Jeder Mensch braucht und hat eine generelle Vorstellung, mithilfe derer er alles, was er wahrnimmt, interpretiert, begreift und vermeintlich versteht. Wir nennen diese grundlegende, alles umfassende Vorstellung eine Weltanschauung. Manche wählen ihre Weltanschauung sehr bewusst, andere hingegen sind sich ihrer nicht bewusst oder setzen sich mit ihr nicht auseinander, aber alle haben sie als Denkrahmen (Paradigma) und persönlichen „Ich verstehe!“-Interpretationsschlüssel.
Warum ist das so? Weil wir Menschen nicht damit zufrieden sind zu wissen, was der Fall ist (Zahlen, Daten, Fakten), sondern danach streben, auch zu verstehen, was diese Zahlen, Daten und Fakten bedeuten. Menschen fragen nach dem Wozu, nach dem Sinn. Sinn im Sein und Tun zu suchen, ist uns Menschen ureigen, daher ist uns Sinnklärung und Sinnstiftung tiefes Bedürfnis. Wo aber diesen Sinn finden? Wer sagt uns zu Sinn und Sollen verlässlich Wahres? Wo finde ich objektive Wahrheit, die von der eigenen Existenz, Prägung und Begrenztheit unverfälscht, ungefärbt und uneingeschränkt ist?
Angesichts großartiger technischer Errungenschaften glauben viele, in einer Zeit reiner Vernunft und objektiver Wissenschaft zu leben. Der Fortschrittsglaube ist längst zur Religion vieler geworden. Und so sucht man Wahrheit und die Antwort auf die Fragen des Seins und Sollens in der angeblich neutralen Wissenschaft: Harald Lesch wird uns sicher alle Fragen objektiv beantworten können! Dieser Astrophysiker kann ja in einer Stunde so beeindruckend über 4,5 Milliarden Jahre Erdgeschichte reden, dass man fast vergessen könnte, dass er 99,9999987 % dieser Zeit gar nicht dabei war. Das nennen wir in der Wissenschaft extrapolieren (hier mit viel Extra und –noch viel mehr– medialer Politur). Nach Max Weber kann sich die wissenschaftliche Analyse aber nur dem Seienden widmen, die Klärung von Werturteilen und das Fragen nach dem Sollen (dem „Seinsollenden“) bleibe reine Glaubenssache. Auf der Suche nach einer tragfähigen Weltanschauung müssen wir also woanders suchen. Aber wo?
Wahrheit, objektive, ewige, vollständige Wahrheit, ist in der Tat die größte Mangelware unserer post-faktischen und post-postmodernen Zeit. Wir brauchen aber klare Aussagen darüber, was der Fall ist, wie alles zu verstehen ist und wie wir es zu bewerten haben. Das Fragen nach Sein, Sinn und Sollen ist uns Menschen wesenseigen, unterscheidet uns kategorial vom Tier. Wir brauchen dazu Antworten, am besten aus einer Quelle, die sich nicht täuschen kann und die nie lügen wird. Damit ist gesagt: Der Quell solcher Wahrheit kann nicht ein Mensch sein.
Angesichts des pervasiven (alles durchdringenden) Mangels an Wahrheit wundert es uns nicht, dass wir in einer Zeit der moralischen Beliebigkeit und des Glauben an die Konstruierbarkeit aller sozialen und ethischen Normen leben. Es fehlt nicht nur an Wissen, sondern auch an ethischer Orientierung, an sichernder Grenzziehung, an Gottesbewusstsein, an praktischem Wissen, wie das Leben gelingt. Die Alten haben das Weisheit genannt: Wissen über Gott und Mensch, Sünde und Heiligkeit, heute und morgen, angewandt im ganzheitlichen, zielorientierten Lebensvollzug. Daran mangelt es erdrückend. Die selbstgewählte Gottesfinsternis des Menschen hat seine Vernunft verhüllt, verdreht und verkrüppelt (Römer 1,21–22; Epheser 4,17–19; vgl. Johannes 3,19; Apostelgeschichte 16,18). Wir Christen leben in dieser „verdrehten (perversen) Welt“ (Philipper 2,15). Umso mehr brauchen wir die biblische Wahrheit des geschriebenen Gotteswortes, um unseren Glaubensweg coram Deo (vor dem Angesicht Gottes) in demütiger Weisheit und echter Heiligung gehen zu können (Johannes 17,17). Allein das ist menschenwürdiges Leben.
Der dritte Mangel, den wir beklagen, ist Liebe, jene Grundessenz, die der Schöpfer in die Textur unseres Menschseins fest verwoben hat. Wie viele Verzerrungen und Karikaturen von „Liebe“ geistern umher und lassen den Menschen mit teuer glitzernden Plastikfälschungen unbefriedigt und enttäuscht zurück? Wo gibt es echte Liebe, und wie sieht sie in Wahrheit aus? Gott allein kann den Pascal’schen »unendlichen Abgrund« unserer Seele (Pensées, Sec. VII, 425) wirklich ausfüllen. Er ist die Liebe (1.Johannes 4,16).
Unser Fragen wirft uns wieder zurück auf Platz 1: Wo finde ich „wahre Wahrheit“? Und woher weiß ich, was wahre Wahrheit ist? Wer sich in der Beantwortung dieser Frage nur um sich selbst dreht (sein Herz, Seine Vernunft, seine Bedürfnisse usw. befragt), wird in dieser Frage nicht weiterkommen. Wie bei der Navigation brauchen wir notwendiger Weise Bezugspunkte außerhalb des eigenen Referenzsystems. Oder besser: Jemand mit Überblick muss uns von außen verlässliche Informationen geben. Anders gesagt: wir brauchen Offenbarung. Selbstreferenz liefert prinzipiell keinen Fixpunkt, keine Orientierung. (Werfen Sie doch mal ihren Anker im Boot aus.)
Und was ist mit der Vernunft, der wir uns als „Aufgeklärte“ vertrauensvoll ausliefern sollen? Sie sei doch die verlässliche Führerin jenseits aller traditionellen Autoritäten, sagte man uns Jahrhunderte lang. Solcher Glaube ist 2020 aber schon längst überholt. Die Dialektik der Aufklärung hat das Projekt der Aufklärung (und damit den Modernismus und Fortschrittsglauben gleich mit) als gescheitert dargestellt: sie liefert Schlimmeres und mehr von dem, dem man eigentlich entrinnen wollte.
So bleibt es eine Frage des Glaubens und der Quelle solchen Glaubens. Wer glaubt, kann wissen. Umgekehrt geht das nicht. Der christliche Glaube ist daher so ziemlich das Gegenteil dessen, was man landläufig unter „glauben“ versteht. Existentiell entscheidend erweist sich, was man glaubt und wem man glaubt. An der Schriftfrage entscheidet sich alles. Und die wird erst dann richtig entschieden, wenn man eine Lebensbeziehung zu der Person hat, die die Wahrheit in Person ist (Johannes 1,14; 14,6), und die stets die Wahrheit sagt (Johannes 16,7). Die Erkenntnis der Wahrheit wird den Glaubenden freimachen (Johannes 8,32; 17,17.19).
Was glauben Sie? Viel wichtiger: Wem glauben Sie?