»Der alte Drang der Vernunft, Maß aller Dinge zu sein, erhebt auch in unserem Theologisieren das Haupt. Gott soll sich selbst und sein Tun an unseren Normen ausweisen, soll sich vor unserem Forum rechtfertigen. Die Vernunft weiß, was gerecht ist, und Gott hat sich, will er sich nicht selbst disqualifizieren, nach diesem Kriterium (=Merkmal, Kennzeichen) zu richten. …
Der „gesunde Menschenverstand“ will Gott messen; wenn das nicht vermessen ist!
Gerät die Vernunft ins Theologisieren, wird sie „fromm“, so will sie (statt Gott anzugreifen) Gott verteidigen, gebärden sich als sein Advokat: Nein, sagt sie, nicht Gott ist Schuld; nicht an ihm liegt es, sondern am Menschen. Herr X hätte glauben sollen, aber er hat eben nicht „das Seine“ getan. So unternimmt es die Vernunft, „Gott zu entschuldigen und den freien Willen zu beschuldigen“ (LD 271/Mü 135). Sie will Gottes Handeln einsichtig und plausibel machen. Wem? Sich selbst, der Vernunft! Sie will nachweisen, wie „vernünftig“, „human“, „gerecht“ Gott doch handelt, will ihn nicht nur freisprechen, sondern ihm ein „Verdienstkreuz“ verleihen. Dabei merkt die verblendete Vernunft nicht, dass eine Verteidigung Gottes nicht weniger überheblich, ja gotteslästerlich ist, wie ein Angriff auf seine Ehre!
„Dahin kommt es, wenn wir mit menschlicher Vernunft Gott messen und rechtfertigen wollen, wenn wir die Geheimnisse der Majestät nicht ehrfürchtig verehren, sondern forschend in sie eindringen, dass wir, von Scheinruhm erdrückt, statt einer Entschuldigung tausend Gotteslästerungen von uns geben“ (LD 272f/Mü 137).
Freilich meint sie es gut, die Vernunft. Aber mit wem? Mit sich selbst! Sie merkt in ihrer Verblendung nicht, dass es ihr nur scheinbar um Gott geht, in Wahrheit aber um die Selbstbehauptung, um ihr eigenes Überleben. Denn das gäbe der Vernunft den Todesstoß, wenn sie vor der Souveränität (=Herrschaftsgewalt, Unabhängigkeit, Überlegenheit) Gottes ihre Waffen strecken müsste, gerade auch ihre scheinfrommen Verteidigungswaffen! Wenn sie sich so beugen müsste, dass sie alle ihre Normen und Ansprüche aus der Hand legte und Gott wahrhaft Gott sein ließe: Herr Gott, was „gerecht“, was „gut“ ist, das weißt und bestimmst du allein. Was du tust, das ist heilig, gerecht und gut! Nicht, weil ich es einsehen könnte, weil es mir plausibel wäre, sondern weil du GOTT bist („Glaube und Geist urteilen… dass Gott gut sei, und wenn er auch alle Menschen verdürbe“, LD 274/Mü 132).
Gerade bei der Erwählungsfrage geht es um die entscheidende Probe: Wollen wir recht bekommen in und bei Gott? Oder soll Gott endlich bei uns zu seinem Recht kommen? Können wir uns ganz Gott ausliefern, uns Gott ganz anheim geben – auf Gedeih und Verderb? Wenn Gnade wirklich Gnade ist, dann ist sie völlig frei und souverän, kann weder ergründet, noch auf irgend eine Weise gefordert werden. Einen Anspruch auf Gnade kann es nicht geben, das wäre reiner Widersinn! Ist Gnade reines, unvorhersehbares, ja undenkbares Wunder, dann kann es ihr gegenüber weder moralische („Verdienst“) noch intellektuelle („Vernunft“) Forderungen geben. Gerade an der Erwählungsfrage kommt es heraus, ob die Vernunft sich unter das Kreuz Christi beugt, ihr Todesurteil (Kreuz) auf sich nimmt, bedingungslos kapituliert und spricht: „Wir können’s (wollen’s) nicht ergründen, wir können (wollen) nur vertrauen.“ Da ist die Wiedergeburt geschehen: Da ist die Vernunft vom „Baum der Erkenntnis“ hin zum Kreuzesstamm geführt worden. Da gehen ihr die Augen auf:
„Es ist nicht unsere Aufgabe, das (die Geheimnisse der göttlichen Majestät) wissen zu wollen, sondern vielmehr, diese Geheimnisse anzubeten.“ Glauben heißt für Luther Deum justificare: Gott recht geben, nur ihm, ihm ganz und gar.«
Erwähnte Referenzen: LD = Luther deutsch (10 Bd., hg. von Kurt Aland 1957–1974); Mü = Münchener Lutherausgabe (6 Bd. plus 7 Ergänz.bd., 1948–1965).
Quelle: Siegfried Kettling: Was kann der menschliche Wille leisten? (Ennepetal: Mission zur Verbreitung des Wortes Gottes, 2013), S. 49–52. Textquelle: https://info2.sermon-online.com/german/SiegfriedKettling/Vom_Unfreien_Wille.pdf [abgerufen am 20.07.2020; Fett-, Farb- und Kursivdruck hinzugefügt]
Das o. g. Buch von Siegfried Kettling ist eine redaktionell gekürzte Ausgabe des dritten Kapitels Vom unfreien Willen des Buches Typisch evangelisch – Grundbegriffe des Glaubens vom gleichen Autor (TVG Brunnen/Brockhaus, 1992).