Adaptiert von Jesse Johnson, How to become a Calvinist in 5 easy steps (The Cripplegate, 2. August 2022). Jesse Johnson ist Gemeindehirte und Lehrer der Immanuel Bible Church in Springfield, VA. Außerdem leitet er den Standort von The Master’s Seminary in Washington DC. Übersetzung, Adaptierung sowie Endnoten von grace@logikos.club.
In meinem Dienst als Gemeindehirte habe ich einen überraschenden Trend festgestellt. Die Menschen, die ich treffe und die sich für „Die 5 Punkte des Calvinismus“ (bekannt unter dem Akronym TULIP) begeistern, haben im Allgemeinen den gleichen Weg eingeschlagen, um dorthin zu gelangen. Das ist zwar nicht der Weg, den ich erwartet hätte, aber ich denke, ich sollte nicht überrascht sein, denn er deckt sich mit meinen eigenen Erfahrungen.
Um ihnen Zeit zu sparen, habe ich diesen Prozess auf fünf einfache Schritte reduziert: „How to become a Calvinist in 5 easy steps“. Wollen sie sich für die Souveränität Gottes im Heil begeistern, TULIPs (engl. „Tulpen“) in jedem Feld entdecken und die historischen Lehren der biblischen Heilslehre (Soteriologie) vorbehaltlos annehmen, die von fast allen Menschen mit auch nur halbwegs guter Theologie in der Kirchengeschichte vertreten worden sind? Nein, sie wollen das nicht? Nun, dann haben sie Glück, denn genau an diesem Punkt fangen wir an:
(1) Beginnen sie in einer Gemeinde, die Gottes Souveränität nicht lehrt. Damit meine ich nicht, dass sie eine Gemeinde finden sollen, die einfach nur die Bibel lehrt, ohne ständig darauf hinzuweisen, um welchen Teil von TULIP es sich handelt. Nein, machen sie langsam, sie werden schon noch dorthin kommen. Fürs Erste sollten sie ihre Reise in einer Gemeinde mit 20-minütigen Minipredigten beginnen. Eine Gemeinde, die denkt, dass (Er-)Wählen etwas sei, was man alle vier Jahre im Wahllokal macht. Sie müssen unbedingt eine Kirche finden, die ihnen sagt: „Halten sie sich von der Theologie fern, das ist gefährliches Zeugs!“ Wenn sie diesen Weg gehen wollen, müssen sie in einer Gemeinde anfangen, die ihnen etwas sagt wie: „Gott wählt nicht aus, wer gerettet wird, das ist Quatsch!“ Wenn der Pastor zufällig Epheser 1 oder Römer 9 vorliest, brauchen sie dazu eine Erklärung, die ungefähr so lautet: „Wenn in der Bibel von ‚Vorbestimmung‘ die Rede ist, heißt das: Gott gibt eine Stimme ab, Satan gibt eine Stimme ab und jeder Mensch hat dann die Möglichkeit, die entscheidende Stimme abzugeben.“ Wenn sie eine Kirche finden, in der der Pastor in einer Predigt einen Stift hochhält und sagt: „Wenn Gott souverän wäre, würde er mich daran hindern, den Stift fallen zu lassen“ und dann den Stift fallen lässt, dann haben sie einen guten Startpunkt für ihren Weg gefunden.
(2) Stoßen sie „zufällig“ auf den Calvinismus. Machen sie sich bloß noch keine Gedanken über den Gebrauch des Wortes „zufällig“. Nach Schritt 5 werden sie dieses Wort nicht mehr verwenden wollen, aber jetzt ist es noch erlaubt. Vielleicht stolpern sie in der Schule über eine Predigt von Jonathan Edwards [1] oder sie finden einen YouTube-Clip von John MacArthur [2]. Vielleicht gibt Ihnen ein Freund eine Spurgeon-Predigt [3], ohne sie vorher sorgfältig geprüft zu haben. Was auch immer es ist: Lesen sie es, hören sie es sich an und ärgern sie sich dann darüber. Werden sie richtig wütend! Schreien sie das Buch/Video an: „Was ist dann mit denen, die das Evangelium noch nie gehört haben!!! Das ist nicht F-A-I-R.“ So, oder so ähnlich. Das Entscheidende ist, so wütend zu werden, dass Schritt 3 unvermeidlich wird.
(3) Lesen sie anti-calvinistische Literatur. Jemand gibt ihnen ein Buch, um ihnen zu „helfen“, das zu verstehen, was sie gerade gelesen haben und was sie wütend gemacht hat. Zum Beispiel ein Gesprächsgruppenleiter aus der Gemeinde oder ein Freund deiner Eltern. Im Idealfall heißt dieses Buch „Calvinismus entlarvt!!!“. Dieses Buch muss – und das ist nicht verhandelbar – ihnen sagen, dass der Calvinismus nicht mit Evangelisation oder Mission vereinbar sei. Extrapunkte gibt es, wenn es ihnen sagt, dass die Prädestination (Vorherbestimmung der Geretteten) nicht wahr sei, weil Calvin in den 1690er Jahren Menschen auf dem Scheiterhaufen umbrachte, wie dies die Amerikaner zu dieser Zeit auch taten [4]. Außerdem habe John Wesley eine schlechte Ehe gehabt. Bei diesem Schritt gilt: Je absurder, desto besser! Denn dies alles bereitet sie auf Schritt 4 vor.
(4) Suchen sie nach einem besseren Weg als den des Calvinismus‘. Sie stellen fest, dass viele berühmte Evangelisten Calvinisten waren, dass der Calvinismus die weltweite Mission immens vorantrieb, dass Calvin selbst erst 1500 Jahre nach Epheser 1 auftrat und dass Wesley sowieso kein Calvinist war. Im Grunde genommen stellen sie fest, dass es mit dem Buch, das sie gerade gelesen haben, wohl einige logische und inhaltliche Probleme gibt. An diesem Punkt suchen sie also nach etwas Hilfreicherem. Nun – und das kann ich nicht genug betonen – müssen sie ein Buch finden, das behauptet, einen besseren Weg als den Calvinismus anzubieten. Vielleicht sogar einen „Sowohl-als-auch“-Ansatz. Wenn es die Formulierung „4-Punkte-Calvinismus“ enthält, umso besser! Idealerweise besorgen sie sich so etwas wie Norm Geislers Chosen but Free [5] oder The Five Points of Calvinism von Bryson [6]. Lesen sie es. Lesen sie es noch einmal. Machen sie sich Notizen. Verschlingen sie es. Lesen sie es, als wäre es wahr. Versuchen sie, alles aufzusaugen. Schließlich wollen sie immer noch kein Calvinist werden. Pfui, bloß nicht!
OK, haben sie Chosen but Free (oder etwas Ähnliches) gelesen? Prima. Mal sehen, wie lange sie das durchhalten können.
Die Wahrheit ist, dass diese Bücher nicht funktionieren. Sie mögen zwar die Spannung zwischen Freiheit und Souveränität anerkennen, aber sie formulieren selten einen Weg, wie man Freiheit und Souveränität in biblischer, voller Spannung stehen lassen kann. Vielmehr versuchen deren Autoren, sie zu überzeugen, dass sie stets die Souveränität Gottes herunterspielen und gleichzeitig felsenfest am „freien Willen“ [sog. „libertine Freiheit“; A.d.Ü.] des Menschen festhalten sollten. Diese Bücher geben dabei noch nicht einmal eine vernünftige Antwort auf die Frage: „Frei von was?“ Kurz gesagt: Sie können und dürfen hier nicht stehen bleiben. Die meisten Menschen werden hier gleich aussteigen und einfach beschließen, nie wieder über dieses Thema nachzudenken. Aber sie gehören nicht zu diesen Menschen! Stattdessen ist dies der Moment, auf den sie gewartet und auf den sie hingearbeitet haben. All Ihre harte Arbeit wird sich jetzt auszahlen:
(5) Lesen sie etwas Gutes, das den Calvinismus richtig erklärt – und zwar von einem Calvinisten – und beenden sie die Reise. Schnappen sie sich The Potter’s Freedom und genießen sie James White, wie er Chosen but Free demontiert [7]. Schnappen sie sich Sklave von John MacArthur [8] und lassen sie sich von den Metaphern der Bibel in den Bann ziehen. Sie wollen etwas Kürzeres? Versuchen sie J. I. Packers Evangelisation und die Souveränität Gottes [9]. Oh, oh, oh, hier kommt sogar eine kostenlose Quelle: John Pipers Was wir über die fünf Punkte des Calvinismus lehren [10]. Sind Predigten ihr bevorzugtes Medium? Dann versuchen sie die 10-teilige Serie The Doctrines of Grace von MacArthur [11].
Haben sie Bryson gelesen? In der Debatte Who Controls Salvation? schießt White das Buch mit Dynamit ins All [12]. Möchten sie lieber etwas weniger Gefährliches in die Hände nehmen? Greifen sie zu Boice und Ryken mit Die Lehren der Gnade: Eine Erklärung und Verteidigung der fünf Punkte des Calvinismus, einem ruhigen und gewinnbringenden Spaziergang durch das TULIP-Feld [13]. Lesen sie, und beobachten sie dabei, wie sich die Gänseblümchen in ihrem Herzen langsam in TULIPs (Tulpen) verwandeln.
Und wenn sie aus dem Dunstkreis der „Brüderbewegung“ (sog. Plymouth Brethren, D: Christliche Versammlung) kommen, dann lesen sie die hervorragende Darstellung von Stevenson, Die Brüder und die Lehren der Gnade. Wie stand die Brüderbewegung des 19. Jahrhunderts zur calvinistischen Heilslehre? Sie werden staunen, wie große Teile der Bewegung ihre Fundierung der Heilslehre im Wort Gottes nach und nach loslassen und in eine mehr und mehr anthropozentrische Sicht abgleiten konnte. Als „Bruder“ werden sie verstehen, dass man zurück zur Quelle muss, wenn man rein(er)es Wasser trinken will (hier einer vom Anfang).
Nun, wenn sie all diese Schritte befolgt haben, sollten sie an der Ziellinie angekommen sein. Ich weiß, ich weiß: Sie sind diesen Weg gegangen und sind nun als Calvinist herausgekommen, was genau das war, was sie am Anfang vermeiden wollten. Aber das ist in Ordnung: Gott wollte ihnen Gutes tun und sich damit verherrlichen.
Endnoten
[1] Sinners in the hands of an angry God, https://www.blueletterbible.org/comm/edwards_jonathan/sermons/sinners.cfm
[2] How is limited atonement true when Scripture teaches that Christ died for the whole world?, https://www.youtube.com/watch?v=35poj19FXEg
[3] A Defense of Calvinism, https://reformed.org/calvinism/a-defense-of-calvinism-by-c-h-spurgeon/
[4] Hier wird wohl auf die Hexenprozesse von Salem (Salem witch trials) im Jahr 1692 angespielt; deren Opfer wurden allerdings größtenteils durch Erhängen hingerichtet. (A.d.Ü.)
[5] Norman L. Geisler, Chosen But Free – A Balanced View Of God’s Sovereignty And Free Will. 3. Aufl. Minneapolis, MN: Bethany House, 2010.
[6] George L Bryson, The Five Points of Calvinism: Weighed and Found Wanting. Lansing, MI: Calvary Chapel Publishing, 2015.
[7] James R. White, The Potter’s Freedom – A Defense of the Reformation and a Rebuttal of Norman Geisler’s Choosen but Free. Amityville, NY: Calvary Press Publishing, 2000.
[8] John MacArthur, Slave: The Hidden Truth About Your Identity in Christ. Nashville, TN: Thomas Nelson, 2010. Deutsche Version: Die unterschlagene Wahrheit über deine Identität in Christus. Augustdorf: Betanien, 2014.
[9] James Innell Packer, Evangelism and the Sovereignty of God. Nottingham: Inter Varsity, 1961. Neuere Ausgabe mit Vorwort von Mark Dever: Downers Grove, IL: InterVarsityPress, 2012. Deutsche Fassung: Prädestination und Verantwortung – Gott und Mensch in der Verkündigung.Verlag für Glaube, Theologie & Gemeinde (VGTG), 2021.
[10] John Piper, What We Believe About the Five Points of Calvinism. Blog-Artikel von desiringGod vom 1. März 1985 (https://www.desiringgod.org/articles/what-we-believe-about-the-five-points-of-calvinism).
[11] John MacArthur, The Doctrines of Grace. Predigtserie, 2004, 2005. Siehe: https://www.gty.org/library/topical-series-library/280/The-Doctrines-of-Grace.
[12] Who Controls Salvation? – White vs Bryson. YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=O1KJY-PpKFs (2:47:44 Std.)
[13] James Montgomery Boice und Philip Graham Ryken, The Doctrines of Grace: Rediscovering the Evangelical Gospel. Nachdruck der ersten Ausgabe von 2002. Wheaton, IL: Crossway, 2009. Deutsche Ausgabe: Die Lehren der Gnade: Eine Erklärung und Verteidigung der fünf Punkte des Calvinismus. Augustdorf: Betanien, 2009.
[14] Mark R. Stevenson, The Doctrines of Grace in an Unexpected Place. Calvinistic Soteriology in Nineteenth-Century Brethren Thought. Eugene, OR: Wipf and Stock, 2007 (ISBN 978-1-4982-8111-9). Deutsch: Mark R. Stevenson, Die Brüder und die Lehren der Gnade. Wie stand die Brüderbewegung des 19. Jahrhunderts zur calvinistischen Heilslehre? Bielefeld: CLV, 2019.