Vor vierhundert Jahren saßen im holländischen Dordrecht (auch: Dordt, Dort) von November 1618 bis Frühjahr 1619 rund einhundert Vertreter verschiedener nationaler Kirchen zu Beratungen bei der ersten und einzigen gesamteuropäischen Synode der Reformierten zusammen. Das Ergebnis dieser europaweiten Synode wurde in der sog. „Lehrregel von Dordrecht“ zusammengefasst. Gekürzte (und oft verfälschte) Zusammenfassungen der Lehrregel werden bis heute unter der moderneren Bezeichnung „Die fünf Punkte (des Calvinismus [1])“ oder dem Akronym „TULIP“ [2] diskutiert. Der vierhundertste Geburtstag der Lehrregel wurde 2019 in den Niederlanden feierlich begangen, in Deutschland blieb er in den protestantischen Glaubenskreisen eher unterbelichtet, zumal sich in den letzten Jahrzehnten in den protestantischen Freikirchen eine ausgeprägt anticalvinistische Kultur breitgemacht hat.
Die Reformation war damals schon einhundert Jahre alt, die gegensätzlichen Glaubensüberzeugungen der alten Römisch-katholischen Kirche und der Reformatorischen Kirchen hatten sich bis in die weltlichen Herrschaftsstrukturen hinein verfestigt. Glaubensstreit war meist auch politischer Streit und vice versa. Mithin war Glaubensstreit auch Bedrohung für die Einheit im Staat. Wer würde gewinnen: Die Reformation oder die Gegenreformation? Aus der zunächst akademischen Debatte wurde ein bedeutender theologischer Streit, der sich ausweitete und die Kirche zu spalten drohte. Die Spannung in der niederländischen Gesellschaft wurde so groß, dass ein Bürgerkrieg eine ernste Möglichkeit darstellte.
Der konkrete Streit war durch Nachfolger des Leidener Professors für Theologie, Jacobus Arminius (lat. für Hermanszoon, 1559/60–1609) entstanden. Diese sog. „Remonstranten“ („Protestler“) forderten um 1610 eine Revision der reformierten niederländischen Bekenntnistexte, da sie abweichende Ansichten zum Heidelberger Katechismus und dem Niederländischen/ Belgischen Glaubensbekenntnis entwickelt hatten, den beiden verbindlich geltenden Glaubensbekenntnissen. Entsprechend den röm.-kath. Auffassungen von verdienstvoller Gnade und menschlicher Mitwirkung an der Rechtfertigung (Vermischung von Rechtfertigung mit Heiligung) wurde von den Remonstranten das Mitwirken des Menschen an seinem Seelenheil wichtig. Die Zentralität und Souveränität Gottes als Retter war ihnen zusehend anstößig geworden, denn er stelle Gott als Tyrann dar. So formulierten sie fünf Positionen, die dann von der Synode diskutiert und in der Lehrregel systematisch in fünf „Lehrstücken“ mit jeweils positiven Artikeln der Lehre und negativen Verwerfungen der Irrtümer insgesamt zurückweisend beantwortet wurde.
Es ist still geworden um die Synode von Dordrecht. Das liegt natürlich auch an den Lehrsätzen, die damals verabschiedet wurden. Für die Mehrzahl der Evangelikalen sind die „Lehrstücke“ inhaltlich und vom Wortlaut her weitgehend fremd geworden. Man kennt sie meistens nur noch aus polemischen Darstellungen der sog. „Fünf Punkte (des Calvinismus)“ aus anticalvinistischer Quelle. Die beständigen Bemühungen zur Re-romanisierung des Glaubens sind auch nach 400 Jahren noch wirksam und erfolgreich. Der Zeitgeist des „Der Mensch im Mittelpunkt“, der Götze des „[absolut] freien Willens“ und die individualistische Kultur des Westens liefern ideologischen Rückenwind.
Wo die Heilige Schrift nicht die alleinige Basis und Quelle unserer Gedanken und unseres Glaubens bildet, und das war das Anliegen der Reformatoren, machen sich schleichend allerlei andere Gedanken breit. Martin Luther sagte es mit der ihm eigenen kräftigen Sprache: „Wer nicht die Heilige Schrift hat, muss sich mit seinen [eigenen] Gedanken begnügen. Wer keinen Kalk hat, mauert mit Dreck.“ (vgl. Jesaja 55,8).
Für eine wieder größer werdende Anzahl von Menschen und Gemeinden beschreiben die „Lehrsätze“ (engl. canons) die „Lehren der Gnade [Gottes]“ (engl. „Doctrines of Grace“). Sie sehen in der Heiligen Schrift überall das großartige, sich Selbst verschenkende Wesen Gottes, der rechtmäßig verdammten Sündern durch das Opfer seines eigenen, allerliebsten Sohnes die Erlösung von Sünden und Schuld erkauft hat. Das ist mehr, als die beste Gerechtigkeit liefern konnte. Das ist Gnade. Das ist großartig und anbetungswürdig! Der Erlöste wird darüber ein Mensch der Freude und der Anbetung. Er hat auch allen Grund dazu! Mit Paulus erfasst er als summa und finis des Evangeliums, dass »von ihm und durch ihn und für ihn alle Dinge sind«. Daher erfüllt es den Glaubenden zutiefst, diesem Gott ewig alle Ehre zu geben: »Ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen.« (Römer 11,36).
Anmerkungen
[1] Der reformierte Glaube („Calvinismus“) bestand noch nie aus nur „5 Punkten“, gar aus den unter „TULIP“ dargestellten fünf Punkten. Schon vorher waren die 129 Fragen und Antworten des Heidelberger Katechismus und das Niederländisch/Belgische Glaubensbekenntnis mit seinen 37 Artikeln verbindlich (das wären also zumindest 166 „Punkte“!). Die Lehrregel von 1619 mit ihren fünf Lehrstücken fügt diesen beiden Bekenntnisschriften nichts Neues hinzu, sondern wurde nur als Anwendung und Klarstellung des bestehenden reformatorischen Glaubens bezüglich der abweichenden Aussagen der Remonstranten verstanden. Nach der Synode wurde die Lehrregel dem verbindlichen Glaubensbekenntnis hinzugefügt (damit wären es 171 „Punkte“!). – Auch das 1647 folgende englische Glaubensbekenntnis („The Westminster Confession of Faith“– Larger Catechism) enthält 196 (!) Fragen und Antworten, die kürzere Version von 1648 immer noch 107 Fragen und Antworten.
[2] Das Akronym „TULIP“ wurde wahrscheinlich erst 1905 von dem presbyterianischen Pastor und Theologieprofessor Cleland McAfee erfunden. Und weil tulip im Englischen für Tulpe steht, habe es etwas mit den Niederlanden zu tun. Das ist aber eher „getretener Quark“ (Goethe). „TULIP“ stammt jedenfalls sicher nicht von der Dordrechter Synode. Insofern ist es zumindest ein Anachronismus, wenn die „Lehrregel“ von vor 400 Jahren praktisch mit dem „TULIP“ des 20. Jahrhunderts gleichgesetzt wird. Meist geht eine Missrepräsentation und Verzerrung der theologischen Inhalte damit einher.
Leseempfehlungen
Die Lehrregel von Dordrecht, zusammen mit dem Heidelberger Katechismus und dem Niederländischen Glaubensbekenntnis, findet man in deutscher Sprache bei der SERK Heidelberg (Verein für Reformation in Deutschland e. V., 2010; PDF). – Die Lehrregel ist für die Kirche geschrieben worden, also nicht-akademisch, sie sind gut verständlich.
Eine gut lesbare Darstellung der „Weichenstellung in Dordrecht“ mit geschichtlichem Abriss und einer kurzen Besprechung der „Fünf Punkte“ liefert Holger Lahayne auf seinem Blog.
CREDO Magazine (Vol. 9, Issue 3, 2019), zu lesen auf deren Website.