Simul iustus et peccator 

Simul iustus et peccator (dt.: Zugleich Gerechter und Sünder; engl.: Saint and sinner) ist eine Formulierung der Rechtfertigungslehre Martin Luthers.

Einschlägige Formulierungen in Luthers Schriften

Die Gegenüberstellung der Begriffe »iustus« (gerecht, Gerechter) einerseits und »peccator« (Sünder) bzw. »peccat« (sündigt) andererseits findet sich mehrfach in Luthers Schriften, und zwar – gemäß der Weimarer Ausgabe – in folgenden Formulierungen:

  • »simul Iustus est et peccat« [WA 56,347,3–4]
  • »Quod simul Sancti, dum sunt Iusti, sunt peccatores« [WA 56,347,9]
  • »Semper peccator, semper penitens, semper Iustus.« [ WA 56,442,17]

Der Grundgedanke

Der dahinterstehende Grundgedanke von Luther, den er erstmals in seiner Römerbriefvorlesung von 1514/15 bei Römer 4,7 (»Selig sind die, denen die Ungerechtigkeiten vergeben und denen die Sünden bedeckt sind!»; LUT) formulierte, lautet: Heilige sind in ihrer eigenen Einschätzung immer Sünder und deshalb nach Gottes Urteil gerechtfertigt. Heuchler hingegen sind in ihrer eigenen Einschätzung immer Gerechte, weshalb sie in Gottes Urteil immer Sünder sind. Daraus zog Luther den Schluss, dass Heilige (Gläubige) für Gott zugleich Gerechte und Sünder seien (Vorlesungsmitschrieb 1515/16).

Durch dieses simul iustus et peccator wollte Luther den Unterschied zwischen Heiligen und Heuchlern jedoch nicht aufheben, da nur die Heiligen, die ihre eigene Sünde erkennen, durch Gottes Gnade gerecht würden. Gerecht seien sie jedoch nur dadurch, dass Gott ihnen die Sünde nicht anrechnet und das Versprechen gegeben hat, sie endgültig von der Sünde zu befreien. Die Heiligen seien somit in ihrer Hoffnung gerecht, in Wirklichkeit (in ihrer Lebenspraxis) aber weiterhin Sünder. Heuchlern dagegen sei von vornherein der Zugang zu Gottes Gerechtigkeit verwehrt, so dass sie wirklich nur in ihrer eigenen Wahrnehmung Gerechte seien.

Hintergrund

Diese Lehre Luthers bezieht sich auf die scholastische Theologie, der Luther vorwirft, sie behaupte, dass durch Taufe und Buße sowohl Erbsünde als auch die aus Taten hervorgehende Sünde völlig vom Menschen weggenommen würden. 

(NB: Es gab und gibt auch Christen aus anderem Hintergrund, die lehren und glauben, dass sie es schon vor ihrer Verherrlichung als Gläubige schaffen könnten, völlig und dauerhaft frei von Sünde und Sünden zu werden. Manche bezeichnen dies als »zweiten Gnadenstand« oder »Einweihung in die Sohnschaft«. Das alles steht in völligem Widerspruch zur Wahrheit, s.u.).

Biblische Betrachtung

Gegenwärtige Stellung

Wenn ein Mensch aus Glauben von Gott gerechtfertigt wird, verlässt er seine Stellung als Sünder und wird in der Stellung vor Gott zu einem Gerechten (und zu einem Heiligen; Römer 1,7; 1.Korinther 1,2; 2.Korinther 1:1 usw.). Römer 5:8 kann daher in Vergangenheitsform feststellen: »Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist.« Sünder zu sein gehört für den Gläubigen der Vergangenheit an.

Der Begriff der »Stellung« vor Gott entspricht der biblischen Lehre, wie die ELB trefflich übersetzt: »Denn so wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die vielen in die Stellung von Sündern gesetzt worden sind, so werden auch durch den Gehorsam des einen die vielen in die Stellung von Gerechten gesetzt werden.« (Römer 5,19; Young’s Literal Translation hat: »for as through the disobedience of the one man, the many were constituted sinners: so also through the obedience of the one, shall the many be constituted righteous.«). Das griech. Verb kathístēmi (Aorist Passiv) bedeutet hier »(amtlich) (ein)gesetzt sein«, »ernannt sein«), also eine (offizielle) »Stellung«. – Jede Aussage, die diesen Stellungswechsel negiert oder ignoriert, ist unbiblisch.

Gegenwärtige Praxis

Praktisch erfahren wir, dass auch der so Gerechtfertigte und Heilige noch sündigt. Zu sündigen gehört für den Gläubigen leider noch zur Gegenwart. Dies ergibt sich daraus, dass er auch als Gerechtfertigter und Heiliger noch die Quelle der Sünde (»die Sünde«) in sich hat und daher noch sündigt: »Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit. Wenn wir sagen, dass wir nicht gesündigt haben, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns.« (1.Johannes 1,8–10).

Der große Unterschied zur Stellung vor der Neugeburt ist, dass beim Gläubigen die Macht der Sünde. gebrochen ist: War der Mensch vorher »unter der Sünde« (Römer 3,9), »unter die Sünde verkauft« (Römer 7,14) und so der Sünde »Sklave« (Johannes 8,34), so ist er nun frei von diesem Zwang, er ist »freigemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes« (Römer 8,2). Er ist befreit und befähigt, immer mehr die sündigen »Handlungen des Leibes [zu] töten« und sich durch Gottes Geist leiten zu lassen (Römer 8,12–15). Die aktive Beteiligung des Gerechtfertigten und Heiligen an seiner praktischen Heiligung wird von Gott sowohl gefordert als auch göttlich unterstützt (Philipper 2,12–13; Hebräer 12,14b). 

Das Spannungsfeld der Heiligung

Luther. Am besten fasst diesen biblischen Sachverhalt Luthers Formulierung »simul Iustus est et peccat« (i.S.v. »gleichzeitig Gerechter und sündigt«) zusammen: Der Stellung nach Gerechter, der Praxis nach passieren noch (vereinzelt) Sünden.

Die Spannung zwischen Stellung und Praxis des Geretteten ist real, aber vorübergehend. Die Ermahnungen für ein gottgefälliges Leben (Praxis) gründen in der Stellung: Werdet praktisch so, wie ihr es stellungsmäßig schon seid! Ermahnung gründet auf Gnadenstellung: Wandelt heilig, denn ihr seid Heilige (vgl. 1.Petrus 1,15–16; 1.Korinther 3,17; Kolosser 3,12ff usw.)!

Bildlich gesprochen: Man kann von einem sündigenden Heiligen Schnappschussaufnahmen machen, aber keinen Film drehen. Sündigen wird zum (vereinzelten) Betriebsunfall, während es vorher normaler (wesenseigener) Betriebsmodus war.

Zukunftsperspektive 

Dieser Zustand wird sich erst in der »Verherrlichung« ändern, wenn der Gerechterklärte durch Gottes Gnadenhandeln auch praktisch völlig Christus entsprechen wird, mithin weder von Sünde bewohnt sein wird noch den Willen und die Fähigkeit zum Sündigen mehr besitzt (vgl. 1.Johannes 3,2). Damit ist das Ziel der progressiven Heiligung erreicht (Römer 8,29). Erst im Moment der Verherrlichung sind dann Stellung vor Gott und gelebte/erlebte Praxis identisch. Das wird reine Glückseligkeit und Erfüllung sein.