Stellt sie bloß!“ (Epheser 5,11). (2) Alle groben Irrlehren sind trotz ihrer Verdammung und Verurteilung durch die Kirche bis heute „lebendig“ und fordern ihre Opfer! Totgesagte leben länger, Untote geistern durch die Medien, die Kirchen und Gemeinden und begegnen uns als Wiedergänger in den Traktatverteilern unserer Fußgängerzonen.

Im Folgenden werden fünf herausragende Irrlehren bzgl. des Heils und Heilandes (Retters) Jesus Christus aufgeführt und kurz erläutert, die trotz Lehrverurteilungen durch kirchliche Konzilien nie ausgestorben sind. Abschließend wird das Wesentliche in einer Tabelle übersichtlich dargestellt und dabei auch „modernere“ Vertreter genannt. In grob historischer Reihenfolge handelt es sich um folgende fünf Gruppen: 

  1. Gesetzeslehrer (Legalisten)
  2. Gnostiker
  3. Arianer
  4. Pelagianer und
  5. Sozinianer.

Die Gesetzeslehrer – Legalismus (Gesetzlichkeit)

  • Die Frage, in welcher Beziehung das Heil in Christus und das Christentum zum Gesetz Moses steht, hat die Gemeinden des Christus schon immer vor ernste Probleme gestellt. Schon zur Zeit der Apostel, während sie noch ihre Beiträge zur Heiligen Schrift verfassten, bedrohten bereits verschiedene Formen der Gesetzlichkeit, wie sie von jüdischen Gesetzeslehrern praktiziert, gelehrt und gefordert wurden, die Lehre des Neuen Testaments über das Heil. Der Kampf der Apostel gegen die Gesetzlichkeit spiegelt sich in der Apostelgeschichte und mehreren Briefen (z.B. Römer, Kolosser, Galater usw.) wider. – Auch heute gibt es noch viele Erscheinungsformen gesetzlicher Heilslehre, die wir manchmal auch richtig als „Gesetzlichkeit“ bezeichnen. (Achtung: Die Forderung des Gehorsams gegenüber Christus und Seinem Wort darf nicht mit „Gesetzlichkeit“ bezeichnet werden, sie ist es nicht. Gläubige sind nicht ohne Gesetz, sondern Christus „gesetzmäßig unterworfen“, 1Kor 9,21; Christus hast seinen Nachfolgern Gebote hinterlassen!)
  • Der Standpunkt der Gesetzeslehrer war, dass Nichtjuden nach jüdischer Vorschrift beschnitten werden und alle (oder gewisse) zeremoniellen und zivilen Vorschriften des Gesetzes Moses halten mussten, wenn sie Christen werden und so das Heil in Christus empfangen wollten (deswegen wurden diese Lehrer auch „Judaisierer“ genannt). Diese Sicht lag einem orthodoxen, strengen Juden sehr nahe, war er doch von Kind auf erzogen, alle Nichtjuden als unheilig, unrein und moralisch verwerflich zu beurteilen.
  • Einen frühen Höhepunkt des Streits und die erste große Niederlage der Gesetzeslehrer finden wir in Apostelgeschichte 15 dokumentiert: „Die Apostel aber und die Ältesten versammelten sich, um diese Angelegenheit zu besehen.“ (V6). Es gab eine intensive Diskussion (V7). Dann stand Petrus auf und erinnerte daran, was bei der Bekehrung des Kornelius passiert war (V7–10), verurteilt die Lehre der Gesetzeslehrer und formuliert das Heil wie Paulus (V10–11): „Nun denn, was versuchet ihr Gott, ein Joch auf den Hals der Jünger zu legen, das weder unsere Väter noch wir zu tragen vermochten? Sondern wir glauben durch die Gnade des Herrn Jesus in derselben Weise errettet zu werden wie auch jene.“
  • Der entscheidende Punkt wird damit deutlich: Errettung kam und kommt allein durch die Gnade Gottes. Schon immer. Das stand und steht bei den Gesetzeslehrern auf dem Spiel. Diese erste große Kontroverse war also ein Streit um die Heilslehre (soteriologischer Streit). Es ging um das Evangelium im allgemeinen und um die Lehre der Rechtfertigung allein aus Glauben im speziellen, also um das Herzstück des Heils. Das ist der Grund, warum Paulus so ernst und kompromisslos gegen die Gesetzeslehrer predigte und schrieb. Wenn eine Person zuerst beschnitten werden musste oder sonst ein Werk tun musste, bevor sie Christ werden konnte, dann war dieser Ritus oder dieses „Gesetzeswerk“ eine Vorbedingung der Rechtfertigung und die Rechtfertigung war nicht mehr „allein aus Gnade“ und daher unmöglich!
  • Die Heilige Schrift lehrt, dass wir keinerlei religiöse Zeremonien oder Werke nach dem Gesetz Moses vollbringen müssen, um von Gott gerecht erklärt zu werden. Kein Werk kann uns vor Gott bzgl. des ewigen Heils einen Vorteil oder Verdienst verschaffen. Die Rechtfertigung wird jedem erklärt (zugerechnet, d.h. rechtskräftig übertragen, sog. „Imputation“), der des Glaubens an Jesus ist: „Dem aber, der nicht wirkt, sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet. … welchem Gott Gerechtigkeit ohne Werke zurechnet“(Römer 4,5–6).
  • Fazit: Gott rechnet seine Gerechtigkeit dem zu, der glaubt, dass Gott den Gottlosen (!) rechtfertigt, ohne dass dieser zuvor irgend ein „Werk“ geleistet hat. Diese Kerntatsache verleugneten und verdunkelten die verschiedenen Gesetzeslehrer. Die Apostel bekämpften diese Irrlehre daher mit aller geistlichen Kraft, die ihnen verliehen war. — Auch wir sollten jeder Verfälschung des Evangeliums entschieden entgegen treten, wenn sie für die Rechtfertigung irgendeine Vorbedingung der Form „Glaube an Jesus plus Tue Irgendetwas“ stellt, egal, was dieses Irgendetwas ist. (Beachte: Wir reden hier nicht von Nachfolge und Heiligung, die auf die Rechtfertigung folgen, sondern von Vorbedingungen der Rechtfertigung.)

In der Diskussion über den Zusammenhang zwischen AT und NT in der Heilslehre sollte man beachten:

  • Kontinuität und Diskontinuität. Im Heil Gottes im AT wie im NT beobachten wir „durchlaufende Linien“, aber auch völlige Brüche, Neuanfänge. Wir sehen den selben Gott, die gleiche, völlige Verderbtheit des Menschen (Römer 1–3) und die stets notwendige Gnade Gottes zur Rettung. Andererseits sehen wir unterschiedliche Heilsangebote, Verantwortungen und Selbstoffenbarungen Gottes als Heiland (vgl. „Heilsgeschichte“).
  • Immer Gnade und immer Gesetz. Noch nie gab es effektiv Heil ohne Gnade, sondern stets nur auf Basis göttlicher Gnade. Das Angebot des Lebens im Gesetz Moses erwies sich als Fluch, da unerfüllbar, daher wurde es beendet (Römer 8,2; 10,4; Galater 2,19). Andererseits: Auch in der „Gnaden­zeit“ heute sind wir „nicht ohne Gesetz vor Gott, sondern Christus gesetzmäßig unterworfen“ (1Korinther 9,21 ELB; vgl. Römer 8,2; Galater 6,2)! Aber heute ist das Gesetz Gottes durch Gottes schöpferisches und gnädiges Heilshandeln in der Wiedergeburt auf die Tafeln unserer neuen, lebendig gemachten Herzen geschrieben (vgl. 2Korinther 3,3; Hesekiel 11,19; Jeremia 31,33 mit Hebräer 8,10; 10,16); vgl. den Psalmisten vorbildlich auf Jesus Christus redend: „dein Gesetz ist im Innern meines Herzens“ (Psalm 40,8). Das neue Leben will von Herzen Gottes Willen tun! Der Geist Gottes bewirkt es im Neugeborenen.
  • Die Bündnisse erklären, ob und wie Gott sein Heil gibt. Nur der „Neue Bund“ gibt effektiv Heil. Warum? Weil bei ihm das Blut Jesu die Grundlage der Sündenvergebung (usw.) ist und der Bund einseitig auf Leistungen und Versprechen Gottes beruht, nicht auf vorlaufendem Gehorsam oder Werken des Menschen (vgl. Hebräer 8,10; 10,16), sondern vielmehr auf reiner Gnade. An Christus Gläubige sind „Abrahams Same und nach Verheißung Erben“ (Galater 3,29).

Die Gnostiker – Verleugnung der Menschheit Jesu

  • Der Gnostizismus stellt das den Gesetzeslehrern entgegen gesetzte Ende des Spektrums der Irrlehren dar. Die Gesetzlichkeit der Gesetzeslehrer entstand aus einer Vermischung von pharisäischem Judentum mit dem Christentum. Der Gnostizismus ist eine Mischung heidnischer Philosophie mit dem Christentum. Die Judaisierer klammerten sich töricht an die/ihre Vergangenheit; die Gnostiker brachen radikal mit der Vergangenheit. So sind die Lehren der Gnostiker in verschiedener Hinsicht das genaue Gegenteil der Irrlehren der Gesetzeslehrer. Wie so oft schwang die Kirche Jesu von einem Extrem ins andere. Leider ist das Gegenteil eines Irrtums nicht automatisch die Wahrheit (C.S. Lewis). Als die falschen Lehren der Gesetzeslehrer Widerstand erfuhren, kehrte Satan das Pendel einfach um und schob es in die entgegengesetzte Richtung an. Das Ergebnis war Gnostizismus.
  • Der antike Gnostizismus ist schwer zu definieren, hierin gleicht er modernen Häresien. Er offenbart sich als komplexe Erscheinung. Zentraler Gedanke ist, dass die göttliche Weisheit in einem Geheimnis verborgen sei (Esoterik), welches nur den erleuchteten (eingeweihten) Nachfolgern geoffenbart würde. Diese Idee gab dem Gnostizismus den Namen: das griech. Wort gnosis bedeutet „Kenntnis“. Der Gnostiker glaubt, dass der Schlüssel zur Rettung in einem verborgenen Wissen liegt, das jenseits der in der Heiligen Schrift geoffenbarten Wahrheit liegt (hier wird der Begiff Esoterik relevant). Gnostizismus lehrt daher, dass „Rettung“ darin besteht, dieses geheime Wissen zu besitzen. Dies ist die zentrale Idee aller Formen des Gnostizismus’. – Die Sekte Christian Science (Christliche Wissenschaft) lehrt z.B. als „Erlösung“, dass man nur wissen müsse (dies ist das „Geheimwissen“ der Sekte), dass es so etwas wie Sünde gar nicht gebe; damit gebe es auch kein Schuldproblem und keine Erlösungsbedürftigkeit, kein Bedürfnis nach Gott, Retter und Gnade. Dass dies weder christlich noch wissenschaftlich ist, sollte jedem auffallen.
  • Die „christlichen“ Spielarten des Gnostizismus blühten erst im zweiten Jhdt nChr richtig auf. Gnostizismus hat die Eigenart und Fähigkeit, laufend in neue Formen zu mutieren. Wenn eine Form ihre Attraktivität verlor, kam die nächste Form ins Spiel. Deswegen hielt die Bedrohung der Gemeinde und der Heilslehre durch den Gnostizismus über viele Jahrhunderte an; sie ist bis heute nicht ausgestorben. Als der Gnostizismus die Kirche Jesu Christi das erste Mal hart angriff, konnte sie nur durch einen frontalen Gegenangriff überleben. Männer wie Irenäus, Tertullian, Ignatius und Justin, der Märtyrer waren damals bereit, für die Reinheit der Lehre zu kämpfen, manchmal mit dem Preis ihres Lebens.
  • Drei Hauptirrtümer kennzeichnen fast alle Erscheinungsformen des Gnostizismus:
    • Dualismus ist die Idee, dass alles im Universum auf zwei Ur-/Grundrealitäten zurückzuführen sei. Diese seien einander entgegengesetzt, bedingten aber einander (Ying-Yang, Licht-Finsternis, Gott-Satan, Materie-Geist usw.). Satan will sich so zum ebenbürtigen „Gegen-Gott“ aufplustern, aber es gibt Gott schon ewig, auch als Satan noch nicht war. Es besteht ein kategorialer Unterschied zwischen Gott und Geschöpf, sie stehen nie auf einer (dualistischen) Ebene.
    • Synkretismus ist die Vermischung zweier/mehrerer unterschiedlicher Glaubenssysteme in eines. Dies dürfte die „Grundreligion“ der Menschen heute ausmachen: Eine Selektion und Mischpoke unterschiedlichster Vorstellungen aus allerlei Gedankensystemen und Religionen zum höchst privaten, eigenen und nicht angreifbaren Glaubenssystem.
    • Doketismus ist die Irrlehre, dass Christus nur als Mensch erschienen, Er aber tatsächlich kein Mensch gewesen sei. Die Vorstellung, dass Gott als ewiger Geist Mensch (Fleisch, materiell) werde, lehnten sie entrüstet ab. Geist war göttlich, Fleisch/Irdisches hingegen schlecht, minderwertig und böse. Solche Gedanken bilden auch den Hintergrund für östliche Meditationstechniken, Leibfeindlichkeit im Christentum und überzogene Differenzierungen zwischen „himmlischen“ (=wertvollen, erhabenen) und „irdischen“ (=minderwertigen) Segnungen.
  • Obwohl der Gnostizismus allerlei Arten von Irrtümern umfasst, auch solche bzgl. der Heilslehre, führte er erstmalig massive Irrlehren über die Person Jesu Christi in die Gemeinde ein, sog. „christologische Irrtümer“. Die Briefe des Apostels Johannes sind eine Antwort auf Frühformen des Gnostizismus’ Ende des ersten Jhdt.s, die vor allem die wahre Menschheit Jesu angriffen. Johannes greift die Irrlehre der Gnostiker vor allem auf Basis der Lehre über Christus (Christologie) an; s. z.B. 1Johannesbrief 4,3; 2Johannesbrief 1,7.

Die Arianer – Verleugnung der Gottheit Jesu

  • Der Arianismus war ein offener Frontalangriff auf die Gottheit Jesu Christi. Die Arianer behaupteten, dass Jesus Christus ein geschaffenes Wesen sei, das zwar höher als „gewöhnliche Menschen“, aber niedriger als „der wahre Gott“ sei. 
  • Die Gnostiker hatten die Lehre über Christus vom Rand der Christenheit aus angegriffen, ihre Irrlehrer waren im allgemeinen Außenstehende, die kein Problem damit hatten, die apostolische Tradition und Lehre anzugreifen. Ihr sektiererisches Ziel war es, Menschen von der Kirche wegzuziehen und in ihre kleinen Splittergruppen hinein zu locken. – Der Arianismus ging den entgegengesetzten Weg und trug seine falsche Lehre direkt ins Herz der Kirche. Das Ziel war von Anfang an, die Kirche für sich zu gewinnen, um von ihr den Stempel der Rechtgläubigkeit auf die neuen, falschen Lehren zu erhalten.
  • Arius (Arianus; 256–336) aus Alexandrien ist der Namensgeber und Proponent dieser Irrlehre über Christus. Er lieferte (auch als Vertreter der Schule von Antiochien) eine Sicht von Christus, die diesen zu einem geschaffenen Wesen machte, das weder wirklich Mensch noch wirklich wahrer Gott ist, sondern einen Mittler, der zwischen Gott und der Menschheit steht. Gemäß Arius war Christus eine Art Halbgott, der „Erstgeborene aller Schöpfung“, zwar höher als andere Engelswesen, aber trotzdem ein Geschöpf, ein geschaffenes Wesen. Arius verwendete Bibelstellen wie Lukas 2,40.52; Johannes 4,6; 19,28; 13,31; Matthäus 24,26; Johannes 14,28 um zu zeigen, dass Jesus ein Mensch war und (im Sinne seiner Irrlehre) Gott-Vater auch wesensartig untergeordnet sei. — Exakt die gleiche Vorstellung haben und lehren die Anhänger der Wachturm-Sekte bis zum heutigen Tag und verwenden dabei die gleichen Argumente wie zuvor schon Arius. Untote leben länger!
  • Hin und her pendelnde Irrlehren. Arius reagierte mit seiner Irrlehre auf die Irrlehre des Sabbelianismus (=Modalismus), also die Lehre, dass es einen Gott gebe, der aber in „drei Modi“ erscheine. Der Erzbischof und Vorgesetzte von Arianus, Alexander von Alexandrien, lehrte aber dem entgegnend, dass Jesus dem Vater völlig gleich ist. Arianus lehrte im Kontrast dazu, dass Jesus Gott ähnlich, aber nicht gleich sei. Ein Konzil unter Alexander schloss Arius im Jahr 320 aus. Aber damit war die Kontroverse nicht beendet! (U.l.l.!)
  • Die theologische Antwort der Kirche auf den Arianismus gipfelte im Nicänischen Bekenntnis, das auf dem Konzil zu Nicäa 325 nChr (vom Kaiser Konstantin einberufene Reichssynode) formuliert und von fast allen unterzeichnet wurde. Aber auch mit dieser klaren Verdammung der arianischen Irrlehre war kein Schlusspunkt gesetzt, sondern der Beginn einer Jahrhunderte langen Kontroverse in der Kirche markiert. Im Rückblick scheint es so, dass die Abstimmungen bei den Konzilen jener Zeit eher von kirchlichen Machtfragen als denn von Verpflichtung gegenüber der Wahrheit des Wortes Gottes gekennzeichnet waren. Die Irrlehrer und Anhänger der arianischen Irrlehre erbaten in Folge auf breiter Basis Toleranz und Offenheit für ihre Position und erhielten sie immer! Selbst die Heimatgemeinde des Arius schloss diesen nicht als Irrlehrer aus, sondern stand zu ihm. Seine Anhänger riefen sogar ihrerseits Synoden aus, stimmten dort der Lehre des Arius’ ausdrücklich zu und hoben die Verdammung des Arius auf. Die Kirche neigte sich wieder stark dem Arianismus zu. Sein größter Gegener, Athanasius (s.u.), wird noch 335 an die Grenzen des römischen Reiches nach Trier verbannt und leidet sein gesamtes Leben wegen der arianischen Frage. … Im Schutz dieser Wirrnisse konnte der Arianismus die Kirche Christi weltweit in beträchtlichem Maß durchdringen und infizieren! (NB: Wulfila, der Apostel der Goten (gestorb. 383) war selbst von einem Arianer getauft worden; über die Westgoten übernahmen die Germanen das Christentum arianischer Ausprägung. Die germanischen Nationalkirchen machten der röm.-kathol. Kirche noch bis ins 6. Jhdt schwer zu schaffen. Dann erst konnte der röm. Katholizismus missionarisch bis in die Heimatbezirke der Germanen vordringen.) Kaiser Konstantin, der über die Einheit der Kirche auch sein weltliches Reich einen wollte, wurde über den arianischen Streit sehr frustriert und mischte sich daher mit seiner Macht in diese Kirchenangelegenheit ein. Leider identifizierten er und seine Söhne sich mit den Anhängern des Arius’ und so nimmt es nicht Wunder, dass innerhalb der nächsten 50 Jahre fast alle leitenden Bischöfe Arianer wurden. 
  • Nur ein Mann stand klar und deutlich gegen die Irrlehren Arius’ auf: Athanasius (296–372) aus Alexandrien. Er gab den Kampf gegen diese Häresie nicht auf. Als man ihm sagte, dass doch die ganze Welt gegen ihn stünde, antwortete er, dass (auch) er gegen die ganze Welt sei. Durch Gottes Gnade und zu unserem Segen gewannen die Argumente des Athanasius schließlich, weil er die Heilige Schrift gekonnt und überzeugend einsetzte, um den Irrtum der Häresie Arianus’ aufzuzeigen. Das Nicänische Bekenntnis wurde vom Konzil zu Konstantinopel aufgenommen. Athanasius wurde 328 als Nachfolger von Alexander Erzbischof von Alexandrien. Das setzte seinem Leiden allerdings kein Ende: Während seinen 46 Jahren im Amt wurde er von Arius zugeneigten Herrschern viermal verbannt und verbrachte insgesamt 20 Jahre im Exil! Er konnte seinen Lebensabend jedoch in Frieden und weiterhin klar gegen den Arianismus schreibend begehen. Diese Episode ist ein klassischer Beleg dafür, dass die Heilige Schrift –und nicht die Mehrheitsmeinung!– für die Gemeinde Jesu Christi der erste und letzte Test jeder Lehre sein muss.
  • Die Geschichte des Arianismus ist auch ein trauriger Beleg für die prophezeite Tatsache, dass Irrlehre häufig aus der Kirche Jesu Christi selbst heraus entstand. Der Arianismus verbreitete sich durch stille Infiltration und gewann seine Stärke durch die persönliche Ausstrahlungskraft seiner Lehrer. Förderlich für seine Verbreitung war ein Klima der Toleranz, so dass er massive Ausmaße und Verbreitung hatte, bevor überhaupt jemand Stellung gegen diese Irrlehre bezog. Satans beliebteste Taktik ist Selbsttarnung als „Engel des Lichts (2Korinther 11,13–15).

Die Pelagianer – Verleugnung der totalen Verdorbenheit des Menschen

  • Die nächste große Häresie in der Kirche, der Pelagianismus, ist wieder eine Irrlehre im Bereich der Heilslehre. Augustinus (354–430) betonte in seiner Lehre die Souveränität Gottes, weil er (wohl mit Recht) annahm, dass man nur so die absolut zentrale Rolle der göttlichen Gnade in der Errettung sicherstellen kann. Pelagius, ein britischer Mönch aus dem frühen 5. Jhdt,, stieß sich an dieser Lehre, weil sie seiner Meinung nach die Bedeutung der menschlichen Verantwortung herunterspiele oder gar außer Kraft setze. Im Gegenzug behauptete und betonte er den „freien menschlichen Willen“, weil er (wohl irrtümlich) davon überzeugt war, dass nur so die menschliche Verantwortung sichergestellt werden könne. (Diesem Fehler der Philosophen folgte auch Kant u.a., leider auch viele Christen unserer Zeit.)
  • Pelagius traf in Rom einen adligen Juristen namens Celestius und entwickelte mit ihm gemeinsam eine neue Heilslehre. Die Glaubenslehre war für sie nur reine Theorie, die Hauptsache der Religion war ihrer Ansicht nach die moralische Tat, das Halten der Zehn Gebote aus eigener Anstrengung. Die ethische Seite der Religion war ihnen wichtiger als die dogmatisch-theologische. 
  • Den Pelagianismus kann man wie folgt zusammenfassen: (1) Kein Mensch erbt von Adam die Sünde. Sünde ist eine Sache der Tat und nicht der Natur/des Wesens. (2) Jeder Mensch ist so geschaffen, dass er völlig frei das Gute oder das Böse tun kann. Ein sündloses Leben ist daher möglich. Man kann sich das Heil durch Gute Werke erwerben. (3) Babytaufe ist unnötig, da es keine Erbsünde gibt. (4) Das Heil ist zwar außerhalb des Gesetzes, des Evangeliums und der göttlichen Gnade zu finden, aber diese können natürlich beim Erwerb des Heils mithelfen. Christus hilft dabei mit seinem guten Vorbild.
  • Der wohl bemerkenswerteste Aspekt des Pelagianismus ist die Leugnung der Auswirkungen des Sündenfalls auf alle Menschen seit Adam und Eva. Die Pelagianer leugneten, dass die Sünde Adams irgendeine Schuld oder irgendeine Verdorbenheit auf den Rest der menschlichen Rasse brachte, der menschliche Wille sei daher von allen Fesseln frei. Pelagius argumentierte: Wenn alle Menschen durch Geburt Sünder sind (wenn also Sünde etwas ist, das wir ererben), dann wäre es ungerecht von Gott, wenn er den einzelnen Sünder für seine Sünde verantwortlich hält. Der menschliche Wille müsse völlig frei sein, weder zum Guten noch zum Bösen geneigt, sonst könnten unsere Entscheidungen nicht frei sein, und wir folglich auch nicht für unsere Taten verantwortlich gemacht werden.
  • Diese Lehren des Pelagianismus verbreiteten sich schnell in Nordafrika (einem Zentrum des Christentums damals) und führten zur Irrlehre einer Selbsterrettung durch Werke, zu einem „Werke-Evangelium“. Wenn man erst einmal die totale Verderbnis und Gefallenheit der Menschheit leugnet, erliegt man der Illusion, der Mensch könne und solle etwas zu seinem ewigen Heil beitragen. Und so landet man schließlich in der Verleugnung der heilsnotwendigen göttlichen Gnade, wie sie die Heilige Schrift lehrt.
  • Augustinus erkannte das Problem des Pelagianus von Anfang an und trat den Pelagianern entgegen, indem er aus der Heiligen Schrift zeigte, dass der menschliche Wille nicht in jenem Sinne frei ist, wie sie es lehrten: Unser Wille sei vielmehr hoffnungslos unter die Sünde geknechtet (Römer 8,7–8), Sünder seien absolut hilflos, sich selbst zu verbessern, es benötige die göttliche Gnade, die erneuernd im Herzen wirke (vgl. Jeremia 13,23).
  • Das Konzil zu Ephesus 431 nChr verurteilte den Pelagianismus als Irrlehre. Aber wie bei allen hier erwähnten Irrlehren war die Entscheidung des Konzils nicht das Ende der Bedrohung der Kirche durch diese gefährliche Irrlehre. Die Einflüsse des Pelagianismus’ plagten die Kirche noch viele Jahrhunderte. — Eine modifizierte Form des Pelagianismus’ entstand: der Semi-Pelagianismus, der praktisch mit dem modernen Arminianismus identisch ist; diese Irrlehre wurde vom Konzil zu Orange 529 nChr verdammt. …und lief weiter…
  • Die Römisch-katholische Kirche des 16. Jhdt. bekannte sich beim Gegenreformations-Konzil zu Trient 1546 nChr zu einer Heilslehre, die im Effekt dem Semi-Pelagianismus entspricht. Daher kann man kontemporären (auch „protestantisch-evangelikalen“!) Vertretern dieser falschen Lehre vorwerfen, der „Romanisierung“ (Re-Katholisierung) Vorschub zu leisten.
  • Der Konflikt zwischen Pelagius und Augustinus betraf einige Fragen, die später auch den Konflikt zwischen sog. „Calvinis­ten“ und „Arminianern (Remonstranten)“ ausmachten. In der protestantischen Reformation stellten sich die Reformatoren auf die Seite des Augustinus, indem sie die Souveränität Gottes, die Notwendigkeit göttlicher Gnade und die völlige Unfähigkeit des gefallenen Menschen, zu seiner eigenen Rettung etwas beizutragen, lehrten. Im Kontrast dazu verkündete die Römisch-katholische Kirche weiterhin eine verwässerte Form des Semi-Pelagianis­mus (ab dem II. Vaticanum lehrt sie sogar den Universalismus).
  • Die Lehren des Pelagianismus’ und des Semi-Pelagianismus’ haben auch den Protestantismus stellenweise massiv beeinflusst (z.B. sichtbar bei Charles Grandison Finney (1792–1875) und dessen Nachfolgern) und beeinflussen ihn in pragmatisch-evangelistisch ausgerichteten Gemeinden und Missionswerken in steigendem Ausmaß. [1]
  • NB: Die meisten Christen, die betreffs der Heilslehre zu den Ansichten des (Semi-) Pelagianismus neigen, neigen auch zu den Lehren des Arminianismus. Beispiele: Man behauptet, dass Jesus Christus für alle Menschen gestorben sei und daher auch alle Menschen gerettet werden bzw. schon gerettet sind; dass alle Menschen zwar bis zu einem gewissen Graf verderbt seien, alle aber ausreichend Gnade bekommen, um den Folgen ihrer Verderbtheit entgegenzuwirken und sich aus sich selbst heraus frei für das Heil zu entscheiden; dass derart begnadete Menschen aber auch die Freiheit und Macht haben, sich jederzeit gegen diese Gnade zu entscheiden, denn diese sei nicht unwiderstehlich; usw.

Die Sozinianer – Völlige Verwirrung

  • Der Sozinianismus ist einer der Höhepunkte der Irrlehren und Verwirrungen in der Heilslehre, er ist eine Vermischung anderer Irrlehren, die der Teufel schon erfolgreich in die Kirche hineingetragen hatte. Die Irrlehre des Sozinianismus’ wurde bald nach der Protestantischen Reformation geboren. Die beiden Italiener Fausto Paulo Sozzini (Socinus, 1539–1604) aus Sienna und sein Onkel Lelio (Laelius) Sozzini gaben dieser Irrlehre den Namen. Sie hatten sich vom römischen Katholizismus abgewandt und den Reformatoren zugewandt, kamen aber unter den Einfluss von Unitarianern und gaben letztlich alle Lehren der katholischen Religion auf, einschließlich der Lehren, die bibeltreu sind. Die Folge war, dass sie letztlich alle wesentlichen Fehler in ihr Lehrgebäude aufnahmen, die die Kirche je geplagt hatten und die diese verurteilt hatte.
  • Wie die Legalisten und Pelagianer lehrten sie eine Errettung aus Werken. Wie die Gnostiker und Arianer waren sie Anti-Trinitarianer (sie verleugneten die Dreieinheit Gottes). Sie verleugneten nicht nur die Gottheit Jesu, sondern jedes Wunder in der Heiligen Schrift. In diesem Zusammenhang mischten sie aus dem humanistischen Rationalismus und der Aufklärung ihre eigene tödliche Irrlehre. Schließlich nahmen sie auch noch die Lehre des Universalismus in ihr System auf. Sie schoben die Autorität der Heiligen Schrift zur Seite und erhoben die menschliche Vernunft zur obersten AutoritätDamit markierten sie den Start des Modernismus.
  • Ihr schlimmster Irrtum zerstört direkt die Bedeutung der Sühnung. Das sozinianische Argument gegen das stellvertretende Opfer Jesu Christi war einfach: Sie behaupteten, dass die Ideen der Vergebung und der Sühnung sich gegenseitig ausschließen würden. Entweder werden Sünden vergeben oder es ist dafür zu bezahlen, aber nicht Beides. Sie argumentierten: Wenn ein Preis dafür bezahlt werden musste, dann wurden nicht wirklich „vergeben“. Wenn Gott andererseits bereit ist, Sünden zu vergeben, dann sei kein Sühnungspreis dafür notwendig. – Die Spitzfindigkeit ihres Arguments bringt auch heute noch viele Leute in Verlegenheit. Aber es ist einfach völlig konträr zu dem, was die Heilige Schrift über Gnade, Sühnung und göttliche Gerechtigkeit lehrt. Die Heilige Schrift zerstört das sozinianische Argument und stellt es als Irrtum bloß: „Ohne Blutvergießung gibt es keine Vergebung [der Sünden].“ (Hebräer 9,22)

Der Sozinianismus ist die zur Zeit am meisten verbreitete Irrlehre, der moderne theologische Liberalismus ist nichts anderes als eine Variante des alten Sozinianismus’.

Überblick

Die 5 großen Irrtümer bzgl. des Erretters und der Errettung (© 1997–2023 logikos.club)

Endnoten und Literaturempfehlungen

Dieser Artikel wurde angeregt und adaptiert durch: Phil Johnson, Seminarmanuskript, Shepherds Conference (Sun Valley, CA, 2004).

[1] In Deutschland machte die „Bruderhand“ (Wilhelm Pahls) Werbung für die „Erweckung“ von Finney und verbreitete seine Biographie. Die Bruderhand stellt die Erfindung des „Altarrufes“ durch Finney als biblisch dar, weil Gott auch sein Volk rufe. Eine biblisch fundierte geistliche Beurteilung Finneys findet sich in: MacArthur, John F.: Wenn Salz kraftlos wird. Die Evangelikalen im Zeitalter juckender Ohren. 2. Auflage. Bielefeld, CLV, 1997, Anhang 2.

Eine empfehlenswerte Darlegung der biblischen Heilslehre ist: J. MacArthur & R. Mayhue: Biblische Lehre: Eine systematische Zusammenfassung biblischer Wahrheit. Berlin: EBTC, 2. Aufl. 11/2020. Eine Rezension finden Sie hier.

Heilsgeschichte: Arnd Bretschneider: Gott schreibt Geschichte – Ein Gang durch die biblische Heilsgeschichte. Christliche Verlagsges. Dillenburg, 2007.

Die Verfälschung der biblischen Heilslehre

Das Heil (die Errettung) und das Wesen des Heils wurde seit der Frühkirche immer wieder angegriffen, unterschiedlich interpretiert und widersprüchlich gelehrt. Neben einigen „geringfügigen“ Varianten kamen sehr früh auch schwerwiegende Irrlehren auf, die das Urteil der Verdammnis seitens des Apostels auf sich zogen, da sie es verunmöglichten, das göttliche Heil zu erkennen, zu glauben und zu bekommen. Wir „verdanken“ diesen Irrtümern und Irrlehrern einige fundamental klärende Texte im Neuen Testament.

Im Folgenden soll ein Überblick über das breite Spektrum falscher Heilslehren innerhalb des christlichen Bekenntnisses versucht werden. Dieser begrenzt sich aus Platzgründen auf fünf Schlaglichter.

Römisch-Katholische Kirche

Die Römisch-Katholische Kirche (RKK) lehrte zur Reformationszeit (also vor 500 Jahren) wie heute, dass der Mensch trotz seines gefallenen Zustands bei seiner Erlösung mitwirken kann. Gott schenke ihm seine Gnade (zuvorkommend!) und der Mensch antworte mit Glauben. Die Reformatoren verwarfen diese Idee und betonten, dass die Erlösung ein reines Geschenk Gottes ist, denn der Mensch ist geistlich tot und er muss deshalb wiedergeboren werden; sein Verstand, sein Herz und sein Wille müssen komplett erneuert werden, bevor er sich entscheiden kann. 

Die RKK hat in ihr System die Sakramente eingebaut, deren formgerechter Gebrauch in seiner Anwendung (ex opere operato) Gnade vermittelt, z.B. in Taufe, Buße, Messe. Die Heilslehre der RKK ist stets synergistisch, d.h. sie lehrt ein heilserbringendes Zusammenwirken des Handelns Gottes und des Menschen. Prinzip: Das Heil kommt durch Gnade und Werke. Das 2. Vatikanische Konzil führte zu einer Neudefinition des Heils mit dem Effekt, dass alle Nicht-Christen und sogar Atheisten ebenfalls ins Heil kommen bzw. sind. Die RKK ist seit dieser Zeit von der Lehrgrundlage her universalistisch (d.h. letztlich werden alle gerettet werden).

Theologischer Liberalismus

Im sog. „Theologischen Liberalismus“ wird gemäß des Denkrahmens der Aufklärung alles Übernatürliche geleugnet, mithin alle Wunder Gottes, die göttliche Autorität der Heiligen Schrift und andere klassischen Hauptlehren der Schrift. Die Heilslehre des sog. „Sozialen Evangeliums“ definierte das Heil als die Transformation der menschlichen Gesellschaft durch Erziehung, sozialen Wandel und politische Aktion, die durch die Ideale und die Ethik Jesu Christi motiviert wird. Der Mensch soll sich im Diesseitigen „christlich“ (d.i.: humanistisch) verwirklichen und ein diesseitiges Paradies erschaffen.

Christlicher Existenzialismus

Die Lehrer des „Christlichen Existenzialismus“ glauben, dass sich der Mensch durch reine Objektbezogenheit von seinem Wesen und der Realität entfremdet habe, weil Dinge keine Hingabe, kein Risiko und keine Entscheidung abverlangten. Der Mensch verstehe sich selber aber nur im Erleben seiner selbst, es gebe keine vorige Setzung seines Wesens oder seiner Bestimmung. Daher will man der Entfremdung, der Angst und Hoffnungslosigkeit in persönlichen Beziehungen und persönlichen Erlebnissen entgehen.

Reiner „Ding-Glaube“ (z.B. an Glaubensbekenntnisse und Lehren) rette nicht, sondern sei nur ein „billiger Glaube“. Rettender Glaube sei der Akt des Glaubens mit tiefer innerer Leidenschaft und radikalem Engagement; es sei ein Glaube, der sich selbst für ein Leben kostspieliger Jüngerschaft hingibt. Das Ergebnis dieser alles kostenden Entscheidung ist die Gegenwart Christi im Herzen und die persönliche Wahrnehmung einer authentischen Existenz, nämlich die Beseitigung der Angst, die Vergebung der Sünden, die Realisierung des vollen Potentials, das im Menschen steckt, und die Umgestaltung des Lebens. Der Glaube selbst wird zum existentiellen Erleben. Er wird nicht in Glaubensbekenntnissen, sondern im (Er-)Leben festgemacht.

Diese Verfälschung findet man in manchen Jüngerschaftsbewegungen, auch bei dem Theologen und Pionier der Existenzphilosophie, Søren Aabye Kierkegaard (1813–1855). Seine berechtigte Kritik am toten, rein theoretischen „Kopf-Glauben“ seiner Landsleute und Zeitgenossen („Hauptsache, man unterzeichnet das richtige Glaubensbekenntnis“) geriet zur Verirrung in das entgegengesetzte Extrem („Hauptsache, man erlebt Christ- und Menschsein“). Nicht ohne Grund gehört zur Glaubenslehre auch immer die entsprechende Glaubenspraxis – et vice versa: Orthodoxie und Orthopraxis sind im christlichen Glauben zwei Seiten derselben Medaille.

Befreiungstheologie

Die Befreiungstheologie ist eine praxisorientierte Theologie, die im wesentlichen auf der marxistischen Interpretation der Kultur beruht. Diese Bewegung will weg vom individuellen, persönlichen, innerlichen Glauben, hin zu kollektiven, äußeren und strukturellen Angelegenheiten. In der Regel geht man davon aus, dass alle Menschen „in Christus“ seien (vgl. Universalismus), dass aber die Zustände in der Gesellschaft die Menschen verbogen und entmenschlicht habe. Das Heil wird daher im gemeinsamen Umsturz aller ungerechten Regimes und sozialen Strukturen gesehen, notfalls durch Revolution und Gewalt. 

Der Exodus Israels muss für die „Befreiung“ als Paradigma herhalten. Die verschiedenen „unterdrückten“ Völker hätten ihre eigene Version der Heilslehre entwickelt, z.B. die Schwarzen (Angela Davis). Die Einheit des Heilswerks Gottes für alle Menschen gleichermaßen, weil alle gleichermaßen (!) verloren sind, wird damit en passant auch geleugnet. Die Lehren der Heiligen Schrift über das erlösende, stellvertretende, sühnende Werk Jesu Christi werden missachtet, ebenso wie die Tatsache des Verlorenseins ohne den Heiland Jesus Christus. Das Heil wird vor allem diesseitig und damit zeitlich gesehen.

Neoorthodoxie (Barth)

Die Neoorthodoxie Barths nahm Stellung gegen Bultmann und die Existenzialisten, und versuchte das Heilshandeln wieder voll in die Hände Gottes zu legen. Das Heil ist bei Barth ein rein objektives Ereignis und hat mit dem Einzelmenschen wenig zu tun. Als Jesus Christus in diese Welt kam, habe er sich mit der Menschheit (humanum = die gesamte menschliche Rasse) vereinigt und so für sie am Kreuz objektiv das Heil erworben. Durch Christi Tod sei die Sünde der Welt gerichtet wurden und durch sein Auferstehen sei der Sieg zu allen Menschen gekommen. Rettung und Heil ist also etwas, das alleine Gott gemacht hat, und zwar mit allen Menschen; der einzelne Mensch hat damit praktisch nichts zu tun. 

Barth lehrte, dass Glaube, Buße, Umkehr und Gehorsam nur die Sichtbarwerdung (Manifestation) des bereits erhaltenen Heils seien, nicht die Mittel, durch die das Heil persönlich ergriffen werde. Positiv ist das Bemühen, Gott als den Hauptagenten des Heilshandelns zurück zu gewinnen. Irrlehre ist seine Heilslehre aber schon allein durch die Aussage, dass alle Menschen „in Christus“ seien (auch wenn Christus noch nicht in allen Menschen sei, sondern der Mensch aus seinem geistlichen Schlaf aufwachen müsse); Barth ist damit ein weiterer Universalist.

Evangelikale Arminianer

Heilsabsicht Gottes. Die „evangelikalen“ Arminianer (viele sog. Freikirchen) lehren, dass Gott aus Liebe Christus in die Welt sandte, mit dem Ziel, die Menschheit, also alle Menschen, von dem Ruin der Sünde zu erretten (universale Versöhnung). Gott wolle die Errettung aller und jedes Menschen (bezugsnehmend auf 1Tim 2:4; 2Pet 3:9). Dass dies nicht zustande komme, sei alleine dem freien Willen und Widerstand des Menschen zuzurechnen.

Heilsergreifung. Sie lehren, dass eine universale, „vorlaufende“ Gnade vom Kreuz Christi gleichermaßen zu allen sündigen Menschen fließe und diese durch moralisches Licht in einen Stand versetze, in dem er seine moralische Blind- und Taubheit gegenüber dem Heilsangebot Gottes verliere, er in wiederhergestelltem freien und moralischen Willen von der Sünde überführt werde und in freier, ureigener Entscheidung dem Ruf zum Heil folgen könne. Die derart erweckte und berührte Seele kooperiere dabei aus freiem Vermögen mit Gott, bekenne ihre Sünden und vertraue Christus als ihrem Heiland. Viele Arminianer sehen die Wiedergeburt synergistisch als das Ergebnis des Zusammenwirkens von menschlicher Willigkeit und göttlichem Wirken.

Heils(un)sicherheit. Die evangelikalen Arminianer betonen, dass der Gnade und der Berufung Gottes effektiv und letztgültig Widerstand geleistet werden könne. Der neugeborene Christ könne sich jederzeit frei entscheiden, Christus zu verwerfen, in seiner Sünde fortzufahren und damit effektiv das ewige Heil (wieder!) zu verlieren. Die Arminianer verleugnen damit das Ausharren der Heiligen, wie es in der Schrift gelehrt wird.

Erwählung. Arminianer lehren die Lehre der Erwählung so, dass Gott nur jene Menschen zum Heil erwählte, von denen er voraussah, dass sie auf sein Gnadenangebot positiv reagieren und Christus annehmen würden (dies meine die Schrift mit dem Begriff „Vorkenntnis Gottes“; sog. Erwählung ex fide praevisa).

Methodismus (Perfektionismus). Einige Arminianer lehren, dass Gott sein heiligendes Handeln durch ein zweites Werk der Gnade vollkommen machen wolle, das dann die sündige Natur und die sündigen Wünsche des Menschen ausreiße und das Herz mit vollkommener Liebe gegenüber Gott erfülle (sog. Volle Errettung, Volles Heil, Sündlose Vollkommenheit; vgl. Wesleyanischen Methodismus, Charismatische und Pfingstler-Bewegung).  Dieses Heilsverständnis ist im Prinzip synergistisch, es ist ein Zusammenwirken einer göttlichen Gnade (welcher?) und des befreiten menschlichen Willens, wobei der Mensch der alles entscheidende Handelnde ist.

Wie Wolfgang Nestvogel belegt, greift diese Rekatholisierung der Heilslehre im arminianischen Gedankengut immer mehr Raum bei den Evangelischen und leider auch bei den (ehemals) „Evangelikalen“ (Freikirchen). [1]

Hyper-Calvinisten

Die sog. Hyper-Calvinisten [2] verdrehen die biblische Heilslehre dahingehend, dass sie die Souveränität Gottes im Heilshandeln so extrem betonen und so einseitig darstellen, dass bei ihnen die moralische und geistliche Verantwortung des Menschen völlig geleugnet wird. Folglich lehnen sie ab, dass den Nicht-Erwählten in der Predigt die Gute Botschaft frei angeboten wird oder anzubieten sei. Sie glauben nicht, dass im Evangelium allen Sündern ein ernst gemeintes Angebot der Retterliebe Gottes unterbreitet werden soll und unterbreitet wird. Andererseits leugnen sie die allgemeine Pflicht jedes Sünders, dem Evangelium zu glauben, Buße zu tun und an Jesus als ihrem Herrn und Heiland zu glauben (Sie meinen: „Er kann ja nicht, wenn er nicht weiß, ob er auserwählt ist.“).

Damit lenken sie den Blick statt auf Christus auf sich selbst, um nachzuforschen, ob sie erwählt seien, die „Gabe“ des Heils von Gott erhalten hätten usw. Hyper-Calvinisten unterscheiden nicht zwischen dem allgemeinen und speziellen Willen Gottes, also zwischen einerseits seinen Geboten, seinem wünschenden Wollen, dem der Mensch Widerstand und Ungehorsam entgegen bringen kann, und andererseits seinem feststehenden Willen in seinen Ratschlüssen, die unbereubar und durch den Menschen unaufhaltbar, unbeeinflussbar und fest sind.

Hyper-Calvinisten glauben alle an eine „doppelte Prädestination“ (Vorherbestimmung): nicht nur der Erwählten zum Heil, sondern gleicherweise auch der Nicht-Erwählten (sog. Abgefallene) zum Verderben.[3] Der Unterschied zwischen Hyper-Calvinisten und biblisch-reformiert denkenden Christen lieg hier darin, dass erstere die „doppelte Prädestination“ symmetrisch und als unbedingt denken (als ob Gott Beides sich gleich aktiv zuschreibe), letztere jedoch im Sinne von Römer 9,22–23 als asymmetrisch: die „Gefäße des Zorns“ sind zubereitet zum Verderben (passiv), die „Gefäße der Herrlichkeit“ werden von Gott zur Herrlichkeit bereitet (aktiv) [4].

Hyper-Calvinismus kam und kommt in verschiedenen Varianten vor, aber man kann dieses unbiblische Lehrsystem anhand einer (oder mehrerer) der folgenden Merkmale erkennen: Hyper-Calvinisten verleugnen1) dass der Ruf des Evangeliums alle Zuhörer angeht (Mt 11,28–29; Jes 45,22; 55,1–7; Offb 22,17); oder: 2) dass der Glaube Pflicht eines jeden Sünders ist (Mk 1,15; Apg 15,17; vgl. 17,30; seine moralische Unfähigkeit beraubt ihn nicht seiner Verantwortung!); oder 3) dass das Evangelium auch den Nichterwählten Christus, das Heil und die Barmherzigkeit anbietet (oder dass das Angebot der Gnade Gottes frei und universal ist); oder 4) dass es so etwas wie „Allgemeine Gnade“ gibt (vgl. 5Mo 10,18; Mt 5,44–45; Apg 14,17); oder 5) dass Gott irgendeine Art Liebe auch für die Nicht-Erwählten hat (vgl. aber seine Hingabe in der Feindesliebe!).

Diese Verleugnungen der Hyper-Calvinisten unterminieren und verdrehen das Evangelium Gottes. Eine typische Kurzfassung des Evangeliums Gottes seitens eines Hyper-Calvinisten könnte lauten: „Die Botschaft des Evangeliums ist, dass Gott die rettet, die sein Eigen sind und dass Er die verdammt, die es nicht sind.“ So wird die Gute Nachricht unseres Heiland-Gottes, der in echter Retterliebe auf diese Erde kam, „um zu suchen und zu retten, was verloren ist“ (Lukas 19,10) reduziert auf eine Sache von Erwählung und Verdammung. Ein Ringen und flehentliches Bitten um unsere verlorenen Mitmenschen, wie es die Schrift allen Christen als „Dienst der Versöhnung“ auferlegt (2Korinther 5,20), kennen sie nicht, sie verleugnen dies vielmehr.


Endnoten

[1] Nestvogel, Wolfgang: Wann ist ein Christ ein Christ? Der Kampf um die Rechtfertigung (2018). – Vertreter arminianistischer Gedanken in der deutschsprachigen, evangelikalen Gemeindewelt sind z. B. Prof. Herbert Jantzen (anabaptistische Mennoniten-Brüder) und Thomas Jettel (Kann ein Christ zu einem Nichtchristen werden?); Prof. Armin Mauerhofer (auch seine Brüder Walter und Erich), der Christliche Missions-Verlag Bielefeld (CMV), die Mission „Evangelium-für-alle“ (EfA) in Stuttgart-Bad Cannstatt unter Michael Happle, der Prediger Karl-Hermann Kauffmann u.v.a.

[2] Wir verwenden diese Bezeichnung im Sinne des Artikels von Phil Johnson, A Primer on Hyper-Calvinism. Shepherds Conference March 2003, Sun Valley, CA. Der Begriff ist trotzdem nicht überall gleich bekannt und wird unscharf verwendet.

[3] Es lohnt sich, einmal die Ausführungen Calvins selbst [http://www.calvin-institutio.de] samt seinen deutlichen Warnungen zu lesen (Institutio, Buch III, Kap. 21, Pkt. 1–2). Zur Prädestination schreibt Calvin u.a.: „Unter Vorbestimmung verstehen wir Gottes ewige Anordnung, vermöge deren er bei sich beschloß, was nach seinem Willen aus jedem einzelnen Menschen werden sollte! Denn die Menschen werden nicht alle mit der gleichen Bestimmung erschaffen, sondern den einen wird das ewige Leben, den anderen die ewige Verdammnis vorher zugeordnet. Wie also nun der einzelne zu dem einen oder anderen Zweck geschaffen ist, so – sagen wir – ist er zum Leben oder zum Tode vorbestimmt“. (Institutio, Buch III, Kap. 21, Pkt. 5. Übers. v. Otto Weber, Neukirchener Verlag, 1955. Betonung im Original.). Und: „Was demnach die Schrift klar zeigt, das sagen wir auch: Gott hat in seinem ewigen und unwandelbaren Ratschluß einmal festgestellt, welche er einst zum Heil annehmen und welche er andererseits dem Verderben anheimgeben will. Dieser Ratschluß ist, das behaupten wir, hinsichtlich der Erwählten auf Gottes unverdientes Erbarmen begründet, ohne jede Rücksicht auf menschliche Würdigkeit. Den Menschen aber, die er der Verdammnis überantwortet, denen schließt er nach seinem zwar gerechten und unwiderruflichen, aber unbegreiflichen Gericht den Zugang zum Leben zu!“ (op. cit., Kap. 21, Pkt. 7).

[4] R. C. Sproul, reformierter Theologe, hat den Unterschied sehr gut dargestellt in: Double Predestination (PDF). Einleitend schreibt er dort: „The distortion of double predestination looks like this: There is a symmetry that exists between election and reprobation. God WORKS in the same way and same manner with respect to the elect and to the reprobate. That is to say, from all eternity God decreed some to election and by divine initiative works faith in their hearts and brings them actively to salvation. By the same token, from all eternity God decrees some to sin and damnation (destinare ad peccatum) and actively intervenes to work sin in their lives, bringing them to damnation by divine initiative. In the case of the elect, regeneration is the monergistic work of God. In the case of the reprobate, sin and degeneration are the monergistic work of God. Stated another way, we can establish a parallelism of foreordination and predestination by means of a positive symmetry. We can call this a positive-positive view of predestination. This is, God positively and actively intervenes in the lives of the elect to bring them to salvation. In the same way God positively and actively intervenes in the life of the reprobate to bring him to sin. … Such a view of predestination has been virtually universally and monolithically rejected by Reformed thinkers.“ [Fettdruck hinzugefügt] „Sproul stellt zu Recht fest, dass diese Lehre mit dem Hyper-Calvinismus gleichzusetzen ist, den er lieber »Sub-Calvinismus« oder »Anti-Calvinismus« nennt. R. C. Sproul, Chosen by God (Wheaton, IL: Tyndale House, 1986), S. 142.“
John MacArthur,
der kein reformierter Theologe ist (und keiner Denomination angehört), schreibt zusammen mit Richard Mayhue in Biblische Lehre über Gottes Erwählen: „Der Ratschluss der Erwählung ist die freie und souveräne Wahl Gottes, die er in der Ewigkeit vor aller Zeit getroffen hat, seine Liebe auf bestimmte Einzelpersonen zu richten, und – auf der Grundlage von nichts in ihnen selbst, sondern allein wegen des Wohlgefallens seines Willens – zu beschließen, dass sie von der Sünde und Verdammnis errettet werden und durch das Werk Jesu Christi als Mittler die Segnungen des ewigen Lebens ererben sollten.“ (2. Aufl., Berlin: EBTC, 2021, S. 654). Über die Verwerfung siehe op. cit., S. 669ff. Auszug: „Obwohl dies die Vorstellung ist, an die viele denken, wenn sie die Begriffe Verwerfung oder doppelte Prädestination hören, ist dies eine grobe Karikatur der biblischen Lehre von der Verwerfung, die der Schrift absolut fremd und der Liebe und Gerechtigkeit Gottes zuwider ist; es ist eine Verirrung des historischen Calvinismus, die von der reformierten Orthodoxie durchgängig verworfen wurde und wird.“
Im Widerspruch zur symmetrischen Sicht der Römisch-katholischen Lehre und der Arminianer (doppeltes Vorhersehen), als auch zur Sicht der Hyper-Calvinisten und der Barthianer (doppelte Prädestination), führt uns der biblische Befund dazu, an einer asymmetrischen Sicht der Erwählung festzuhalten, nämlich einer vorbedingungslosen (o. unbedingten) Erwählung zum Leben (auf dem Grundsatz der Gnade) und einer bedingten Erwählung zur Verdammnis (auf dem Grundsatz der Gerechtigkeit). Wenn wir von einer »Erwählung zur Verdammnis« reden, meinen wir damit nicht, dass Gott Personen zur Sünde und zum Ungehorsam vorherbestimmt habe, sondern zur Verurteilung (und Verdammung), die zwangsweise jeder Sünde folgen muss.

Getretener Quark wird breit, nicht stark.

Dieser Ausspruch im Westöstlichen Diwan (1819/1827) von Goethe passt irgendwie hervorragend zu den immer wieder mantraartig (scheinbar sinnfrei) wiederholten Vorwürfen arminianisch und römisch geprägter Christen, die sie immer wieder in Richtung jener Christen äußern, die der bibeltreuen reformatorischen Heilslehre anhängen. Die Reformierten (meist als „Calvinisten“ Bezeichneten) fassten vor 400 Jahren im Schlussstatement ihrer Verwerfung der arminianischen Irrlehren (der sog. „Lehrregel“, 1619) diese haltlosen Vorwürfe wie unten angeführt zusammen.

Man gewinnt den Eindruck, dass auch 400 Jahre nicht reichen, den falschen Blick und das falsche Denken arminianisch argumentierender Menschen zu korrigieren. Durchblick gibt es erst bei überzeugter Bindung an die Wahrheit. Man muss demütig anerkennen und dann praktisch umsetzen, was der Sohn Gottes ein für allemal festgehalten hat: „DEIN WORT IST WAHRHEIT.“ Das wirft uns stets zurück auf die Heilige Schrift und die (wahren) Tatsachen. Dazu gehört also praktisch auch, dass man ehrlich und respektvoll mit dem Andersdenkenden umgeht, alle Behauptungen genau an den Tatsachen überprüft und kein falsches Zeugnis wider den Nächsten ausspricht.

Was „gegen alle Wahrheit und Liebe“ dem Volk eingeredet wird

»Die Lehre der reformierten Kirchen von der Gnadenwahl und damit zusammenhängenden Lehrstücken…

  • führe die Gemüter der Menschen durch einen gewissen eigentümlichen Geist und Richtung von aller Frömmigkeit und Gottesfurcht ab. Sie sei ein Ruhekissen des Fleisches und des Teufels und eine Burg des Satans, aus der er allen auflauere, die meisten verwunde und viele mit den Pfeilen der Verzweiflung oder Sicherheit tödlich treffe.
  • Sie mache Gott zum Urheber der Sünde, zu einem Ungerechten, einem Tyrannen, einem Heuchler und
  • sei nichts anderes als verfälschter Stoizismus, Manichäismus, Libertinismus und Islam.
  • Sie mache die Menschen fleischlich sicher, da sie nach ihr überzeugt wären, es schade der Seligkeit der Erwählten nicht, wie sie auch lebten, und deshalb könnten sie in Sicherheit auch die schwersten Frevel begehen.
  • Den Verworfenen helfe es nicht zur Seligkeit, wenn sie auch alle Werke der Heiligen wirklich vollbrächten.
  • Durch dieselbe würde gelehrt, dass Gott nach der bloßen und reinen Willkür seines Willens, ohne alle Rücksicht auf irgendeine Sünde und ohne Ansehen den größten Teil der Welt zur ewigen Verdammnis vorherbestimmt und geschaffen habe.
  • Auf dieselbe Weise, wie die Erwählung die Quelle und die Ursache des Glaubens und der guten Werke sei, so sei die Verwerfung die Ursache des Unglaubens und der Unfrömmigkeit.
  • Viele Kinder der Gläubigen würden von der Brust der Mutter unschuldig fortgerissen und tyrannisch in die Hölle gestürzt, so dass ihnen weder die Taufe noch die Gebete der Kirche bei ihrer Taufe etwas helfen könnten.«

Unschwer erkennt man, dass kontemporären, arminianisch denkenden Christen nichts Neues als „Argument“ gegen ihre biblisch glaubenden Geschwister einfällt. Es wird einfach immer wieder dasselbe Falsche, Verleumderische, Unsinnige und Unbiblische behauptet, auch wenn die Verleumdeten schon oft das Gegenteil bezeugt haben (siehe im folgenden Zitat). Dass diese Vorwürfe schon vor Jahrhunderten diskutiert und entkräftet wurden, wissen die arminianisch denkenden Christen nicht oder ignorieren es willentlich. Hier ist der Spruch vom „getretenen Quark“ tragisch zutreffend.

Was die Verantwortung jedes Christen ist, wenn er solche Behauptungen hört

„Und was der Art mehr ist, was die reformierten Kirchen nicht nur nicht anerkennen, sondern von ganzem Herzen verabscheuen.

Deshalb beschwören wir beim Namen des Herrn alle, welche den Namen unseres Heilandes Jesus Christus gottesfürchtig anrufen, dass sie über den Glauben der reformierten Kirche nicht aus den hier- und dorther zusammengehäuften Schmähungen oder aus den besonderen Äußerungen einiger älterer oder neuerer Lehrer, die oft entweder falsch angeführt oder entstellt und zu einem anderen Sinn verdreht sind, urteilen, sondern aus den öffentlichen Bekenntnissen dieser Kirchen und aus dieser Darlegung der rechtgläubigen Lehre, die durch diese Lehrregel festgestellt ist.

Die Verleumder aber selbst ermahnen wir ernsthaft, dass sie überlegen mögen, welch schwerem Gericht Gottes sie verfallen würden, wenn sie gegen so viele Kirchen und so vieler Kirchen Bekenntnisse falsches Zeugnis reden, das Gewissen der Schwachen beunruhigen und sich bemühen, vielen die Gemeinschaft der wahrhaft Gläubigen verdächtig zu machen.“

Was die Verkündiger des biblischen Glaubens beachten sollen

„Zuletzt ermahnen wir alle Diener Gottes im Evangelium Christi, dass sie bei Durchnahme dieser Lehre in Schulen und Kirchen fromm und gottesfürchtig zu Werke gehen, sie sowohl mündlich als schriftlich zum Ruhm des göttlichen Namens, zur Heiligkeit des Lebens und zum Trost niedergeschlagener Gemüter anwenden, mit der Schrift nach der Gleichmäßigkeit des Glaubens nicht nur denken, sondern auch sprechen und sich endlich aller der Ausdrücke enthalten, welche die uns vorgeschriebenen Grenzen des richtigen Sinnes der heiligen Schriften überschreiten und den nichtswürdigen Sophisten eine gute Gelegenheit bieten könnten, die Lehre der reformierten Kirche zu verhöhnen oder zu verleumden.

Der Sohn Gottes, Jesus Christus, der, zur Rechten des Vaters sitzend, den Menschen Gaben spendet, heilige uns in der Wahrheit, führe die, welche irren, zur Wahrheit, verschließe den Verleumdern der rechten Lehre den Mund und erfülle die treuen Diener seines Wortes mit dem Geist der Weisheit und Unterscheidung, damit alle ihre Reden zum Ruhm Gottes und der Erbauung der Zuhörer dienen. Amen.

Textquellen der Langzitate

Leseempfehlungen

  • Greg Forster, Fünf Mythen über den Calvinismus. (Artikel auf Evangelium21.net vom 3. Dezember 2018).
    • Mythos 1: Wir haben keinen freien Willen.
    • Mythos 2: Wir werden gegen unseren Willen gerettet.
    • Mythos 3: Wir sind total verdorben.
    • Mythos 4: Gott liebt die Verlorenen nicht.
    • Mythos 5: Der Calvinismus befasst sich hauptsächlich mit Gottes Souveränität und Prädestination.
  • Michael Haykin, Fünf Mythen über Johannes Calvin. (Artikel auf Evangelium21.net vom 24. Juli 2020).
    • Mythos Nr. 1: Calvin ließ Michael Servet hinrichten.
    • Mythos Nr. 2: Der Tyrann Calvin übte in der Hauptzeit seines Wirkens in Genf von 1541 bis 1564 in der Stadt eine Gulag-ähnliche Herrschaft aus.
    • Mythos Nr. 3: Calvins Theologie lässt sich mit dem Akronym TULIP zusammenfassen.
    • Mythos Nr. 4: Calvins monergistische Soteriologie bringt eine Tendenz zum Antinomismus mit sich.
    • Mythos Nr. 5: Calvin hatte kein Interesse an Mission.
  • Kenneth J. Stewart, Ten Myths About Calvinism – Recovering the Breadth of the Reformed Tradition. Downers Grove, IL: InterVarsityPress und Nottingham, England: Apollos, 2011.

Der Spruch zu guter Letzt

He that hath a head of wax musst not walk in the sun.

Was die „Fünf Punkte des Calvinismus“ nötig machte

Was man heute als die „Fünf Punkte des Calvinismus“ bezeichnet, gehört seit über 400 Jahren verbindlich zum reformierten Glaubensinhalt, ist aber auch Glaubensinhalt vieler anderer Christen, die sich in der Lehre – speziell in der Heilslehre – alleine auf Gottes Wort gründen. Diese „5 Punkte“ werden besser mit „Die Lehren der Gnade“ bezeichnet. Gnade und Barmherzigkeit sind zwei der Vollkommenheiten Gottes, die Er uns in besonders auffälliger Weise geoffenbart hat (2Mose 33,19; 34,6–9; Johannes 1,16 u.v.a.). Daher sind sie auch zentral wichtig für unsere Gotteserkenntnis und damit für die Anbetung Gottes.

Die „Lehren der Gnade“ sind also unverzichtbar wichtig und wertvoll. Man muss jedoch verstehen, dass der „Calvinismus“ (i.S.v. Glaubensinhalt der Reformierten) nicht (nur) aus (diesen) 5 Punkten besteht. Vielmehr sind dem reformiert Glaubenden Hunderte älterer und weiterer „Punkte“ genauso verpflichtender Glaubensinhalt. Diejenigen Nichtreformierten, die sich heute als „5-Punkte-Calvinisten“ bezeichnen, müssten zutreffender sagen, dass sie an „Die Lehren der Gnade“ glauben. Diese Lehren lassen sich (frühestens seit 1905!) mit dem Akrostichon TULIP in Erinnerung rufen (s.a.: TULIP – Wer hat’s erfunden? ). Sie wurden notwendig als Zurechtweisung formuliert, als die reformierte Kirche von Falschlehre(r)n angegriffen wurde und der Antrag gestellt wurde, diese Falschlehren in das Glaubensbekenntnis der Kirche aufzunehmen. Robert Godfrey ordnet die „5 Punkte“ so ein: „Der Calvinismus hat fünf Antworten auf die fünf Irrlehren des Arminianismus. Die Lehrregeln antworten Punkt für Punkt auf die arminianische Zusammenfassung, die 1610 vorlegt wurde.“ (Artikel: Gründe für Dordrecht, 2019)

Der damalige politische Streit war immer auch ein religiöser, da die Römische Kirche es gewohnt war, ihre Macht wie im Kirchlichen so auch in der Politik auszuüben. Romanisierungstendenzen sind als Ergebnis aktiver Gegenreformation und andererseits mangelnder Lehrfestigkeit der „Protestanten“ daher immer wieder wahrzunehmen, wie damals so auch heute (s.z.B. Gemeinsame Erklärung), wenngleich die Taktik und Methoden angepasst werden.

Die inhaltliche Beurteilung der „Fünf Punkte“ der Protestler (Arminianer)

Das Lehrsystem, das als „Calvinismus“ bekannt geworden (oder verleumdet worden) ist, behauptet, dass es eine richtige Darstellung der biblischen Heilslehre ist. Daneben gibt es verschiedene andere Lehrsysteme bzgl. der Heilslehre mit verschiedenen Graden des Unglaubens. Der „Calvinismus“ als theologisches Lehrsystem wurde natürlich nicht von der Synode von Dordrecht (Dordt) im Jahr 1619 [1] erfunden, sondern dort nur gegen Angriffe aus der Kirche verteidigt und als die in der Heiligen Schrift enthaltene Heilslehre bekräftigt. Diese Verteidigung wurde 1619 in „fünf Punkten“ (eigentlich als „Lehrregel“) formuliert, da es die Antwort auf die als unbiblisch beurteilten fünf Punkte ist, die die „Remonstranten“ („Protestler“; heute meist: „Arminianer“) der Kirche von Holland 1610 vorgelegt hatten. Die Lehren der arminianisch geprägten „Remonstranten“ wurden klar als Irrlehre bezeichnet und verurteilt.

Die Form der Beurteilung der „Fünf Punkte“ der Protestler (Arminianer)

Die Synode von Dordrecht war in der Verurteilung und Zurückweisung verbal nicht zimperlich. Sie erklärte in Reaktion auf die arminianischen und remonstrantischen Artikel und Meinungen in der „Lehrregel von Dordrecht“ (1619) [1] relativ offen und robust

  • dass Arminius und die Remonstranten „die Pelagianische Irrlehre wieder aus der Hölle hervorgebracht“ hatten.
  • Sie sagten von den Arminianern, sie „betrügen die Einfältigen“,
  • ihre arminianischen Lehren seien „eine Erdichtung des menschlichen Gehirns, ohne die Schrift ausgedacht“,
  • ein „schändlicher Irrtum“,
  • dass sie „nach der Gesinnung des Pelagius riecht“,
  • „der ganzen Schrift widerstreitet“ und „der Schrift widerspricht“,
  • ein „grober Irrtum“ sind,
  • „in Widerstreit mit der Erfahrung der Heiligen“ stehen,
  • „den klaren Zeugnissen der Schrift widerstreiten“,
  • dass sie Remonstranten „danach trachten, dem Volk das verderbliche Gift des Pelagianismus einzuflößen“,
  • „sie widersprechen dem Apostel“ und „sie widersprechen dem Heiland“,
  • ihre Lehre „verschmäht die Weisheit des Vaters und die Verdienste Jesu Christi und widerstreitet der Heiligen Schrift“,
  • sie „widerstreitet den klaren Zeugnissen der Schrift“,
  • sie „ist völlig pelagianisch und zu der ganzen Schrift im Widerspruch“.
  • Die Christen sollten wissen, dass „die alte Kirche diese Lehre schon seit langem in den Pelagianern […| verurteilt“ hat,
  • dass diese Lehre „einen deutlichen Pelagianismus offenbart“ und
  • dass „diese Meinung die Gnade, Rechtfertigung, Wiedergeburt und beständige Bewahrung Christi kraftlos macht“.

Die „Fünf Punkte“ der Protestler (Arminianer) sind Irrlehre, nicht nur Irrtum

Es wurde also nicht beschönigend von tolerierbarer „anderer Auffassung“, „anderer Erkenntnis“ o.ä. oder tolerierbar geringem Irrtum geredet (mit Entschuldigungen wie: „Wir alle irren mal“ und „Wir erkennen nur stückweise“, was natürlich Beides stimmt), sondern entlarvend von der Wiederkehr alter Irrlehren (Pelagianismus) und von Widerspruch zur Lehre der Heiligen Schrift.

Die rechtgläubigen Professoren, Theologen und Geistlichen Hollands und Englands versuchten daher beständig und aktiv, die Lehre der Arminianer zu unterdrücken und die Ausübung jenes Glaubens zu verbieten, den sie entschieden als häretisch verurteilten. Dies gelang ihnen durch die Einberufung der Synode von Dort recht wirksam. Aus diesen Gründen wurde der Arminianismus als (nichttolerierbare) Irrlehre (Häresie) – und nicht nur als (tolerierbarer) Irrtum – angesehen. Dieses Bewusstsein haben anscheinend manche „bibeltreue“ Gemeinden, Gemeinschaften und Missionswerke leider verloren.

Die Psychologisierung des Konflikts

Immer wieder gab es Versuche, die enormen lehrhaften Differenzen in diesem Konflikt herunterzuspielen und auf rein menschliche und persönliche Umstände und Lösungen abzuzielen. Wer als Theologe scheitert, versucht sich dann als Soziologe oder Psychologe? Dies ist gut zu beobachten beim bekannten Konflikt zwischen John Wesley und George Whitefield im 18. Jhdt., der in dieser Sache, insbes. in der Lehre von der Erwählung und der Heilssicherheit, tobte.[3] Whitefield schrieb in diesem Zusammenhang zurecht öffentlich an Wesley: „Die Kinder Gottes stehen in Gefahr, dem Irrtum zu verfallen. […] Oh, Sir, was ist denn das für eine Logik, oder besser: Sophistik?“ […] Sir, wie absurd argumentiert Ihr an dieser Stelle!“ (Brief vom 24.12.1740 von Bethesda, GA aus). Gleichzeitig verband er seine sachlich scharfe Kritik an der Irrlehre Wesley mit respektvollen Formulierungen gegenüber der Person des Gegners. Whitefield war nicht bereit, sein sachlich scharfes Urteil vom Ziel einer menschlichen Versöhnung trüben zu lassen, oder dem menschlichen Vertragen die Wahrheit und Gesundheit der Glaubenden zu opfern.

Es geht im Kern um nichts Geringeres als unser Gottesbild und unsere Anbetung

Gemäß der Lehren der Gnade wird das Heil durch die allmächtige Kraft des dreieinigen Gottes vollbracht: Der Vater hat ein Volk auserwählt, der Sohn ist für sie gestorben, der Heilige Geist macht den Tod Christi wirksam, indem er die Auserwählten zum Glauben und zur Umkehr bringt und sie dadurch veranlasst, dem Evangelium willig zu gehorchen (vgl. Hesekiel 36; Johannes 3, 6 u.a.).

Der Kreis der so gnädig Beschenkten wurde vor der Zeit allein durch göttliches Erwählen festgelegt und bleibt bei allen Heilswerken der Personen der Trinität (Opera ad extra) stets der selbe (s. a. Römer 8, 28–30). Diejenigen, für die der menschgewordene Sohn Gottes aus Liebe zum Vater und „den Seinigen“ (Johannes 13,1) im Opfer stirbt, sind exakt jene, die sich der Vater vor aller Zeit zum Besitz genommen hatte (Johannes 17,6b: „Dein waren sie“) und die er dann dem Sohn übergeben hatte („Mir hast du sie gegeben“, Johannes 17,6b), damit sie „die Seinigen“ seien, die er „bis aufs Äußerste“ und ewig göttlich lieben würde (Johannes 17,2.6.9.24). Wer diese Transaktion der Liebe nicht erfasst, glaubt, liebt, anbetet, verkündigt, dessen Gottesbild hat schon im Kernbereich erhebliche Mängel. Entsprechend dysfunktional wird seine Heilslehre. Würde es doch endlich begriffen: Erwählung zum Heil – und damit zur ewigen Gemeinschaft und Einheit – ist eine Liebesgeschichte! Eine Liebesgeschichte des Allmächtigen, der Licht und Liebe ist.

Der Streit zwischen der biblischen Auffassung des Heils bei den Reformatoren (und Reformierten) und bei den Gegen-Reformatoren ist im Kern immer auch ein Kampf zwischen einem gottzentrierten und einem menschzentrierten Verständnis der göttlichen Heilsveranstaltung. Die Heilige Schrift lehrt: Der gesamte Prozess, samt Erwählung, Erlösung, Wiedergeburt, ist das Werk Gottes und geschieht allein aus Gnade (Epheser 2,8–9). Auf diese Weise bestimmt Gott, und nicht der Mensch, wer die Gabe des Heils empfängt. Und Er macht das ganz gezielt so, dass Er am Ende alleine allen Dank und alle Anbetung dafür erhält (Römer 11,33–36): Soli Deo Gloria!


Anmerkungen

[1] Die Dordrechter Synode (auch Synode von Dordt) war eine nationale Versammlung der niederländischen reformierten Kirche unter Beteiligung von ausländischen reformierten Delegationen, die vom 13. November 1618 bis zum 9. Mai 1619 in Dordrecht stattfand. Siehe auch: 400 Jahre Synode in Dordrecht. Vgl. auch die Ausarbeitung Gründe für Dordrecht – Zur Entstehung und Bedeutung der Synode von Dordrecht von Robert Godfrey auf der Website von Evangelium 21 (2019) (Link).

[2] Text in Deutsch entweder online (SERK Deutschland) oder als Dokument (PDF).

[3] Sehr gute Darstellung in der Whitefield-Biografie von Benedikt Peters: George Whitefield: Der Erwecker Englands und Amerikas. 2. Aufl. (Bielefeld: CLV, 2003), leider vergriffen, und Christian Klein: George Whitefield: Das Leben des Evangelisten und sein Konflikt mit John Wesley (PDF).

Die Pflicht zum Widerstand gegen Falschlehre (J.C. Ryle)

John Charles Ryle (1816–1900)

Der ursprüngliche Artikel trägt die Überschrift Opposing False Doctrine und erschien in seiner Buchreihe Expository Thoughts on the Gospels (1869).

Und er rief die Volksmenge herzu und sprach zu ihnen: Hört und versteht! Nicht was in den Mund eingeht, verunreinigt den Menschen, sondern was aus dem Mund ausgeht, das verunreinigt den Menschen.
Dann traten seine Jünger herzu und sprachen zu ihm: Weißt du, dass die Pharisäer Anstoß genommen haben, als sie das Wort hörten?
Er aber antwortete und sprach: Jede Pflanze, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, wird ausgerissen werden. Lasst sie; sie sind blinde Leiter [der] Blinden. Wenn aber ein Blinder einen Blinden leitet, werden beide in eine Grube fallen.
Petrus aber antwortete und sprach zu ihm: Deute uns dieses Gleichnis.
Er aber sprach: Seid auch ihr noch unverständig? Begreift ihr nicht, dass alles, was in den Mund eingeht, in den Bauch geht und in [den] Abort ausgeschieden wird? Was aber aus dem Mund ausgeht, kommt aus dem Herzen hervor, und das verunreinigt den Menschen. Denn aus dem Herzen kommen hervor böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsche Zeugnisse, Lästerungen; diese Dinge sind es, die den Menschen verunreinigen, aber mit ungewaschenen Händen essen verunreinigt den Menschen nicht. (Matthäus 15,10-20)



In diesem Abschnitt gibt es zwei auffällige Aussagen des Herrn Jesus. Die eine bezieht sich auf falsche Lehre, die andere bezieht sich auf das menschliche Herz. Beide Aussagen verdienen unsere größte Aufmerksamkeit.

Falsche Lehre

In Bezug auf falsche Lehre erklärt unser Herr, dass es eine Pflicht ist, sie zu bekämpfen, dass ihre endgültige Zerstörung sicher ist und dass man sich von ihren Lehren distanzieren sollte. Er sagt: »Jede Pflanze, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, wird entwurzelt werden. Schenkt ihr keine Beachtung.«

Aus der Untersuchung des Textes geht hervor, dass die Jünger überrascht waren von den scharfen Worten unseres Herrn über die Pharisäer und ihre Traditionen. Wahrscheinlich hatten sie sich von Jugend an daran gewöhnt, sie als die weisesten und besten Menschen anzusehen. Sie waren erschrocken, als sie hörten, wie ihr Meister sie als Heuchler anprangerte und sie beschuldigte, das Gebot Gottes zu übertreten. » Weißt du,« sagten sie, »dass die Pharisäer Anstoß genommen?« Dieser Frage verdanken wir eine erklärende Aussage unseres Herrn – eine Aussage, die sonst vielleicht nie die Beachtung gefunden hätte, die sie verdient.

Die klare Bedeutung der Worte unseres Herrn ist, dass eine falsche Lehre, wie die der Pharisäer, wie eine Pflanze war, der man keine Gnade erweisen sollte. Es war eine »Pflanze, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat«, und eine Pflanze, die auszureißen die Pflicht war, was auch immer sie anrichten mochte. Es war keine Nächstenliebe, sie zu verschonen, denn sie schadete den Seelen der Menschen. Es spielte keine Rolle, dass diejenigen, die sie pflanzten, hohe Ämter innehatten oder gelehrt waren. Wenn eine Lehre dem Wort Gottes widerspricht, muss sie bekämpft, widerlegt und verworfen werden. Seine Jünger mussten daher verstehen, dass es richtig war, allen Lehren zu widerstehen, die unbiblisch waren, und alle Lehrer, die diese Lehren fortwährend brachten, unbeachtet stehen zu lassen und sich von ihnen zu distanzieren: »Lasst sie!« Früher oder später würden sie feststellen, dass alle Irrlehren völlig umgestürzt und zu Schanden gemacht werden. Nichts wird Bestand haben außer dem, was auf Gottes Wort gegründet ist.

In diesem Ausspruch unseres Herrn stecken Lektionen von tiefer Weisheit, die dazu dienen, die Pflicht manches bekennenden Christen zu beleuchten. Lasst uns diese Lektionen gut überfliegen und erkennen, was sie uns lehren. Aus dem praktischen Gehorsam gegenüber dem Ausspruch des Herrn »Lasst sie!« entstand auch die segensreiche protestantische Reformation. Diese Lektionen Lehren verdienen also unsere größte Aufmerksamkeit.

Sehen wir hier nicht, dass wir verpflichtet sind, im Widerstand gegen falsche Lehren unerschrocken zu sein? Zweifellos sehen wir diese Pflicht. Keine Angst, Anstoß zu erregen, keine Furcht vor kirchlicher Zensur sollte uns zum Schweigen bringen, wenn Gottes Wahrheit in Gefahr steht. Wenn wir wahre Nachfolger unseres Herrn sind, sollten wir freimütige, unerschrockene Zeugen gegen den Irrtum sein. »Die Wahrheit«, sagt Musculus, »darf nicht unterdrückt werden, denn die Menschen sind böse und blind.«

Sehen wir nicht erneut die Pflicht, Irrlehrer zu verlassen, wenn sie ihren Wahn nicht aufgeben wollen? Zweifellos ja. Kein falsches Feingefühl, keine falsche Demut sollten uns davor zurückschrecken lassen, die Dienste eines Geistlichen zu fliehen, der Gottes Wort widerspricht. Es ist zu unserem eigenen Verderben, wenn wir uns unbiblischer Lehre ausliefern. Und es wird ganz unsere eigene Schuld sein, wenn wir entsprechend im Glauben Schaden nehmen. Um es mit den Worten von Whitby zu sagen: »Es kann niemals richtig sein, einem Blinden in den Graben zu folgen.«

Erkennen wir, als letztem Punkt, nicht auch die Pflicht zur Geduld, wenn wir zuschauen müssen, wie falsche Lehren mehr und mehr zunehmen? Zweifellos erkennen wir diese Pflicht. Wir können uns mit dem Gedanken trösten, dass sie nicht lange Bestand haben werden. Gott selbst wird die Sache seiner Wahrheit verteidigen. Früher oder später wird jede Irrlehre »ausgerissen werden«. Wir sollen nicht mit fleischlichen Waffen kämpfen, sondern warten, predigen, protestieren und beten. Früher oder später, sagte Wycliffe, »wird die Wahrheit obsiegen«.

Das Herz des Menschen

Was das Herz des Menschen betrifft, erklärt unser Herr in diesen Versen, dass es die wahre Quelle aller Sünde und Verunreinigung ist. Die Pharisäer lehrten, dass die Heiligkeit von Speisen und Getränken von körperlichen Waschungen und Reinigungsriten abhing. Sie meinten, dass alle, die ihre Traditionen in diesen Dingen befolgten, vor Gott rein und sauber seien, und dass alle, die diese Traditionen vernachlässigten, unrein und unrein seien. Unser Herr verwarf diese elende Lehre, indem er seinen Jüngern zeigte, dass die wahre Quelle aller Verunreinigungen nicht außerhalb des Menschen liegt, sondern in seinem Inneren: »Aus dem Herzen«, sagte er, »kommen hervor böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsche Zeugnisse; diese Dinge sind es, die den Menschen verunreinigen«. Wer Gott recht dienen will, braucht etwas viel Wichtigeres als körperliche Waschungen: Er muss danach streben, »ein reines Herz« zu haben.

Was für ein schreckliches Bild des menschlichen Wesens haben wir hier vor uns! Und es wurde auch noch von jemand gezeichnet, der genau wusste, was im Menschen ist. Was für ein furchtbares Verzeichnis ist das davon, was in unserer eigenen Brust steckt! Welch traurige Liste von Samen des Bösen hat unser Herr aufgedeckt, die tief in jedem von uns liegen und jederzeit bereit sind, ins aktive Leben zu treten! Was können die Stolzen und Selbstgerechten sagen, wenn sie eine solche Stelle wie diese lesen? Hier skizziert der Herr nicht das Herzen eines Räubers oder Mörders, sondern berichtet wahr und getreu über die Herzen aller Menschen. Möge Gott uns gewähren, dass wir gut darüber nachdenken und weise werden!

Lasst es uns zu einem festen Vorsatz machen, dass der Zustand unseres Herzens die Hauptsache unseres Glaubenslebens sein soll. Möge es uns nicht genügen, in die Kirche zu gehen und die äußeren Formen der Religion einzuhalten. Lasst uns viel tiefer blicken, als nur so weit, und vielmehr danach trachten, ein »aufrichtiges Herz vor Gott« zu haben (Apostelgeschichte 8,21.) Das rechte Herz ist ein Herz, das mit dem Blut Christi besprengt, durch den Heiligen Geist erneuert und durch den Glauben gereinigt wurde. Lasst uns niemals ruhen, bis wir in uns das Zeugnis des Geistes Gottes darüber finden, dass Gott in uns ein reines Herz geschaffen und alles neu gemacht hat (Psalm 51,10. 2Korinther 5,17).

Schließlich soll es uns fester Vorsatz sein, alle Tage unseres Lebens unser »Herz mehr als alles, was zu bewahren ist« zu behüten (Sprüche 4,23.) Selbst nach der Erneuerung sind unsere Herzen schwach. Selbst nachdem wir den neuen Menschen angezogen haben, sind unsere Herzen trügerisch. Vergessen wir nie, dass unsere größte Gefahr von innen kommt. Die Welt und der Teufel zusammen können uns nicht so viel Schaden zufügen, wie unser eigenes Herz, wenn wir nicht wachen und beten. Glücklich ist, wer sich täglich an die Worte Salomos erinnert: »Wer auf sein Herz vertraut, der ist ein Tor; wer aber in Weisheit wandelt, der wird entkommen« (Sprüche 28,26).

Über den Autor

John Charles Ryle (1816–1900) war war der erste anglikanische Bischof von Liverpool. Er ist inzwischen auch in Deutschland durch seine Bücher Seid heilig (Holiness), Gedanken für junge Männer (Thoughts for young men), Mit Gott auf dem Weg (Walking with God), Die Pflichten der Eltern und Beten Sie? bekannt. Er gilt als einer der größten viktorianischen Evangelikalen. Spurgeon nannte ihn den »besten Mann der Kirche Englands« (unter Verwendung von: https://de.wikipedia.org/wiki/John_Charles_Ryle). – Übersetzt von grace@logikos.club

Literaturverweise

  • Do Not Tolerate False Teaching by J.C. Ryle (im Web hier)
  • 8 Symptoms of False Doctrine von J.C. Ryle (im Web hier)

Wenn Bibelstellen nur noch vorgefasste Meinungen belegen sollen – Ein Kommentar zu einem Kommentar in »Fest & Treu« (01/2022)

In Fest & Treu (FuT 177) wurde ein Kommentar/Leserbrief von zwei Autoren »in unserem CLV-Team« (Alexander Struck und Gerrit Alberts, im Folgenden mit „S&A“ abgekürzt) abgedruckt, der sich auf den Beitrag »Glaubensprüfung« von Friedemann Wunderlich in FuT 176 (S. 4–5) bezog.[1] Dieser Kommentar wirft Fragen auf, denen man nachgehen sollte. Die Autoren verwenden m. E. Argumente, die weder der Chronologie noch den von ihnen als Beleg angegebenen Bibelstellen gerecht werden. Sachliche und biblische Wahrheit im Argument ist in der Tat keine nebensächliche, sondern eine Hauptsache, um die wir kämpfen müssen. Hier einige der m. E. anzusprechenden Behauptungen oder Meinungen (M) und mein bescheidender Beitrag auf der Suche nach tragfähigen Antworten.

M1 | Paulus lehre, dass man selbst einem tyrannischen, Christen verfolgenden und tötenden Nero zu folgen habe

Die Autoren S&A schreiben: »Die Apostel […] ermahnten die Gläubigen sogar dann dazu [zur Unterordnung unter die staatlichen Autoritäten], als der äußerst willkürliche, moralisch verdorbene Despot und Christenmörder Nero an der Macht war.«

  • Aus dem Basiswissen zum NT zunächst ein paar wesentliche chronologische Daten: Paulus schrieb seinen Brief an die Gemeinde in Rom um 55–58 n. Chr., wahrscheinlich 57 n. Chr. (s. J. MacArthur, Basisinformationen; E. Mauerhofer, Einleitung NT, Bd. 2). Neros Kaiserzeit war 54–68 n. Chr. Mit seinem Regierungsantritt 54 n. Chr. wurde das Edikt des Claudius, das die Vertreibung der Juden und Judenchristen aus Rom verfügte (49 n. Chr.), aufgehoben (F. F. Bruce, Basiswissen), also eine positive(re) Situation für die Gemeinde geschaffen. Der Brand Roms war 64 n. Chr. Die Neronische Christenverfolgung und die damit verbundenen Gräuel geschahen in den Jahren 64– 65 n. Chr., fanden also erst etliche Jahre nach der Abfassung des Römerbriefes statt. 
  • S&A stellen dies aber chronologisch und argumentativ verkehrt herum dar. Als Paulus die Gläubigen zur Unterordnung ermahnte, war Nero noch lange nicht als »Christenmörder« aufgetreten. Paulus war sicherlich nicht naiv bezüglich böser Herrscher und Tyrannen, wie beispielsweise jene zivilen und religiösen Obrigkeiten, die seinen und unseren Herrn ermordeten (Apg 3,13–15; 4,26–30). Angesichts der chronologischen Fakten kann man wohl nur sagen, dass Paulus beim Schreiben von Römer 13 Neros (oder anderer Tyrannen) Bosheit weder ignorierte noch beschönigte, aber von Neros Christenverfolgung als Hintergrund seines Briefes an die Römer zu reden, ist jedenfalls ein AnachronismusDas Argument der Brüder S&A ist damit m. M. n. hinfällig.[2]

M2 | Das Gesetz im AT lehre, dass man alle – auch gesunde – Geschwister nach Bibelstellen, die nur von einzelnen symptomatischen und ansteckenden Kranken reden, zu behandeln habe

  • Die Verwirrung ist hier mehrfach: (1) Behandlung von Einzelfällen werden mit Zwangsmaßnahmen gegenüber der Allgemeinheit verwechselt; (2) Gesunde, asymptomatische Menschen seien so zu behandeln, wie erkenntlich kranke und fachmännisch als krank diagnostizierte Menschen. Es ist zu befürchten, dass hier der ungesetzliche Missgriff, dass Gesunde wie Erkrankte, Ansteckende (und letztlich wie „Gefährder“) zu behandeln seien, unreflektiert kolportiert wird. Dies alles sind Missgriffe, die eigentlich jedem auffallen sollten, der mitdenkt und am Text der Heiligen Schrift untersucht, »ob sich dies so verhalte«.
  • Wunderlich schreibt: »„Lockdown“ und „Social Distancing“ sind Fremdworte für die Gemeinde Jesu und stehen immer entgegen der Gebote Gottes.« Die von ihm gemeinten »Gebote Gottes« konkretisiert er im nächsten Satz mit dem zweit-höchsten Gebot der Nächstenliebe: »Es gibt keine Nächstenliebe ohne körperliche Nähe.«
  • Dies provoziert S&A wohl zum Widerspruch und so greifen sie ins AT zurück, um das Gegenteil zu beweisen. Sie verpassen dabei aber das hier Entscheidende, dass diese beiden englischen Neologismen der Pandemiesprache obrigkeitliche Maßnahmen bezeichnen, die stets allgemein und unterschiedslos auch Gesunden auferlegt werden/wurden (Ausnahmen nur für „systemrelevante“ Menschen), während die angezogenen AT-Stellen ausschließlich symptomatisch Erkrankte und fachlich sorgfältig diagnostiziert erkrankte Einzelpersonen betreffen (auch jener Fall, der eine weitere Beobachtung unter Isolation erforderte). Schauen wir uns die angegebenen Bibelstellen an:

(1) 3.Mose 13,46 (»Isolation im Krankheitsfall«)

  • Die Maßnahme der „Isolation“ (»allein soll er wohnen« und »außerhalb des Lagers soll seine Wohnung sein«) wird erst ergriffen, wenn »das Übel« an der Person äußerlich erkenntlich ist. 
  • Gesunden Menschen ohne einschlägig ärztlich diagnostizierte Symptome den Gottesdienstbesuch zu untersagen oder zu verwehren, nur weil sie 1G, 2G, 2G+ oder 3G nicht erfüllen, fällt nicht in die Fallkategorie der angegebenen Bibelstelle. 
  • Die Generalverdächtigung durch die obrigkeitlichen Verordnungen, dass jeder Gesunde potenziell ein „Gefährder“ sei, also jemand, der beabsichtige oder billigend in Kauf nehme, anderen Schaden zuzufügen, „denn er könnte ja krank sein und andere anstecken“, würde das ganze Lager Israels zum Quarantänelager gemacht haben. Das ist absurd, mit dem biblischen Text nicht belegbar und sollte daher nicht für Gemeindeveranstaltungen als Eintrittsr(i)egel vorgeschoben werden.

(2) 3.Mose 13,4 (»Quarantäne bei Infektionsverdacht«)

  • Das »sieben Tage einschließen« erfolgte, wenn Symptome erkenntlich waren, die Diagnose des Priesters jedoch nicht klar und sicher genug zu leisten war. War sie hingegen klar, wurde das »unrein« direkt erklärt (13,3), die Erkrankung lag dann vor. In jedem Fall gilt auch hier: Die Maßnahme erfolgte erst nach einer Untersuchung von Symptomen, nicht bei Symptomlosen oder Gesunden. Ohne Symptome war diese Maßnahme des „isolierten Abwartens“ nicht zu ergreifen.
  • Von S&A wird ja offenbar auf die natürliche Bedeutung dieser biblischen Anweisung im AT abgezielt. Die Anwendung der Stelle 3.Mose 13,4 auf obrigkeitliche COVID-19-Maßnahmen geht an der Tatsache vorbei, dass hier nicht Gesunde unter Generalverdacht weggesperrt werden, sondern symptomatisch Erkrankte. Damit wird hier keine Berechtigung für die Abweisung von Gesunden und Genesenen von der Gottesdienstteilnahme vor Ort geliefert.

(3) 3.Mose 13,44 (»Mund- oder Bartschutz«)

  • Vorweg: Die Versangabe ist wohl falsch, vom »Lippenbart verhüllen« ist erst in V. 45 die Rede. Zweitens: Nicht »Mund«, sondern »Bart« (ELBCLV; aber ESV: upper lip).
  • Auch hier ist klar ein Fall beschrieben, bei dem erkenntlich »das Übel an ihm ist«, nicht: »in« ihm ist; es war also äußerlich symptomatisch.
  • Der verordneten Maßnahme lag eine durch sorgfältige Untersuchung ermittelte Symptomatik vor (»Und besieht ihn der Priester, und siehe…«; 13,43).
  • Fachlich: Die sehr begrenzte und daher mangelnde Schutzwirkung von Gesichtsmasken (medizinische oder FFP2-Masken) gegen Empfang oder Verbreitung von Viren ist von fachlicher Stelle vielfach untersucht, bestätigt und verkündigt worden. Unvollkommener Schutz ist auch da festzustellen, wo wir das Phänomen virentragender Aerosole bedenken. Dass es dazu neben ignoranten auch absichtliche Falschmeldungen gibt, war und ist angesichts der unterschiedlichen Interessenslagen zu erwarten. Dass dauerhaftes Maskentragen erheblichen medizinischen und psychischen Schaden anrichten kann (von CO2-Übersättigung bis Mikrofaserinhalation; verbale und nonverbale Verständnisprobleme bei Jung und Alt, usw.), ist mittlerweile in mehreren Studien belegt worden. Wer sich bemüht, kann das Hin und Her der öffentlichen Verlautbarungen zum Maskentragen herausfinden. Tipp: Follow the money.
  • Interessante Nebenfrage: Was ist bei Frauen zu tun? Auch sie können m. W. an COVID-19 erkranken. Sollen also Frauen keinen „Mund-Nasenschutz“ tragen nach dem „biblisch belegten“ Argument von S&A? Denn das generische Maskulinum kann im Bibeltext ja nicht gemeint sein, wenn (nach S&A) vom Bart die Rede ist.

(4) 2.Chronik 26,21 (»Ausschluss vom Tempel-Gottesdienst bei Infektion«)

  • Hier war der Betreffende (König Ussija) »aussätzig bis zum Tag seines Todes« und »wohnte in einem Krankenhaus (FN: O. in einem abgesonderten Haus) als Aussätziger«. Da Aussatz an den äußerlich erkennbaren Symptomen festzustellen war (26,20: »an seiner Stirn«) und es ein konkreter Einzelfall ist, ist auch diese Stelle für die Abweisung von Gesunden oder von COVID-19 Genesenen wegen einer obrigkeitlich verordneten generellen 1/2/3G-Verordnung inhaltlich völlig ungeeignet.
  • Das AT bespricht (auch hier) den Einzelfall eines akut Erkrankten, dessen Erkrankung symptomatisch ist und die fachlich festgestellt wurde. Wunderlich bespricht mit »Lockdown« und »Social Distancing« jedoch obrigkeitliche Maßnahmen, die die Allgemeinheit treffen. Die Brüder S&A reden völlig am von Bruder Wunderlich Gesagten vorbei.

M3 | Christen würden die biblischen Maßnahmen, die in Israel im Falle eines Aussätzigen verordnet waren, in Frage stellen

S&A schreiben: »Dass ausgerechnet Christen nun diese Maßnahmen in Frage stellen, erschließt sich uns nur schwer.« Da der Kommentar von S&A sich auf den Artikel »Glaubensprüfung« von Friedemann Wunderlich bezieht, muss zuerst einmal festgestellt werden, dass Wunderlich mit keinem Satz die Maßnahmen, die Israel damals verordnet wurden, in Frage stellt. Dieser Vorwurf zielt also ins Leere. Aber es gibt mehr zu beanstanden:

  • Das Argument von S&A setzt stillschweigend (unbewiesen und unbegründet) voraus, dass man den Fall von Aussatz (vermutlich Lepra,  Morbus Hansen) mit dem von COVID-19 vergleichen könne bzgl. Erreger, Ansteckung, Inkubation, Behandlung usw. – Ich vermute, hier reden keine Mediziner.
  • Wunderlich hat nicht getan, was ihm hier unter der generalisierten Adresse »Christen« unterstellt wird. Unterstellungen und Übertreibungen sind kein gutes Mittel, eine sachliche Debatte zu führen, sondern Strohmann-Angriffe. Diese sind fehlerhaft, liefern mithin nichts Gültiges oder gar Widerlegendes zur behaupteten Sache (Näheres zu Straw Man bei en.wikipedia.org).
  • Die Verallgemeinerung auf »Christen« bei bleibendem Verweis auf die von S&A genannten Stellen, die ausdrücklich für das Volk Israel vor ca. 3.400 Jahren galten, muss theologisch und hermeneutisch hinterfragt werden (die medizinische Diskussion lasse ich hier außen vor). Genauso gut könnte man von allen männlichen Christen heute per Mandat und Zwang verlangen, dass sie sich beschneiden lassen, und wohin eine solche Zwangsforderung führt, kann man in der Bibel nachlesen.
  • Mir ist nicht bekannt, dass Gott allgemein allen »Christen« die Vorschriften des Gottesvolkes im Alten Bund auferlegt hätte. Das gilt auch nicht in übertragener und modifizierter Weise gegenüber einer Obrigkeit, die sich heute als Zivilreligion versteht, als Heilsvermittlerin auftritt und im Gegenzug strafandrohend Gehorsam für ihre Maßnahmen einfordert.
  • Mir ist momentan keine ernst zu nehmende christliche Gruppe oder Stimme bekannt, die die zitierten damaligen Maßnahmen bei Aussatz als Unsinn oder als fraglich hinstellen. Eben, eine Strohmann-Attacke. Da sollte man nachbessern.

M4 | Der Lockdown sei in den angezogenen Bibelstellen in 3.Mose und 2.Chronik zu finden, sogar: die Heilige Schrift sage dazu »eine beachtliche Menge«

Was S&A bzgl. des staatlich verordneten »Lockdowns« und seiner Begründung in der Heiligen Schrift behaupten, bedarf schon einiger wilder semantischer Sprünge, um einen Anschein von Gültigkeit zu erwecken. Hinterfragen wir jedoch, was wirklich der Fall ist, zerfällt das Argument.

  • Selbst die WHO erklärte „Lockdown“ zu einem »eher unglücklichen Begriff« (siehe de.wikipedia.org, sub verbo, FN 28).
  • Leonard Mboera et al. definieren den Begriff so: »eine Reihe von Maßnahmen zur Reduzierung der COVID-19-Übertragungen, die ihren Ursprung in der Allgemeinbevölkerung haben, die obligatorisch sind und unzielgerichtet auf die Allgemeinbevölkerung angewendet werden« (ibid).
  • Da alle genannten Bibelstellen von konkreten Einzelfällen mit erkennbarer Symptomatik reden, ist ihre Verwendung für das, was mit dem Begriff Lockdown gemeint ist, völlig verfehlt. Der Begriff Isolation oder Quarantäne wäre u. E. besser geeignet, und er betrifft wiederum nur fachlich erkennbare symptomatisch Erkrankte.
  • Festzuhalten ist: Die genannten Stellen reden inhaltlich nicht vom Sachverhalt eines Lockdowns (s. o.). Damit zerfällt das Argument von S&A.
  • Wo die »beachtliche Menge« von Stellen über Lockdown und Social Distancing in der Bibel sein soll, wird nicht deutlich, zumal schon das halbe Dutzend gelieferte Stellen diese Behauptung nicht belegen kann.
  • Man könnte auch einmal überlegen, warum man Social Distancing sagt, wenn man in den Maßnahmen damit räumliche Distanz – angegeben in Metern (!) – meint. Einen räumlichen oder materiellen Hygieneabstand gegenüber konkreten Ansteckenden einzuhalten ist eine einsichtige Maßnahme, aber wer das Soziale in einer Gruppe gesunder Menschen in Metern (be-) misst, dem ist wohl schwer zu helfen.

Versuch einer Bewertung

1. Sachlichkeit

Die Autoren Strunk und Alberts sind sicher geliebte Brüder im Herrn, wir werden die Ewigkeit miteinander in Glückseligkeit verbringen. Ich schätze Gerrit Alberts langjährig gezeigte Bibeltreue, wohltuende Sachlichkeit und Ausgewogenheit in seinen Beiträgen in FuT. (Den Mitautor Struck und den angegriffenen Bruder Wunderlich kenne ich nicht persönlich.) In diesem Leserbrief konnte ich Bibeltreue oder Sachlichkeit leider nicht wie erwartet, gewohnt und m. M. n. erforderlich feststellen. Ich kann kaum glauben, dass dieser »Kommentars« bzw. »Leserbriefs« (beide Bezeichner werden von S&A verwendet) in FuT erschienen ist.

2. Brüderlichkeit

Der auslösende Artikel von Bruder Wunderlich ist emotional und nicht kühl-sachlich formuliert. Sein Anliegen und sein persönliches Mitgenommensein und Leiden an der Situation ist selbst mit kleinen Herzensohren unschwer herauszuhören. Wenn er z. B. unter »„Kommt her, alle ‚3G‘!“« pointiert schreibt: »Wer so denkt und handelt, hat nichts mehr mit einem Heiland zu tun, der seine Nachfolger auffordert…«, dann versucht Wunderlich hier nicht, jemand »das Heil abzusprechen«, wie S&A ihm dies unterstellen. Der Kontext nach Stil und Inhalt legt m. E. vielmehr nahe, dass Wunderlich hier zum Ausdruck bringt, dass er in solchem Denken und Handeln nicht mehr das Wesen und den Geist Jesu erkennen kann – und dies ist sein Schmerz und seine Klage. Das ist aber etwas völlig anderes, als S&A hier unzulässig überzogen behaupten, um Wunderlich damit argumentativ ins Abseits zu stellen. Ein Argument des Gegenübers ins Absurd-Extreme zu verzerren (und dann zu verdammen) ist ein unzulässiger Kunstgriff der Streitdialektik (nach Arthur Schopenhauers Eristische Dialektik eine Erweiterung; Manuskript 1830), der m. M. n. nicht angewendet werden sollte, zumal nicht unter Brüdern, die alle Den lieben, der Die Wahrheit ist. Leider ist das nicht der einzige Beigeschmack einer Strohmann-Attacke.

3. Christuspriorität

Es gab einmal jüdische Top-Theologen, die behaupteten: »Wir haben keinen König als nur den Kaiser.« (Joh 19,15b). Das ist das Bekenntnis zur Zivilreligion und damit die finstere Antithese zum christlichen Basis-Bekenntnis, dass Christus alleine Haupt seiner Gemeinde ist. Kein „Cäsar“ hat je irgendein Mandat von Gott erhalten, in die Inhalte (Bekenntnis, Lehre, Verkündigung), Abläufe, Strukturen usw. der Gemeinde Christi hineinzuregieren. Vielmehr ist die Obrigkeit von Gott dazu eingesetzt, dass sie das Gute belohnt und das Böse bestraft. Was gut und böse ist, verordnet letztlich Gott, nicht das Verfassungsgericht oder der Gesundheitsminister. Mit gebeugten Knien werden alle Richter und Minister einst Christus Rechenschaft abgeben müssen. Sie daran freundlich und deutlich zu erinnern, ist Christenpflicht.

Dass S&A noch nicht einmal ansatzweise würdigen, dass wir heute in der BRD nicht im römischen Cäsarenreich als Untertanen oder Sklaven leben (s. o.), sondern 2.000 Jahre später als Bürger in einem Rechtsstaat mit grundgesetzlich geschützten – aber vorpolitisch erhaltenen – Grundrechten, ist ein weiterer Anachronismus in der Anwendung des Bibeltextes.

Die Beispiele/Belege der Autoren für die Autorität des Staates, wie Brandschutzgesetz oder DSVGO-EU, sind beliebt, aber kategorial danebengegriffen, denn niemand bestreitet das Mandat der Obrigkeit in diesen grundsätzlich zivilen Dingen. Überhaupt: Meines Wissens hat Brd. Wunderlich nichts gegen das Brandschutzgesetz o. ä. gesagt: Hier riecht es wieder nach Strohmann-Attacke. Ich habe noch gute Erinnerungen an unsere Glaubensgeschwister im Osten vor der Perestroika, die sich verbotener Weise im Wald versammelten und von denen viele in Straflagern aufgerieben wurden. Für mich waren das Glaubenshelden, nicht „ungehorsame Untertanen“, die (angeblich nach Römer 13) Gottes Gericht auf sich gezogen hätten.

Zum Abschluss

Es ist enttäuschend, dass Bruder Wunderlichs Beitrag seitens S&A in FuT keine biblisch treffliche und sachlich hilfreiche Entgegnung oder Kommentierung gegenüber (oder an die Seite!) gestellt werden konnte. Der Kontrast beider Beiträge mag aber auch erhellend sein, wenn man unter den vielen Stimmen Orientierung suchend heraushören will, was (eher) nach der Stimme des Guten Hirten klingt. 

Die Veröffentlichung dieses »Kommentar«s meiner Glaubensbrüder Strunk und Alberts ist zu bedauern, denn –entgegen ihrer Vorrede– rüttelt ein derartiger Beitrag m. M. n. eben doch exemplarisch an den Fundamenten unseres Glaubens, nämlich daran, wie wir Gottes Wort recht auslegen und (dann) trefflich anwenden.


Endnoten

[1] Beide Hefte sind noch als PDF-Download erhältlich auf https://clv.de/ (13.03.2022).
[2] Nicht eingegangen werden kann hier aus Platzgründen: 1. Auf die vielfältigen weiblichen und männlichen Glaubenshelden der Bibel, deren Glaube sich gerade da strahlend und vorbildlich zeigte, als sie die (normal gepflegte) Gefolgschaft und Gehorsam gg. der Obrigkeit verweigerten. 2. Auf die verschiedenen Glaubensbekenntnisse seit der Reformation (in unterschiedlichen Gruppen von Christen), in denen schriftlich niedergelegt wurde, dass absoluter Obrigkeitsgehorsam nicht biblisch ist, dass er vielmehr relativ, d. h. mit Grenzen versehen ist. 3. Auf die wichtige Rolle des individuellen Gewissens, und dass von einem Handeln gegen das Gewissen biblisch stets abzuraten ist. 4. Dass man eine klare Unterscheidung zu machen hat zwischen dem verordneten Amt der Obrigkeit und deren konkreten, jeweiligen Amtsinhabern. Während die römische und jüdische Obrigkeit und deren Gesetzesnormen zur Zeit Jesu als Autoritätsstruktur und damit –in Grenzen– als Mittel der allgemeinen Gnade Gottes angesehen werden müssen (Römer 13), ist Jesu Urteil über die Amtsinhaber und ihren dämonischen Hintergrund (Spiritus Rector) auch klar: »dies ist … die Gewalt der Finsternis.« (Lukas 22,53). Das Recht zur Kapitalstrafe bestand zu Recht, aber das minderte nach apostolischem Zeugnis mitnichten die Schuld der jeweiligen Amtsinhaber am Justizmord am menschgewordenen Sohn Gottes (Apg 2,22–23; 3,14).

Redaktionsstand

30. März 2022. Links zu Straw Man und Schopenhauers Werk Eristische Dialektik eingefügt, da nicht jeder parat hat, was unter einer „Strohmann-Attacke“ oder Eristik zu verstehen ist. Zudem einige kleine Textkorrekturen.

Prayer of Repentance 1996

Pastor Joe Wright sprach vor dem Kansas House of Representatives (USA) am 23. Januar 1996 ein Gebet, das für einigen politischen Aufruhr sorgte. Schon während des Gebets verließen einige Abgeordnete unter Protest den Saal, einige Abgeordnete der Partei der „Demokraten“ machten ihrem Ärger Luft („Intoleranz, „radikale Ansichten). Es wurde unzählig oft in anderen Bundesversammlungen (state legislatures), Rundfunk und Fernsehsehsendungen wiederholt und debattiert. Die Kirche des Pastors, die Central Christian Church in Wichita, erhielt in den folgenden sechs Wochen mehr als 6.500 Anrufe, davon nur 47 negative, und so viel Post, dass die Mitarbeiter der Kirche keinen Raum mehr fanden, sie unterzubringen. Anfragen aus aller Welt baten um Kopien des Gebetstextes, es wurde in Hunderten von Zeitungen und Kirchenblättern abgedruckt und bei vielen Anlässen gebetet. Eine deutsche Bezugnahme fand ich im Buchkalender „Leben ist mehr!” (Bielefeld: CLV, 2020) unter dem Datum 20.01.2021 (Autor: Daniel Zach). Was war so bemerkenswert an diesem Gebet? Sehen Sie selbst:

»Heavenly Father,
we come before you today to ask Your forgiveness and to seek Your direction and guidance. We know Your Word says, „Woe to those who call evil good,“ but that is exactly what we have done. We have lost our spiritual equilibrium and reversed our values.

We confess:
We have ridiculed the absolute truth of Your Word and called it pluralism.
We have worshipped other gods and called it multiculturalism.
We have endorsed perversion and called it alternative lifestyle.
We have exploited the poor and called it the lottery.
We have rewarded laziness and called it welfare.
We have killed our unborn and called it choice.
We have shot abortionists and called it justifiable.
We have neglected to discipline our children and called it building self-esteem.
We have abused power and called it politics.
We have coveted our neighbor’s possessions and called it ambition.
We have polluted the air with profanity and pornography and called it freedom of expression.
We have ridiculed the time-honored values of our forefathers and called it enlightenment.

Search us, Oh God, and know our hearts today; cleanse us from every sin and set us free. Guide and bless these men and women who have been sent to direct us to the center of your will.

I ask it in the Name of Your Son, the living Savior, Jesus Christ.
Amen.«

Eine ähnliche Fassung stammt von Rob Russel, der diese ein Jahr vorher (1995) beim Kentucky Governor’s Prayer Breakfast in Frankfort, der Hauptstadt des Commonwealth of Kentucky, betete.

Prayer of Woke Ideology 2021

Am 3. Januar 2021 betete Reverend Emanuel Cleaver II, Mitglied des Repräsentantenhauses, Parteimitglied der „Demokraten“, Geistlicher der United Methodist Church, ehemaliger Bürgermeister von Kansas City, Missouri, bei der Eröffnung des 117. Kongresses der USA folgendes Gebet:

»Eternal God, noiselessly we bow before Your throne of grace as we leave behind the politically and socially clamorous year of 2020. We gather, now, in this consequential Chamber to inaugurate another chapter in our roller coaster representative government. The Members of this august body acknowledge Your sacred supremacy and, therefore, confess that without Your favor and forbearance, we enter this new year relying, dangerously, on our own fallible nature.

God, at a moment when many believe that the bright light of democracy is beginning to dim, empower us with an extra dose of commitment to its principles. May we, of the 117th Congress, refuel the lamp of liberty so brimful that generations unborn will witness its undying flame. And may we model community healing, control our tribal tendencies and quicken our spirit that we may feel Thy priestly presence even in moments of heightened disagreement. May we so feel Your presence that our service here may not be soiled by any utterances or acts unworthy of this high office. Insert in our spirit a light so bright that we can see ourselves and our politics as we really are––soiled by selfishness, perverted by prejudice and inveigled by ideology.

Now, may the God who created the world and everything in it bless us and keep us. May the Lord make His face to shine upon us and be 
gracious unto us. May the Lord lift up the light of His countenance upon us and give us peace––peace in our families, peace across this land and dare I ask, O Lord, peace even in this Chamber, now and evermore. We ask it in the name of the monotheistic God and Brahma and God known by many names by many different faiths.

A–men and a–woman

Ein methodistischer, „christlicher Geistlicher betet also in einem Atemzug zu dem allein wahren Gott und zu allen Götzen und Göttern dieser Welt. Er scheitert also bereits am Ersten Gebot. Und so macht er damit erst den einen wahren Gott lächerlich und dann sich selbst zur weltweiten Lachnummer: »Amen« hat keinen Sexus – und ganz sicher keine Genderform. Wie sagte er selbst-trefflich: »inveigled by ideology«!

Ad impossibilia nemo obligatur – Zu Unmöglichem ist niemand verpflichtet (?)

Beim Studium der Heiligen Schrift biegt man immer wieder einmal quietschend in Sackgassen falscher Vorannahmen und Denkvoraussetzungen (Presuppositionen), Interpretationsgrundsätzen (Hermeneutik) und Denkweisen (Logik) ab. Dies gilt besonders betreffs der Lehren der Schrift, die uns im Wort beschrieben, aber unserer normalen Erfahrung und „Logik  nicht vertraut, rätselhaft oder unserem menschlich-fleischlichen Denken und Empfinden sogar zuwider sind.

Heilslehre (Soteriologie) – „Logisch“ und/oder biblisch?

Dazu ein fast „klassisches  Beispiel aus der Heilslehre (Soteriologie). Peter Streitenberger schreibt –wie einige lange vor ihm– in seinem Buch Die Fünf Punkte des Calvinismus – Eine Antwort (CMD, 2007) Folgendes: »Es ist ein Fehlschluss menschlicher Logik und in sich widersprüchlich, zu unterstellen, dass das, was Gott dem sündigen Menschen eindeutig und immer wieder befiehlt, eigentlich unmöglich wäre.« (S. 26). Er kritisiert damit Theologen, die er wohl im Widerspruch zu seiner eigenen arminianischen Heilsauffassung sieht. Dank der Vernetztheit der Heilslehre mit anderen Wahrheiten der Schrift verursacht er damit allerdings auch Kollateralschäden an anderer Stelle.

Streitenberger wendet sich in der Vorrede seines Buchs noch gegen die „menschliche Logik, was ihn jedoch im Hauptteil nicht davon abhält, selbst Argumente der Logik anstelle von Aussagen der Heiligen Schrift einzusetzen, siehe Zitat. Dies ist klassische Selbstzerstörung eines vermeintlichen Arguments. Der Irrtum hier ist sogar doppelt, denn (1) beurteilt Streitenberger hier etwas als »Fehlschluss menschlicher Logik und in sich widersprüchlich«, was (2) in der Heiligen Schrift schon an anderer Stelle eindeutig und affirmativ vorkommt. Zum Ersten: Wenn es logisch (richtig) wäre, dann wäre es nicht widersprüchlich und wenn es widersprüchlich wäre, dann wäre es logisch nicht richtig. Was also meint er konkret? Kann man das auch klar sagen?

Streitenbergers Argument lautet: Wenn Gott dem Menschen etwas gebietet, dann bedeute dies, dass der Mensch auch in der Lage sei, dieses Gebot(ene) zu halten. Ein göttlich verordnetes Sollen sei mithin unmoralisch, wenn es das Können/Vermögen des Menschen überschreite. Daher beurteilt er die Aussage als falsch, dass der Mensch etwas, was ihm göttlich geboten ist (z. B. die Buße oder der rettende Glaube; Mk 1,15; Apg 17,30), nicht aus sich selbst heraus tun bzw. erbringen könne. Hier irrt Streitenberger, denn Römer 8,6-7 bezeugt diese Unfähigkeit und Unwilligkeit ausdrücklich: »Denn die Gesinnung des Fleisches ist der Tod, die Gesinnung des Geistes aber Leben und Frieden, weil die Gesinnung des Fleisches Feindschaft ist gegen Gott, denn sie ist dem Gesetz Gottes nicht untertan, denn sie vermag es auch nicht«. Noch klarer kann man wesenhaftes Unvermögen bei gleichzeitigem Verpflichtetsein kaum ausdrücken. Andere Stellen wären dem hinzuzufügen.

Streitenbergers Argument kann auch daran als fehlerhaft erkannt werden, dass uns in der Schrift anhand des Gesetzes das Gegenteil gelehrt wird. Gott hatte eindeutig und unter klarer, scharfer Androhung der ewigen Todesstrafe geboten, dass das Gebot Gottes zu halten sei (z. B. 5. Mose 28,15ff). Er meint es also absolut ernst. Aber er lässt ebenfalls als Wahrheit aufschreiben, dass (außer Jesus Christus) kein Mensch das Gesetz gehalten hat noch je hätte halten können (z. B. Apg 15,10; Römer 3,20–23; 5,20–21). Damit ist gezeigt, dass Gott sehr wohl vom Menschen etwas absolut verlangt (nämlich die Perfektion; z. B. Matthäus 5,48; Jakobus 2,10–11; Römer 3,10), was kein Mensch aus sich heraus zu erbringen vermag. Dieses Beispiel zeigt schon, dass das Argument Streitenbergers (das er mit manchem vor und mit ihm teilt) nicht aus dem Wort der Wahrheit stammen kann, denn dieses Wort ist durchgehend widerspruchsfrei.

Das falsche Argument ist ein alter Hut – aus falschen Quellen gefischt

Dem Kenner der Kirchengeschichte ist nicht verborgen, dass diese Art der Argumentation schon in der Denktradition der „Arminianer” (frühes 16 Jhdt.) oder auch später in der amerikanischen „New Haven-Theology” nach Nathaniel W. Taylor (frühes 19. Jhdt.) auftaucht. Berüchtigt ist auch der angebliche „Erweckungsprediger“ Charles Grandison Finney (1792–1875) und das Bibelseminar in Oberlin (OH, USA, gegr. 1833), dessen zweiter Präsident er war, die die selben falschen Behauptungen vertraten und verbreiteten (jeder könne völlig frei und aus eigenen Kräften das Heil erwerben und absolute Heiligung erreichen).

Die Behauptung »Sollen impliziert Können« ist jedoch als weltlich-heidnisches Rechtsprinzip um einiges älter. Als Grundsatz taucht sie schon in den Digesten (lat. digesta = Geordnetes; didaktische Zusammenstellung von Rechtssätzen) des römischen Rechts auf. Sinnverwandte Prinzipien und Rechtsgrundsätze lauten: »Ad impossibilia nemo obligatur/tenetur« (»Zu Unmöglichem ist niemand verpflichtet«; vgl. BGB § 275 Abs. 2-3); »Lex cogit neminem ad impossibilia« (»Das Gesetz zwingt niemand zu Unmöglichem«); »Ultra posse nemo obligatur« (»Über sein Können hinaus wird niemand verpflichtet«).

Der ungläubige Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) schreibt Ähnliches in seiner Critik der praktischen Vernunft (1788): »Denn, da sie [die reine Vernunft] gebietet, dass solche [Handlungen nach sittlicher Vorschrift] geschehen sollen, so müssen sie auch geschehen können.« (A807, B835). Autonomie ist damit bei Kant Bedingung dafür, dass Moral möglich ist. Autonomie in diesem Sinne ist die Freiheit, nach einem selbst bestimmten Willen zu handeln. Die Absolutsetzung der Autonomie müssen wir aber als Vergottung des Menschen als ethischem Wesen sehen. Kant selbst sagte: »Gott ist also keine ausser mir befindliche Substanz sondern blos ein moralisch Verhältnis in Mir.« ([sic!] Akademie-Ausgabe XXI, S. 149). Damit wird aber die widergöttliche Denkbasis und Denkrichtung schon bloßgelegt. Wo ist Kantsche Philosophie, wo biblische Wahrheit im Argument von Streitenberger?

Dieses im menschlichen Recht gerechterweise oft anzuwendende Prinzip ist aber weder kausale noch logische Implikation: Das Sollen garantiert niemals das Können. Und der Bibelleser weiß zudem sicher: Wenn Gott etwas als Sollen (oder Sein) fordert, ist es stets »heilig, gerecht und gut« (Römer 7,12)!

Es gibt bessere Erklärungen, biblische nämlich

Einige Bibellehrer haben den biblischen Sachverhalt besser ergriffen und mit Begriffen und Metaphern der Bibel erklärt (Schuld, Erlösung, Zurechnung usw.): Nehmen wir an, ein Mensch bekäme für eine gewisse Zeit eine größere Geldsumme anvertraut. Er nimmt hocherfreut die große Summe an, verprasst aber das ganze Geld in Saus und Braus. Zur vereinbarten Zeit kommt der Geber wieder zu ihm und fordert sein Geld zurück. Der Mensch kann aber nichts zurückgeben, ganz einfach deswegen, weil er nichts mehr hat. Außerdem will er gar nichts zurückgeben und streitet jede Forderung ab. Es ist aber völlig klar, dass er die geliehene Summe zurückzahlen muss, denn es war geliehenes Vermögen, es gehört einem anderen. Das faktische Unvermögen liefert hier nicht die Freistellung aus der moralischen Schuld, sondern begründet und vertieft diese zusätzlich. Anders gesagt: Die Forderung des Gläubigers besteht weiter und ist völlig rechtens, auch wenn dem Schuldner die Erfüllung der Forderung faktisch unmöglich ist.

To the Point: Die Forderung nach Rückzahlung der Schuld bedeutet eben nicht, dass diese dem Schuldner faktisch möglich sei. Trotz der Unfähigkeit des Schuldners ist die Forderung des Eigentümers juristisch unanfechtbar und gerecht. – Nun, dies gilt übertragen auch im diskutierten Kontext der biblischen Heilslehre mit Blick auf das menschliche Elend, die Gerechtigkeit Gottes und die Notwendigkeit eines freien Gnadengeschenks vonseiten des Heiland-Gottes. (Das Metapher der Schuld und des Schuldners ist direkt biblisch.)

Ein wesentlicher Denkfehler scheint mir zu sein, dass man die Situation des Sünders, die zu seiner faktischen Unfähigkeit und Unwilligkeit zur Umkehr geführt hat, moralfrei beurteilt, während doch die Heilige Schrift lehrt, dass die Unfähigkeit und Unwilligkeit des in Sünde gefallenen Menschen eine selbstverschuldete ist. Buße und Glauben oder anderen Aktivitäten des Herzens (Willen, Entscheidungen) oder der Hand (Werke) sind nach göttlichem Zeugnis einem Menschen innerlich erst möglich, wenn er diese vorher von außen her empfangen hat. Münchhausen funktioniert auch hier nicht.

Mit Empfang der göttlichen Rettungsgaben ändert sich alles: Es ist alles »aus Gott«, aber durch die freie Gabe Gottes sind im beschenkten Menschen nun Fähigkeit, Wille und gute Tat vorhanden und sein eigen: Es ist dann seine Fähigkeit (Vermögen), sein Wille (Motivation) und seine Tat (Vollbringen). Solange aber das Herz geistlich tot und in der Sklaverei der Sünde verkettet ist, gilt ohne göttliche „Operation am Herzen” (Hesekiel 11,19; 36,26) weiter: »Ihr wollt nicht zu mir kommen, damit ihr Leben habt«, und: »Ihr seid aus dem Vater, dem Teufel, und die Begierden eures Vaters wollt ihr tun« (Johannes 5,40; 8,44). Der ganze Vorgang wird in den Texten von den Segnungen des Neuen Bundes beeindruckend für Israel vorschattend beschrieben (s. z.B. Hesekiel 36,25–36) und im Johannesevangelium vom Sohn Gottes ausgelegt und auf den Glaubenden des NT angewandt. Im Heil kommt es danach nicht zuerst auf die Fähigkeit des Sünders an, sondern auf die Fähigkeit des rettenden Gottes. Er fordert – aber er gibt auch das, was er fordert. Glauben wir das? Dann werden und können wir zugreifen und dann sind wir ewig gerettet.

Gott aber sei Dank, dass ihr Sklaven der Sünde wart, aber von Herzen gehorsam geworden seid dem Bild der Lehre, dem ihr übergeben worden seid! Freigemacht aber von der Sünde, seid ihr Sklaven der Gerechtigkeit geworden.

Römer 6,17-18 (ELB03)


Bekehre mich, damit ich mich bekehre, denn du bist der Jahwe, mein Gott.

Jeremia 31,18b

TULIP – Wer hat’s erfunden?

Es ist üblich geworden, „den Calvinismus” anhand des Akronyms „TULIP” zu beschreiben und zu beurteilen. Von „TULIP” wussten jedoch weder der angebliche Urheber des „Calvinismus“, Johannes Calvin (1509–1564), etwas, noch die reformierten Verfasser der „Lehrregel von Dordrecht“ (1619) in den Niederlanden, noch die reformierten Verfasser der berühmten „Westminster Confession of Faith“ (1647/1648), noch andere dem reformatorischen Glaubensgut folgende Bekenntnisse, wie z. B. die „London Baptist Confession” (1677). Kein Reformator hat „TULIP“ je verwendet. Woher stammt also diese (anachronistische) Idee, „TULIP“ zur Beschreibung des „calvinistischen“ (reformierten) Glaubens heranzuziehen?

Nach einem Beitrag von William H. Vail im New Yorker Wochenmagazin The Outlook aus dem Jahr 1913 gebrauchte ein gewisser Dr. McAfee aus Brooklyn das Akronym „TULIP“ 1905 als erster, um „Die fünf Punkte des Calvinismus” in einem öffentlichen Vortrag in der Presbyterian Union of Newark darzustellen (William H. Vail, The Five Points of Calvinism Historically Considered, in: The Outlook, Vol. CIV (May-August 1913), (New York: The Outlook Company), S. 394–395 (21.06.1913)). – Bei diesem „Dr. McAfee“ handelt es sich wohl um Cleland Boyd McAfee, einem Pastor der Lafayette Avenue Presbyterian Church und späteren Professor für didaktische und polemische Theologie am McCormick Theological Seminary in Chicago. Er war auch Direktor des Presbyterian Board of Foreign Missions. Soweit wir wissen, war dies (1905) der erste Gebrauch des Akronyms „TULIP” als mnemotechnische Hilfe für die Darstellung der reformierten Heilslehre, wie sie in der „Dordrechter Lehrregel” 1619 als Antwort auf fünf Infragestellungen der Heilslehre durch die arminianischen „Remonstranten“ aus dem Jahr 1610 formuliert wurde. McAfee erfand und verwendete das Akronym „TULIP“ 1905 wie folgt (nach W.H. Vail, a. a. O., S. 394):

  • TTotal Depravity
  • UUniversal Sovereignty
  • LLimited Atonement
  • IIrresistible Grace
  • PPerseverance of the Saints.

William H. Vail liefert im o. g. Artikel von 1913 eine Übersicht über fünf damalige Vertreter der reformierten Heilslehre (A bis E, s. Tabelle unten), die er befragt hatte, welches denn ihrer Meinung nach die „Fünf Punkte” seien (1 bis 5, s. Tabelle unten). Bis auf den 5. Punkt (P) ergaben sich bemerkenswerter Weise recht unterschiedliche Bezeichnungen und Reihenfolgen, die in keinem Fall das Akronym „TULIP” ergeben.

Autoren: A = Abbott’s „Dictionary of Religious Knowledge“ | B = Dr. Francis L. Patton, Präsident des Princeton Theological Seminary | C = Dr. Hugh Black, Union Theological Seminary | D = Rev. George B. Stewart, D.D., Präsident des Auburn Theological Seminary | E = Rev. Isaac N. Rendall, D.D., Präsident em. der Lincoln University in Pennsylvania.

Der amerikanische reformierte Theologe Loraine Boettner (1901–1990) wird als nächster angesehen, der das Akronym „TULIP” 1932 für die Darstellung der „Dordrechter Lehrregel” im Speziellen –und der reformatorischen Heilslehre im Allgemeinen– verwendete: »The Five Points may be more easily remembered if they are associated with the word T-U-L-I-P; T, Total Inability; U, Unconditional Election; L, Limited Atonement; I, Irresistible (Efficacious) Grace; and P, Perseverance of the Saints.« (Loraine Boettner: The Reformed Doctrine of Predestination, 1. Auflage, Januar 1932).

Wenn man sich mit der Lehrentwicklung der 500 Jahre seit der Reformation beschäftigt, fällt auf, dass die Darstellung der reformierten Heilslehre mithilfe von „TULIP” weder die Bezeichnungen der fünf „Lehrstücke” in der „Dordrechter Lehrregel” (1619) übernimmt, noch ihrer Aufbaureihenfolge folgt. (Das 5. und letzte Stück macht dabei eine gewisse Ausnahme.) William H. Vail schreibt dazu: »Selbstverständlich zwingt die Übernahme des Kunstwortes [„TULIP”] die fünf Punkte in eine gewisse Reihenfolge und wirft sie damit möglicherweise aus ihrer angemessenen Ordnung und ihrer logischen Reihenfolge (»Of course the adoption of this word [„TULIP”] restricts the order of the five points, and perhaps throws them out of their proper order and logical sequence.«; a.a.O.).

Auch inhaltlich sind die „Fünf Punkte” nicht mit dem reformierten Glauben oder dem sog. „Calvinismus” gleichzusetzen. Der reformierte Theologe Dr. Hugh Black schrieb Anfang des 20. Jahrhunderts: »Ich glaube nicht, dass Calvin sein System in diesen [fünf] Punkten zusammengefasst hätte.« (a.a.O., S. 395). Loraine Boettner schrieb 1932: »Möge der Leser sich gegen eine zu enge Gleichsetzung der Fünf Punkte mit dem calvinistischen Lehrsystem wappnen. Während diese [Fünf Punkte] wesentliche Bestandteile sind, schließt das System doch viel mehr ein. … das Westminster Bekenntnis ist eine recht ausgewogene Darstellung des reformierten Glaubens (oder des Calvinismus) und es gibt auch den anderen christlichen Lehren den ihnen angemessenen Raum.« (a.a.O.). Leonard J. Coppes schrieb 1980 eine Zusammenfassung des reformierten Glaubens mit dem Titel: »Are five points enough? The ten points of Calvinism«. Joel R. Beeke schrieb 2008: »Seine [Calvins] Absicht war es, jeden Bereich der Existenz unter die Herrschaft Christi zu bringen, so dass das gesamte Leben zur Verherrlichung Gottes gelebt werden könne. Darum kann der Calvinismus nicht einfach durch eine Hauptlehre oder mit fünf Punkten oder –wenn wir sie denn hätten!– mit zehn Punkten erklärt werden. Calvinismus ist so komplex wie das Leben selbst.« (Living for God’s Glory: An Introduction to Calvinism, S. XII). Sinclair Ferguson schreibt 2008 in einem Beitrag über das Gotteslob (Doxology): »…die sogenannten fünf Punkte des Calvinismus … [sind] mit Blick auf ihre Entstehung zutreffender als „Die fünf Korrekturen für den Arminianismus” zu bezeichnen« (in: Living for God’s Glory: An Introduction to Calvinism, S. 388).

Auch in unserer Zeit verwenden reformierte Theologen für die Darstellung der reformierten Heilslehre andere Punkte und Bezeichnungen als das verkürzte McAfeesche „TULIP”. Bei Kritikern des sog. „Calvinismus” ist diese anachronistische und verfälschend verkürzte Darstellung allerdings recht beliebt und liefert Material für manchen „Strohmann”. Gehen wir daher besser zurück zum Ursprung der theologischen Auseinandersetzung.

Lehrregel statt TULIP

Weder die Synode in Dordrecht 1619 noch die reformierten Theologen der folgenden Jahrhunderte haben einstimmig „TULIP” gelehrt. „TULIP” ist erstens eine klare Fehlübersetzung, zweitens inhaltlich eine starke Verkürzung und drittens –historisch und dogmengechichtlich gesehen– ein Anachronismus, wenn jemand damit die „Dordrechter Lehrregel” von 1619 oder die calvinistische (Heils-)Lehre beschreibt. Hier eine tabellarische Gegenüberstellung der Lehrstücke von 1619 und der TULIP-Verkürzung durch McAfee 1905:

Die „Dordrechter Lehrregel” (1619)TULIP (nach McAfee, 1905)
Erstes Lehrstück:
Von der göttlichen Vorherbestimmung
1. Total Depravity
(Völlige Verderbtheit)
Zweites Lehrstück:
Vom Tode Christi und der Erlösung
der Menschen durch denselben
2. Universal Sovereignty
(Allumfassende Souveränität)
Heute auch:
Unconditional Election
(Unbedingte Erwählung)
Drittes und viertes Lehrstück:
Von der Verderbnis des Menschen und
seiner Bekehrung zu Gott und
der Art und Weise derselben
3. Limited Atonement
(Begrenzte Sühnung)

4. Irresistible Grace
(Unwiderstehliche Gnade)
Fünftes Lehrstück:
Vom Beharren der Heiligen
5. Perseverance of the Saints
(Ausharren der Heiligen)

Es wäre der Sache angemessener und einer fruchtbaren Diskussion dienlicher, wenn man sich direkt mit dem offiziellen Lehrdokument der Synode in Dordrecht beschäftigen würde, anstatt irgendwelchen „Fünf Punkten” –Jahrhunderte nach Calvin entstanden!– zu folgen, insbesondere, wenn diese aus Darstellungen von Anti-Calvinisten stammen. Was gewinnt man dabei?

Der Student der „Dordrechter Lehrregel” hat in Lehrstück 2, Artikel 1 bereits vom Wesen und Charakter Gottes, von der Allgenugsamkeit Christi, von der weltweiten Verkündigung des Evangeliums (Mission) und der Notwendigkeit des Glaubens gelesen, bevor er in Artikel 2 zur Frage der Zielsetzung und beabsichtigten Reichweite der Sühnung gelangt. Didaktisch richtig wird ihm in der „Dordrechter Lehrregel” zuerst das Wesen der Sühnung erklärt, bevor die Reichweite der Sühnung besprochen wird. Die Zielgerichtetheit und Bestimmtheit der Sühnung wird direkt aus der Gerechtigkeit Gottes und dem völlig genügsamen, zielgerichteten Opfer Christi (Artikel 3-4) abgeleitet. Gleichzeitig wird die Notwendigkeit, allen Menschen ohne Unterschied das Evangelium zu predigen, betont (Artikel 5). Artikel 6 bestätigt, dass Gott gerecht ist, wenn er den Ungläubigen verdammt, und Artikel 7 lehrt, dass die Quelle des rettenden Glaubens die Gnade Gottes ist, »die uns in Christus Jesus vor ewigen Zeiten gegeben« worden ist (2. Timotheus 1,9). – Dieser biblisch richtige und didaktisch kluge Aufbau sollte genutzt und nicht ohne guten Grund aufgegeben werden.

Was macht das „L” in „TULIP”?

Viele evangelikale (früher: dem sola scriptura verpflichtete) Glaubende streiten sich heute anhand von „TULIP”-Darstellungen um die rechte Heilslehre. Etliche Lager haben sich in den letzten Jahrhunderten gebildet, geradezu einander bekämpfende Sekten innerhalb des christlichen Zeugnisses geformt. Ein besonders umstrittener Aspekt von „TULIP” ist das „L”, das für limited atonement, also begrenzte Sühne/Sühnung, stehen soll. Allein dieser Begriff ist ein bitteres, missverständliches Etikett, welches keiner der Reformatoren ohne weiteres so verwendet hätte. Zudem ist weder der (engl.) Begriff „limited” noch der Begriff „atonement” klar und definitiv genug, um die Lehre der Heiligen Schrift eindeutig und klar darzustellen. William D. Barrick urteilt, dass „begrenzt” bzw. „unbegrenzt” vielleicht jene Begriffe sind, welche in der Heilslehre am häufigsten missbraucht werden („The Extent…“, S. 4–5). Und der biblische Begriff „Sühnung” (engl. atonement) wird ebenfalls nicht klar und biblisch verwendet (oft mit der falschen Deutung eines „at-one-ment”, einer Einsmachung oder Zusammenführung), zudem oft als Sammelbezeichnung für alles, was Jesus Christus am Kreuz bewirkt hat. Man muss fragen: Gibt es denn überhaupt eine Begrenzung der Sühnung Jesu Christi? Und wenn ja: Wo wird diese in der Schrift gezogen? Beim Wert oder bei der Reichweite der „Sühnung” (wenn überhaupt die biblische Sühnung gemeint ist)? Die Zentralität und Wichtigkeit des Werkes Christi verlangt nach biblischen, klaren Antworten. Das kann hier nur angerissen werden.

Bibelstudenten aller Zeiten sollte klar sein, dass das Sühnopfer des menschgewordenen Gottessohnes entscheidender Mittelpunkt eines ewigen Planes der Gottheit ist, und dass Gott im Opfer Jesu ein klares Ziel verfolgte (s.z.B. 1Petrus 1,18–21: »zuvorerkannt [proginōskō] ist vor Grundlegung der Welt«). Das Ziel war weder, dass alle Sünder im Feuersee für ihre Schuld ewig von Gott getrennt und gestraft werden (was absolut gerecht wäre), noch dass alle Sünder letztlich errettet und in Gottes herrlicher Ewigkeit leben werden (sog. Universalismus). Das Heilswerk Gottes (im Zusammenwirken des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes) richtet sich vielmehr in ewiger, erwählender Liebe auf »die Seinen« (s. Johannes 17,2.6.9.24.26).

Die gesamte Schrift gibt vom planmäßigen und zielorientierten Handeln Gottes in der Menschheits- und Heilsgeschichte beredt Zeugnis. Also sollte man sich tiefgehende Fragen stellen: (1) Welches Ziel verfolgt Gott mit dem Opfer Jesu? (2) Was bezeichnete Jesus Christus mit dem »Es«, als Er am Kreuz ausrief: »Es ist vollbracht!« (Johannes 19,30)? (3) Wie ergänzen sich das Werk des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes im trinitarischen Heilswerk (sog. opera ad extra)? (4) Haben die drei Personen der Gottheit eine identische Zielsetzung im Heilswerk? (5) Haben die drei Personen der Gottheit im Erlösungswerk den selben Personenkreis im Blick? (usw.)

Wer diese Fragen anhand der Heiligen Schrift beantwortet, muss von einer Begrenzung der Sühnung ausgehen, da der Universalismus keine Lehre der Schrift ist, das Heil aller Glaubenden jedoch fest bezeugt ist. Nachdem der Glaube faktisch und biblisch nicht aller Teil ist (2. Thessalonicher 3,2b), ist die Menge der durch Jesu Opfer Erretteten jedenfalls begrenzt. Das Sühnungswerk Jesu Christi sah auch nicht vor, dass Er hypothetisch für alle Menschen aller Zeiten stellvertretend im Gericht Gottes war, also effektiv deren persönliche Schuld bezahlt und Gottes Zorn für sie getragen habe, und es nun alleine am jeweiligen Menschen läge, diesen unterschiedslos allen Menschen im Evangelium ausgehändigten „Blankoscheck” (=Scheck ohne Namen des Empfängers) auch persönlich einzulösen. – Gott verwendet in der Heiligen Schrift Alten wie Neuen Testaments vielmehr ein anderes Bild, um sein Rettungswerk als Liebeswerk darzustellen: das von Bräutigam und Braut (z. B. Jesaja 61,10; 62,1–5; Jeremia 31; Epheser 5,23–32; Offenbarung 21,2.9; 22,17). Wie die erwählende Liebe eines Bräutigams selektiv und exklusiv ist –und sein muss– ist Gottes ewige Retterliebe selektiv und exklusiv. Dies bedeutet keine Ungerechtigkeit oder einen Mangel an „Fairness“. (Von „Fairness“ zu reden ist begrifflich ein Fehlgriff, der einen Mangel an biblisch geprägtem Denken offenbart. Wir dürfen sicher sein, dass alles, was Gott tut, absolute –ja, normative– Gerechtigkeit ist.)

Die o. g. Fragen können also anhand der Heiligen Schrift noch tiefer ins Verständnis des Heilswerks Gottes führen. Dabei wird man die biblischen Lehren des ewigen Vorsatzes Gottes, der persönlichen (namentlichen) Erwählung und Berufung durch Gott, der persönlichen(!) Stellvertretung im Gericht, der Sohnschaft, der Adoption, der monergistischen Wiedergeburt, des Einsgemachtseins mit Christus, der Innewohnung und der Versiegelung mit dem Heiligen Geist (usw.) kennenlernen. Sie bezeugen harmonisch und vielfältig, dass der dreieinige Gott von Ewigkeit her das ewige Heil „der Seinen” zu Seiner Verherrlichung gewollt und geplant hat und in der Zeit mit exakt festgelegtem Ziel ausführt. Auch kann wohltuende Klarheit entstehen, wenn man den biblisch gelehrten Unterschied zwischen Sühnung und persönlicher Stellvertretung zu beachten lernt. Weil das Heilswerk Gottes ein göttlich großes Werk ist, wundert es uns nicht, dass wir es nicht gänzlich umfassen können. Aber wir können und müssen es auf der Grundlage der Heiligen Schrift erforschen und glauben und bezeugen. Die Heilige Schrift, die Wahrheit (Johannes 17,17), liefert auch die Wahrheit über das Heil.

Am Buchstaben „L” kann man u. E. gut beobachten, wie mangelhaft übermäßig vereinfachte Darstellungen der biblischen Lehre (hier: à la „TULIP”) sind, und wie mangels Klarheit und Präzision mancher Anlass zu Streitigkeiten und Aneinandervorbeireden fast zwangsweise geliefert wird.

Fazit

Mit diesen kurzen Überlegungen und Hinweisen soll zweierlei nachdrücklich gesagt sein:

  • fundamental: Die Frage nach der Reichweite und Zielsetzung des (Sühnungs-) Werkes Jesu Christi sollte eben NICHT anhand von „TULIP”-Darstellungen beantwortet werden, sondern anhand der Heiligen Schrift selbst, welche alleine die Wahrheit ist (Johannes 17,17b). Unbiblische Darstellungen gibt es leider schon genug.
  • sachlich: Wir sollten auch über „Dordrecht” und „Die 5 Punkte des Calvinismus” nicht schreiben und reden, ohne die Ergebnisse jener Synode studiert zu haben und sie in der jeweiligen Darstellung wahrheitsgetreu zu verwenden. Anders gesagt: Primärquellen vor Sekundär- und Tertiärquellen! Unsachliche, verfälschte und falsche Darstellungen gibt es leider schon genug.

Die Synode in Dordrecht hat einen biblisch gesättigten und seelsorgerlich hilfreichen Text geliefert, der über vielem steht, das in den vergangenen vier Jahrhunderten über die angesprochenen Fragen des Heils geschrieben wurde. Und anstelle zu betonen, was Christus am Kreuz nicht zustande gebracht habe, lehrt das zweite Lehrstück von Dordrecht, was Vater, Sohn und Heiliger Geist miteinander vollbracht haben, um sich ein „Volk des Eigentums/zum Besitztum” zu erwählen, es in Jesu Opfer zu erlösen und es ewig zu erwerben (s. 5. Mose 7,6 mit 1. Petrus 2,9). Mit solcher Theologie wird Gottes Volk eher auferbaut, als mit Streitigkeiten über den „freien Willen“ des Menschen und der Souveränität Gottes im Heil. Denn im einzigartigen Heilswerk Gottes geht es um eine großartige Liebesbeziehung:

»Dieser Entschluss, der aus der ewigen Liebe zu den Erwählten hervorgegangen ist, ist von Anfang der Welt bis auf die gegenwärtige Zeit, indem die Pforten der Hölle sich vergeblich widersetzten, mächtig erfüllt und wird auch noch fortlaufend erfüllt, und zwar so, dass die Erwählten zu seiner Zeit zu einer Vereinigung versammelt werden sollen und dass immer eine Kirche der Gläubigen auf das Blut Christi gegründet ist, welche jenen ihren Heiland, der für sie, gleich wie ein Bräutigam für die Braut, sein Leben am Kreuz hingab, beständig liebt, fortwährend verehrt und hier und in alle Ewigkeit preist

„Dordrechter Lehrregel” (1619), Erstes Lehrstück, Artikel 9. Zitiert nach der übersetzten Ausgabe der Selbständigen Evangelisch-Reformierten Kirche: Bekenntnisbuch (Heidelberg, 2010), S. 229. Farbmarkierung hinzugefügt.

Der Apostel Paulus liefert am Ende seiner sorgfältigen Darlegung des Evangeliums Gottes im Römerbrief einen wunderbaren Lobpreis (Doxologie) Gottes. Wir sehen daran, dass wahre Anbetung auf wahrer Heilslehre basiert. Hier wären also größte bibelgebundene Anstrengungen im Ergreifen, Verstehen und Verkündigen des Heils Vorbedingung und Basis wahrer Anbetung. Das sollte alle Erlösten des Herrn beständig motivieren, wahre „Theologie“ zu betreiben, die nicht Traditionen repliziert und verteidigt, sondern die Wahrheit des Wortes reden lässt.

O Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich sind seine Gerichte und unergründlich seine Wege! Denn wer hat den Sinn des Herrn erkannt, oder wer ist sein Mitberater gewesen? Oder wer hat ihm zuvor gegeben, und es wird ihm vergolten werden? Denn von ihm und durch ihn und für ihn sind alle Dinge; ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen.

Römer 11,33-36

Literaturhinweise

William H. Vail, The Five Points of Calvinism Historically Considered, (21. Juni 1913). In: The Outlook, Vol. CIV (May-August 1913), (New York: The Outlook Company), S. 394–395. [Quelle: babel.hathitrust.org; Backup]

Daniel Montgomery und Timothy Paul Jones: PROOF, (Zondervan, 2014, Kindle-Version), S. 210, Fn 22.

David Schrock: Definite Atonement at Dort and the Unity of the Trinity – Put Down TULIP and Pick Up the Canons of Dort, in: CREDO Magazine Vol. 9 (Sept. 2019), Issue 3 [https://credomag.com/article/definite-atonement-at-dort-and-the-unity-of-the-trinity/].

Ed Sanders: The Origin Of The Acronym TULIP – The Five Points Of Calvinism [https://theologue.files.wordpress.com/2014/08/originoftheacronym-tulip.pdf].

Peter Benyola: 400 years after Dort: Why does the human-centric view of salvation persist?Segment 3 | The Canons of Dort (08.09.2018) Copyright 2018, Benyola.net. All rights reserved. Used by permission [http://benyola.net/400-years-after-dort/4/].

Bekenntnisbuch – bestehend aus dem Heidelberger Katechismus, dem Niederländischen Glaubensbekenntnis sowie der Lehrregel von Dordrecht, Übersetzte Ausgabe der Selbständigen Evangelisch-Reformierten Kirche (Heidelberg, 2010) [http://www.serk-heidelberg.de/wp-content/uploads/2010/08/Bekenntnisbuch.pdf].

Loraine Boettner: The Five Points of Calvinism, in: The Reformed Doctrine of Predestination (1932, 13th Printing, Phillipsburg, NJ: Presbyterian and Reformed Publishing Company, 1989), S. 59–201. (eBook: Grand Rapids, MI: Christian Classics Ethereal Library).

James Montgomery Boice und Philip Graham Ryken, The Doctrines of Grace. Wheaton, IL: Crossway, 2002. Deutsch: James Montgomery Boice und Philip Graham Ryken, Die Lehren der Gnade. Oerlinghausen: Betanien, 2009. – Die Autoren beschreiben kurz „Die fünf Punkte des Arminianismus” (a.a.O., 2009, S. 24ff) sowie ebenso kurz (a.a.O., 2009, S. 30ff) und dann ausführlich „Die fünf Punkte des Calvinismus” (a.a.O., 2002, S.67–176 ; a.a.O., 2009, S. 71–197).

William D. Barrick, The Extent of the Perfect Sacrifice of Christ. Sun Valley, CA: GBI Publishing, 2002.

Joel R. Beeke: Living for God’s Glory: An Introduction to Calvinism. Lake Mary, FL: Ligonier Ministries (Reformation Trust), 2008.