Ad impossibilia nemo obligatur – Zu Unmöglichem ist niemand verpflichtet (?)

Beim Studium der Heiligen Schrift biegt man immer wieder einmal quietschend in Sackgassen falscher Vorannahmen und Denkvoraussetzungen (Presuppositionen), Interpretationsgrundsätzen (Hermeneutik) und Denkweisen (Logik) ab. Dies gilt besonders betreffs der Lehren der Schrift, die uns im Wort beschrieben, aber unserer normalen Erfahrung und „Logik  nicht vertraut, rätselhaft oder unserem menschlich-fleischlichen Denken und Empfinden sogar zuwider sind.

Heilslehre (Soteriologie) – „Logisch“ und/oder biblisch?

Dazu ein fast „klassisches  Beispiel aus der Heilslehre (Soteriologie). Peter Streitenberger schreibt –wie einige lange vor ihm– in seinem Buch Die Fünf Punkte des Calvinismus – Eine Antwort (CMD, 2007) Folgendes: »Es ist ein Fehlschluss menschlicher Logik und in sich widersprüchlich, zu unterstellen, dass das, was Gott dem sündigen Menschen eindeutig und immer wieder befiehlt, eigentlich unmöglich wäre.« (S. 26). Er kritisiert damit Theologen, die er wohl im Widerspruch zu seiner eigenen arminianischen Heilsauffassung sieht. Dank der Vernetztheit der Heilslehre mit anderen Wahrheiten der Schrift verursacht er damit allerdings auch Kollateralschäden an anderer Stelle.

Streitenberger wendet sich in der Vorrede seines Buchs noch gegen die „menschliche Logik, was ihn jedoch im Hauptteil nicht davon abhält, selbst Argumente der Logik anstelle von Aussagen der Heiligen Schrift einzusetzen, siehe Zitat. Dies ist klassische Selbstzerstörung eines vermeintlichen Arguments. Der Irrtum hier ist sogar doppelt, denn (1) beurteilt Streitenberger hier etwas als »Fehlschluss menschlicher Logik und in sich widersprüchlich«, was (2) in der Heiligen Schrift schon an anderer Stelle eindeutig und affirmativ vorkommt. Zum Ersten: Wenn es logisch (richtig) wäre, dann wäre es nicht widersprüchlich und wenn es widersprüchlich wäre, dann wäre es logisch nicht richtig. Was also meint er konkret? Kann man das auch klar sagen?

Streitenbergers Argument lautet: Wenn Gott dem Menschen etwas gebietet, dann bedeute dies, dass der Mensch auch in der Lage sei, dieses Gebot(ene) zu halten. Ein göttlich verordnetes Sollen sei mithin unmoralisch, wenn es das Können/Vermögen des Menschen überschreite. Daher beurteilt er die Aussage als falsch, dass der Mensch etwas, was ihm göttlich geboten ist (z. B. die Buße oder der rettende Glaube; Mk 1,15; Apg 17,30), nicht aus sich selbst heraus tun bzw. erbringen könne. Hier irrt Streitenberger, denn Römer 8,6-7 bezeugt diese Unfähigkeit und Unwilligkeit ausdrücklich: »Denn die Gesinnung des Fleisches ist der Tod, die Gesinnung des Geistes aber Leben und Frieden, weil die Gesinnung des Fleisches Feindschaft ist gegen Gott, denn sie ist dem Gesetz Gottes nicht untertan, denn sie vermag es auch nicht«. Noch klarer kann man wesenhaftes Unvermögen bei gleichzeitigem Verpflichtetsein kaum ausdrücken. Andere Stellen wären dem hinzuzufügen.

Streitenbergers Argument kann auch daran als fehlerhaft erkannt werden, dass uns in der Schrift anhand des Gesetzes das Gegenteil gelehrt wird. Gott hatte eindeutig und unter klarer, scharfer Androhung der ewigen Todesstrafe geboten, dass das Gebot Gottes zu halten sei (z. B. 5. Mose 28,15ff). Er meint es also absolut ernst. Aber er lässt ebenfalls als Wahrheit aufschreiben, dass (außer Jesus Christus) kein Mensch das Gesetz gehalten hat noch je hätte halten können (z. B. Apg 15,10; Römer 3,20–23; 5,20–21). Damit ist gezeigt, dass Gott sehr wohl vom Menschen etwas absolut verlangt (nämlich die Perfektion; z. B. Matthäus 5,48; Jakobus 2,10–11; Römer 3,10), was kein Mensch aus sich heraus zu erbringen vermag. Dieses Beispiel zeigt schon, dass das Argument Streitenbergers (das er mit manchem vor und mit ihm teilt) nicht aus dem Wort der Wahrheit stammen kann, denn dieses Wort ist durchgehend widerspruchsfrei.

Das falsche Argument ist ein alter Hut – aus falschen Quellen gefischt

Dem Kenner der Kirchengeschichte ist nicht verborgen, dass diese Art der Argumentation schon in der Denktradition der „Arminianer” (frühes 16 Jhdt.) oder auch später in der amerikanischen „New Haven-Theology” nach Nathaniel W. Taylor (frühes 19. Jhdt.) auftaucht. Berüchtigt ist auch der angebliche „Erweckungsprediger“ Charles Grandison Finney (1792–1875) und das Bibelseminar in Oberlin (OH, USA, gegr. 1833), dessen zweiter Präsident er war, die die selben falschen Behauptungen vertraten und verbreiteten (jeder könne völlig frei und aus eigenen Kräften das Heil erwerben und absolute Heiligung erreichen).

Die Behauptung »Sollen impliziert Können« ist jedoch als weltlich-heidnisches Rechtsprinzip um einiges älter. Als Grundsatz taucht sie schon in den Digesten (lat. digesta = Geordnetes; didaktische Zusammenstellung von Rechtssätzen) des römischen Rechts auf. Sinnverwandte Prinzipien und Rechtsgrundsätze lauten: »Ad impossibilia nemo obligatur/tenetur« (»Zu Unmöglichem ist niemand verpflichtet«; vgl. BGB § 275 Abs. 2-3); »Lex cogit neminem ad impossibilia« (»Das Gesetz zwingt niemand zu Unmöglichem«); »Ultra posse nemo obligatur« (»Über sein Können hinaus wird niemand verpflichtet«).

Der ungläubige Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) schreibt Ähnliches in seiner Critik der praktischen Vernunft (1788): »Denn, da sie [die reine Vernunft] gebietet, dass solche [Handlungen nach sittlicher Vorschrift] geschehen sollen, so müssen sie auch geschehen können.« (A807, B835). Autonomie ist damit bei Kant Bedingung dafür, dass Moral möglich ist. Autonomie in diesem Sinne ist die Freiheit, nach einem selbst bestimmten Willen zu handeln. Die Absolutsetzung der Autonomie müssen wir aber als Vergottung des Menschen als ethischem Wesen sehen. Kant selbst sagte: »Gott ist also keine ausser mir befindliche Substanz sondern blos ein moralisch Verhältnis in Mir.« ([sic!] Akademie-Ausgabe XXI, S. 149). Damit wird aber die widergöttliche Denkbasis und Denkrichtung schon bloßgelegt. Wo ist Kantsche Philosophie, wo biblische Wahrheit im Argument von Streitenberger?

Dieses im menschlichen Recht gerechterweise oft anzuwendende Prinzip ist aber weder kausale noch logische Implikation: Das Sollen garantiert niemals das Können. Und der Bibelleser weiß zudem sicher: Wenn Gott etwas als Sollen (oder Sein) fordert, ist es stets »heilig, gerecht und gut« (Römer 7,12)!

Es gibt bessere Erklärungen, biblische nämlich

Einige Bibellehrer haben den biblischen Sachverhalt besser ergriffen und mit Begriffen und Metaphern der Bibel erklärt (Schuld, Erlösung, Zurechnung usw.): Nehmen wir an, ein Mensch bekäme für eine gewisse Zeit eine größere Geldsumme anvertraut. Er nimmt hocherfreut die große Summe an, verprasst aber das ganze Geld in Saus und Braus. Zur vereinbarten Zeit kommt der Geber wieder zu ihm und fordert sein Geld zurück. Der Mensch kann aber nichts zurückgeben, ganz einfach deswegen, weil er nichts mehr hat. Außerdem will er gar nichts zurückgeben und streitet jede Forderung ab. Es ist aber völlig klar, dass er die geliehene Summe zurückzahlen muss, denn es war geliehenes Vermögen, es gehört einem anderen. Das faktische Unvermögen liefert hier nicht die Freistellung aus der moralischen Schuld, sondern begründet und vertieft diese zusätzlich. Anders gesagt: Die Forderung des Gläubigers besteht weiter und ist völlig rechtens, auch wenn dem Schuldner die Erfüllung der Forderung faktisch unmöglich ist.

To the Point: Die Forderung nach Rückzahlung der Schuld bedeutet eben nicht, dass diese dem Schuldner faktisch möglich sei. Trotz der Unfähigkeit des Schuldners ist die Forderung des Eigentümers juristisch unanfechtbar und gerecht. – Nun, dies gilt übertragen auch im diskutierten Kontext der biblischen Heilslehre mit Blick auf das menschliche Elend, die Gerechtigkeit Gottes und die Notwendigkeit eines freien Gnadengeschenks vonseiten des Heiland-Gottes. (Das Metapher der Schuld und des Schuldners ist direkt biblisch.)

Ein wesentlicher Denkfehler scheint mir zu sein, dass man die Situation des Sünders, die zu seiner faktischen Unfähigkeit und Unwilligkeit zur Umkehr geführt hat, moralfrei beurteilt, während doch die Heilige Schrift lehrt, dass die Unfähigkeit und Unwilligkeit des in Sünde gefallenen Menschen eine selbstverschuldete ist. Buße und Glauben oder anderen Aktivitäten des Herzens (Willen, Entscheidungen) oder der Hand (Werke) sind nach göttlichem Zeugnis einem Menschen innerlich erst möglich, wenn er diese vorher von außen her empfangen hat. Münchhausen funktioniert auch hier nicht.

Mit Empfang der göttlichen Rettungsgaben ändert sich alles: Es ist alles »aus Gott«, aber durch die freie Gabe Gottes sind im beschenkten Menschen nun Fähigkeit, Wille und gute Tat vorhanden und sein eigen: Es ist dann seine Fähigkeit (Vermögen), sein Wille (Motivation) und seine Tat (Vollbringen). Solange aber das Herz geistlich tot und in der Sklaverei der Sünde verkettet ist, gilt ohne göttliche „Operation am Herzen” (Hesekiel 11,19; 36,26) weiter: »Ihr wollt nicht zu mir kommen, damit ihr Leben habt«, und: »Ihr seid aus dem Vater, dem Teufel, und die Begierden eures Vaters wollt ihr tun« (Johannes 5,40; 8,44). Der ganze Vorgang wird in den Texten von den Segnungen des Neuen Bundes beeindruckend für Israel vorschattend beschrieben (s. z.B. Hesekiel 36,25–36) und im Johannesevangelium vom Sohn Gottes ausgelegt und auf den Glaubenden des NT angewandt. Im Heil kommt es danach nicht zuerst auf die Fähigkeit des Sünders an, sondern auf die Fähigkeit des rettenden Gottes. Er fordert – aber er gibt auch das, was er fordert. Glauben wir das? Dann werden und können wir zugreifen und dann sind wir ewig gerettet.

Gott aber sei Dank, dass ihr Sklaven der Sünde wart, aber von Herzen gehorsam geworden seid dem Bild der Lehre, dem ihr übergeben worden seid! Freigemacht aber von der Sünde, seid ihr Sklaven der Gerechtigkeit geworden.

Römer 6,17-18 (ELB03)


Bekehre mich, damit ich mich bekehre, denn du bist der Jahwe, mein Gott.

Jeremia 31,18b

Enthält die Heilige Schrift „Paradoxa“? Was meinen wir damit?

Viele gebrauchen die Wörter „Paradoxon“ oder „paradox“, um Widersprüchliches zu bezeichnen. Das kann gefährlich werden, wenn man nicht angibt, was man mit diesem Wort meint. Für den einen bedeutet es Unsinn, für den anderen (logisch) Widersprüchliches. Entweder, weil es (beweisbar) so ist, oder aber, weil es dem Redenden so scheint. Letzteres ist ein großer Unterschied, der vor allem dann, wenn wir über die Heilige Schrift und die Lehre des Wortes Gottes reden, bedeutsam ist.

Was ist ein Paradoxon?

Der Duden liefert folgende Kurzdefinition:

»scheinbar unsinnige, falsche Behauptung, Aussage, die aber bei genauerer Analyse auf eine höhere Wahrheit hinweist«

https://www.duden.de/rechtschreibung/Paradoxon [08.08.2020] Fettdruck hinzugefügt

Wikipedia bietet eine etwas ausführlichere Worterklärung:

»Ein Paradoxon (sächlich; Plural Paradoxa; auch das Paradox oder die Paradoxie, Plural Paradoxe bzw. Paradoxien; vom altgriechischen Adjektiv παράδοξος parádoxos „wider Erwarten, wider die gewöhnliche Meinung, unerwartet, unglaublich“) ist ein Befund, eine Aussage oder Erscheinung, die dem allgemein Erwarteten, der herrschenden Meinung oder Ähnlichem auf unerwartete Weise zuwiderläuft oder beim üblichen Verständnis der betroffenen Gegenstände bzw. Begriffe zu einem Widerspruch führt. Die Analyse von Paradoxien kann zu einem tieferen Verständnis der betreffenden Gegenstände bzw. Begriffe oder Situationen führen, was den Widerspruch im besten Fall auflöst.«

https://de.wikipedia.org/wiki/Paradoxon [08.08.2020] Fettschrift im letzten Satz hinzugefügt.

James Anderson widmet sich in einem über 300-seitigen Buch dem Thema der Paradoxa in der christlichen Theologie. Er schreibt einleitend zum Begriff:

»… it is synonymous with apparent contradiction. A ‚paradox‘ thus amounts to a set of claims which taken in conjunction appear to be logically inconsistent. Note that according to this definition, paradoxicality does not entail logical inconsistency per se, but merely the appearance of logical inconsistency.«

James Anderson, Paradox in Christian Theology: An Analysis of Its Presence, Character, and Epistemic Status, Reihe: Paternoster Theological Monographs (Paternoster, 2007), S. 5–6.

Phil Johnson, Bibellehrer und Pastor an der Grace Community Church in Sun Valley, CA, erklärt Vorkommnisse oxymoroner Sprache (die auf Paradoxa hinweist) im Predigttext von Galater 2,20 wie folgt:

»Our language is full of oxymorons. We love the juxtaposition of words and ideas that don’t usually go together that because they make the real point stand out maybe more clearly and that’s what Paul is doing here. He is playing with ideas, not just words but ideas and, in fact, many truths in the Christian life are best expressed in oxymorons, paradoxical language, and in our text Paul uses a trio of paradoxes to sum up the reality and the fullness of our salvation in Christ. Look at them. He says, „I am crucified yet living. Yet not I but Christ. And the life I live in the flesh is spiritual, energized by faith.“ So I want to look at those three paradoxes one at a time and try to unpack some of the truth about our salvation that Paul has condensed into this incredibly rich statement.«

Phil Johnson, A Trio of Paradoxes (www.sermonaudio.com/sermon/49172032184), Mitschrift einer Predigt über Galater 2,20. Fettdruck hinzugefügt.

Der oben schon zitierte James Anderson weiter:

»By advocating paradox I don’t want to give the impression that I’m giving a carte blanche to not think philosophically, to not think deeply, about these doctrines. Quite the opposite. … My position is that with each of these doctrines we reflect on them as hard as we can, we penetrate them as best we can based on the Scriptural data that we do have, but we also recognize that there are going to be limits, and that those limits are actually a positive thing and not a reflection of some inherent problem in the doctrines or in the process of theological reflection. … I think we can make progress, we can make considerable progress, in understanding these doctrines and resolving some of the … initial difficulties that we have with them, but at the same time recognizing that we’re always only going to get so far and when we bump up against the limits of our capacity to formulate them in certain ways or to resolve certain difficulties in them, we shouldn’t be too concerned about that. We certainly shouldn’t say, ‚Okay, we need to admit that Christians are ultimately irrationalists.‘ No. We don’t need to say that at all. … It’s a Biblically constrained rationality. It’s a middle way between rationalism, of which I think [Gordon H.] Clark was a representative, and irrationalism, of which, to take an example I think the Neo-Orthodox Karl Barth would be an example, where you’re saying that there are actual contradictions in there. So I think it’s navigating a Biblical middle way between these two extremes: having too high a view of the human intellect, and perhaps too low a view of the intellect, of our ability to know the things of God.«

Dr. James Anderson (extracted from James Anderson’s interview on the Reformed Forum radio program in 2010). Quelle: http://theoparadox.blogspot.com Fettdruck hinzugefügt.

In seinem o. g. Buch widmet sich Anderson den beiden Fragen:

  • (1) Sind irgendwelche zentralen christlichen Lehren grundlegend paradoxal?
  • (2) Kann man vernünftiger Weise eine paradoxe Lehre glauben?

Er beantwortet im ersten Teil seines Buches (a. a. O.) die erste Frage bejahend mit Untersuchungen der Lehre von der Trinität und der Inkarnation. Im zweiten Teil des Buches beschäftigt er sich mit der zweiten Frage und stellt fest, dass ein Christ, der solche Lehren glaubt und bekennt, deswegen nicht irrational ist. Häufig handelt sich um scheinbare Widersprüche, die durch nicht-offenbare Äquivokation entstehen oder ihre Ursache in unserer menschlich begrenzten Fähigkeit des Wissens, Begreifens, Erlebens und Formulierens haben. Ein Konflikt unserer Glaubensinhalte mit der üblichen (menschlichen) Logik ist nicht notwendigerweise ein Kennzeichen von Falschheit oder Irrationalismus. Wir können weiterhin auch über paradoxale Glaubensinhalte vernünftig reden und diese als Wahrheit bekennen. Vernunft und Rationalismus sind nicht dasselbe. Göttliche Offenbarung und gelehrte Schlussfolgerungen ebensowenig.

Ist die Bibel paradox?

Ob das stimmt, kommt darauf an, was der Begriff „paradox“ in dieser Aussage bedeuten soll. Will man im formalen und objektiven Sinn sagen, die Bibel sei „widersprüchlich“ oder „antinomisch“? Oder will man eher unscharf „paradox“ als ein Synonym für „absonderlich, absurd, abwegig, befremdend, befremdlich, bizarr, blödsinnig, hirnrissig, komisch, kurios, merkwürdig, seltsam, sonderbar, unsinnig, verquer, verwunderlich“ (usw.) verwenden? Oder will jemand damit nur subjektiv und selbstreflektierend ausdrücken, dass ihm die Bibel „schwer verständlich“ oder „seiner Erfahrungswelt fremd“ ist?

Falls man an die göttliche Inspiration und mithin Fehler- und Irrtumsfreiheit der biblischen Originalschriften glaubt, sträuben sich die Haare, wenn der Heiligen Schrift objektiv Eigenschaften zugeschrieben werden, die der Eigenschaft der Wahrheit fremd, fern oder gegensätzlich sind. Der Sohn Gottes sagte: »Dein Wort ist Wahrheit« (Johannes 17,17). Damit ist die Sache für einen glaubenden Christen hinreichend geklärt. Diese Feststellung ist mitnichten eine intellektuell-verkopfte, rein theoretische Sache. Sie hat vielmehr direkten Zusammenhang mit der Praxis des Christenlebens, der Heiligung und dem Ziel der Nachfolge, nämlich so zu werden wie Christus, denn der Sohn Gottes sagte einen Halbsatz vorher zum Vater: »Heilige sie durch die Wahrheit

Wie ist das also mit der Bibel? Dürfen wir Unsinn oder Widersprüchliches als Wahrheit bezeichnen? Vielleicht mit dem Hinweis, dass Gottes Gedanken über unseren Gedanken stehen (Jesaja 55,8)? Sollen wir als Christen das Nachdenken und Forschen in der Schrift aufgeben (oder gar nicht erst anfangen), weil seine Gerichte sowieso „unerforschlich“ und Seine Wege für immer „unergründlich“ sind (Römer 11,33)? Sollen wir aufgeben, die Lehre der Schrift zu erforschen, zu erfassen, zu beschreiben, zu tun und zu lehren, weil „nichts Genaues weiß man nicht“? War Esras Herz falsch gepolt (Esra 7,10)? War Paulus‘ Aufforderung im Prinzip fehlleitend (2Timotheus 2,15)?

Manche reden im Anblick des Unbegreiflichen (besser meist: des von ihnen Unbegriffenen) so. Da liest man im Glaubensbekenntnis eines christlichen Missionswerks folgendes:

»Wir sind uns bewusst, dass hinsichtlich der Errettung verschiedene Anschauungen existieren (Unverlierbarkeit des Heils; Verlierbarkeit des Heils; komplementärer Standpunkt: die Bibel lehrt beide Aussagenreihen).«

https://www.efa-mission.de/ueber-uns/unsere-ueberzeugung/ abger. am 04.06.2020; Fettdruck hinzugefügt

Solch eine Behauptung erhebt zumindest zwei Fragen: (1) Kann eine (durchaus sehr wichtige) Aussage oder Lehre der Heiligen Schrift, die Lehre der Heilssicherheit, sowohl wahr als auch nicht-wahr (A ∧ ¬A) sein, und dies zur selben Zeit und im selben Sinn? (2) Kann man diese Annahme als Komplementarität der Lehraussagen der Bibel bezeichnen? Darüber hinaus wären natürlich die verwendeten Begriffe, wie „Errettung“, „Heil“ usw. zu klären.

Ad (1): Lehrt die Bibel Widersprüche? Verstößt das Buch, das die Wahrheit selbst ist, gegen den Grundsatz der Nichtwidersprüchlichkeit? Wäre es so, dann enthielte sie Unsinn, oder ließe zumindest Sinn und Unsinn, Wahrheit und Unwahrheit nicht mehr unterscheiden. Wer das Prinzip der Nichtwidersprüchlichkeit aufgibt, kann nichts Sinnvolles mehr mitteilen. Denn wenn eine Sache und ihr Gegenteil gleichzeitig und im selben Sinn gelten sollen, dann wäre alles beliebig. Dann wären wir am Ende sinnvoller Kommunikation und mithin am Ende alles sinnvollen (!) Gedankenaustausches. Das wäre das Ende aller Offenbarung. Und das schreiben wir der Heiligen Schrift zu? Und damit dem Autor der Heiligen Schrift? Und damit der Absicht oder dem Mitteilungsvermögen Gottes (s. 1Korinther 2,12–16)? Nein, das wäre das Ende alles Verstehens, Forschens und Begreifens. Ja, es gibt Geheimnisse in der Schrift, aber auch über diese wird wahr und widerspruchsfrei geredet. »Das Geheimnis des HERRN ist für die, die ihn fürchten« (Psalm 25,14a). Wer das nicht einsieht, muss sich mit dem Grundsatz der Nichtwidersprüchlichkeit einmal beschäftigen. Sonst haben unsere Aussagen die selbe Qualität wie die Sagan’sche Behauptung, alles sei aus dem Nichts entstanden (und dabei zitierte er nicht glaubend Hebräer 11,3!) oder (von anderer Klasse) wie Pinocchios Mitteilung: »Meine Nase wächst gerade!«

Ad (2): Sind Widersprüche komplementär? Unter „komplementär“ wird »jemanden oder etwas ergänzend« verstanden (von fr. complémentaire →ergänzend; complément →“Ergänzung“ von lat. complēmentum). Wie kann sich aber etwas ergänzen, das in gegenseitigem Widerspruch steht? Widersprüche schließen einander aus, sie ergänzen sich nicht. Man kann ja lachen, wenn Goldie Horn in einem Film sagt: »Es war keine Lüge, sondern eine schrittweise Anhäufung von Halbwahrheiten.« Sprechen wir aber über biblische Beispiele: Der Vater der Lüge (Johannes 8,44) will Menschen über heidnische Philosophien und Religionen den Gedanken einpflanzen, dass Gegensätze wie Licht und Finsternis sich einander nicht ausschließen, sondern komplementär ergänzen und/oder bedingen. Wenn das Licht nicht alleine sein könne, sondern das Gegenteil als „Ergänzung“ (Komplement) brauche, dann kann sich der Vertreter der Finsternis in unseren Gedanken als Ergänzung neben Gott platzieren. Zweites Beispiel: Satan hat Interesse, dass die Menschen nicht überzeugt sind, dass ein Schöpfergott ist. Also verkündet der Urlügner über eine seiner Religionen, dass die Schöpfung durch das bipolare Spiel zweier entgegengesetzter, komplementärer Urkräfte, dem männlichen Yang und dem weiblichen Yin, entstanden sei. Würde dieses Prinzip hier gelten, dann könnte man weiter behaupten, dass Gott nicht ohne Satan als „Gegenspieler“ sein könne, dass dieser Zustand vielmehr komplementär und harmonisch sei. Den selben kategorialen Fehler macht man nun auch, wenn man das Gerettetsein und das Nicht-Gerettetsein nicht als einander ausschließend und als absolute Gegensätze erkennt, sondern diese kategorialen Gegensätze als einander komplementär erklärt. Nein, Widersprüche sind Widersprüche. Sie ergänzen nichts zu einem Ganzen. Sie sind im Wort der Wahrheit nicht enthalten. Frage: Schmecken wir die teuflischen Geschmacksnoten im sonst so orthodoxen Kuchen nicht mehr?

Fazit: Erstens ist sehr zu bedauern, wenn offenbarer Unsinn Eingang in das Glaubensbekenntnis eines christlichen Missionswerks findet. Sehr schön ist ja, dass »andere Anschauungen« bekannt sind und toleriert werden. Anstößig bleibt aber: Wer Widersprüchlichkeit der Bibel zuschreibt, zumal in einer Zentrallehre, die Gottes wunderbares Heilandwesen und Rettungswerk zur Darstellung bringen soll (und wird), vergreift sich hier (wohl unwissentlich) an der Grundlage des Glaubens selbst. Und er verunehrt (wohl nichtwollend) den Gott, der der Erfinder aller Sprache ist, und der als das Wesen mit dem höchsten Verstand auch Schöpfer unseres Sinnes, unseres Verstandes und damit unserer Denkfähigkeit ist. Logik, Einsicht und Verstand sind nicht Feinde des Menschen, sondern wunderbare Gaben des Schöpfers an uns Menschen. Man kann diese Gaben missbrauchen, wie jede Gabe Gottes. Aber die Lösung heißt dann nicht, den Verstand zu verteufeln und Logik fromm zu verachten. Das hat man nicht nur den Pietisten immer wieder sagen müssen. Dazu gehört: Wer den Unterschied zwischen Widerspruch und Ergänzung (Komplementarität) nicht beachtet, der kann schwerlich erwarten, dass er mit diesen Wörtern Wahres oder Klares mitteilen kann. Wo die Begriffe ungeklärt sind, ist das Gesagte nicht das Gemeinte. Am bedenklichsten ist, wenn man solche Verwirrung als „Aussagereihen“ der Lehre des Wortes Gottes zuschreibt.

Wieder einmal wird demonstriert, dass nur die Wahrheit wahr ist. Falsche Ansichten, seien sie auf Unreife, Missverständnisse oder Ablehnung der Wahrheit (o. a.) zurückzuführen, verheddern sich früher oder später in Widersprüche. Wenngleich dies sehr bedauerlich ist, so ist es doch hilfreich zu sehen, dass Abweichung von der Wahrheit der Schrift oft auch Abweichung von klarer, vernünftiger (logikos!) Rede begleitet ist. Unwahrheit und Lüge kosten einen Preis: sie sind manchmal süß, glitzernd und verführerisch, aber nie mit der Wahrheit und Realität in Übereinstimmung, vielmehr führen sie zwingend in Scheinwelten, leiten auf Irrwege und lassen am Ende das Ziel verpassen.

Vielleicht wäre es gut, wenn man das Klare sagt, und dort schweigt, wo man (noch) nicht reden kann. Wir sind ja alle Lernende und Staunende. Der Rückzug auf den Wortlaut der Schrift bleibt uns nach allem Forschen immer möglich, denn: »Dein Wort ist Wahrheit

Leseempfehlungen

Bibel. Der Sohn Gottes hat schon durch seinen Apostel Johannes klar sagen lassen: »Dies habe ich euch geschrieben, damit ihr wisst, dass ihr ewiges Leben habt, die ihr glaubt an den Namen des Sohnes Gottes.« (1.Johannes 5:13 ELB03). Das ist die Wahrheit – ohne jeden Widerspruch.

Heilslehre. John MacArthur, Richard Mayhue (Hrsg.): Biblische Lehre: Eine systematische Zusammenfassung biblischer Wahrheit. Dieses Buch gibt gut belegt die biblisch richtige Antwort auf die Frage der Heilssicherheit an.

Logik. R. C. Sproul: Not a Chance: God, Science, And The Revolt Against Reason. Expanded edition. Baker Books, 2014. | Sproul geht auf das Gesetz der Widerspruchsfreiheit ein, diskutiert in diesem Buch jedoch auch die Begriffe Geheimnis, Widerspruch (Antinomie) und Paradoxon. Der direkte Anwendungsbereich sind Behauptungen von Wissenschaftlern über Zufall und dass »Etwas aus Nichts entstanden ist«.

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