Was jeder Christ über Israel und die Palästinenser wissen sollte – 14 Thesen (W. J. Ouweneel)

Willem J. Ouweneel (Oktober 2023)

Durch den Krieg in Israel ist die Debatte über den palästinensisch-israelischen Konflikt wieder stark aufgeflammt. Progressive Abgeordnete setzen sich für Palästina ein und Theologen wenden sich mit einem Manifest gegen die ihrer Meinung nach böse Politik Israels. Und auf der anderen Seite verweisen Christen auf die biblischen Landverheißungen für das Volk Israel. Die aktuelle Debatte ist ein guter Zeitpunkt, um die Frage anhand von 14 Thesen zu klären.

[1] Das Wort »Palästinenser« bedeutet Bewohner Palästinas, gleich welcher Herkunft. Bis in die 1950er Jahre wurden daher auch die jüdischen Bewohner Palästinas als »Palästinenser« bezeichnet. Die heutigen »Araber« (innerhalb und außerhalb Palästinas) haben dagegen kaum ethnische und wenig historische Bindungen; sie haben nur eines gemeinsam: die arabische Sprache. Folglich hat es nie ein »palästinensisches Volk« als eigenständige ethnische Identität gegeben.

[2] Arabisch sprechende Menschen (Muslime wie Christen) haben jedoch seit vielen Jahrhunderten in Palästina gelebt, ebenso wie Juden, und zuweilen sogar mehr als Araber. Es ist daher falsch zu behaupten, das Land Palästina gehöre den arabischen Palästinensern (insbesondere den Muslimen).

[3] Folglich hat es in all den Jahrhunderten nie so etwas wie einen »palästinensischen Staat« gegeben; es gab nur palästinensische Juden und palästinensische Araber unter der Herrschaft der Mamelucken (bis 1517), unter türkischer Herrschaft (bis 1920), unter britischer Herrschaft (bis 1948) und unter jordanischer Herrschaft (bis 1967). Außerdem besaßen die »Palästinenser« im Gazastreifen die ägyptische und die auf den Golanhöhen die syrische Staatsangehörigkeit. Es ist historisch gesehen Unsinn zu behaupten, die Israelis hätten die Gründung eines palästinensischen Staates immer »blockiert«.

[4] Es ist ebenfalls historisch gesehen Unsinn, dass die Israelis 1967 angeblich »palästinensisches Gebiet« besetzt hätten. Was sie taten, war –im Wesentlichen zur Selbstverteidigung– das ehemals türkische/ehemals britische/ehemals jordanische Gebiet zu besetzen, in dem traditionell sowohl palästinensische Juden als auch palästinensische Araber gelebt hatten. Allerdings gab es in diesem Gebiet Landbesitz von Arabern, und die Israelis mussten diesen Landbesitz respektieren, ebenso wie die Araber den von Juden erworbenen Landbesitz respektieren mussten.

[5] Es ist historisch gesehen Unsinn zu behaupten, dass die Israelis stets die Gründung eines palästinensischen Staates »blockiert« hätten. Nach dem Beschluss der Vereinten Nationen (am 29.11.1947) hätten nicht nur die Juden, sondern auch die Araber in den ihnen zugewiesenen Gebieten sofort einen eigenen Staat gründen können, so wie es die Juden taten (Mai 1948). Unter großem Druck der umliegenden arabischen Länder (die dachten, der Staat Israel würde bald zerstört werden), taten sie dies nicht, was viele bis heute bedauern.

[6] Im Jahr 1948 verließen viele Araber das Gebiet, das seit Mai den Staat Israel bildete. Die Juden hatten hier und da ihren Anteil daran, indem sie sie verängstigten, aber es waren mindestens ebenso sehr die umliegenden Länder, die die arabischen Palästinenser verängstigten; außerdem sagten sie den arabischen Palästinensern, dass ihre Abreise nur von kurzer Dauer sein würde, da sie nach der Niederlage des Staates Israel in ihre Heimat zurückkehren könnten. Dies erwies sich als großer Fehler. Es stimmt nicht, dass die Mehrheit der arabischen Palästinenser eine Zwei-Staaten-Lösung befürworten würde.

[7] Übrigens: Während Hunderttausende von Arabern aus dem neu gegründeten Staat Israel flohen (und bis heute in Flüchtlingslagern untergebracht sind), wurden auch Hunderttausende von Juden aus den umliegenden arabischen Ländern vertrieben (und fanden im neuen Staat Israel eine neue und freie Heimat).

[8] Den Arabern im Staat Israel geht es, obwohl sie dort de facto Bürger zweiter Klasse sind, sowohl wirtschaftlich als auch politisch weitaus besser als den Palästinensern in den genannten Flüchtlingslagern (und im Übrigen sogar besser als den Arabern in den Nachbarländern).

[9] Es stimmt nicht, dass der Großteil der arabischen Palästinenser die Zwei-Staaten-Lösung befürworten würde; oder sie befürworten sie bestenfalls insofern, als es sich um eine vorübergehende Zwischenlösung handelt. Die konsequentesten Muslime (wie sie z.B. von der Hamas, der Hisbollah, dem Islamischen Dschihad und den Machthabern im Iran vertreten werden) wollen nichts anderes als die Zerstörung des Staates Israel (wenn nicht gar des israelischen Volkes). Konsequente wie auch gemäßigtere arabische Muslime haben den Staat Israel daher nie grundsätzlich anerkannt. Die tiefsten Probleme in und um den Staat Israel sind nicht historischer, politischer oder völkerrechtlicher Natur, sondern religiöser Natur.

[10] Die internationale Gemeinschaft wirft Israel »Kolonialismus« und »Imperialismus« vor. Dies ist eine absurde Verdrehung der Geschichte. Es war Israel, das 1947 einer Teilung des Landes und einem internationalen Status für Jerusalem zugestimmt hatte. Es waren die Araber, die, anstatt dem zuzustimmen, immer wieder Krieg gegen Israel geführt haben. Das einzige Mal, als es ihnen gelang, die Altstadt von Jerusalem zu erobern (1948/49), vertrieben sie sofort alle Juden.

[11] Die Stadt Jerusalem kommt im Koran überhaupt nicht vor; es wird lediglich die »äußerste« oder »am weitesten entfernte« Moschee erwähnt, die spätere muslimische Generationen in Jerusalem ansiedelten. (al-Aqsa-Moschee bedeutet »äußerste« oder »entfernteste« Moschee.) Den Muslimen wurde also nie ein (messianisches) Reich des Friedens und der Gerechtigkeit rund um Jerusalem versprochen, wie es Israel versprochen wurde (ein Versprechen Gottes, das immer noch in Kraft ist). [Muslime wollen vielmehr ein weltweites Kalifat mit geltender Scharia.]

[12] Die Siedlungspolitik Israels ist oft heftig kritisiert worden. Diese Siedlungen (a) existieren jedoch nur in der so genannten C-Zone, die (seit den Osloer Verträgen 1993–1995) die Zone ist, in der Israel (mit dem damaligen Einverständnis der Palästinenser!) die volle zivile und militärische Kontrolle hat; und (b) die fraglichen Gebiete sind nicht von »den« Palästinensern gestohlen, sondern ehrlich von den arabischen Palästinensern gekauft worden (ob das in der Praxis immer so sauber gemacht wurde, lasse ich jetzt mal dahingestellt). Eine politische oder völkerrechtliche Lösung des israelisch-palästinensischen Problems ist daher nicht denkbar. Man wartet also auf das Kommen des Messias.

[13] Das tiefste Problem in und um den Staat Israel ist nicht historischer, politischer oder völkerrechtlicher Natur, sondern religiöser Natur. Seit der Eroberung Palästinas im siebten Jahrhundert ist es für konsequente Muslime unvorstellbar, dass dort ein jüdischer Staat existieren könnte. Was »Allahs Land« [dar al-islam] geworden ist, kann nie wieder an Juden [oder andere »Ungläubige«] abgegeben werden [der Rest der Welt heißt bei den Muslimen dar al-harab = Haus des Krieges]. Umgekehrt ist es für konsequente Juden undenkbar, an einem anderen Ort als dem von Gott den Vätern verheißenen Land zu leben.

[14] Die religiöse Tiefendimension des jüdisch-palästinensischen Konflikts zeigte sich unmittelbar am 7. Oktober 2023, als Hamas-Mitglieder 1.400 Juden unter dem eindringlichen Ruf »Allahu akbar« misshandelten, vergewaltigten und ermordeten, was in diesem Fall so viel bedeutete wie: »Unser Gott Allah ist größer als der Gott Israels!« Nichts könnte deutlicher verdeutlichen, dass es hier zutiefst um einen Kampf in den himmlischen Örtern ging und geht (vgl. Epheser 6,12): einen Kampf zwischen den »Göttern« dieser Welt und dem Gott Israels.

Fazit. Eine politische oder völkerrechtliche Lösung des israelisch-palästinensischen Problems ist daher nicht denkbar. Die arabisch-muslimische Welt wird grundsätzlich niemals in der Lage und bereit sein, einen Staat Israel anzuerkennen, und die Israelis werden niemals in der Lage und bereit sein, ihre Siedlungspolitik aufzugeben oder die Hunderttausende von Flüchtlingen in arabischen Lagern zurückzunehmen. Man wartet also auf das Kommen des Messias und – von Jerusalem aus – auf die Errichtung seines Weltreichs des Friedens und der Gerechtigkeit. Wie ein arabischer Taxifahrer in Jerusalem einmal zu mir sagte: Nur Jesus kann das Problem lösen.

Autor: Prof. Dr. Willem J. Ouweneel (*1944) hat einen Doktortitel in Biologie, Philosophie und Theologie. Der Autor von über 200 Büchern und international gefragte Referent ist emeritierter Professor für Systematische Theologie (Fakultät für evangelische Theologie in Leuven, Belgien). Seine Homepage: http://www.willemouweneel.nl/.
Textquelle: Willem J. Ouweneel, Wat iedere christen zou moeten weten over Israël en de Palestijnen (Link: cvandaag.nl – 23. Oktober 2023). Übersetzt mithilfe von DEEPL; These 14 aus dem u.g. Buch entnommen.
Vertiefung: Eine Vertiefung und Erläuterung der »14 Thesen« erfolgte in einem längeren Interview, das auf YouTube angesehen werden kann (Direktlink). – Auch in einem Buch werden die 14 Thesen ausführlicher dargestellt: Wat iedere christen moet weten over Israël en de Palestijnen – In twintig stellingen. (Driebergen (NL): Aspekt, 04.11.2023); ISBN 9789464870954, 72 Seiten, auch als Kindle-eBook. Deutsche Ausgabe: Was jeder Christ über Israel und die Palästinenser wissen muss – In zwanzig Sätzen [sic!]. (Dribergen (NL): Aspekt, 2024); Taschenbuch, 102 Seiten, ISBN 978-9464871258.

Ergänzungen

Maximilian Felsch, Die Beziehungen zwischen Israelis und Palästinensern. Bundeszentrale für politische Bildung (28.05.2018); Link.

UN-Teilungsplan für Palästina 1947(Deine tägliche Dosis Politik). Bundeszentrale für politische Bildung (29.11.2023); Link. Zitat daraus: »GB hatte Palästina bereits geteilt: in Britisch-Palästina für die jüdische [Bevölkerung] und Transjordanien [ab 1950 der Jordanien, s. Karte unten] für die arabische Bevölkerung.«

Der kleine Anteil für die jüdische Bevölkerung wurde ihr dann nicht gegeben, sondern nochmals geteilt für die arabische (43%) und die jüdische (56%) Bevölkerung. Dieser Teilungsplan für zwei unabhängige Staaten wurde am 29. November 1947 in der UN-Resolution 181 (II) mehrheitlich verabschiedet. Die die jüdische Bevölkerung gründete entsprechend dieser Resolution einen souveränen Staat, die arabischsprechende Bevölkerung tat dies jedoch nicht, sondern versuchte, mit kriegerischen Mitteln und die Teilungs-Resolution missachtend alles für sich zu erobern. Dieser »Alles-oder-nichts«-Ansatz scheiterte bis heute, bleibt aber politisches Programm.

Bildquelle: https://www.geoplan-reisen.de/arabien-orient/jordanien/

Die Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift

 Jesus Christus: Dein Wort ist Wahrheit. (JohEv 17,17)

Die Frage nach der Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift hat viele Motive. Die negativen Motive spannen sich von der Wahrnehmung einzelner schwer verständlicher oder scheinbar falscher Passagen bis hin zu einer grundsätzlichen Leugnung jeglicher Offenbarung oder Ablehnung jeder übergeordneten Autorität. Wer nicht an Gott glaubt, muss konsequenter Weise jedes „Wort Gottes“ ablehnen.

Für den gläubigen Christen ist die Frage nach der Qualität der Heiligen Schrift jedoch eine Frage des Glaubens, die untrennbar mit dem Wesen Gottes verbunden und daher absolut positiv motiviert ist. Der Sohn Gottes bezeugte: „Dein Wort ist Wahrheit“ (Johannes 17,17). Wenn die Heilige Schrift Gottes Wort ist, dann hat die Heilige Schrift die selben Eigenschaften wie Gott selbst. „Im Charakter des irrtumslosen und unfehlbaren Gottes liegt die Irrtumslosigkeit und Unfehlbarkeit seines Produktes, der Bibel, begründet. Der vollkommene Vater von Jesus Christus kann nichts Fehlerhaftes oder Unvollkommenes schaffen, auch nicht in logischer oder naturwissenschaftlicher Hinsicht.“ (M. Kotsch, Bibelbund, 2003)

Das Selbstzeugnis der Schrift über sich mag methodisch als Zirkelschluss abgelehnt werden, aber in der Tat haben wir in diesem speziellen Fall keine höhere Erkenntnisinstanz über das Wort Gottes als dieses Wort Gottes selbst. Nur Gott kann Sein Wort als Sein Wort autorisieren. Das kann man akzeptieren oder nicht – beides mit ewig reichenden Konsequenzen.

Die Autoren der ersten „Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel“ schreiben im Vorwort ihrer Erklärung folgendes:
„Die Autorität der Schrift ist für die christliche Kirche in unserer wie in jeder Zeit eine Schlüsselfrage. Wer sich zum Glauben an Jesus Christus als Herrn und Retter bekennt, ist aufgerufen, die Wirklichkeit seiner Jüngerschaft durch demütigen und treuen Gehorsam gegenüber Gottes geschriebenem Wort zu erweisen. In Glauben oder Leben von der Schrift abzuirren ist Untreue unserem Herrn gegenüber. Das Anerkennen der absoluten Wahrheit und Zuverlässigkeit der Heiligen Schrift ist für ein völliges Erfassen und angemessenes Bekenntnis ihrer Autorität unerlässlich.“
(Quelle: „Die Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel“, zitiert nach der Ausgabe des deutschen Bibelbund e.V., Download als PDF)

Einen Beitrag von Michael Kotsch zur Bedeutung der Chicago-Erklärung findet man hier.

Für die des Englischen mächtigen Leser sei betreffs der aktuellen Diskussion zur Chicago-Erklärung auf das Konferenz-Buch „The Inerrant Word: Biblical, Historical, Theological, and Pastoral Perspectives“ (Hrsg.: John MacArthur; Crossway, 2016) verwiesen. Der englische Originaltext der drei Chicagoerklärungen aus dem Archiv des DTS (Dallas Theological Seminary) kann über folgende Links als PDF heruntergeladen werden:

  1. The Chicago Statement on Biblical Inerrancy (Summit I, Oct 26-28, 1978) | Version mit Erklärungen
  2. The Chicago Statement on Biblical Hermeneutics (Summit II, Nov 10-13, 1982) | Version mit Erklärungen von Norman L. Geisler
  3. The Chicago Statement on Biblical Application (Summit III, Dec 10-13, 1986)

Die Gnade Gottes ist erschienen … und unterweist uns, gottselig zu leben

Die 95 Reformationsthesen Martin Luthers (1483–1546) wurden durch die üble Lehre und Praxis der Römisch-katholischen Kirche provoziert, die er als Augustinermönch (1505–1521?) bestens kannte. Schon in These 1 formuliert er daher unter Verweis auf Matthäus 4,17, dass Gott gewollt habe, »dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll«. Wie aber gelingt dem ein für alle Mal Gerechtfertigten solch ein gottseliges Leben echter Umkehr? Wie ist es möglich, dass ein an Jesus Christus Glaubender praktisch lernt, »besonnen und gerecht und gottselig [zu] leben« (Titus 2,12)?

Auf diese Frage rechter Glaubenspraxis wurden und werden leider falsche Antworten gegeben und damit die Glaubenden irregeleitet. Anhand einiger Schlüsselstellen der Schrift soll daher die biblische Lehre der Heiligung, des Prozesses also, der den Glaubenden im Leben der Nachfolge praktisch in das Bild des Sohnes Gottes verwandelt, umrissen werden, um Irrwege zu erkennen, zu vermeiden und echtes Wachstum zu erleben.

Zum 500. Reformationsjubiläum 2017 veranstaltete das EBTC e. V. in Lutherstadt Wittenberg eine mehrtägige Reformationskonferenz. Am 20.05.2017 wurde ein Vortrag zum angegebenen Thema gehalten, dessen schriftliche (Lang-)Fassung hier zur Verfügung gestellt wird (PDF, 670 kB). Es ist nicht gestattet, diesen Beitrag kommerziell zu nutzen oder online im Internet zur Verfügung zu stellen.

Gliederung des Beitrags

1 Leben wir in „beständiger Reformation“?

2 Der Kontext der Heiligung

2.1 Rechtfertigung
2.2 Verherrlichung
2.3 Heiligsein und Heiligwerden (Heil und Heiligung)
2.4 Gnade
2.5 Zusammenfassung
2.6 Was ist Heiligung und wie geschieht sie?
2.6.1 Warum müssen Heilige heilig(er) werden?
2.6.2 Wie geschieht Heiligung?
2.6.3 Wie heilig müssen Heilige werden?
2.6.4 Wo geht Heiligung „schief“?

3 Die Lehre der biblischen Heiligung nach Titus 2,11–15
3.1 Biblische Heiligung ist ein Gnadenwerk des Heiland-Gottes
3.2 Biblische Heiligung hat Jesus Christus zum Vorbild
3.3 Biblische Heiligung geschieht in aktiver, dynamischer Unterweisung
3.3.1 Unterweisung im Lebensvollzug
3.3.2 Unterweisung zum Lassen (Gelassenhaben)
3.3.3 Unterweisung im Tun
3.3.4 Biblische Heiligung ist vom Zweiten Kommen Jesu motiviert
3.4 Biblische Heiligung erleben nur Erkaufte und Gereinigte
3.5 Biblische Heiligung findet Ausdruck und Lebensinhalt im Eifer für Gute Werke
3.6 Biblische Heiligung muss Gegenstand der biblischen Ermahnung sein

4 Erfolgt biblische Heiligung monergistisch oder synergistisch?
4.1 Biblische Heiligung ist keine rein passive Veranstaltung
4.2 Biblische Heiligung erfolgt in einer lebendigen Vater-Sohn-Beziehung
4.3 Biblische Heiligung ist keine rein menschlich-aktive Veranstaltung
4.4 Biblische Heiligung geschieht unter Anwendung geistlicher Mittel

5 Drei Schlussfolgerungen
5.1 Biblische Heiligung verlangt anwendungsorientierte Auslegungspredigt
5.2 Biblische Heiligung verlangt vom Glaubenden Aktivität und Eifer
5.3 Biblische Heiligung schenkt dem Glaubenden alles zum Heil Notwendige

Literaturverzeichnis

»Es ist vollbracht!« – Was denn?

Als der Herr Jesus Christus am Karfreitag am Kreuz hängend sieben bedeutsame Worte aussprach, lautete das vorletzte: »Es ist vollbracht!« (Johannes 19,30 ELBCSV; vgl. Mt 27,50; Mk 15,37; Lk 23,46). Nur der Apostel Johannes berichtet es uns im Wortlaut. Danach neigte Christus sein Haupt und übergab mit dem siebten Ausruf seinen Geist Gott: Das Lamm Gottes, »das die Sünde der Welt wegnimmt« (Joh 1,29), starb in aktiver, völliger Hingabe an Gott. Der Mensch gewordene Sohn Gottes neigte sein Haupt, nicht in Resignation oder Schwäche, sondern wie zum Schlummer[1], um es am dritten Tag in eigener Autorität wieder zu erheben (Joh 10,18).

Was heißt »vollbracht«?

Jesus sprach tatsächlich nur ein Wort: » tetélestai «[2]. Schon zwei Verse vorher gebrauchte Johannes dieses Wort in identischer Form: »Danach, da Jesus wusste, dass alles schon vollbracht war[2], spricht er, damit die Schrift erfüllt würde[3]: Mich dürstet!« (Joh 19,28). Das Wort und seine Zeitform hier bedeuten, dass eine Tat oder ein Werk zum erfolgreichen Ziel gebracht wurde und nun bleibende Auswirkungen hat. Man schrieb tetélestai auf eine bezahlte Rechnung, auf eine abgesessene Gefängnisstrafe usw., also: „Bezahlt!“, „Abgeleistet!“, „Fertig!“: Nichts ist mehr zu bezahlen, keine Forderung besteht mehr, alles ist erledigt. – Hier wurde nicht nur „eine Tür zum Heil aufgestoßen“ oder „dem Sünder eine Chance geboten“ oder „dem Menschen ein großes Vorbild gegeben“ –alles Vorstellungen des bloß Potentiellen, im Prinzip also Unvollkommenen– , sondern etwas komplett fertiggestellt! »Welches Wort enthielt jemals so viel?« (William Kelly, An Exposition of the Gospel of John ).

»Es« – Was wurde vollbracht?

Auch hier gibt uns Johannes den Schlüssel zum Verständnis in die Hand. (1) Christi Gehorsam. Er berichtet, dass die Werke, die Christus tat, seine Sendung bezeugten: »die Werke, die der Vater mir gegeben hat, dass ich sie vollbringe, die Werke selbst, die ich tue, zeugen von mir, dass der Vater mich gesandt hat« (Joh 5,36). Christi Gehorsam und Widmung wurden auf dem Kreuzesaltar völlig offenbar. (2) Offenbarung des Vaters. Der Apostel Johannes berichtet ferner, dass Christus kurz vor seiner Passion rückblickend zum Vater sagte: »Ich habe dich verherrlicht[4] auf der Erde; das Werk habe ich vollbracht[5], das du mir gegeben hast, dass ich es tun sollte.« (Joh 17,4). Als Jesus ausrief: »Es ist vollbracht!«, war jenes Werk, das ihm der Vater aufgetragen hatte, erfolgreich fertiggestellt. Bei diesem Werk des Sohnes Gottes ging es letztlich darum, den Vater auf der Erde zu verherrlichen, also die Herrlichkeit Seines wunderbaren Wesens und einzigartigen Heilswerks bekannt zu machen, denn: »Niemand hat Gott jemals gesehen; der eingeborene Sohn, der im Schoß des Vaters ist, der hat ihn kundgemacht[6]« (Joh 1,18). (3) Vollkommene Sühnung. Und letztlich sagt uns der Apostel Johannes, dass Christus »das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt«, ist (Joh 1,29.36; vgl. Offb 5,6ff; 21,22–27). Der Apostel Petrus äußert sich in ähnlicher Weise, fokussiert sich jedoch auf das Volk Gottes. Er verbindet die vollkommene Erlösung der »Kinder des Gehorsams« mit ihrem vollkommenen Erlöser: »[Ihr seid] erlöst worden … mit dem kostbaren Blut Christi, als eines Lammes ohne Fehl und ohne Flecken« (1Pet 1,18–19). In Summa: »Denn mit einem Opfer hat er auf immerdar die vollkommen gemacht[7], die geheiligt werden.« (Hebr 10,14).

Ad (2): Am deutlichsten wurde das Kundtun (Darlegen, Erklären) des Vaters durch den Sohn im Sterben Jesu am Kreuz: Jeder kann am Kreuz Jesu nun sehen, dass Gott Liebe ist (1Joh 4,7–12) und dass Gott Licht ist (1Joh 1,5), gerecht und heilig:

  • Liebe: »Denn so hat Gott die Welt geliebt«
  • Licht: »dass er seinen eingeborenen Sohn [als Opfer] gab«
  • Liebe: »damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe.« (Joh 3,16).

Wer auf Christus im Glauben schaut, wer Sein Opfer am Kreuz für sich persönlich in Anspruch nimmt, sich für seine ewige Erlösung und Rettung alleine auf Jesu Person und Werk verlässt, der ist für immer gerettet, ist ein Kind Gottes, das zeitlebens Grund zum Jubeln hat, denn: »Es ist vollbracht!«

»Es ist vollbracht!« – Das muss man besingen!

Jacques Erné (1825–1883) hat den Siegesruf des Sohnes Gottes im 19. Jhdt. (1883?) in ein schönes Loblied gefasst:

Es ist vollbracht,
das große Werk, das schwere.
Gott ist gerecht, Ihm ward nun Seine Ehre
durch Seinen Sohn, der laut verkündet hat;
„Es ist vollbracht!“, „Es ist vollbracht!“

Es ist vollbracht!
Was Gottes Liebe wollte,
was für den Sünder, den verlornen, sollte
zur Rettung und zum ew’gen Heile sein,
das ist vollbracht, das ist vollbracht.

„Es ist vollbracht!“,
durchtönt’s die Ewigkeiten
zu Gottes Lob, zu der Erlösten Freuden;
sie danken Gott, sie beten Jesus an,
dass Er’s vollbracht, dass Er’s vollbracht.

Sprachliche Notizen

[1] κλίνας – Aorist Partizip Aktiv von κλίνω = neigen, beugen. »What is indicated in the statement “He bowed His head,” is not the helpless dropping of the head after death, but the deliberate putting of His head into a position of rest, John 19:30. The verb is deeply significant here. The Lord reversed the natural order. The same verb is used in His statement in Matt. 8:20 and Luke 9:58, “the Son of Man hath not where to lay His head.”« (Vine, W. E. ; Unger, Merrill F. ; White, William, Jr.: Vine’s Complete Expository Dictionary of Old and New Testament Words, 2, s. v. »bow, bowed (Verb)«. Vgl.: Walter Bauer, Das Johannes-Evangelium, 3. Aufl. (Tübingen, 1933), S. 218.
[2] τετέλεσται – Perfekt Passiv Indikativ 3.Pers. Sing. von τελέω = vollenden (nicht nur zum Ende, sondern zur Vollendung führen). Das Verb kommt im NT 28mal vor, in dieser Form nur 2mal im Johannesevangelium (Joh 19,28.30). Die ELBCSV gibt es wieder als: vollenden, zu Ende sein, bezahlen/entrichten (!), vollbringen, erfüllen.
[3] τελειωθῇ – Aorist Passiv Konjunktiv 3.Pers.Sing. von τελειόω = vollkommen machen; »bedeutet die abschließende Erfüllung des gesamten Schriftinhaltes« (Rienecker, Sprachlicher Schlüssel, S. 246). Das Verb kommt im NT 23mal vor, und wird in der ELBCSV auch mit vollenden, vollbringen, vollkommen machen wiedergegeben. Im Vergleich zum verwandten Verb τελέω (s. o.) betont es über die Vollendung hinaus den Aspekt der erzielten Perfektion (Vollkommenheit). Das Verb ist Kennzeichenverb des Hebräerbriefes (9mal: 2,10; 5,9; 7,19.28; 9,9; 10,1.14; 11,40; 12,23). Vgl. die Verwendung bei Johannes in Joh 4,34; 5,36; 17,4.23; 19,28; 1Joh 2,5; 4,12.17.18, sowie in Apg 20,24; Php 3,12; Jak 2,22.
[4] ἐδόξασα – Aorist Aktiv Indikativ von δοξάζω = verherrlichen, erheben, preisen, Ehre geben. Es ist also Feststellung einer bestehenden Tatsache. In dieser Form nur in Joh 12,28 »Ich habe ihn verherrlicht« und hier in 17,4 »Ich habe dich verherrlicht auf der Erde«.
[5] τελειώσας – Aorist Partizip Aktiv von τελειόω = ans Ziel bringen, vollenden. Versteht man dieses Partizip periphrastisch, dann war das Vollenden der Werke (punktueller Aspekt) der Begleitumstand oder die Art und Weise, mit dem bzw. der der Sohn Gottes seinen Vater verherrlichte (= Haupthandlung). Die ESV hat: »having accomplished the work that you gave me«. Das Vollenden war jedenfalls der Zielpunkt der Sendung des Sohnes, vgl. Johannes 5,36: »die Werke, die der Vater mir gegeben hat, damit ich sie vollbringe [τελειώσω – Aorist Konjunktiv Aktiv von τελειόω; Aspekt: punktuell, also feststellend, zusammenfassend betreffs der Absicht des Handelns]«.
[6] ἐξηγήσατο – Aorist Medium Indikativ 3.Pers Sing. von ἐξηγέομαι = darlegen, auseinandersetzen, auslegen, berichten; »etwas völlig bekannt machen durch sorgfältige Erklärung oder durch klare Offenbarung« (Louw, Johannes P., Nida, Eugene Albert: Greek-English Lexicon of the New Testament: Based on Semantic Domains (New York: United Bible Societies, 1996), 28.41; Üb.d.A.).
[7] τετελείωκεν – Perfekt Aktiv Indikativ von τελειόω = ans Ziel bringen, vollenden; mit expliziter Anfügung von εἰς τὸ διηνεκὲς = »auf immerdar«, »ununterbrochen«. Die von Gott Geheiligten sind durch Christi Opfer in einen Zustand versetzt worden, in dem sie ein für allemal und ohne jegliche Unterbrechung vollkommen sind (was Auswirkungen bis heute hat). Da das Opfer Christi für immer und stets vollwirksam gilt, besteht dieser vollkommene Zustand der »Geheiligten« in gleicher Weise immer und stets vollwirksam.


John Caldwell über das »Auf dass jeder…« (Joh 3,16)

Ein Leser der Zeitschrift The Witness stellte dem Herausgeber John Caldwell (1839–1917) folgende Frage:

»Hat Gott verordnet, dass einige gerettet werden und andere verloren gehen, wenn Er doch in Seinem Wort so klar gesagt hat: Wer auch immer an mich glaubt, hat ewiges Leben“?« (»Has God ordained some to be saved and some to be lost, when He has so clearly said in His Word [Joh 3:16], whosoever believeth in Me hath everlasting life”? «)

Caldwell veröffentlichte einige auf diese Frage eingesandte Antworten und fügte dann in Übereinstimmung mit diesen selbst hinzu:

»Scripture [demonstrates] that God has ordained some to eternal life. Their names have been in the book of life “from the foundation of the world” (Rev 17:8, 13:8). They are chosen in Christ “before the foundation of the world” (Eph 1:4).
But we fail to find any such predestination of individuals to destruction. Certain scriptures may be adduced as apparently giving countenance to such a doctrine, but rightly understood they teach nothing of the kind.
It is evident that not only are all men lost, dead in sins by nature, but also that every man’s “free will” would decide for sin and against God. “The carnal mind is enmity against God.” The “free will” that is directed by such a mind and motive must be directed against God, against Christ, against the truth, against even the Gospel, seeing the Gospel reveals the righteousness of God as well as the grace of God, and can only be received by such as become subject to that righteousness (Rom 10:3) and confess themselves guilty before God (Rom 3:19).
In such a scene, where there is “none that understandeth”, “none that seeketh after God”, what does God do? He retires into His own sovereignty, and looking from that infinite majesty upon a world in which all were guilty, lost sinners, He says in His heart, “I will have mercy upon whom I will have mercy; and I will have compassion on whom I will have compassion” (Rom 9:15).
What about the rest? They are “endured with much long-suffering” (Rom 9:22). They are invited (Lk 14:17), they are besought (2Cor 5:20), they are commanded (Rom 16:26) to believe the Gospel, to accept salvation, to receive Christ, and in Him pardon and life. If, after all, they reject the gift of love, the responsibility is with them. God has abundantly proved that the obstacle lies not with Him, or in any doctrine of reprobation, but in the rebel will of man.
But … we must ever bear in mind that the Christian’s true place is that of the “little child”. Many problems there are that we are not, in our present infant state, capable of comprehending. It is ours to believe what God has said, whether we can reconcile the apparent discrepancies or not. Faith can rest in the assurance that God can and will cause to harmonize all apparent discrepancies and paradoxes in His own time. Many things that we know not, and cannot know now, we shall know hereafter.«

John R. Caldwell, The Witness, Oktober 1888, S. 159–160. Fettdruck hinzugefügt. Anmerkung: Mit equal ultimacy“ wird das präziser beschrieben, was viele missverständlich (und oft missverstanden!) mit Doppelte Prädestination“ bezeichnen.

Theologische Einordnung

Caldwell vertrat eine gemäßigte calvinistische“ Sicht (moderated Calvinistic view) auf die Reichweite des Werkes Christi, wie wir sie auch bei den führenden Theologen der frühen Plymouth Brethren (englische Brüderbewegung“), wie John N. Darby (1800–1882) und William Kelly (1882–1906), finden: universelle Sühnung und persönliche Stellvertretung (universal propitiation und particular substitution). Diese Sicht lässt sich nicht in die weitverbreitet vorherrschende Dichotomie von unlimited vs. limited atonement pressen. (Literatur: Mark R. Stevenson, Die Brüder und die Lehren der Gnade. Wie stand die Brüderbewegung des 19. Jahrhunderts zur calvinistischen Heilslehre? Bielefeld: CLV, 2019.)

Diese Sicht der frühen Brüderbewegung“ auf das Erlösungs- und Sühnungswerk Christi liegt zwischen der Ansicht des Moses Amyraut (1596–1664), die analytisch (amyrautscher) hypothetischer Universalismus“, nach dem Erfinder Amyraultismus“ (meist nur engl. Amyraldism) oder einfach vulgo 4-Punkt-Calvinismus“ genannt wird, und der Sicht des strikten Partikularismus“ oder vulgo 5-Punkt-Calvinismus“, bei der nicht nur die Wirksamkeit, sondern auch die Intention des Erlösung-/Sühnungswerkes Christi als strikt auf die Erwählten begrenzt gesehen wird, also auf jene, die ihm der Vater gegeben hat“ (vgl. Joh 6 und 17).

Manche bezeichnen diese Zwischenposition, die neben J. N. Darby und Wm. Kelly auch Caldwell einnahm, zur Unterscheidung als calvinistischer Universalismus“. Es ist der Glaube, dass Christus in einem gewissen Sinn für alle Personen ohne Ausnahme gestorben sei (meist im Aspekt der gottgewandten Sühnung), dass sein Tod jedoch nur für jene und alle jene rettend wirksam sei, welche von Gott zur Rettung zuvorbestimmt (prädestiniert) wurden (rechtlich möglich aufgrund der persönlichen Stellvertretung, wirksam durch den Ruf und die Wiedergeburt durch den Heiligen Geist) und daher alles Heilsnotwendige (aus Gnade) frei geschenkt bekommen, inklusive Buße, Glauben und Neues Leben. Das Opfergeschehen am Großen Sühnungstag“ (Yom Hakippurim; Leviticus 16) dient hier mit seinen beiden Ziegenböcken als Typus –und insofern als Erklärung– dieser beiden Aspekte des Opfers Jesu am Kreuz. (Literatur: http://plymouthbrethren.org/series/6172)

Der sog. englische hypothetische Universalismus“, für den John Preston, John Davenant und James Ussher stehen, lehrt, dass Gott ineffektiv (nicht zwingend wirksam) verordnet, dass alle Menschen gerettet werden. Weil Gott aber wusste, dass nicht alle Menschen glauben werden, verordnet er in einem zweiten Beschluss, alle jene effektiv (voll wirksam) zu retten, die er zur Rettung zuvorbestimmt (prädestiniert) hat. [http://calvinandcalvinism.com/?p=284]

Der sog. amyrautsche hypothetische Universalismus“, für den John Cameron und Moses Amyraut stehen, lehrt, dass Gott zuerst beschlossen habe, allgemein Errettung durch Christus zu ermöglichen (bereitzustellen), und dann diesem Beschluss folgend weiter beschlossen habe, einige zum Heil zu erwählen. Dies war eine Umkehrung der infralapsarischen Ordnung der Beschlüsse Gottes vor aller Zeit, wie sie von vielen als biblisch geglaubt wurde: dass Gott zuerst beschlossen habe, einige zu retten und darauf (logisch) folgend dann die Rettung beschloss. Spannend war diese Umkehr im amyrautschen Verständnis, weil sie oberflächlich gesehen jener Ordnung entsprach, die Jakob Arminius und seine Nachfolger (Arminianer“) vertraten. Bei Amyraut war das Verständnis aber so, dass der Beschluss Gottes in zwei Phasen unterteilt war (s. o.) und beide sich auf die Errettung einiger bezogen.

Über den Autor

John R. Caldwell (1839–1917) stammt aus Dublin. Er war erfolgreicher Unternehmer (Caldwell, Young and Co., Silk Manufacturers) und fleißiger Verkündiger der biblischen Botschaft. Kirchlich lebte er in stürmischen Zeiten, in der die liberale Theologie Eingang fand in ehemals biblisch gegründete Gemeinden. Dies zwang ihn zu manchem Protest und Wechsel (u. a. Independent Church, Scottish Baptists, Brüderbewegung“). Er war von 1876 bis 1914 Editor der Zeitschrift The Witness, die vor allem in der sog. Brüderbewegung“ gelesen wurde. Er verwendete diese Zeitschrift zur Verkündigung der Grundlagen des biblischen christlichen Glaubens.

Gott liebt alle Menschen gleich – Wirklich?

Verwirrung über die Art und den Wirkungskreis der Liebe Gottes

Ein Prediger malte seiner Gemeinde vor Augen, welche besondere Liebe ihr himmlischer Vater gegenüber seinen Kindern hat. Der Predigttext war 1. Johannes 3,1:

Seht, welch eine Liebe uns der Vater gegeben hat, dass wir Kinder Gottes heißen sollen! Und wir sind es. Deswegen erkennt uns die Welt nicht, weil sie ihn nicht erkannt hat.

1. Johannes 3,1 (ELBCSV) Fettdruck hinzugefügt.

Es ging also nicht um die allgemeine Liebe Gottes zu allen seinen Geschöpfen und auch nicht um die Unparteilichkeit Gottes im Gericht, sondern um die besondere Liebe des Vaters, die Er zu seinen eigenen Kindern, den „Kindern Gottes“ hat. 

Das ist unschwer zu erkennen. Im ersten Satz in Vers 1 lenkt der „Apostel der Liebe“, Johannes, die Aufmerksamkeit seiner Leser auf jene besondere Liebe des Vaters, die Gott der Vater nur „uns“, also seinen Kindern, gegeben hat. Sie wird insbesondere darin deutlich, dass „wir“ „Kinder Gottes heißen sollen“. „Kind Gottes heißen zu sollen“ ist aber nach der Belehrung des Apostels Johannes und dem Gesamtzeugnis der Schrift weder Vorrecht noch Tatsache aller Menschen. Mithin ist hier die Rede von einer besonderen Liebe, die auf eine spezifizierte Teilmenge der Menschen exklusiv gerichtet ist. Gott liebt nach dieser Stelle mit einer besonderen Liebe, die nur seinen Kindern gilt. Das ist kein fremder Gedanke. Dass es eine spezielle Liebe auch zwischen den Gliedern einer irdischen Familie gibt, sollten Väter, Mütter und Kinder aus eigener Erfahrung kennen.

Nach der Predigt steht der Gemeindeleiter auf und sagt der Gemeinde, dass dies nicht stimmen würde. Eine Begründung wurde nicht gegeben, später aber wurde konkretisiert, dass es falsch sei, etwas zu sagen, das im Widerspruch zur Aussage „Gott liebt alle Menschen gleich.“ stehe. Hier ist also das Problem. Es dürfte eigentlich nicht bestehen, wenn man Gottes Wort kennt und insbesondere den Bibeltext der Predigt aufmerksam studiert. Beides wollen wir hier ansatzweise tun.

Ein kurzer Streifzug durch die Bibel

Fragen wir uns mit der offenen Bibel: Liebt Gott alle Menschen gleich? Ist dies eine biblisch richtige Behauptung? Schauen wir uns eine Reihe von Stellen quer durch die Bibel an, die von der Liebe Gottes, oder vom Gegenteil, dem Hass Gottes, reden:

  1. »Nicht werden die Toren bestehen vor deinen Augen; du hasst alle, die Frevel tun. Du wirst die Lügenredner vertilgen; den Mann des Blutes und des Truges verabscheut der Herr.« (Psalm 5,6-7; vgl. Psalm 11,5 u.a.)
    Gott hasst alle Menschen, die Frevel tun. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“. (Die Stellen vom Hass und Zorn Gottes zeigen auch auf, dass der Slogan: „Gott hasst die Sünde, aber Er liebt den Sünder“ wesentliche Aussagen der Schrift unterdrückt und daher falsch ist.)
  2. »Der Herr liebt die Tore Zions mehr als alle Wohnungen Jakobs.« (Psalmen 87,2)
    Gott liebt die Tore Zions (Jerusalems) mehr, als alle Wohnungen Jakobs (in ganz Israel). Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  3. »Nicht weil ihr mehr wäret als alle Völker, hat der Herr sich euch zugeneigt und euch erwählt; denn ihr seid das geringste unter allen Völkern; sondern wegen der Liebe des Herrn zu euch und weil er den Eid hielt, den er euren Vätern geschworen hat, hat der Herr euch mit starker Hand herausgeführt und dich erlöst aus dem Haus der Knechtschaft, aus der Hand des Pharaos, des Königs von Ägypten.« (5. Mose 7,7-8)
    Gott liebt das Volk Israel mehr, als alle anderen Völker. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  4. »So spricht der Herr: Das Volk der dem Schwert Entronnenen hat Gnade gefunden in der Wüste. Ich will gehen, um Israel zur Ruhe zu bringen. Der Herr ist mir von fern erschienen: Ja, mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt; darum habe ich dir fortdauern lassen [meine] Güte.« (Jeremia 31,2-3)
    Gott liebt Israel mit ewiger Liebe, was von den anderen Völkern nicht gesagt wird. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  5. »Sechs sind es, die der Herr hasst, und sieben sind seiner Seele ein Gräuel, hohe Augen, eine Lügenzunge, und Hände, die unschuldiges Blut vergießen; ein Herz, das böse Pläne schmiedet, Füße, die schnell zum Bösen hinlaufen; wer Lügen ausspricht als falscher Zeuge, und wer Zwietracht ausstreut zwischen Brüdern.« (Sprichwörter 6,16-19)
    Gott hasst Menschen, die bestimmte Gräuelsünden tun. Aber man behauptet, „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  6. »Ich habe euch geliebt, spricht der Herr; … Und ich habe Jakob geliebt, Esau aber habe ich gehasst…« (Maleachi 1,2-3; vgl. Römer 9,13)
    Gott liebt Jakob, aber Er hasst Esau. Egal, ob man in der Auslegung hier Individualpersonen und/oder die daraus entstandenen Völker sehen will, egal, ob man das als Hebraismus sehen will, der in „hassen“ nur eine Liebe geringerer Klasse sehen will, jedenfalls wird hier ein deutlicher Unterschied in der Liebe Gottes markiert. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  7. »An jenem Tag wird zu Jerusalem gesagt werden: Fürchte dich nicht! Zion, lass deine Hände nicht erschlaffen! Der Herr, dein Gott, ist in deiner Mitte, ein rettender Held. Er freut sich über dich mit Wonne, er schweigt in seiner Liebe, frohlockt über dich mit Jubel.« (Zefanja 3,16-17)
    Gott liebt Jerusalem/Zion, also sein Volk Israel. Er ist in ihrer Mitte. Für sie ist Er Retter. Sie liebt er. Über sie frohlockt Er. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  8. [Jesus Christus spricht:] »Wie der Vater mich geliebt hat, habe auch ich euch geliebt; bleibt in meiner Liebe.« (Johannes 15,9)
    Der Sohn Gottes sagt, dass er seine Jünger mit jener besonderen Liebe liebt, mit der Gott Vater den Sohn liebt. Das ist eine spezielle Liebe. Christus liebt damit ausdrücklich seine Jünger, also nicht jedermann. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  9. »Wenn ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner Liebe bleiben, wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe.« (Johannes 15,10)
    Christus sagt hier zu jenen, die seine Gebote halten, dass sie in Christi Liebe bleiben. Er ist das große Vorbild, denn der Sohn hat ebenfalls die Gebote des Vaters gehalten. Es ist also eine bedingte, eine spezielle Liebe. Von Menschen, die die Gebote Christi nicht halten, wird dies nicht gesagt. Es aus dem Schweigen der Stelle zu behaupten, raubte der Stelle ihren ganzen Sinn. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  10. [Jesus Christus spricht:] »Größere Liebe hat niemand als diese, dass jemand sein Leben lässt für seine FreundeIhr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete.« (Johannes 15,13–14)
    Christus sagt hier ausdrücklich, dass seine „allergrößte Liebe“ jenen gilt, für die er sein Leben lässt. Sind das alle Menschen? Nein, es sind speziell „seine Freunde“. Wer sind diese? Es sind jene Jünger, die Christus nachfolgten. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  11. »Und ich habe ihnen deinen Namen kundgetan und werde ihn kundtun, damit die Liebe, mit der du mich geliebt hast, in ihnen sei und ich in ihnen.« (Johannes 17,26)
    Christus hat „ihnen“ den Namen Gottes kundgetan. Das bedeutet in der Sprache der Schrift, dass sie durch das Wort Christi eine (ewige) Lebensbeziehung zu Gott Vater bekommen haben. Als Folge dieser Lebensbeziehung (Neugeburt) wohnt auch die Liebe Gottes in den Neugeborenen, nur in ihnen, also nicht in jedermann. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  12. »…die Hoffnung aber beschämt nicht, denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben worden ist.« (Römer 5,5)
    Die Liebe Gottes ist nur in jenen, denen der Heilige Geist gegeben wurde, in denen also der Heilige Geist Wohnung gemacht hat. Dies sind nicht alle Menschen. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  13. »Gott aber erweist seine Liebe zu uns [darin], dass Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist.« (Römer 5,8)
    Gott erweist jenen seine Liebe, für die sein Sohn stellvertretend gestorben ist, die also genauso sicher gerettet sind, wie Christus „gerettet“ zur Rechten Gottes auf dem Thron sitzt. Das sind aber nicht alle Menschen, denn nicht alle werden –nach Christi eigener Aussage!– gerettet werden. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  14. »Denn ich bin überzeugt, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, noch Gewalten, weder Höhe noch Tiefe, noch irgendein anderes Geschöpf uns zu scheiden vermögen wird von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.« (Römer 8,38-39)
    Die von Gott kommende Liebe, von der hier zum Trost der Glaubenden die Rede ist, gilt nur „uns“, die Christus Jesus als Herrn bekennen. Das „uns“ des Apostels Paulus im Brief an die Glaubenden in Rom also sind nicht alle Menschen. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  15. »Gott aber, der reich ist an Barmherzigkeit, wegen seiner vielen Liebe, womit er uns geliebt hat, hat auch uns, als wir in den Vergehungen tot waren, mit dem Christus lebendig gemacht – durch Gnade seid ihr errettet –,und hat [uns] mitauferweckt und mitsitzen lassen in den himmlischen [Örtern] in Christus Jesus, damit er in den kommenden Zeitaltern den überragenden Reichtum seiner Gnade in Güte an uns erwiese in Christus Jesus.« (Epheser 2,4-7)
    Gott liebt mit vieler Liebe (also: sehr) „uns“, die neugeborenen Menschen, die einst in Sünden tot waren, aber lebendig gemacht wurden und schon im Geiste in den himmlischen Örtern ihren sicheren Platz haben. Dies sind aber klar nicht alle Menschen. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  16. »Seid nun Nachahmer Gottes, als geliebte Kinder, und wandelt in Liebe, wie auch der Christus uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat als Darbringung und Schlachtopfer, Gott zu einem duftenden Wohlgeruch. (Epheser 5,1-2)«
    Christus hat die Kinder Gottes geliebt und zwar so, dass Er sich sogar für sie in den stellvertretenden Opfertod hingegeben hat. Das „uns“ des Apostels beschreibt aber nicht alle Menschen, sondern nur die Glaubenden. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  17. »Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie auch der Christus die Versammlung geliebt und sich selbst für sie hingegebenhat…« (Epheser 5,25)
    Christus liebt die Gemeinde, die Schar der tatsächlich Geretteten. Nur für sie hat er sich selbst hingegeben. Wie ein Ehemann exklusiv seine erwählte und mit Bundesschluss verbundene Ehefrau aufopfernd lieben soll, und nicht alle anderen Frauen auf diese Art und Weise lieben soll, so ist auch die Liebe Christi gegenüber den von Gott zur Braut Christi Erwählten. Das sind nicht alle Menschen. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  18. »Ein jeder, wie er [es] sich im Herzen vorgenommen hat: nicht mit Verdruss oder aus Zwang, denn einen fröhlichen Geber liebt Gott.« (2. Korinther 9,7)
    Gott liebt Geber, die „fröhlich“ Gaben (Opfer für andere) geben. Das bedeutet, dass dies für jene, die „mit Verdruss oder aus Zwang“ geben, nicht gilt, sonst wäre die Stelle sinnlos. Den fröhlichen Gebenden gilt diese hier gemeinte, besondere Liebe Gottes. Nur ihnen. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  19. »Wer aber irgend sein Wort hält, in diesem ist wahrhaftig die Liebe Gottes vollendet. Hieran wissen wir, dass wir in ihm sind.« (1. Johannes 2,5)
    Gott liebt in vollkommener Weise jene, die Gottes Wort halten (indem sie es tun). Wer sein Wort nicht hält, dem gilt diese Liebe Gottes nicht, sonst macht diese Stelle keinen Sinn. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  20. »Wer aber irgend irdischen Besitz hat und sieht seinen Bruder Mangel leiden und verschließt sein Herz vor ihm, wie bleibt die Liebe Gottes in ihm?« (1. Johannes 3,17)
    Gott liebt in vollkommener Weise jene, die dem Mangel leidenden Glaubensbruder aus ihrem irdischen Besitz Hilfe leisten. Wer dies nicht tut, sondern sein Herz verschließt, dem gilt diese Liebe Gottes nicht, sonst macht diese Stelle keinen Sinn. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  21. »Hierin ist die Liebe Gottes zu uns offenbart worden, dass Gott seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben möchten. Hierin ist die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er unsgeliebt und seinen Sohn gesandt hat als Sühnung für unsere Sünden.« (1. Johannes 4,9-10)
    Gottes Liebe wird „uns“ geoffenbart, jenen also, die Kinder Gottes werden sollten. Diese liebt Er so, dass er sogar seinen Sohn für sie als Sühnung für ihre Sünden gesandt hat, so dass sie nun durch Ihn leben. Dies gilt aber nicht für unbekehrte Sünder, denn sie leben nicht, deren Sünde wurde nicht gesühnt. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  22. »Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir einander lieben, [so] bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollendet.« (1. Johannes 4,12)
    Auch hier: Gottes Liebe ist nur in „uns“ vollendet, nicht in jedermann. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  23. »Hierin ist die Liebe mit uns vollendet worden, damit wir Freimütigkeit haben an dem Tag des Gerichts, dass, wie er ist, auch wir sind in dieser Welt. Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus, denn die Furcht hat Pein. Wer sich aber fürchtet, ist nicht vollendet in der Liebe. Wir lieben, weil er uns zuerst geliebt hat.« (1. Johannes 4,17-19)
    Auch hier: Gottes Liebe ist nur mit „uns“ vollendet worden, nicht mit jedermann. Die Liebe der Kinder Gottes ist eine Liebe, die ihren Grund und Ursprung in der ewigen Liebe Gottes ihnen gegenüber hat. Dies gilt also nicht für alle Menschen, sondern nur für die Kinder Gottes. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“

Ein erstes Resümee

Die Behauptung: „Gott liebt alle Menschen gleich!“ muss an mindestens drei Stellen hinterfragt werden:

  • „liebt“: Ist mit dem „Lieben“ Gottes immer genau dasselbe und das Gleiche gemeint? 
  • „alle Menschen“: Sind immer alle Menschen aller Zeiten und Gegenden gemeint, oder beschränkt sich die Liebe Gottes bei einigen biblischen Aussagen auch auf eine Untermenge? 
  • „gleich“: Gibt es in der Liebe Gottes unterschiedliche Qualitäten und Intensitäten, oder ist sie immer gleich stark und gleichartig? Anders gefragt: Gibt es qualitative und/oder quantitative Unterschiede in der Liebe Gottes?

So wie die Bibel redet, macht sie deutlich, dass z. B. die innertrinitarische Liebe (zwischen Vater, Sohn und Heiligen Geist) eine besondere Liebe ist: sie ist ewig und vollkommen und hat nie etwas mit der Bedürftigkeit oder dem Mangel des anderen zu tun; sie ist also nie barmherzig oder gnädig oder zeitlich (usw.). Diese Liebe Gottes richtet sich erst einmal nicht an Menschen.

Die Liebe des Vaters zum Sohn und die Liebe des Sohns zum Vater werden ganz besonders herausgehoben als etwas Besonderes (s. insbes. die Schriften des Apostels Johannes). Auch diese Liebe richtet sich erst einmal nicht an Menschen.

Die Liebe des Vaters zu seinen Kindern, den Kindern Gottes, die Gott durch den Heiligen Geist und Sein Wort gezeugt hat, ist besonders herausgehoben. Sie richtet sich auf erlöste Menschen, auf die Kinder Gottes. Christus sagt, dass diese Liebe mit der Liebe zu vergleichen ist, mit der Er, der Sohn, vom Vater geliebt wurde. Es ist also eine besondere, spezielleLiebe! Um diese Liebe geht es in der eingangs erwähnten Bibelstelle in 1. Johannes 3,1! Sie gilt also nicht allen Menschen!

Die Liebe Gottes zum erwählten Volk im alten Bund, Israel, war eine Liebe, die einzigartig für Israel galt, nicht für die anderen Völker der Erde. Auch sie ist besonders und einzigartig. Sie ist eine Bundesliebe, die nach der Scheidungszeit eines Tages im erneuerten Bund wiederhergestellt wird (s. Prophet Hosea u.a.).

Es gibt einige Stellen, die von einer besonderen Liebe Gottes gegenüber Menschen sprechen, diese Liebe jedoch an Bedingungen geknüpft wird, sei es Treue, Gehorsam oder Spendenfreudigkeit. Auch hier handelt es sich also nicht um eine allgemeine, gleiche Liebe Gottes für alle Menschen, sondern um eine Liebe, die auf einen entsprechend beschränkten Personenkreis gerichtet ist.

Schon jetzt können wir festhalten, dass es unterschiedliche Arten besonderer Liebe Gottes gibt gegenüber Personen oder Personengruppen (also Teilmengen), die Gott auserwählt hat, die besondere Bedingungen erfüllen oder zu denen Er in besonderer Beziehung steht. Die Aussage „Gott liebt alle Menschen gleich!“ steht also im Widerstreit mit der Heiligen Schrift. Es ist zu vermuten, dass die Vielfalt und Komplexität des biblischen Zeugnisses der Liebe Gottes unzulässig durch Slogans vereinfacht, das heißt verfälscht, wurde. Wer seine Bibel nicht kennt, fällt auf solche Slogans herein. Dabei sollte uns schon die Lebenserfahrung mit menschlicher Liebe lehren, dass Liebe nicht so flach und eindimensional ist, wie der Slogan vortäuscht.

Wie ist das mit der menschlichen Liebe?

Wir begreifen aus Gottes Wort, dass die Liebesfähigkeit des Menschen eine Gabe Gottes an den Menschen ist, ein Stück seiner Gottesebenbildlichkeit ausmacht. Auch der Mensch liebt mit unterschiedlicher Qualität und Intensität unterschiedliche Personen und Personengruppen. Gott schreibt dem Menschen diesbezüglich z. B. vor:

  • Jesus antwortete: [Das] erste ist: „Höre, Israel: [Der] Herr, unser Gott, ist ein Herr; und du sollst [den] Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und aus deiner ganzen Seele und aus deinem ganzen Verstand und aus deiner ganzen Kraft.“ (Markus 12,29-30)
  • Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen,… (Matthäus 5,44; vgl. Lukas 6,27.35)
  • Du sollst … deinen Nächsten lieben wie dich selbst. (3. Mose 19,18; vgl. Matthäus 19:19; Markus 12,33; Lukas 10,27)
  • Seid niemand irgendetwas schuldig, als nur einander zu lieben; denn wer den anderen liebt, hat [das] Gesetz erfüllt. (Römer 13,8)
  • Geliebte, lasst uns einander lieben, denn die Liebe ist aus Gott; und jeder, der liebt, ist aus Gott geboren und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt, denn Gott ist Liebe. (1. Johannes 4,7-8)
  • Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie auch der Christus die Versammlung geliebt und sich selbst für sie hingegeben hat,… (Epheser 5,25; vgl. Kolosser 3,19)

Auch hier erkennen wir unterschiedliche, begrenzte Personenkreise, die wir lieben sollen, und dass die Art und Weise und Intensität der jeweiligen Liebe unterschiedlich ist und sein soll. Auch bei uns Menschen und Christen gilt nicht: „Liebt alle Menschen gleich!“

Wer wollte mit der Bibel in der Hand behaupten, dass ein Ehemann alle Frauen der Welt mit der gleichen Liebe lieben solle, wie er seine eigene Ehefrau lieben soll? Ist hier durch die Erwählung in Liebe nicht eine Exklusivität und Besonderheit der Liebe zwingend geboten? Wer will behaupten, dass ein Vater alle Kinder der Welt so lieben solle, wie seine eigenen Kinder, die er gezeugt hat? Wer will behaupten, dass wir unseren Nächsten so lieben sollen, wie wir Gott lieben sollen? (Usw.) Schon hier erkennen wir, dass wir zwar nur eine Liebe haben, aber diese unterschiedlich in Umfang, Maß und Qualität zur Geltung kommen soll. Bei Gott ist das nicht anders: Er hat eine Liebe, aber diese kommt unterschiedlich bzgl. Umfang, Maß und Qualität zur Geltung.

Fazit: Aufgrund der Offenbarung des Wortes Gottes über das Wesen Gottes und über seine Gebote an den Menschen ist es falsch zu behaupten: „Gott liebt alle Menschen gleich!“

Wie kommen wir zu einem biblischen Verständnis von der Liebe Gottes?

Drei Antworten gibt es auf diese wesentliche Frage: Lesen, lesen, lesen! Denn Jesus Christus sagte mehrfach „Habt ihr nicht gelesen…?“ und „Irrt ihr nicht deshalb, weil ihr die Schriften nicht kennt noch die Kraft Gottes?“ (Markus 12,24).

Wo wir meinen, Spannungen oder Widersprüche in den biblischen Aussagen zu finden, müssen wir uns daran erinnern, dass die Worte des HERRN „reine Worte … siebenmal gereinigt“ (Psalm 12,7) und daher widerspruchsfrei sind. Probleme entstehen also nur durch unser mangelhaftes Lesen, Studieren und Verstehen. [Eine Studienhilfe wird am Ende des Artikels angegeben.]

Ein Problem machen uns dabei auch falsche oder schriftwidrig verkürzte Aussagen über die Liebe Gottes. Jeder, der meint, Johannes 3,16 verstanden zu haben, weil er diesen Vers schon so oft gehört hat, dass er ihn auswendig kennt, und zusätzlich davon ausgeht, dass dieser Vers die einzige Offenbarung Gottes über Seine Liebe sei, muss wohl notwendiger Weise in die Irre gehen, denn keine Weissagung der Schrift ist „von eigener Auslegung“ (2. Petrus 1,20). Alle Schrift muss zusammengenommen und in ihrer heilgeschichtlichen Entwicklung berücksichtigt werden, denn es gilt: „Die Summe deines Wortes ist Wahrheit“ (Psalm 119,160).

Wo gilt, dass Gott alle Menschen gleich liebt?

Am Ende dieser Untersuchung muss klar sein, dass die Behauptung einer allgemeinen Liebe Gottes zu allen Menschen nur in einem begrenzten Sinn stimmen kann, sonst geraten wir in Widerspruch mit anderen Aussagen der Schrift, wie oben gezeigt.

Die Bibellehrer der Gemeinde Jesu haben auf Liebesbezeugungen Gottes hingewiesen, die für alle Menschen zeitweilig gelten, weil sie alle unterschiedslos seine Geschöpfe sind. Man zählt diese allgemeinen Liebesbezeugungen und Gaben zur sog. „allgemeinen Gnade“. Wir zählen zur allgemeinen Gnade Gottes (engl. common grace) Folgendes:

  • »…eures Vaters …, der in [den] Himmeln ist; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.« (Matthäus 5,45)
    Da die beiden Merismen jeweils die gesamte Menschheit überdecken, haben wir es hier mit „allgemeiner Gnade“ Gottes zu tun. Man muss diese zeitweiligen Geschenke des natürlichen Lebens und der Lebenserhaltung der allgemeinen Liebe Gottes gegenüber allen seinen Geschöpfen, hier den Menschen, zuschreiben. Daher gebührt Gott beständiger Dank dafür, der Ihm aber meist verweigert wird: »weil sie, Gott kennend, [ihn] weder als Gott verherrlichten noch [ihm] Dank darbrachten« (Römer 1,21).
  • Dies gilt auch gegenüber allen Tieren: »Wer bereitet dem Raben sein Futter, wenn seine Jungen zu Gott schreien, umherirren ohne Nahrung?« (Hiob 38,41); »Die jungen Löwen brüllen nach Raub und fordern von Gott ihre Nahrung.« (Psalmen 104,21); »Seht hin auf die Vögel des Himmels, dass sie nicht säen noch ernten, noch in Scheunen sammeln, und euer himmlischer Vater ernährt sie [doch].« (Matthäus 6,26) usw. Dadurch wird auch der Mensch indirekt beschenkt.
  • Dies gilt auch gegenüber der gesamten Schöpfung, die nur deswegen erhalten bliebt, weil der Sohn Gottes sie beständig mit seinem Machtwort erhält: im Sohn, »den er gesetzt hat zum Erben aller [Dinge], durch den er auch die Welten gemacht hat; welcher, [die] Ausstrahlung seiner Herrlichkeit und [der] Abdruck seines Wesens seiend und alle [Dinge] durch das Wort seiner Macht tragend…« (Hebräer 1,2-3). Dadurch wird auch der Mensch indirekt beschenkt.
  • »… einen lebendigen Gott …, der ein Erhalter aller Menschen ist, besonders [der] Gläubigen« (1. Timotheus 4,10b). – Auch hier wird deutlich, dass das Erhalter-sein Gottes allen Menschen gilt, also allgemein ist, aber das „besondere Erhalten/Retten“ nur den Gläubigen gilt, also nicht allgemein, sondern speziell ist.
  • Gott lässt Sünder i.d.R. nach ihrer ersten Sünde weiterhin (für eine Zeit) am Leben, obwohl er schon am Anfang klar gesagt hatte: »…an dem Tag, da du davon isst, musst du sterben.« (1. Mose 2,17) und »Der Lohn der Sünde ist der Tod.« (Römer 6,23). Dass Gott Rebellen gegen seine Majestät eine Zeitlang die guten Gaben des Geschöpfseins genießen lässt, ist eine großartige Demonstration seiner allgemeinen Gnade, Geduld, Langmütigkeit, Sanftmut, Barmherzigkeit und Menschenliebe.

Wer diese Dinge nicht auseinander halten kann, versteht die Lehre der Schrift nicht, und kann sich in viele Irrtümer verwickeln lassen.
Zurück zu 1. Johannes 3,1. Wovon ist hier hier die Rede? 

Von welcher Liebe Gottes wird in 1. Johannes 3,1 gesprochen?

Seht, welch eine Liebe uns der Vater gegeben hat, dass wir Kinder Gottes heißen sollen! 

Die direkt vorhergehende Aussage des Apostels: »aus ihm geboren ist« führt ihn im nächsten Vers zum Ausruf: »Sehet, welch eine Liebe… dass wir Kinder Gottes heißen sollen!«. Niemand hat sich selbst zum Kind Gottes gemacht, Gott der Vater hat dies getan und damit jedem Kind Gottes alle Rechte und Segnungen und Lebensqualitäten des Kindesstandes geschenkt. (Wir sind nicht „Kinder Jesu“ oder „Jesu Kinder“, sondern Kinder Gottes und Kinder des Vaters.) Diese Kindschaft ist so real, dass man ihre Wirklichkeit im Wandeln und Handeln (in ihrer Lebensführung und in ihren Taten) der Kinder Gottes sehen kann: Es ist dem Sohn Gottes gleichartig, denn sie haben dasselbe Leben in sich (Johannes 17,23.26; vgl. Galater 2,20). Die Kinder Gottes offenbaren also ihre „Echtheit“ als Kinder Gottes, indem sie »die Gerechtigkeit tun« (1. Johannes 2:29b), also die Gebote Gottes halten, vor allem das Gebot der Liebe. Ein gerechter Wandel ist also die Frucht (Ergebnis, Folge) der Neugeburt, nicht eine Vorbedingung derselben. Diese Aussage wird hier nicht als Ermahnung ausgesprochen, sondern als Ermunterung an die wahren Kinder Gottes: Sie sollten wieder einmal jene übergroße Gnade betrachten, die sie von Gott darin erhalten hatten, dass Er sie zu Kindern Gottes gemacht hatte! – Davon versteht die nichtglaubende Welt überhaupt nichts, denn diese Welt kennt Gott nicht (vgl. Johannes 5,37; 7,28; 16,3). Sie ist noch in der Finsternis. Und sie hassen das Licht. Die Finsternis und damit den Tod zu wählen, ist ihre bewusste Wahl.

Das Wort, das hier mit »welch eine« wiedergegeben wird, ist potapos (ποταπός). Die Wörterbücher erklären es so: 

  • Vine: bedeutet eigentlich: „aus welchem Land“, „von welcher Sorte/Art“. 
  • Kassühlke: „was für ein“, „welcher Art“, „wie beschaffen“. 
  • Lange: Es geht um Abstammung und Qualität, nicht Menge (Quantität) oder Größe. 
  • Vincent: »What manner of (ποταπὴν). The word is of infrequent occurrence in the New Testament, but is found in all the Synoptists and in 2 Pet. 3:11. Only here in John’s writings. Originally it means from what country or race; then, of what sort or quality. It is used of the quality of both persons and things.«

Die Kinder Gottes sollen also die besondere Qualität dieser Liebe ihres Vaters wahrnehmen. Es ist eine Liebe, die von Gott dem Vater ausgeht (nicht vom Menschen). Es ist eine Liebe, die göttlich ist (nicht menschlich). Es ist eine ewige Liebe, die mithin weder Anfang noch Ende kennt, die das Irdische und das Zeitliche überschreitet. Diese Liebe findet ihren Ursprung in der Ewigkeit vor der Zeit und wird auch in der Ewigkeit nach der Zeit noch sein. Das macht es aus, ein Kind Gottes heißen zu dürfen. Dass eine solche Liebe durch unser menschliches Begreifen nicht völlig fassbar ist, ist offenbar. Der Kontext sagt uns, dass diese Liebe untrennbar mit dem neuen Leben aus Gott, das in der Neugeburt von Gott empfangen wurde (Johannes 1,12), verbunden ist, und dass dieses neue Leben sich in sichtbaren, charakteristischen Lebenszeichen offenbart im Leben (Reden und Tun) und Bewegen und Sein des Kindes Gottes. Die Wahrheit und Hoffnung der zukünftigen Gleichheit mit Christi Wesen (der das Leben des Glaubenden geworden ist) hat unausweichlich als Konsequenz die persönliche Heiligung, das Sichreinigenlassen gemäß der Reinheit Christi (1. Johannes 3,3).

Fazit

Schriftgemäßes Predigen muss festhalten, dass die Liebe Gottes sich unterschiedlich erweist in Qualität und Quantität und Zeit und Ewigkeit. Ohne weiteres zu behaupten: „Gott liebt alle Menschen gleich“ ist am Wort der Wahrheit gemessen eindeutig falsch.

Dies zeigt auch der Text in 1. Johannes 3,1. Wenn die o.g. falsche Aussage dazu führt, dass man verkennt, dass es in diesem Text um eine besondere Liebe des Vaters gegenüber seinen Kindern geht, die eben nicht allen Menschen gilt, weil nicht alle Menschen im dort gemeinten Sinn Kinder Gottes sind, –ja, dass es gerade um ein Unterscheidungs- und Kennzeichen der Kinder Gottes im Kontrast zu den anderen Menschen geht– dann ist dies sehr zu bedauern.

Wichtigste Maßnahme: Lesen, lesen, lesen. Denn Jesus sagt: „Habt ihr nicht gelesen…?“. „Glückselig der Mann, der … seine Lust hat am Gesetz des Ewigen und über sein Gesetz sinnt Tag und Nacht!

Weiterführende Literatur

D.A. Carson, The Difficult Doctrine of the Love of God (Crossway, 1999).
Kostenloser Download: http://s3.amazonaws.com/tgc-documents/carson/2000_difficult_doctrine_of_the_love_of_God.pdf [28.07.2020];
Backup: Carson_The_difficult_doctrine_of_the_love_of_God.pdf

Concursus Dei – Die Souveränität Gottes und die Verantwortung des Menschen

Die Heilige Schrift redet an vielen Stellen deutlich von der Verantwortung des Menschen für all sein Denken, Trachten und Tun. Diese Verantwortung besteht vor Mitmenschen und menschlichen Institutionen, gleichzeitig und letztlich aber immer auch vor Gott, was die Grundlage der biblischen Ethik bildet. – Die Heilige Schrift redet gleichzeitig an vielen Stellen genauso deutlich von der Souveränität Gottes in dessen Denken, Trachten und Handeln. Diese gilt auch dann, wenn manches göttlich souverän Verordnete von Menschen ausgeführt wird, und dann genau so, exakt dann und präzise dort, wie, wann und wo Gott es will, geschieht. Einige Stellen der Heiligen Schrift nennen diese beiden „Seiten“ eines Geschehens in einem Atemzug nebeneinander und zwar ohne jeden Widerspruch und ohne Andeutung einer Spannung oder Unverträglichkeit. Dieses Phänomen fordert denkende Menschen heraus und wird daher schon länger von Bibellesern, Theologen und Philosophen studiert und diskutiert.

These des Widerspruchs. Manche vertreten die Ansicht, dass sich beide Aspekte einander ausschließen, also einen Gegensatz markieren. Eine der beiden Seiten wird dann als dominant betrachtet, die andere Seite wird so weit heruntergespielt, dass der empfundene Gegensatz nicht mehr (störend) wahrgenommen wird. Man geht (richtig) davon aus, dass es in einem System nur maximal einen unumschränkten Akteur geben kann, der andere wird entsprechend in seiner Unumschränktheit („Freiheit“) eingeengt oder seiner Freiheit ganz beraubt, oder jeder Akteur ist durch den/die anderen eingeengt.

These der Kompatibilität. Andere vertreten die Ansicht, dass eine Handlung des Menschen gleichzeitig auch eine Handlung Gottes sein kann. Hier wird also nicht ein zu Ausschließlichkeit führender Gegensatz behauptet, sondern eine „Parallelität“, ein Zusammenlaufen, eine Kongruenz. Als Begriff für diese Auffassung wird Concursus Dei oder Concursus divinus (lat. concursus = Partizip Perfekt passiv von concurro = „ich laufe mit anderen“, also: „zusammenlaufen“) verwendet. Diese Auffassung schließt nicht aus, dass eine Vorrangigkeit und/oder eine Letztursache existiert (also eine asymmetrische Sicht), die jedoch weder zu einem Gegensatz noch zu einer Verringerung der Souveränität Gottes noch zu einer Verringerung der Verantwortung des Menschen führt. In ein und derselben Tat wird der Plan Gottes verwirklicht, aber die Tat und die damit einhergehenden menschlichen Entscheidungen des Menschen sind wahrhaftig und wirklich seine eigenen. Diese Sicht kann am besten aus der Heiligen Schrift gewonnen werden.

In dieser Studie sollen klassische Bibelstellen zum Studium dieses Phänomens des (kompatiblen) Zusammenlaufens und dann einige Ergebnisse des Nachdenkens anderer angeboten werden. Das Ziel muss sein, dass wir nicht dort Widersprüche vermuten, wo die Schrift nie von Widersprüchen redet. Dass dabei Geheimnisse bleiben, liegt in der Natur der Sache. Philosophische System können hier Grenzen setzen oder „Lösungen“ nahelegen, die von der Offenbarung der Schrift ablenken. Daher soll der Ansatz eher der sein, von der (gesamten) Schrift her Gottes Gedanken nachdenken zu lernen.

A. Gottes Vorsehung – Die göttliche Mitwirkung in allen Ereignissen

»Daher, meine Geliebten, …, bewirkt euer eigenes Heil mit Furcht und Zittern; denn Gott ist es, der in euch wirkt sowohl das Wollen als auch das Wirken, zu seinem Wohlgefallen.« (Philipper 2,12–13)

Ein wichtiger Aspekt der Vorsehung Gottes ist sein Mitwirken in allen Ereignissen. Gottes Mitwirken ist sein Handeln mit geschaffenen Dingen, die er durch ihre Eigenschaften zu handeln veranlasst (ob er nun direkt handelt oder sie durch Zweitursachen dazu verordnet). Gottes souveränes Handeln ist Tatsache, es steht nie im Widerspruch zu der Tatsache, dass der Mensch (in Php 2,12–13 der Glaubende) durch Befehle Gottes in voller Verantwortung stehtBiblische Beispiele für das harmonische Miteinander von menschlicher Verantwortung und göttlicher Souveränität gibt es zahlreich:

Wer ist verantwortlich für Hiobs Leiden? 
In Hiob 1 bekommen wir einen seltenen Einblick in die Rätsel der Vorsehung Gottes. Wir lesen in Hiob 1 von drei Haupthandelnden im Leiden Hiobs: Satan stiftete das Leiden Hiobs an, indem er Gott bezüglich der Echtheit von Hiobs Frömmigkeit herausforderte. Gott erlaubte dann Satan, Leiden in Hiobs Leben zu bringen. Die Chaldäer und Sabäer griffen Hiobs Familie an und stahlen sein Vieh.

»Drei Akteure handeln parallel und bewirkten „frei“ (und damit verantwortlich) dasselbe Ergebnis, nämlich Hiobs Leiden. Aber die Absicht jedes Akteurs war unterschiedlich: Satan beabsichtigte, Hiob zu diskreditieren und im weiteren Sinne Gott zu diskreditieren; die Chaldäer und Sabäer wollten sich bereichern und Gott wollte Hiobs Glauben verteidigen. Jeder dieser Beteiligten war notwendigerweise an Hiobs Leiden beteiligt, jedoch auf verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlicher Motivation. Es gab die Übereinstimmung zwischen ihnen, dass Hiob leiden sollte, aber jeder hatte einen anderen Beweggrund für dieses Leiden. Gottes Absicht war gut. Die anderen Akteure beabsichtigten das Böse.«

(R. C. Sproul, Divine Concurrence. https://www.ligonier.org/learn/devotionals/divine-concurrence/ abgerufen 12.06.2020)

Wer sandte Joseph nach Ägypten?
Joseph sagte, dass Gott – nicht seine Brüder – ihn nach Ägypten gesandt hatte (1Mo 45,5–8): »Und nun betrübt euch nicht, und zürnt nicht über euch selbst, dass ihr mich hierher verkauft habt; denn zur Erhaltung des Lebens hat Gott mich vor euch hergesandt. … 7 Und Gott hat mich vor euch hergesandt, um euch einen Überrest zu setzen auf der Erde und euch am Leben zu erhalten für eine große Errettung. Und nun, nicht ihr habt mich hierher gesandt, sondern Gott; und er hat mich zum Vater des Pharaos gemacht und zum Herrn seines ganzen Hauses und zum Herrscher über das ganze Land Ägypten.«

Wer redete vor dem Pharao?
Der Herr (Jahwe) sagte, dass er mit dem Mund Moses sein und ihn dazu befähigen würde, für Gott zu sprechen (2Mo 4,10–12): »Und Mose sprach zu dem Herrn: Ach, Herr, ich bin kein Mann der Rede, weder seit gestern noch seit vorgestern, noch seitdem du zu deinem Knecht redest; denn ich bin schwer von Mund und schwer von Zunge! Da sprach der Herr zu ihm: Wer hat dem Menschen den Mund gemacht? Oder wer macht stumm oder taub oder sehend oder blind? Nicht ich, der Herr? Und nun geh hin, und ich will mit deinem Mund sein und dich lehren, was du reden sollst.«

Wer errang den großen Sieg im Streit?
Der Herr verhieß, die Feinde in die Hand Josuas und des Volkes Israel zu geben – die Israeliten mussten nach wie vor in den Kampf ziehen und die Feinde schlagen, aber der Herr gab ihnen diesen großen Sieg (Jos 11,6–9).
»Da sprach der Herr zu Josua: Fürchte dich nicht vor ihnen, denn morgen um diese Zeit will ich sie allesamt erschlagen vor Israel hingeben: Ihre Pferde sollst du lähmen und ihre Wagen mit Feuer verbrennen. Und Josua, und alles Kriegsvolk mit ihm, kam plötzlich über sie am Wasser Merom, und sie überfielen sie. Und der Herr gab sie in die Hand Israels, und sie schlugen sie und jagten ihnen nach bis Sidon, der großen [Stadt], und bis Misrephot-Majim, und bis in die Talebene von Mizpe im Osten; und sie schlugen sie, bis ihnen kein Entronnener übrig blieb. Und Josua tat ihnen, so wie der Herr ihm gesagt hatte: Ihre Pferde lähmte er, und ihre Wagen verbrannte er mit Feuer.«

Wer hält wen?
Der Herr hält all die Seinen fest, und diese bleiben (mit Herzensentschluss) stets bei Ihm (Psalm 73,23): »Und dennoch bleibe ich stets bei dirdu hältst mich bei meiner rechten Hand.« (SCH2000); »Doch ich bin stets bei dirDu hast mich erfasst bei meiner rechten Hand.« (ELB03).

Wer handelt hier souverän: Der Weltherrscher/König oder Gott?
Gott neigt das Herz eines Königs – dem Inbegriff menschlich freien, „souveränen“ Handelns, so zu handeln, wie Gott will (Spr 21,1), und der Herr wandte das Herz des Königs von Assyrien den Juden zu, um ihnen beim Bau des Tempels zu helfen (Esra 6,22).
»Wasserbächen gleicht das Herz eines Königs in der Hand des Herrn; wohin immer er will, neigt er es.« – »Und sie feierten das Fest der ungesäuerten Brote sieben Tage mit Freuden; denn der Herr hatte ihnen Freude gegeben und ihnen das Herz des Königs von Assyrien zugewandtso dass er ihre Hände stärkte im Werk des Hauses Gottes, des Gottes Israels.«

Wer bewahrte die Israeliten in Jerusalem vor den Feinden? 
Sie beteten zu Gott, der allein sie retten konnte angesichts der Übermacht der Feinde, und vertrauen Ihm ganz. Aber dann tun sie das, was sie wohl konnten: sie stellten Wachen auf (Neh 4,1–3):  »Und es geschah, als Sanballat und Tobija und die Araber und die Ammoniter und die Asdoditer hörten, dass die Ausbesserung der Mauern Jerusalems fortschritt, dass die Lücken sich zu schließen begannen, da wurden sie sehr zornig. Und sie verschworen sich alle miteinander, zu kommen, um gegen Jerusalem zu kämpfen und Schaden darin anzurichten. Da beteten wir zu unserem Gott und stellten [aus] Furcht vor ihnen Tag und Nacht Wachen gegen sie auf

Wessen Stärke gab den Israeliten die Kraft, Vermögen zu schaffen?
Der Herr gab dem Volk Israel das Vermögen (Fähigkeit), Vermögen zu erwerben, und so taten sie es auch (5Mo 8,11.17–18): »Hüte dich, dass du den Herrn, deinen Gott, nicht vergisst, so dass … du in deinem Herzen sprichst: Meine Kraft und die Stärke meiner Hand hat mir dieses Vermögen verschafft! Sondern du sollst dich daran erinnern, dass der Herr, dein Gott, es ist, der dir Kraft gibt,Vermögen zu schaffen; damit er seinen Bund aufrechterhalte, den er deinen Vätern geschworen hat, wie es an diesem Tag ist.«

Wer beschneidet das Herz des Menschen? (geistliche „Beschneidung“ = ?; vgl.: Röm 2,29)
»So beschneidet denn die Vorhaut eures Herzens und verhärtet euren Nacken nicht mehr!« (5Mo 10,16); »Beschneidet euch für den Herrn und tut die Vorhäute eurer Herzen weg« (Jer 4,4) und: 
»Und der Herr, dein Gott, wird dein Herz und das Herz deiner Nachkommen beschneiden, damit du den Herrn, deinen Gott, liebst mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele, damit du am Leben bleibst. … Und du wirst umkehren und der Stimme des Herrn gehorchen und wirst alle seine Gebote tun, die ich dir heute gebiete.« (5Mo 30,6.8). 
Vgl.: »Denn nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist, noch ist die äußerliche Beschneidung im Fleisch Beschneidung; sondern der ist ein Jude, der es innerlich ist, und Beschneidung ist die des Herzens, im Geist, nicht im Buchstaben« (Röm 2,28–29). – »In ihm seid ihr auch beschnitten worden mit einer Beschneidung, die nicht mit Händen geschehen ist, sondern im Ausziehen des fleischlichen Leibes, in der Beschneidung des Christus, mit ihm begraben in der Taufe, in ihm auch mit auferweckt durch den Glauben an die wirksame Kraft Gottes, der ihn aus den Toten auferweckt hat.« (Kol 2,11–12)

Wer brachte Jesus um? Wer verursachte seinen Tod? Wer ist für Jesu Tod verantwortlich?
Die Menschen taten dies aus freier Entscheidung (sowohl Juden wie Römer), aber es war Gottes fester Plan und Ratschluss, seinen Sohn als Opfer sterben zu lassen, und es war Jesu feste Absicht und Macht, zu sterben:
»Jesus, … hingegeben nach dem bestimmten Ratschluss und nach Vorkenntnis Gotteshabt ihr durch die Hand von Gesetzlosen an das Kreuz geschlagen und umgebracht (Apg 2,22-23); und:  »Die Könige der Erde traten auf, und die Obersten versammelten sich miteinander gegen den Herrn und gegen seinen Christus. Denn in dieser Stadt versammelten sich in Wahrheit gegen deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, sowohl Herodes als auch Pontius Pilatus mit [den] Nationen und [den] Völkern Israels, um alles zu tunwas deine Hand und dein Ratschluss zuvor bestimmt hat, dass es geschehen sollte« (Apg 4,26-28).
»Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse, damit ich es wiedernehme. Niemand nimmt es von mir, sondern ich lasse es von mir selbst. Ich habe Gewalt, es zu lassen, und habe Gewalt, es wiederzunehmen. Dieses Gebot habe ich von meinem Vater empfangen.« (Joh 10,17–18) mit: »Als nun Jesus den Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht! Und er neigte das Haupt und übergab den Geist (Joh 19,30).
Waren es nun die Römer, die Juden, war es Gott-Vater oder Gott-Sohn? Und: Schließt sich das gegenseitig aus?

Woher kommt der Glaube?
Die menschliche Seite: Das Glauben ist Gottes Befehl an alle Menschen
, daher auch „Glaubensgehorsam (Mk 1,15; Röm 1,5; 16,26); Gottes Wort zu glauben ist Pflicht und Verantwortung jedes Menschen: »Tut Buße und glaubt an das Evangelium!« (Mk 1,15b); »… zum Evangelium Gottes … über seinen Sohn … Jesus Christus, unseren Herrn … zum Glaubensgehorsam unter allen Nationen für seinen Namen, unter denen auch ihr seid, Berufene Jesu Christi.« (Röm 1,1–6).
Die göttliche Seite: Das Glauben ist Gottes Gabe (Php 1,29; Eph 2,8ff); es ist „im Paket der Errettung“ als notwendiges Mittel mit enthalten (Eph 2,8ff): »Denn euch ist es im Blick auf Christus geschenkt worden, … an ihn zu glauben« (Php 1,29); »Denn durch die Gnade seid ihr errettet, mittels des Glaubens; und das nicht aus euch, Gottes Gabe ist es [nämlich die gesamte Errettung inkl. des rettenden Glaubens]« (Eph 2:8).
Ein Mensch bekommt den rettenden Glauben als Gnadengeschenk (freies Geschenk Gottes), aber damit ist es dann sein Glaube, mit dem er glaubt. Es besteht hier kein Widerspruch und auch kein zeitlicher oder phasenmäßiger Unterschied (wie das manche behaupten). Das Geben des rettenden Glaubens seitens Gottes und das Ausüben des gerade geschenkten, nun eigenen Glaubens, geschieht im selben Moment. Nur ursachenlogisch ist zu differenzieren: Kommt der rettende Glaube unabhängig von Gott aus einem Sünder (das behaupten z. B. die Free Grace Brethren, die Grace School of TheologyInitial faith resulting in justification and regeneration is not a gift of God. That is, fallen humanity … still possesses the capacity to believe in Christ. Such faith precedes regeneration.«] u. a.), oder kommt er von Gott und wird im selben Augenblick Besitz und Übung des Menschen?

Woher kommt die Umkehr (Buße)?
Buße ist Gottes Befehl an alle Menschen
 (Apg 17,30; Lk 24,47; Mk 1,15; 6,12). Jesus Christus beginnt und beendet das NT mit dem Ruf zur Buße (Mt 3,2; Offb 3,19). Lukas 5,32: »Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder zur Buße  Damit steht der Mensch in voller Verantwortung, Buße zu tun.
Buße ist ein einmaliger Akt, insofern er notwendig zum rettenden Glauben dazu gehört (Apg 20,21; 2Pet 3,9); aber auch im Leben des Gläubigen wird sie immer wieder notwendig (2Kor 7,9; Off 2,5).
Buße ist Gottes Gabe: an Israel (Apg 5,31); an die Nationen (Apg 11,18); an Widersacher (2Tim 2,25). »Als sie aber dies gehört hatten, beruhigten sie sich und verherrlichten Gott und sagten: Also hat Gott auch den Nationen die Buße gegeben zum Leben.« (Apg 11,18). Viele sehen, verstehen und erklären diesen Text, als ob hier stünde: »Gott hat die Möglichkeit zur Buße gegeben zum Leben«. Gott eröffnet aber laut dieser Schriftstelle nicht bloß die Möglichkeit zur Buße, sondern er schenkt die Buße selbst!
Da Umkehr (Buße) die Kehrseite der Medaille des Heils ist (die andere, mit „und“ verbundene Seite ist Glaube; Mk 1,15), gilt analog das oben über den Glauben Gesagte: Buße ist sowohl freies Geschenk Gottes als auch vom Menschen notwendig Gefordertes. Das Evangelium ist ja gerade deswegen eine „Gute Botschaft“, weil es neben der göttlichen Forderung auch die göttliche Gabe zur vollkommenen Befriedigung der Forderung liefert. Wer diesen Sachverhalt der Bibel umkehrt, bringt nicht das Evangelium Gottes, sondern ein anderes. Das kann man gut in der sog. „Heiligungsbewegung“ erkennen, die verschiedenste „fromme“ Lehren und Praktiken der Werksgerechtigkeit pflegen, um dadurch Gottes rettende Gnade und Gunst zu erhalten oder zu sichern.

Wer bekehrt den Menschen?
Unter dem Wirken des Geistes Gottes empfindet ein Mensch, dass er sich nicht selbst aus dem Sumpf ziehen kann, in dem er feststeckt. Daher bittet er seinen Gott (»denn Du bist der HERR, mein Gott«; Jahwe Elohim, der starke Bündnis-Gott) um Rettung. Und im Wesen erneuert tut er dann »der Umkehr würdige Werke« (Mt 3,8; Lk 3,8) und beweist damit äußerlich die Echtheit seiner Umkehr. Auch die angemessenen Empfindungen folgen auf diese Umkehr/Buße (Jer 31,18–19): »Bekehre mich, damit ich mich bekehre, denn du bist der Herr, mein Gott. Denn nach meiner Umkehr empfinde ich Reuenachdem ich zur Erkenntnis gebracht worden bin, schlage ich mich auf die Hüften. Ich schäme mich und bin auch zuschanden geworden«. Man beachte die Zeitformen und die Verwendung von Aktiv und Passiv. (Martin Luther hat beide Bedeutungen der Bekehrung gut zusammengefasst: »Der Herr fordert die Bekehrung von uns, nicht als ob wir sie mit unsern eigenen Kräften vollbringen könnten, sondern damit wir unsere Ohnmacht erkennen und um die Hilfe des Geistes flehen, durch dessen Beistand wir bekehrt werden können.« (WA 13, S. 551) [3].

Wessen Erkenntnis führt zur Rettung?
Kein Mensch kennt oder erkennt Gott von Geburt an. Auch später gelingt ihm dies weder durch Intelligenz, Hingabe oder Religiosität dergestalt, dass er von seinem (durch die Sünde in ihm) intrinsischen Götzendienst befreit würde, obwohl er lange und ernsthaft nach Rettung streben mag. Wie kann dann die Wende zum wahren Heil erfolgen? Geschah es dadurch, dass dieser Mensch letztlich doch den wahren Gott erkannte? Oder nicht vielmehr dadurch, dass der wahre Gott ihn erkannte und damit eine Lebensbeziehung ihm fest aufrichtete. Diese Lebensbeziehung, dieses neue Leben, verleiht diesem Menschen sicher und effektiv die Fähigkeit zur Erkenntnis Gottes (Gal 4,9 MENG2000):  »Da ihr jetzt aber Gott erkannt habt oder vielmehr [Anm.: d. h. richtiger gesagt] von Gott erkannt worden seid…«. Beides ist wahr, die Relation zueinander und das Primat Gottes werden auch hier deutlich.

Wer wirkt hier das eigene Heil (die prozesshafte Heiligung, nicht die ewige Errettung)?
Die Glaubenden sollen fleißig wirken, aber Gott wirkt in den Gläubigen »das Wollen und das Wirken nach seinem Wohlgefallen« (Phil 2,12b–13): »Bewirkt euer eigenes Heil mit Furcht und Zittern; denn Gott ist es, der in euch wirkt sowohl das Wollen als auch das Wirken, zu seinem Wohlgefallen.« – Da »das Wollen als auch das Wirken« ja dem Menschen eigen ist, kommt er so –durch Gottes Wirken motiviert und befähigt– seiner Verantwortung nach. (Modern würde man sagen: Gott liefert die Start- und die Durchhaltemotivation.) Man muss aber genau lesen: Gottes Wirken ist keine Folge des ursächlichen Wirkens des Menschen, sondern das Wollen und Wirken des Menschen ist eine Folge des ursächlichen Wirkens Gottes. (Da die Angeschriebenen bereits »Heilige in Christus Jesus« sind (Php 1,1), geht es bei »Heil« (a. ü. »Seligkeit«) nicht um ihr ewiges Heil, sondern um Rettung aus den enormen geistlichen, aber zeitlich begrenzten Problemen, in denen sie als Gemeinde steckten. Vielleicht kann man verallgemeinern, dass dies für alle Bereiche der praktischen Heiligung gilt: Gottes Geist wirkt in uns das Wollen und Wirken dieser Heiligung – und wir setzen diese Heiligung in jener Kraft Gottes in Tat und Praxis um. Göttlich festgelegtes und damit garantiertes Ziel ist nach Römer 8,29 die »Gleichförmigkeit [symmorphós] mit dem Bild seines Sohnes«.)

Woher kommen Hingabe, Fleiß und Kraft zum christlichen Dienst?
Paulus ist allen Christen sicher ein Vorbild für hingegebenen, fleißigen Dienst. Das Geheimnis seiner Hingabe offenbart er u.a. in 1.Korinther 15,10: »Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin; und seine Gnade gegen mich ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe viel mehr gearbeitet als sie allenicht aber ich, sondern die Gnade Gottes, die mit mir war.« (1Kor 15,10 ELB03). Es war die Gnade Gottes, also Gottes freies Geschenk und souveräne Gabe an Paulus. Aber diese hatte ihn nicht passiv gelassen, sondern zu einem hingegebenen, aktiven Arbeiter im Reich Gottes gemacht. Paulus hat (wieder einmal) Jesaja gut verstanden: »HERR, du wirst uns Frieden geben, denn du hast ja alle unsere Werke für uns vollendet.« (Jesaja 26,12 ELB03).
So schreibt Paulus auch den Kolossern: »Christus … den wir verkündigen, indem wir jeden Menschen ermahnen und jeden Menschen lehren in aller Weisheit, damit wir jeden Menschen vollkommen in Christus darstellen; wozu ich mich auch bemühe, indem ich kämpfend ringe gemäß seiner Wirksamkeit, die in mir wirkt in Kraft (Kol 1,27b-29 ELB03). Paulus hängte sich voll in seine Arbeit mit Mühe, Kampf und Ringen. Aber alle investierte Kraft kam von Gott, vom Heiligen Geist, der in ihm wohnte. Beides zeigt die Harmonie und Parallelität von persönlicher Verantwortung und Gottes souveränem Gnadenwirken.

Woher kommt die Liebe, mit der wir lieben?
Das erste und bedeutsamste Gebot Gottes ist es, Gott zu lieben und den Nächsten wie sich selbst: »Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft.« (5Mo 6,5 ELB03); »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Verstand, und deinen Nächsten wie dich selbst (Lk 10,27). Damit steht jeder Mensch klar in Verantwortung: Gott und den Nächsten zu lieben ist keine Sache der Wahl, sondern des GehorsamsWoher soll solche Liebe stammen? (Beim sentimentalen „Arminianer“ kommt sie aus freiem Willen aus seinem Herzen, sonst sei es angeblich keine echte Liebe.) Beim Glaubenden stammt sie von Gott selbst: »Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben worden ist.«. Lieben wir mit jener gegebenen Liebe, so lieben wir mit unserer Liebe!
Ähnliches haben wir schon bei den anderen freien (Gnaden-) Gaben Gottes, bei Buße und Glauben, gesehen.

Woher kommen die Werke, die wir tun? Wer tut sie?
Der Titusbrief ermahnt die Glaubenden, Gute Werke zu tun. Der Jakobusbrief macht uns deutlich, dass ein Glaube, der keine guten Werke zeitigt, kein rettender Glaube ist (sondern eine nicht-rettende Art von „Glauben“, wie der „Zeichenglaube“ Joh 6; Apg 8,13 oder „Dämonenglaube“ Jak 2,19). Der Glaubende steht also eindeutig in der Verantwortung, Gute Werke zu tun. Diese Guten Werke sind aber kein Mittel zur Errettung, denn die ewige Errettung geschieht allein auf dem Grundsatz (vermittelst) des Glaubens: »Denn durch die Gnade seid ihr errettet, mittels [des] Glaubens; und das nicht aus euch, Gottes Gabe ist es; nicht aus Werken, damit niemand sich rühme. Denn wir sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus zu guten Werkendie Gott zuvor bereitet hatdamit wir in ihnen wandeln sollen (Eph 2,8-10 ELB03). – Die Perspektive ist viel weiter, als nur das einzelne Werk, das wir im Glauben tun: vielmehr sind wir Glaubenden selbst und unser Leben und Arbeiten im Reich Gottes das Werk Gottes. Ruft uns dies zur Passivität? Nein, ganz im Gegenteil: wir sind ja »geschaffen … zu guten Werken«, dies ist unsere Lebens- und Zweckbestimmung, unsere Erfüllung! Diese Werke hat aber Gott »zuvor bereitet … damit wir in ihnen wandeln sollen». 
Vgl. dazu auch Philipper 2,12–13 (oben) und Jesaja 26,12: »Herr, du wirst uns Frieden geben, denn du hast ja alle unsere Werke für uns vollendet.« (Jes 26,12 ELB03). 
Zu „gute Werke“ siehe auch: 1.Timotheus 2,10; 5,10.25; 6,18; Titus 1,16 (neg.); 2,7.14; 3,8.14; Hebräer 10,24; Jakobus 3,13; 1.Petrus 2,12).

(Diese Liste kann fortgesetzt werden.)

B. Altkirchliche (reformierte) Stellungnahmen zu diesen biblischen Lehren

Die (reformierten) Glaubenden haben vor 400 Jahren dieses „Zusammenspiel“ im Heil in den Lehrsätzen von Dordrecht (1619) so formuliert (Drittes und viertes Lehrstück „Von der Verderbnis des Menschen, seiner Bekehrung zu Gott und der Art und Weise derselben“), was m.E. aller ernsthaften Erwägung mit offener Schrift wert ist:

Artikel 11
Ferner, wenn Gott den Auserwählten sein Wohlgefallen erzeigt und die wahre Bekehrung in ihnen wirkt, lässt er sie nicht nur das Evangelium äußerlich predigen und erleuchtet kräftig ihren Verstand durch den Heiligen Geist, damit sie die Dinge, die des Geistes Gottes sind, recht verstehen und unterscheiden, sondern er dringt auch mit der kräftigen Wirkung desselben wiedergebärenden Geistes bis ins Innerste des Menschen ein. Er öffnet das Herz, das geschlossen ist; er erweicht, was verhärtet ist; er beschneidet, was unbeschnitten ist. Dem Willen gibt er eine neue Beschaffenheit und bewirkt, dass dieser Wille, der tot war, lebendig wird; der böse war, gut wird; der nicht wollte, jetzt wirklich will; der widerspenstig war, gehorsam wird. Es setzt den Willen in Bewegung und stärkt ihn also, dass er wie eine gute Frucht gute Werke hervorbringen kann.

Artikel 12
Dies ist nun die Wiedergeburt, die Erneuerung, neue Schöpfung, Auferweckung von den Toten und die Lebendigmachung, wovon so herrlich in den Schriften gesprochen wird, die Gott ohne uns in uns wirkt. Sie wird nicht allein durch das Mittel der äußeren Predigt in uns zustande gebracht, auch nicht durch Anraten oder eine Wirkung von der Art, dass – wenn Gott sein Werk vollbracht hat – es dann noch in der Gewalt des Menschen stände, wiedergeboren zu werden oder nicht wiedergeboren zu werden, bekehrt zu werden oder nicht bekehrt zu werden. Es ist im Gegenteil eine völlig übernatürliche, sehr kräftige und zugleich sehr liebliche, wunderbare, verborgene und unaussprechliche Wirkung, nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift (die von dem Urheber dieser Wirkung eingegeben ist) weder kleiner noch geringer an Kraft als die Schöpfung oder Auferweckung der Toten, so dass alle diejenigen, in deren Herzen Gott in dieser wunderbaren Weise wirkt, gewiss, unfehlbar und kräftig wiedergeboren werden und wirklich glaubenUnd dann wird der nun erneuerte Wille nicht nur von Gott getrieben und bewegt, sondern – von Gott in Bewegung gesetzt – handelt er auch selbst. Darum kann man auch mit Recht sagen, dass der Mensch durch die Gnade, die er empfangen hat, [selbst] glaubt und sich bekehrt

Artikel 13
Die Art und Weise dieser Wirkung können die Gläubigen in diesem Leben nicht völlig begreifen;
unterdes finden sie Ruhe darin, dass sie wissen und fühlen, durch diese Gnade Gottes von Herzen zu glauben und ihren Heiland zu lieben.

Artikel 16
Doch wie der Mensch durch den Fall nicht aufgehört hat ein Mensch zu sein, mit Verstand und Willen begabt, und wie die Sünde, die das ganze menschliche Geschlecht durchdrang, die Natur des Menschen nicht aufgehoben, sondern verdorben und geistlich getötet hat, so wirkt auch diese göttliche Gnade der Wiedergeburt in den Menschen nicht wie in Stöcken und Blöcken (als ob sie tote Dinge wären), sie vernichtet den Willen und seine Eigenschaften nicht und zwingt sie nicht mit Gewalt gegen ihren Willen, sondern sie macht sie geistlich lebendig, heilt, bessert und beugt sie auf eine zugleich liebliche und kraftvolle Weise, so dass da, wo früher Widersetzlichkeit und der Widerstand ganz und gar überwogen, jetzt ein williger und aufrichtiger Gehorsam des Geistes beginnt, die Oberhand zu gewinnen, worin die wahre und geistliche Wiederherstellung und Freiheit unseres Willens liegen. Und wenn der wunderbare Werkmeister alles Guten nicht auf diese Weise mit uns handelt, würde der Mensch keinerlei Hoffnung haben, sich aus dem Fall durch seinen freien Willen, durch den er sich selbst, als er noch stand, ins Verderben stürzte, wieder erheben zu können.

(Diese Liste kann fortgesetzt werden.)

C. Gott lenkt die Schritte (den Weg) eines Menschen – 
weil Er das Herz des Menschen lenken kann

»Wasserbächen gleicht das Herz eines Königs in der Hand des Herrn; wohin immer er will, neigt er esJeder Weg eines Mannes ist gerade in seinen Augen, aber der Herr wägt die Herzen.« (Sprüche 21,1-2 ELB03)

Der Individualismus und die Gottlosigkeit der gegenwärtigen westlichen Kultur beeinflussen auch das Denken der Glaubenden dahingehend, dass wir als höchste Bestimmung des Menschen seine individuelle Freiheit betonen. (Nur in Deutschland gibt man diese gerne an die „fürsorgliche Obrigkeit“ ab, die den Bürger mit Heilsversprechen ködert.) Jeder, auch Glaubende, wollen alleine entscheiden, alleine lieben, alleine leben. Nur in der Not sucht man dann Trost und Halt bei Gott. Das nennt man aber nicht Christentum, sondern besser „Moralistic therapeutic deism (MTD)“. [1]

Nichtglaubende wünschen sich, dass kein Gott sei. Der Mensch will sein eigener Gott sein, will autonom sein. Eine pointierte Darstellung lieferte der schwer erkrankte William Ernest Henley (1849–1903), der 1875 das viktorianische Gedicht »Invictus« schrieb (Henley bekam mit 12 Jahren Knochentuberkulose, ein Unterschenkel wurde amputiert, der zweite gerettet; das Gedicht wurde 1888 veröffentlicht). In diesem heißt es:

I thank whatever gods may be
For my unconquestable soul.

I am the master of my fate:
I am the captain of my soul.

Es ist nicht so schwer zu erkennen, wer der „I AM“ ( »ICH BIN«) seines Lebens war. Nelson Mandela zitierte dieses Gedicht in der Haft, Obama zitierte es anlässlich einer Gedenkfeier für Mandela 2013, ein Film in den USA wurde „Invictus“ genannt.  

Wie seltsam, wenn angeblich an Gott glaubende Christen größten Wert darauf legen, dass sie »the captain of their soul« sind und alles vorlaufende, aus freier Gnade kommende und bestimmende(!) Wirken Gottes in ihrem Leben leugnen wollen. Bei ihnen sitzt Gott auf dem Beifahrersitz, darf die platten Reifen flicken und die Tankrechnung zahlen, aber am Steuer sitzt der Mensch selbst. 

Was sagt die Schrift? Wer lenkt die Schritte des Menschen, wer leitet sie auf seinem Pfad? Wen müssten wir uns eigentlich mit größtem Verstand und Sehnen ans Steuer wünschen, wenn es darum geht, die Tiefen der Ewigkeit sicher zu durchqueren? Es ist reine Hybris –und/oder Dummheit–, dies mit unserem nicht erneuerten Verstand, unserm Wissen, unserer Kraft, unserem Vermögen und unserer Weisheit zu versuchen!

  • »Ich weiß, Herr, dass nicht beim Menschen sein Weg steht
    nicht bei dem Mann, der da wandelt, seinen Gang zu richten.«
     (Jeremia 10,23 ELB03).
  • »Das Herz des Menschen erdenkt seinen Weg, aber der Herr lenkt seine Schritte.« (Spr 16,9 ELB03).
  • »Die Entwürfe des Herzens sind des Menschenaber die Antwort der Zunge kommt von dem Herrn (Spr 16,1 ELB03).
  • »Die Schritte des Mannes hängen ab von dem Herrn; und der Mensch, wie sollte er seinen Weg verstehen?« (Spr 20,24 ELB03).
  • »Und du hast dich über den Herrn des Himmels erhoben; … aber den Gott, in dessen Hand dein Odem ist und bei dem alle deine Wege sind, hast du nicht geehrt.« (Daniel 5,23 ELB03).
  • »Siehe, das alles tut Gott zwei-, dreimal mit dem Mann, um seine Seele abzuwenden von der Grube, dass sie erleuchtet werde vom Licht der Lebendigen.« (Hiob 33,29-30 ELB03).
  • »Vertraue auf den Herrn mit deinem ganzen Herzen, und stütze dich nicht auf deinen Verstand. Erkenne ihn auf allen deinen Wegen, und er wird gerade machen deine Pfade (Spr 3,5-6 ELB03)
  • »Wohlan nun, ihr, die ihr sagt: Heute oder morgen wollen wir in die und die Stadt gehen und dort ein Jahr zubringen und Handel treiben und Gewinn machen 14 (die ihr nicht wisst, was der morgige Tag bringen wird; denn was ist euer Leben? Ein Dampf ist es ja, der für eine kurze Zeit sichtbar ist und dann verschwindet); statt dass ihr sagt: Wenn der Herr will und wir leben, [so] werden wir auch dieses oder jenes tun (Jak 4,13-15 ELB03).
  • »Wehe, AssurRute meines Zorns! Und der Stock in seiner Hand ist mein Grimm. … Er aber meint es nicht so, und sein Herz denkt nicht so; sondern zu vertilgen hat er im Sinn, und nicht wenige Nationen auszurotten. … Denn er hat gesagt: Durch die Kraft meiner Hand und durch meine Weisheit habe ich es getan, denn ich bin verständig; und ich verrückte die Grenzen der Völker und plünderte ihre Schätze und stieß, wie ein Gewaltiger, Thronende hinab. … Und es wird geschehen an jenem Tag, da wird der Überrest Israels und das Entronnene des Hauses Jakob sich nicht mehr stützen auf den, der es schlägt; sondern es wird sich stützen auf den Herrn, den Heiligen Israels, in Wahrheit.« (Jes 10,5ff). Gott gebraucht auch heidnische Könige, seinen Plan auszuführen, ohne dass diese dies wissen oder so wollen, sondern fälschlicher Weise sich und ihren Plänen alles souverän zuschreiben. Da Assur innerhalb seines Wesens frei gehandelt hat, ist er offenbar für sein Handeln voll verantwortlich: »zu vertilgen hat er im Sinn«.
  • Der vielleicht bekannteste Vers dafür, dass nicht der momentan größte „Souverän“ der Menschen souverän ist, sondern Gott, findet sich im Leitvers: »Wasserbächen gleicht das Herz eines Königs in der Hand des Herrn; wohin immer er willneigt er es (Spr 21,1 ELB03). Es geht also letztlich alles um den Willen Gottes, auch wenn dieser dem menschlichen Herrscher weder bewusst noch von diesem gewünscht ist. Das Bild ist ein übliches aus der Irrigation eines Gartens oder Feldes; vgl. 5Mo 11,10 »wo du deine Saat sätest und mit deinem Fuß wässertest, wie einen Gemüsegarten«). – Beispiele dafür finden sich mehrfach in der Schrift: siehe Esra 6,22 (König von Assyrien) oder Jer 39,11–12 (Nebukadnezar, König von Babylon); auch die Kreuzigung Jesu unter Annas und Pilatus.
  • »Von der Stätte seiner Wohnung schaut er auf alle Bewohner der Erde, er, der ihrer aller Herz bildet, der auf alle ihre Werke achtet.« (Ps 33,14-15 ELB03). Gott greift im Inneren, im Zentrum aller Menschen an, wenn Er es will. Es ist nicht nur –aber dies ebenso!– ein äußeres Beobachten der Werke. Weil das der Glaubende weiß, kann er sagen: »Unsere Seele wartet auf den Herrn; unsere Hilfe und unser Schild ist er. Denn in ihm wird unser Herz sich freuen, weil wir seinem heiligen Namen vertraut haben. Deine Güte, Herr, sei über uns, so wie wir auf dich geharrt haben.« (Psalm 33,20–22 (ELB03).  Gottes Allmacht und Vorsehung zu vertrauen ist Grund größter Freude. Das Herz des Menschen ist eben nicht eine verriegelte Bastion oder ein von Gott umgangener Bereich, sondern gehört mit zu seinem Herrschafts- und Eingriffsbereich! Das aber setzt den Menschen offenbar nicht außer Verantwortung, weil das Eingreifen Gottes ihn nicht zu einer entseelten Marionette macht.
  • »Der Herr hat alles zu seinem Zweck gemacht, und auch den Gottlosen für den Tag des Unglücks. Jeder Hochmütige ist dem Herrn ein Gräuel. Die Hand darauf: Er wird nicht für schuldlos gehalten werden.« (Spr 16:4-5 ELB03). Der erste Satz (V4) betont die Souveränität Gottes: Der Herr hat alles zu seinem Zweck gemacht. Der zweite Satz (V5) betont die Verantwortung des Menschen: jeder Hochmütige ist Gott ein Gräuel, er steht in Schuld.

(Diese Liste kann fortgesetzt werden.)

D. Zusammenfassende Gedanken 

  • Gott lenkt alles so, wie Er es willSein Wille regiert souverän alles. Er ist absolut souverän
  • Aber der Mensch hat vom Schöpfer eine relative Freiheit erhalten, zu tun, „was er will“. „Relativ“ deshalb, weil er:
    • Erstens als Geschöpf immer vom Schöpfer abhängig bleibt, denn Gott ist es, der »allen Leben und Odem und alles gibt« (Apg 17,25), und deswegen »leben und bewegen und sind wir« nur in Gott (Apg 17,28). Kein Geschöpf lebt aus sich selbst, kein Geschöpf ist autonom. Nur Gott ist aus sich selbst (Aseität). Nur Gott setzt allem und allen die Norm.
    • Zweitens, weil er als Geschöpf unter dem Willen und der Autorität seines Schöpfers steht und stehen muss. Alles andere wäre der vergebliche und fluchbringende Griff zur Selbstvergottung.
    • Drittens, weil er sich im Sündenfall zum Sklaven der Sünde gemacht hat, mithin nicht völlig frei ist, wie Gott frei ist. Das (auch nach dem Sündenfall) verbliebene Maß an Freiheit macht den Menschen voll verantwortlich vor Gott. 
  • Gott lenkt sogar Ungläubige und Gottesrebellen so, wie er es (im Gericht, in der Vorsehung usw.) will. Umso mehr leitet er jene, die Er errettet und zum Heil erkauft hat, und in denen Sein Heiliger Geist als Besitzgarantie (»Siegel«, »Angeld«) wohnt.
  • Das biblische Phänomen der Parallelität (Concursus Dei) hilft uns zu erklären, wie Gott auch Böses verordnen kann, ohne der Sünde schuldig zu werden. Gott hat stets nicht hinterfragbar gute und heilige Absichten in allem, was Er verordnet. Böses bleibt immer Böses, aber Gott hat niemals böse Absichten in dem, was Er tut. Er kann niemals Böses tun (dies ist stets analytisch wahr). Gott ist so genial, dass Er sogar durch die (also mittels der, nicht nur: trotz der) bösen Absichten seiner Geschöpfe Seine guten Absichten zur Erfüllung bringen kann. Vom Sündenfall Satans, über den Sündenfall des Menschen, dem Leiden eines Hiob, eines Josephs (usw.) und – auf die Spitze getrieben – im Leiden und Sterben Jesu spannt sich eine lange, biblische Kette an Beweisen für diese Auffassung.
  • Dies alles ist Gott ein Leichtes und ist Gottes würdig. Immerhin hat Er den Menschen ausgedacht („konstruiert“) und gemacht und Er erhält ihn jede Sekunde am Leben, Freunde wie Feinde, Nachfolger wie Rebellen, Christen wie Götzendiener, Bekenner wie Leugner. Und zwar einzig und allein deswegen, und nur insofern, als dies zu Seiner Verherrlichung ausschlägt.[2] Es geht kein Weg daran vorbei: Soli Deo Gloria! (Röm 11,36).

Anmerkungen

[1]  Moralistic Therapeutic Deism (MTD) is a term that was first introduced in the book Soul Searching: The Religious and Spiritual Lives of American Teenagers (2005) by sociologists Christian Smith and Melinda Lundquist Denton. The term is used to describe what they consider to be the common beliefs among American youth. The book is the result of the research project the „National Study of Youth and Religion“.
The author’s study found that many young people believe in several moral statutes not exclusive to any of the major world religions. It is not a new religion or theology as such, but identified as a set of commonly-held spiritual beliefs. It is this combination of beliefs that they label Moralistic Therapeutic Deism:

  • A god exists who created and ordered the world and watches over human life on earth.
  • God wants people to be good, nice, and fair to each other, as taught in the Bible and by most world religions.
  • The central goal of life is to be happy and to feel good about oneself.
  • God does not need to be particularly involved in one’s life except when God is needed to resolve a problem.
  • Good people go to heaven when they die.

These points of belief were compiled from interviews with approximately 3,000 teenagers. (Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Moralistic_therapeutic_deism)

[2] Vgl.: »Welche Analogie wir auch immer [zur Erklärung des Concursus Dei] verwenden, sie löst das Geheimnis nicht auf. Gott ist Gott, und seine Beziehung zu seiner Schöpfung ist einzigartig. Wir können ihn nicht vollständig [in aller Tiefe] verstehen, ohne selbst Gott zu sein [vgl. Psalm 139:6]. Wir müssen uns damit begnügen, völlig zu glauben, was die Schrift lehrt, auch wenn wir Gott oder seine Lehre nicht umfassend beherrschen. Wir glauben, dass Gott alle Ereignisse souverän steuert. Wir glauben auch, dass Gott den Menschen echte Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten gibt und dass er sie für diese ihre Entscheidungen verantwortlich macht. Wir glauben an diese beiden klaren Lehren der Heiligen Schrift, ohne dass wir selbst völlig erkennen [und erklären] können, wie seine souveräne Steuerung aller Dinge mit der menschlichen Verantwortung und seinen frei getroffenen Entscheidungen in Übereinstimmung ist (Kompatibilität). Dieses Geheimnis sollte uns zum Lobpreis veranlassen. Wir loben Gott und ehren ihn, indem wir bekennen, wie groß er ist und dass ›seine Größe unermesslich ist‹ (Psalm 145:3).« ( Poythress, Vern S.: Chance and the Sovereignty of God: A God-Centered Approach to Probability and Random Events. Wheaton, IL: Crossway, 2014. Eigene Übersetzung; Fettdruck hinzugefügt.)

[3] Luther schreibt (im Zusammenhang): »Atque ita puer etiam alphabetarius ineptiam istam ridere potest, quod si hoc dandum fuerat adsertoribus liberi arbitrii, haberent certe omnes totius scripturae leges pro se, quibus Omnibus vires arbitrii possent confirmare. Duplex omnino est hie conversio. Una est nostra ad deum, altera est dei ad nos. Aliud est omnino, quando deus ad nos se convertit et quando nos ad deum. Exigit autem dominus conversionem a nobis non quod nos nostris viribus ea praestate possimus sed ut agnita imbecillitate nostra imploremus Spiritus opem, quo auctore possimus converti. Atque illa tum est conversio euangelii. Nam duplex est conversio: legis et euangelii. Lex tantum praecipit sed nihil praestatur, praestatur autem per euangelium, cum additur Spiritus, qui corda innovet et tum convertitiur ad nos deus, quae est conversio pacis, hoc est, ut non solum iusti simus sed et pleni gaudio et delectemus nos in bonitate dei. Hoc est quod Paulus ubique optat Christianis: Gratiam et pacem.« (WA 13, S. 551).