Totgesagte leben länger | Ein Blick in das Gruselkabinett der Häretiker

Warum sollte man sich anstelle einer ausführlichen Beschäftigung mit den guten und richtigen Lehren der Heiligen Schrift über das Heil und den Heiland (Soteriologie) überhaupt mit der dunklen Seite der Irrlehren beschäftigen? Warum sollte man zumindest die größten Irrlehren bzgl. des Heils kennen?

Als Hirte und Lehrer in der Gemeinde Jesu Christi fallen mir dazu spontan zwei Argumente ein: (1) Die Heilige Schrift, Jesus Christus und die Apostel machten dies ebenso. Ihr Vorbild und ihr Befehl verpflichten: „Stellt sie bloß!“ (Epheser 5,11). (2) Alle groben Irrlehren sind trotz ihrer Verdammung und Verurteilung durch die Kirche bis heute „lebendig“ und fordern ihre Opfer! Totgesagte leben länger, Untote geistern durch die Medien, die Kirchen und Gemeinden und begegnen uns als Wiedergänger in den Traktatverteilern unserer Fußgängerzonen.

Im Folgenden werden fünf herausragende Irrlehren bzgl. des Heils und Heilandes (Retters) Jesus Christus aufgeführt und kurz erläutert, die trotz Lehrverurteilungen durch kirchliche Konzilien nie ausgestorben sind. Abschließend wird das Wesentliche in einer Tabelle übersichtlich dargestellt und dabei auch „modernere“ Vertreter genannt. In grob historischer Reihenfolge handelt es sich um folgende fünf Gruppen: 

  1. Gesetzeslehrer (Legalisten)
  2. Gnostiker
  3. Arianer
  4. Pelagianer und
  5. Sozinianer.

Die Gesetzeslehrer – Legalismus (Gesetzlichkeit)

  • Die Frage, in welcher Beziehung das Heil in Christus und das Christentum zum Gesetz Moses steht, hat die Gemeinden des Christus schon immer vor ernste Probleme gestellt. Schon zur Zeit der Apostel, während sie noch ihre Beiträge zur Heiligen Schrift verfassten, bedrohten bereits verschiedene Formen der Gesetzlichkeit, wie sie von jüdischen Gesetzeslehrern praktiziert, gelehrt und gefordert wurden, die Lehre des Neuen Testaments über das Heil. Der Kampf der Apostel gegen die Gesetzlichkeit spiegelt sich in der Apostelgeschichte und mehreren Briefen (z.B. Römer, Kolosser, Galater usw.) wider. – Auch heute gibt es noch viele Erscheinungsformen gesetzlicher Heilslehre, die wir manchmal auch richtig als „Gesetzlichkeit“ bezeichnen. (Achtung: Die Forderung des Gehorsams gegenüber Christus und Seinem Wort darf nicht mit „Gesetzlichkeit“ bezeichnet werden, sie ist es nicht. Gläubige sind nicht ohne Gesetz, sondern Christus „gesetzmäßig unterworfen“, 1Kor 9,21; Christus hast seinen Nachfolgern Gebote hinterlassen!)
  • Der Standpunkt der Gesetzeslehrer war, dass Nichtjuden nach jüdischer Vorschrift beschnitten werden und alle (oder gewisse) zeremoniellen und zivilen Vorschriften des Gesetzes Moses halten mussten, wenn sie Christen werden und so das Heil in Christus empfangen wollten (deswegen wurden diese Lehrer auch „Judaisierer“ genannt). Diese Sicht lag einem orthodoxen, strengen Juden sehr nahe, war er doch von Kind auf erzogen, alle Nichtjuden als unheilig, unrein und moralisch verwerflich zu beurteilen.
  • Einen frühen Höhepunkt des Streits und die erste große Niederlage der Gesetzeslehrer finden wir in Apostelgeschichte 15 dokumentiert: „Die Apostel aber und die Ältesten versammelten sich, um diese Angelegenheit zu besehen.“ (V6). Es gab eine intensive Diskussion (V7). Dann stand Petrus auf und erinnerte daran, was bei der Bekehrung des Kornelius passiert war (V7–10), verurteilt die Lehre der Gesetzeslehrer und formuliert das Heil wie Paulus (V10–11): „Nun denn, was versuchet ihr Gott, ein Joch auf den Hals der Jünger zu legen, das weder unsere Väter noch wir zu tragen vermochten? Sondern wir glauben durch die Gnade des Herrn Jesus in derselben Weise errettet zu werden wie auch jene.“
  • Der entscheidende Punkt wird damit deutlich: Errettung kam und kommt allein durch die Gnade Gottes. Schon immer. Das stand und steht bei den Gesetzeslehrern auf dem Spiel. Diese erste große Kontroverse war also ein Streit um die Heilslehre (soteriologischer Streit). Es ging um das Evangelium im allgemeinen und um die Lehre der Rechtfertigung allein aus Glauben im speziellen, also um das Herzstück des Heils. Das ist der Grund, warum Paulus so ernst und kompromisslos gegen die Gesetzeslehrer predigte und schrieb. Wenn eine Person zuerst beschnitten werden musste oder sonst ein Werk tun musste, bevor sie Christ werden konnte, dann war dieser Ritus oder dieses „Gesetzeswerk“ eine Vorbedingung der Rechtfertigung und die Rechtfertigung war nicht mehr „allein aus Gnade“ und daher unmöglich!
  • Die Heilige Schrift lehrt, dass wir keinerlei religiöse Zeremonien oder Werke nach dem Gesetz Moses vollbringen müssen, um von Gott gerecht erklärt zu werden. Kein Werk kann uns vor Gott bzgl. des ewigen Heils einen Vorteil oder Verdienst verschaffen. Die Rechtfertigung wird jedem erklärt (zugerechnet, d.h. rechtskräftig übertragen, sog. „Imputation“), der des Glaubens an Jesus ist: „Dem aber, der nicht wirkt, sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet. … welchem Gott Gerechtigkeit ohne Werke zurechnet“(Römer 4,5–6).
  • Fazit: Gott rechnet seine Gerechtigkeit dem zu, der glaubt, dass Gott den Gottlosen (!) rechtfertigt, ohne dass dieser zuvor irgend ein „Werk“ geleistet hat. Diese Kerntatsache verleugneten und verdunkelten die verschiedenen Gesetzeslehrer. Die Apostel bekämpften diese Irrlehre daher mit aller geistlichen Kraft, die ihnen verliehen war. — Auch wir sollten jeder Verfälschung des Evangeliums entschieden entgegen treten, wenn sie für die Rechtfertigung irgendeine Vorbedingung der Form „Glaube an Jesus plus Tue Irgendetwas“ stellt, egal, was dieses Irgendetwas ist. (Beachte: Wir reden hier nicht von Nachfolge und Heiligung, die auf die Rechtfertigung folgen, sondern von Vorbedingungen der Rechtfertigung.)

In der Diskussion über den Zusammenhang zwischen AT und NT in der Heilslehre sollte man beachten:

  • Kontinuität und Diskontinuität. Im Heil Gottes im AT wie im NT beobachten wir „durchlaufende Linien“, aber auch völlige Brüche, Neuanfänge. Wir sehen den selben Gott, die gleiche, völlige Verderbtheit des Menschen (Römer 1–3) und die stets notwendige Gnade Gottes zur Rettung. Andererseits sehen wir unterschiedliche Heilsangebote, Verantwortungen und Selbstoffenbarungen Gottes als Heiland (vgl. „Heilsgeschichte“).
  • Immer Gnade und immer Gesetz. Noch nie gab es effektiv Heil ohne Gnade, sondern stets nur auf Basis göttlicher Gnade. Das Angebot des Lebens im Gesetz Moses erwies sich als Fluch, da unerfüllbar, daher wurde es beendet (Römer 8,2; 10,4; Galater 2,19). Andererseits: Auch in der „Gnaden­zeit“ heute sind wir „nicht ohne Gesetz vor Gott, sondern Christus gesetzmäßig unterworfen“ (1Korinther 9,21 ELB; vgl. Römer 8,2; Galater 6,2)! Aber heute ist das Gesetz Gottes durch Gottes schöpferisches und gnädiges Heilshandeln in der Wiedergeburt auf die Tafeln unserer neuen, lebendig gemachten Herzen geschrieben (vgl. 2Korinther 3,3; Hesekiel 11,19; Jeremia 31,33 mit Hebräer 8,10; 10,16); vgl. den Psalmisten vorbildlich auf Jesus Christus redend: „dein Gesetz ist im Innern meines Herzens“ (Psalm 40,8). Das neue Leben will von Herzen Gottes Willen tun! Der Geist Gottes bewirkt es im Neugeborenen.
  • Die Bündnisse erklären, ob und wie Gott sein Heil gibt. Nur der „Neue Bund“ gibt effektiv Heil. Warum? Weil bei ihm das Blut Jesu die Grundlage der Sündenvergebung (usw.) ist und der Bund einseitig auf Leistungen und Versprechen Gottes beruht, nicht auf vorlaufendem Gehorsam oder Werken des Menschen (vgl. Hebräer 8,10; 10,16), sondern vielmehr auf reiner Gnade. An Christus Gläubige sind „Abrahams Same und nach Verheißung Erben“ (Galater 3,29).

Die Gnostiker – Verleugnung der Menschheit Jesu

  • Der Gnostizismus stellt das den Gesetzeslehrern entgegen gesetzte Ende des Spektrums der Irrlehren dar. Die Gesetzlichkeit der Gesetzeslehrer entstand aus einer Vermischung von pharisäischem Judentum mit dem Christentum. Der Gnostizismus ist eine Mischung heidnischer Philosophie mit dem Christentum. Die Judaisierer klammerten sich töricht an die/ihre Vergangenheit; die Gnostiker brachen radikal mit der Vergangenheit. So sind die Lehren der Gnostiker in verschiedener Hinsicht das genaue Gegenteil der Irrlehren der Gesetzeslehrer. Wie so oft schwang die Kirche Jesu von einem Extrem ins andere. Leider ist das Gegenteil eines Irrtums nicht automatisch die Wahrheit (C.S. Lewis). Als die falschen Lehren der Gesetzeslehrer Widerstand erfuhren, kehrte Satan das Pendel einfach um und schob es in die entgegengesetzte Richtung an. Das Ergebnis war Gnostizismus.
  • Der antike Gnostizismus ist schwer zu definieren, hierin gleicht er modernen Häresien. Er offenbart sich als komplexe Erscheinung. Zentraler Gedanke ist, dass die göttliche Weisheit in einem Geheimnis verborgen sei (Esoterik), welches nur den erleuchteten (eingeweihten) Nachfolgern geoffenbart würde. Diese Idee gab dem Gnostizismus den Namen: das griech. Wort gnosis bedeutet „Kenntnis“. Der Gnostiker glaubt, dass der Schlüssel zur Rettung in einem verborgenen Wissen liegt, das jenseits der in der Heiligen Schrift geoffenbarten Wahrheit liegt (hier wird der Begiff Esoterik relevant). Gnostizismus lehrt daher, dass „Rettung“ darin besteht, dieses geheime Wissen zu besitzen. Dies ist die zentrale Idee aller Formen des Gnostizismus’. – Die Sekte Christian Science (Christliche Wissenschaft) lehrt z.B. als „Erlösung“, dass man nur wissen müsse (dies ist das „Geheimwissen“ der Sekte), dass es so etwas wie Sünde gar nicht gebe; damit gebe es auch kein Schuldproblem und keine Erlösungsbedürftigkeit, kein Bedürfnis nach Gott, Retter und Gnade. Dass dies weder christlich noch wissenschaftlich ist, sollte jedem auffallen.
  • Die „christlichen“ Spielarten des Gnostizismus blühten erst im zweiten Jhdt nChr richtig auf. Gnostizismus hat die Eigenart und Fähigkeit, laufend in neue Formen zu mutieren. Wenn eine Form ihre Attraktivität verlor, kam die nächste Form ins Spiel. Deswegen hielt die Bedrohung der Gemeinde und der Heilslehre durch den Gnostizismus über viele Jahrhunderte an; sie ist bis heute nicht ausgestorben. Als der Gnostizismus die Kirche Jesu Christi das erste Mal hart angriff, konnte sie nur durch einen frontalen Gegenangriff überleben. Männer wie Irenäus, Tertullian, Ignatius und Justin, der Märtyrer waren damals bereit, für die Reinheit der Lehre zu kämpfen, manchmal mit dem Preis ihres Lebens.
  • Drei Hauptirrtümer kennzeichnen fast alle Erscheinungsformen des Gnostizismus:
    • Dualismus ist die Idee, dass alles im Universum auf zwei Ur-/Grundrealitäten zurückzuführen sei. Diese seien einander entgegengesetzt, bedingten aber einander (Ying-Yang, Licht-Finsternis, Gott-Satan, Materie-Geist usw.). Satan will sich so zum ebenbürtigen „Gegen-Gott“ aufplustern, aber es gibt Gott schon ewig, auch als Satan noch nicht war. Es besteht ein kategorialer Unterschied zwischen Gott und Geschöpf, sie stehen nie auf einer (dualistischen) Ebene.
    • Synkretismus ist die Vermischung zweier/mehrerer unterschiedlicher Glaubenssysteme in eines. Dies dürfte die „Grundreligion“ der Menschen heute ausmachen: Eine Selektion und Mischpoke unterschiedlichster Vorstellungen aus allerlei Gedankensystemen und Religionen zum höchst privaten, eigenen und nicht angreifbaren Glaubenssystem.
    • Doketismus ist die Irrlehre, dass Christus nur als Mensch erschienen, Er aber tatsächlich kein Mensch gewesen sei. Die Vorstellung, dass Gott als ewiger Geist Mensch (Fleisch, materiell) werde, lehnten sie entrüstet ab. Geist war göttlich, Fleisch/Irdisches hingegen schlecht, minderwertig und böse. Solche Gedanken bilden auch den Hintergrund für östliche Meditationstechniken, Leibfeindlichkeit im Christentum und überzogene Differenzierungen zwischen „himmlischen“ (=wertvollen, erhabenen) und „irdischen“ (=minderwertigen) Segnungen.
  • Obwohl der Gnostizismus allerlei Arten von Irrtümern umfasst, auch solche bzgl. der Heilslehre, führte er erstmalig massive Irrlehren über die Person Jesu Christi in die Gemeinde ein, sog. „christologische Irrtümer“. Die Briefe des Apostels Johannes sind eine Antwort auf Frühformen des Gnostizismus’ Ende des ersten Jhdt.s, die vor allem die wahre Menschheit Jesu angriffen. Johannes greift die Irrlehre der Gnostiker vor allem auf Basis der Lehre über Christus (Christologie) an; s. z.B. 1Johannesbrief 4,3; 2Johannesbrief 1,7.

Die Arianer – Verleugnung der Gottheit Jesu

  • Der Arianismus war ein offener Frontalangriff auf die Gottheit Jesu Christi. Die Arianer behaupteten, dass Jesus Christus ein geschaffenes Wesen sei, das zwar höher als „gewöhnliche Menschen“, aber niedriger als „der wahre Gott“ sei. 
  • Die Gnostiker hatten die Lehre über Christus vom Rand der Christenheit aus angegriffen, ihre Irrlehrer waren im allgemeinen Außenstehende, die kein Problem damit hatten, die apostolische Tradition und Lehre anzugreifen. Ihr sektiererisches Ziel war es, Menschen von der Kirche wegzuziehen und in ihre kleinen Splittergruppen hinein zu locken. – Der Arianismus ging den entgegengesetzten Weg und trug seine falsche Lehre direkt ins Herz der Kirche. Das Ziel war von Anfang an, die Kirche für sich zu gewinnen, um von ihr den Stempel der Rechtgläubigkeit auf die neuen, falschen Lehren zu erhalten.
  • Arius (Arianus; 256–336) aus Alexandrien ist der Namensgeber und Proponent dieser Irrlehre über Christus. Er lieferte (auch als Vertreter der Schule von Antiochien) eine Sicht von Christus, die diesen zu einem geschaffenen Wesen machte, das weder wirklich Mensch noch wirklich wahrer Gott ist, sondern einen Mittler, der zwischen Gott und der Menschheit steht. Gemäß Arius war Christus eine Art Halbgott, der „Erstgeborene aller Schöpfung“, zwar höher als andere Engelswesen, aber trotzdem ein Geschöpf, ein geschaffenes Wesen. Arius verwendete Bibelstellen wie Lukas 2,40.52; Johannes 4,6; 19,28; 13,31; Matthäus 24,26; Johannes 14,28 um zu zeigen, dass Jesus ein Mensch war und (im Sinne seiner Irrlehre) Gott-Vater auch wesensartig untergeordnet sei. — Exakt die gleiche Vorstellung haben und lehren die Anhänger der Wachturm-Sekte bis zum heutigen Tag und verwenden dabei die gleichen Argumente wie zuvor schon Arius. Untote leben länger!
  • Hin und her pendelnde Irrlehren. Arius reagierte mit seiner Irrlehre auf die Irrlehre des Sabbelianismus (=Modalismus), also die Lehre, dass es einen Gott gebe, der aber in „drei Modi“ erscheine. Der Erzbischof und Vorgesetzte von Arianus, Alexander von Alexandrien, lehrte aber dem entgegnend, dass Jesus dem Vater völlig gleich ist. Arianus lehrte im Kontrast dazu, dass Jesus Gott ähnlich, aber nicht gleich sei. Ein Konzil unter Alexander schloss Arius im Jahr 320 aus. Aber damit war die Kontroverse nicht beendet! (U.l.l.!)
  • Die theologische Antwort der Kirche auf den Arianismus gipfelte im Nicänischen Bekenntnis, das auf dem Konzil zu Nicäa 325 nChr (vom Kaiser Konstantin einberufene Reichssynode) formuliert und von fast allen unterzeichnet wurde. Aber auch mit dieser klaren Verdammung der arianischen Irrlehre war kein Schlusspunkt gesetzt, sondern der Beginn einer Jahrhunderte langen Kontroverse in der Kirche markiert. Im Rückblick scheint es so, dass die Abstimmungen bei den Konzilen jener Zeit eher von kirchlichen Machtfragen als denn von Verpflichtung gegenüber der Wahrheit des Wortes Gottes gekennzeichnet waren. Die Irrlehrer und Anhänger der arianischen Irrlehre erbaten in Folge auf breiter Basis Toleranz und Offenheit für ihre Position und erhielten sie immer! Selbst die Heimatgemeinde des Arius schloss diesen nicht als Irrlehrer aus, sondern stand zu ihm. Seine Anhänger riefen sogar ihrerseits Synoden aus, stimmten dort der Lehre des Arius’ ausdrücklich zu und hoben die Verdammung des Arius auf. Die Kirche neigte sich wieder stark dem Arianismus zu. Sein größter Gegener, Athanasius (s.u.), wird noch 335 an die Grenzen des römischen Reiches nach Trier verbannt und leidet sein gesamtes Leben wegen der arianischen Frage. … Im Schutz dieser Wirrnisse konnte der Arianismus die Kirche Christi weltweit in beträchtlichem Maß durchdringen und infizieren! (NB: Wulfila, der Apostel der Goten (gestorb. 383) war selbst von einem Arianer getauft worden; über die Westgoten übernahmen die Germanen das Christentum arianischer Ausprägung. Die germanischen Nationalkirchen machten der röm.-kathol. Kirche noch bis ins 6. Jhdt schwer zu schaffen. Dann erst konnte der röm. Katholizismus missionarisch bis in die Heimatbezirke der Germanen vordringen.) Kaiser Konstantin, der über die Einheit der Kirche auch sein weltliches Reich einen wollte, wurde über den arianischen Streit sehr frustriert und mischte sich daher mit seiner Macht in diese Kirchenangelegenheit ein. Leider identifizierten er und seine Söhne sich mit den Anhängern des Arius’ und so nimmt es nicht Wunder, dass innerhalb der nächsten 50 Jahre fast alle leitenden Bischöfe Arianer wurden. 
  • Nur ein Mann stand klar und deutlich gegen die Irrlehren Arius’ auf: Athanasius (296–372) aus Alexandrien. Er gab den Kampf gegen diese Häresie nicht auf. Als man ihm sagte, dass doch die ganze Welt gegen ihn stünde, antwortete er, dass (auch) er gegen die ganze Welt sei. Durch Gottes Gnade und zu unserem Segen gewannen die Argumente des Athanasius schließlich, weil er die Heilige Schrift gekonnt und überzeugend einsetzte, um den Irrtum der Häresie Arianus’ aufzuzeigen. Das Nicänische Bekenntnis wurde vom Konzil zu Konstantinopel aufgenommen. Athanasius wurde 328 als Nachfolger von Alexander Erzbischof von Alexandrien. Das setzte seinem Leiden allerdings kein Ende: Während seinen 46 Jahren im Amt wurde er von Arius zugeneigten Herrschern viermal verbannt und verbrachte insgesamt 20 Jahre im Exil! Er konnte seinen Lebensabend jedoch in Frieden und weiterhin klar gegen den Arianismus schreibend begehen. Diese Episode ist ein klassischer Beleg dafür, dass die Heilige Schrift –und nicht die Mehrheitsmeinung!– für die Gemeinde Jesu Christi der erste und letzte Test jeder Lehre sein muss.
  • Die Geschichte des Arianismus ist auch ein trauriger Beleg für die prophezeite Tatsache, dass Irrlehre häufig aus der Kirche Jesu Christi selbst heraus entstand. Der Arianismus verbreitete sich durch stille Infiltration und gewann seine Stärke durch die persönliche Ausstrahlungskraft seiner Lehrer. Förderlich für seine Verbreitung war ein Klima der Toleranz, so dass er massive Ausmaße und Verbreitung hatte, bevor überhaupt jemand Stellung gegen diese Irrlehre bezog. Satans beliebteste Taktik ist Selbsttarnung als „Engel des Lichts (2Korinther 11,13–15).

Die Pelagianer – Verleugnung der totalen Verdorbenheit des Menschen

  • Die nächste große Häresie in der Kirche, der Pelagianismus, ist wieder eine Irrlehre im Bereich der Heilslehre. Augustinus (354–430) betonte in seiner Lehre die Souveränität Gottes, weil er (wohl mit Recht) annahm, dass man nur so die absolut zentrale Rolle der göttlichen Gnade in der Errettung sicherstellen kann. Pelagius, ein britischer Mönch aus dem frühen 5. Jhdt,, stieß sich an dieser Lehre, weil sie seiner Meinung nach die Bedeutung der menschlichen Verantwortung herunterspiele oder gar außer Kraft setze. Im Gegenzug behauptete und betonte er den „freien menschlichen Willen“, weil er (wohl irrtümlich) davon überzeugt war, dass nur so die menschliche Verantwortung sichergestellt werden könne. (Diesem Fehler der Philosophen folgte auch Kant u.a., leider auch viele Christen unserer Zeit.)
  • Pelagius traf in Rom einen adligen Juristen namens Celestius und entwickelte mit ihm gemeinsam eine neue Heilslehre. Die Glaubenslehre war für sie nur reine Theorie, die Hauptsache der Religion war ihrer Ansicht nach die moralische Tat, das Halten der Zehn Gebote aus eigener Anstrengung. Die ethische Seite der Religion war ihnen wichtiger als die dogmatisch-theologische. 
  • Den Pelagianismus kann man wie folgt zusammenfassen: (1) Kein Mensch erbt von Adam die Sünde. Sünde ist eine Sache der Tat und nicht der Natur/des Wesens. (2) Jeder Mensch ist so geschaffen, dass er völlig frei das Gute oder das Böse tun kann. Ein sündloses Leben ist daher möglich. Man kann sich das Heil durch Gute Werke erwerben. (3) Babytaufe ist unnötig, da es keine Erbsünde gibt. (4) Das Heil ist zwar außerhalb des Gesetzes, des Evangeliums und der göttlichen Gnade zu finden, aber diese können natürlich beim Erwerb des Heils mithelfen. Christus hilft dabei mit seinem guten Vorbild.
  • Der wohl bemerkenswerteste Aspekt des Pelagianismus ist die Leugnung der Auswirkungen des Sündenfalls auf alle Menschen seit Adam und Eva. Die Pelagianer leugneten, dass die Sünde Adams irgendeine Schuld oder irgendeine Verdorbenheit auf den Rest der menschlichen Rasse brachte, der menschliche Wille sei daher von allen Fesseln frei. Pelagius argumentierte: Wenn alle Menschen durch Geburt Sünder sind (wenn also Sünde etwas ist, das wir ererben), dann wäre es ungerecht von Gott, wenn er den einzelnen Sünder für seine Sünde verantwortlich hält. Der menschliche Wille müsse völlig frei sein, weder zum Guten noch zum Bösen geneigt, sonst könnten unsere Entscheidungen nicht frei sein, und wir folglich auch nicht für unsere Taten verantwortlich gemacht werden.
  • Diese Lehren des Pelagianismus verbreiteten sich schnell in Nordafrika (einem Zentrum des Christentums damals) und führten zur Irrlehre einer Selbsterrettung durch Werke, zu einem „Werke-Evangelium“. Wenn man erst einmal die totale Verderbnis und Gefallenheit der Menschheit leugnet, erliegt man der Illusion, der Mensch könne und solle etwas zu seinem ewigen Heil beitragen. Und so landet man schließlich in der Verleugnung der heilsnotwendigen göttlichen Gnade, wie sie die Heilige Schrift lehrt.
  • Augustinus erkannte das Problem des Pelagianus von Anfang an und trat den Pelagianern entgegen, indem er aus der Heiligen Schrift zeigte, dass der menschliche Wille nicht in jenem Sinne frei ist, wie sie es lehrten: Unser Wille sei vielmehr hoffnungslos unter die Sünde geknechtet (Römer 8,7–8), Sünder seien absolut hilflos, sich selbst zu verbessern, es benötige die göttliche Gnade, die erneuernd im Herzen wirke (vgl. Jeremia 13,23).
  • Das Konzil zu Ephesus 431 nChr verurteilte den Pelagianismus als Irrlehre. Aber wie bei allen hier erwähnten Irrlehren war die Entscheidung des Konzils nicht das Ende der Bedrohung der Kirche durch diese gefährliche Irrlehre. Die Einflüsse des Pelagianismus’ plagten die Kirche noch viele Jahrhunderte. — Eine modifizierte Form des Pelagianismus’ entstand: der Semi-Pelagianismus, der praktisch mit dem modernen Arminianismus identisch ist; diese Irrlehre wurde vom Konzil zu Orange 529 nChr verdammt. …und lief weiter…
  • Die Römisch-katholische Kirche des 16. Jhdt. bekannte sich beim Gegenreformations-Konzil zu Trient 1546 nChr zu einer Heilslehre, die im Effekt dem Semi-Pelagianismus entspricht. Daher kann man kontemporären (auch „protestantisch-evangelikalen“!) Vertretern dieser falschen Lehre vorwerfen, der „Romanisierung“ (Re-Katholisierung) Vorschub zu leisten.
  • Der Konflikt zwischen Pelagius und Augustinus betraf einige Fragen, die später auch den Konflikt zwischen sog. „Calvinis­ten“ und „Arminianern (Remonstranten)“ ausmachten. In der protestantischen Reformation stellten sich die Reformatoren auf die Seite des Augustinus, indem sie die Souveränität Gottes, die Notwendigkeit göttlicher Gnade und die völlige Unfähigkeit des gefallenen Menschen, zu seiner eigenen Rettung etwas beizutragen, lehrten. Im Kontrast dazu verkündete die Römisch-katholische Kirche weiterhin eine verwässerte Form des Semi-Pelagianis­mus (ab dem II. Vaticanum lehrt sie sogar den Universalismus).
  • Die Lehren des Pelagianismus’ und des Semi-Pelagianismus’ haben auch den Protestantismus stellenweise massiv beeinflusst (z.B. sichtbar bei Charles Grandison Finney (1792–1875) und dessen Nachfolgern) und beeinflussen ihn in pragmatisch-evangelistisch ausgerichteten Gemeinden und Missionswerken in steigendem Ausmaß. [1]
  • NB: Die meisten Christen, die betreffs der Heilslehre zu den Ansichten des (Semi-) Pelagianismus neigen, neigen auch zu den Lehren des Arminianismus. Beispiele: Man behauptet, dass Jesus Christus für alle Menschen gestorben sei und daher auch alle Menschen gerettet werden bzw. schon gerettet sind; dass alle Menschen zwar bis zu einem gewissen Graf verderbt seien, alle aber ausreichend Gnade bekommen, um den Folgen ihrer Verderbtheit entgegenzuwirken und sich aus sich selbst heraus frei für das Heil zu entscheiden; dass derart begnadete Menschen aber auch die Freiheit und Macht haben, sich jederzeit gegen diese Gnade zu entscheiden, denn diese sei nicht unwiderstehlich; usw.

Die Sozinianer – Völlige Verwirrung

  • Der Sozinianismus ist einer der Höhepunkte der Irrlehren und Verwirrungen in der Heilslehre, er ist eine Vermischung anderer Irrlehren, die der Teufel schon erfolgreich in die Kirche hineingetragen hatte. Die Irrlehre des Sozinianismus’ wurde bald nach der Protestantischen Reformation geboren. Die beiden Italiener Fausto Paulo Sozzini (Socinus, 1539–1604) aus Sienna und sein Onkel Lelio (Laelius) Sozzini gaben dieser Irrlehre den Namen. Sie hatten sich vom römischen Katholizismus abgewandt und den Reformatoren zugewandt, kamen aber unter den Einfluss von Unitarianern und gaben letztlich alle Lehren der katholischen Religion auf, einschließlich der Lehren, die bibeltreu sind. Die Folge war, dass sie letztlich alle wesentlichen Fehler in ihr Lehrgebäude aufnahmen, die die Kirche je geplagt hatten und die diese verurteilt hatte.
  • Wie die Legalisten und Pelagianer lehrten sie eine Errettung aus Werken. Wie die Gnostiker und Arianer waren sie Anti-Trinitarianer (sie verleugneten die Dreieinheit Gottes). Sie verleugneten nicht nur die Gottheit Jesu, sondern jedes Wunder in der Heiligen Schrift. In diesem Zusammenhang mischten sie aus dem humanistischen Rationalismus und der Aufklärung ihre eigene tödliche Irrlehre. Schließlich nahmen sie auch noch die Lehre des Universalismus in ihr System auf. Sie schoben die Autorität der Heiligen Schrift zur Seite und erhoben die menschliche Vernunft zur obersten AutoritätDamit markierten sie den Start des Modernismus.
  • Ihr schlimmster Irrtum zerstört direkt die Bedeutung der Sühnung. Das sozinianische Argument gegen das stellvertretende Opfer Jesu Christi war einfach: Sie behaupteten, dass die Ideen der Vergebung und der Sühnung sich gegenseitig ausschließen würden. Entweder werden Sünden vergeben oder es ist dafür zu bezahlen, aber nicht Beides. Sie argumentierten: Wenn ein Preis dafür bezahlt werden musste, dann wurden nicht wirklich „vergeben“. Wenn Gott andererseits bereit ist, Sünden zu vergeben, dann sei kein Sühnungspreis dafür notwendig. – Die Spitzfindigkeit ihres Arguments bringt auch heute noch viele Leute in Verlegenheit. Aber es ist einfach völlig konträr zu dem, was die Heilige Schrift über Gnade, Sühnung und göttliche Gerechtigkeit lehrt. Die Heilige Schrift zerstört das sozinianische Argument und stellt es als Irrtum bloß: „Ohne Blutvergießung gibt es keine Vergebung [der Sünden].“ (Hebräer 9,22)

Der Sozinianismus ist die zur Zeit am meisten verbreitete Irrlehre, der moderne theologische Liberalismus ist nichts anderes als eine Variante des alten Sozinianismus’.

Überblick

Die 5 großen Irrtümer bzgl. des Erretters und der Errettung (© 1997–2023 logikos.club)

Endnoten und Literaturempfehlungen

Dieser Artikel wurde angeregt und adaptiert durch: Phil Johnson, Seminarmanuskript, Shepherds Conference (Sun Valley, CA, 2004).

[1] In Deutschland machte die „Bruderhand“ (Wilhelm Pahls) Werbung für die „Erweckung“ von Finney und verbreitete seine Biographie. Die Bruderhand stellt die Erfindung des „Altarrufes“ durch Finney als biblisch dar, weil Gott auch sein Volk rufe. Eine biblisch fundierte geistliche Beurteilung Finneys findet sich in: MacArthur, John F.: Wenn Salz kraftlos wird. Die Evangelikalen im Zeitalter juckender Ohren. 2. Auflage. Bielefeld, CLV, 1997, Anhang 2.

Eine empfehlenswerte Darlegung der biblischen Heilslehre ist: J. MacArthur & R. Mayhue: Biblische Lehre: Eine systematische Zusammenfassung biblischer Wahrheit. Berlin: EBTC, 2. Aufl. 11/2020. Eine Rezension finden Sie hier.

Heilsgeschichte: Arnd Bretschneider: Gott schreibt Geschichte – Ein Gang durch die biblische Heilsgeschichte. Christliche Verlagsges. Dillenburg, 2007.

Die Verfälschung der biblischen Heilslehre

Das Heil (die Errettung) und das Wesen des Heils wurde seit der Frühkirche immer wieder angegriffen, unterschiedlich interpretiert und widersprüchlich gelehrt. Neben einigen „geringfügigen“ Varianten kamen sehr früh auch schwerwiegende Irrlehren auf, die das Urteil der Verdammnis seitens des Apostels auf sich zogen, da sie es verunmöglichten, das göttliche Heil zu erkennen, zu glauben und zu bekommen. Wir „verdanken“ diesen Irrtümern und Irrlehrern einige fundamental klärende Texte im Neuen Testament.

Im Folgenden soll ein Überblick über das breite Spektrum falscher Heilslehren innerhalb des christlichen Bekenntnisses versucht werden. Dieser begrenzt sich aus Platzgründen auf fünf Schlaglichter.

Römisch-Katholische Kirche

Die Römisch-Katholische Kirche (RKK) lehrte zur Reformationszeit (also vor 500 Jahren) wie heute, dass der Mensch trotz seines gefallenen Zustands bei seiner Erlösung mitwirken kann. Gott schenke ihm seine Gnade (zuvorkommend!) und der Mensch antworte mit Glauben. Die Reformatoren verwarfen diese Idee und betonten, dass die Erlösung ein reines Geschenk Gottes ist, denn der Mensch ist geistlich tot und er muss deshalb wiedergeboren werden; sein Verstand, sein Herz und sein Wille müssen komplett erneuert werden, bevor er sich entscheiden kann. 

Die RKK hat in ihr System die Sakramente eingebaut, deren formgerechter Gebrauch in seiner Anwendung (ex opere operato) Gnade vermittelt, z.B. in Taufe, Buße, Messe. Die Heilslehre der RKK ist stets synergistisch, d.h. sie lehrt ein heilserbringendes Zusammenwirken des Handelns Gottes und des Menschen. Prinzip: Das Heil kommt durch Gnade und Werke. Das 2. Vatikanische Konzil führte zu einer Neudefinition des Heils mit dem Effekt, dass alle Nicht-Christen und sogar Atheisten ebenfalls ins Heil kommen bzw. sind. Die RKK ist seit dieser Zeit von der Lehrgrundlage her universalistisch (d.h. letztlich werden alle gerettet werden).

Theologischer Liberalismus

Im sog. „Theologischen Liberalismus“ wird gemäß des Denkrahmens der Aufklärung alles Übernatürliche geleugnet, mithin alle Wunder Gottes, die göttliche Autorität der Heiligen Schrift und andere klassischen Hauptlehren der Schrift. Die Heilslehre des sog. „Sozialen Evangeliums“ definierte das Heil als die Transformation der menschlichen Gesellschaft durch Erziehung, sozialen Wandel und politische Aktion, die durch die Ideale und die Ethik Jesu Christi motiviert wird. Der Mensch soll sich im Diesseitigen „christlich“ (d.i.: humanistisch) verwirklichen und ein diesseitiges Paradies erschaffen.

Christlicher Existenzialismus

Die Lehrer des „Christlichen Existenzialismus“ glauben, dass sich der Mensch durch reine Objektbezogenheit von seinem Wesen und der Realität entfremdet habe, weil Dinge keine Hingabe, kein Risiko und keine Entscheidung abverlangten. Der Mensch verstehe sich selber aber nur im Erleben seiner selbst, es gebe keine vorige Setzung seines Wesens oder seiner Bestimmung. Daher will man der Entfremdung, der Angst und Hoffnungslosigkeit in persönlichen Beziehungen und persönlichen Erlebnissen entgehen.

Reiner „Ding-Glaube“ (z.B. an Glaubensbekenntnisse und Lehren) rette nicht, sondern sei nur ein „billiger Glaube“. Rettender Glaube sei der Akt des Glaubens mit tiefer innerer Leidenschaft und radikalem Engagement; es sei ein Glaube, der sich selbst für ein Leben kostspieliger Jüngerschaft hingibt. Das Ergebnis dieser alles kostenden Entscheidung ist die Gegenwart Christi im Herzen und die persönliche Wahrnehmung einer authentischen Existenz, nämlich die Beseitigung der Angst, die Vergebung der Sünden, die Realisierung des vollen Potentials, das im Menschen steckt, und die Umgestaltung des Lebens. Der Glaube selbst wird zum existentiellen Erleben. Er wird nicht in Glaubensbekenntnissen, sondern im (Er-)Leben festgemacht.

Diese Verfälschung findet man in manchen Jüngerschaftsbewegungen, auch bei dem Theologen und Pionier der Existenzphilosophie, Søren Aabye Kierkegaard (1813–1855). Seine berechtigte Kritik am toten, rein theoretischen „Kopf-Glauben“ seiner Landsleute und Zeitgenossen („Hauptsache, man unterzeichnet das richtige Glaubensbekenntnis“) geriet zur Verirrung in das entgegengesetzte Extrem („Hauptsache, man erlebt Christ- und Menschsein“). Nicht ohne Grund gehört zur Glaubenslehre auch immer die entsprechende Glaubenspraxis – et vice versa: Orthodoxie und Orthopraxis sind im christlichen Glauben zwei Seiten derselben Medaille.

Befreiungstheologie

Die Befreiungstheologie ist eine praxisorientierte Theologie, die im wesentlichen auf der marxistischen Interpretation der Kultur beruht. Diese Bewegung will weg vom individuellen, persönlichen, innerlichen Glauben, hin zu kollektiven, äußeren und strukturellen Angelegenheiten. In der Regel geht man davon aus, dass alle Menschen „in Christus“ seien (vgl. Universalismus), dass aber die Zustände in der Gesellschaft die Menschen verbogen und entmenschlicht habe. Das Heil wird daher im gemeinsamen Umsturz aller ungerechten Regimes und sozialen Strukturen gesehen, notfalls durch Revolution und Gewalt. 

Der Exodus Israels muss für die „Befreiung“ als Paradigma herhalten. Die verschiedenen „unterdrückten“ Völker hätten ihre eigene Version der Heilslehre entwickelt, z.B. die Schwarzen (Angela Davis). Die Einheit des Heilswerks Gottes für alle Menschen gleichermaßen, weil alle gleichermaßen (!) verloren sind, wird damit en passant auch geleugnet. Die Lehren der Heiligen Schrift über das erlösende, stellvertretende, sühnende Werk Jesu Christi werden missachtet, ebenso wie die Tatsache des Verlorenseins ohne den Heiland Jesus Christus. Das Heil wird vor allem diesseitig und damit zeitlich gesehen.

Neoorthodoxie (Barth)

Die Neoorthodoxie Barths nahm Stellung gegen Bultmann und die Existenzialisten, und versuchte das Heilshandeln wieder voll in die Hände Gottes zu legen. Das Heil ist bei Barth ein rein objektives Ereignis und hat mit dem Einzelmenschen wenig zu tun. Als Jesus Christus in diese Welt kam, habe er sich mit der Menschheit (humanum = die gesamte menschliche Rasse) vereinigt und so für sie am Kreuz objektiv das Heil erworben. Durch Christi Tod sei die Sünde der Welt gerichtet wurden und durch sein Auferstehen sei der Sieg zu allen Menschen gekommen. Rettung und Heil ist also etwas, das alleine Gott gemacht hat, und zwar mit allen Menschen; der einzelne Mensch hat damit praktisch nichts zu tun. 

Barth lehrte, dass Glaube, Buße, Umkehr und Gehorsam nur die Sichtbarwerdung (Manifestation) des bereits erhaltenen Heils seien, nicht die Mittel, durch die das Heil persönlich ergriffen werde. Positiv ist das Bemühen, Gott als den Hauptagenten des Heilshandelns zurück zu gewinnen. Irrlehre ist seine Heilslehre aber schon allein durch die Aussage, dass alle Menschen „in Christus“ seien (auch wenn Christus noch nicht in allen Menschen sei, sondern der Mensch aus seinem geistlichen Schlaf aufwachen müsse); Barth ist damit ein weiterer Universalist.

Evangelikale Arminianer

Heilsabsicht Gottes. Die „evangelikalen“ Arminianer (viele sog. Freikirchen) lehren, dass Gott aus Liebe Christus in die Welt sandte, mit dem Ziel, die Menschheit, also alle Menschen, von dem Ruin der Sünde zu erretten (universale Versöhnung). Gott wolle die Errettung aller und jedes Menschen (bezugsnehmend auf 1Tim 2:4; 2Pet 3:9). Dass dies nicht zustande komme, sei alleine dem freien Willen und Widerstand des Menschen zuzurechnen.

Heilsergreifung. Sie lehren, dass eine universale, „vorlaufende“ Gnade vom Kreuz Christi gleichermaßen zu allen sündigen Menschen fließe und diese durch moralisches Licht in einen Stand versetze, in dem er seine moralische Blind- und Taubheit gegenüber dem Heilsangebot Gottes verliere, er in wiederhergestelltem freien und moralischen Willen von der Sünde überführt werde und in freier, ureigener Entscheidung dem Ruf zum Heil folgen könne. Die derart erweckte und berührte Seele kooperiere dabei aus freiem Vermögen mit Gott, bekenne ihre Sünden und vertraue Christus als ihrem Heiland. Viele Arminianer sehen die Wiedergeburt synergistisch als das Ergebnis des Zusammenwirkens von menschlicher Willigkeit und göttlichem Wirken.

Heils(un)sicherheit. Die evangelikalen Arminianer betonen, dass der Gnade und der Berufung Gottes effektiv und letztgültig Widerstand geleistet werden könne. Der neugeborene Christ könne sich jederzeit frei entscheiden, Christus zu verwerfen, in seiner Sünde fortzufahren und damit effektiv das ewige Heil (wieder!) zu verlieren. Die Arminianer verleugnen damit das Ausharren der Heiligen, wie es in der Schrift gelehrt wird.

Erwählung. Arminianer lehren die Lehre der Erwählung so, dass Gott nur jene Menschen zum Heil erwählte, von denen er voraussah, dass sie auf sein Gnadenangebot positiv reagieren und Christus annehmen würden (dies meine die Schrift mit dem Begriff „Vorkenntnis Gottes“; sog. Erwählung ex fide praevisa).

Methodismus (Perfektionismus). Einige Arminianer lehren, dass Gott sein heiligendes Handeln durch ein zweites Werk der Gnade vollkommen machen wolle, das dann die sündige Natur und die sündigen Wünsche des Menschen ausreiße und das Herz mit vollkommener Liebe gegenüber Gott erfülle (sog. Volle Errettung, Volles Heil, Sündlose Vollkommenheit; vgl. Wesleyanischen Methodismus, Charismatische und Pfingstler-Bewegung).  Dieses Heilsverständnis ist im Prinzip synergistisch, es ist ein Zusammenwirken einer göttlichen Gnade (welcher?) und des befreiten menschlichen Willens, wobei der Mensch der alles entscheidende Handelnde ist.

Wie Wolfgang Nestvogel belegt, greift diese Rekatholisierung der Heilslehre im arminianischen Gedankengut immer mehr Raum bei den Evangelischen und leider auch bei den (ehemals) „Evangelikalen“ (Freikirchen). [1]

Hyper-Calvinisten

Die sog. Hyper-Calvinisten [2] verdrehen die biblische Heilslehre dahingehend, dass sie die Souveränität Gottes im Heilshandeln so extrem betonen und so einseitig darstellen, dass bei ihnen die moralische und geistliche Verantwortung des Menschen völlig geleugnet wird. Folglich lehnen sie ab, dass den Nicht-Erwählten in der Predigt die Gute Botschaft frei angeboten wird oder anzubieten sei. Sie glauben nicht, dass im Evangelium allen Sündern ein ernst gemeintes Angebot der Retterliebe Gottes unterbreitet werden soll und unterbreitet wird. Andererseits leugnen sie die allgemeine Pflicht jedes Sünders, dem Evangelium zu glauben, Buße zu tun und an Jesus als ihrem Herrn und Heiland zu glauben (Sie meinen: „Er kann ja nicht, wenn er nicht weiß, ob er auserwählt ist.“).

Damit lenken sie den Blick statt auf Christus auf sich selbst, um nachzuforschen, ob sie erwählt seien, die „Gabe“ des Heils von Gott erhalten hätten usw. Hyper-Calvinisten unterscheiden nicht zwischen dem allgemeinen und speziellen Willen Gottes, also zwischen einerseits seinen Geboten, seinem wünschenden Wollen, dem der Mensch Widerstand und Ungehorsam entgegen bringen kann, und andererseits seinem feststehenden Willen in seinen Ratschlüssen, die unbereubar und durch den Menschen unaufhaltbar, unbeeinflussbar und fest sind.

Hyper-Calvinisten glauben alle an eine „doppelte Prädestination“ (Vorherbestimmung): nicht nur der Erwählten zum Heil, sondern gleicherweise auch der Nicht-Erwählten (sog. Abgefallene) zum Verderben.[3] Der Unterschied zwischen Hyper-Calvinisten und biblisch-reformiert denkenden Christen lieg hier darin, dass erstere die „doppelte Prädestination“ symmetrisch und als unbedingt denken (als ob Gott Beides sich gleich aktiv zuschreibe), letztere jedoch im Sinne von Römer 9,22–23 als asymmetrisch: die „Gefäße des Zorns“ sind zubereitet zum Verderben (passiv), die „Gefäße der Herrlichkeit“ werden von Gott zur Herrlichkeit bereitet (aktiv) [4].

Hyper-Calvinismus kam und kommt in verschiedenen Varianten vor, aber man kann dieses unbiblische Lehrsystem anhand einer (oder mehrerer) der folgenden Merkmale erkennen: Hyper-Calvinisten verleugnen1) dass der Ruf des Evangeliums alle Zuhörer angeht (Mt 11,28–29; Jes 45,22; 55,1–7; Offb 22,17); oder: 2) dass der Glaube Pflicht eines jeden Sünders ist (Mk 1,15; Apg 15,17; vgl. 17,30; seine moralische Unfähigkeit beraubt ihn nicht seiner Verantwortung!); oder 3) dass das Evangelium auch den Nichterwählten Christus, das Heil und die Barmherzigkeit anbietet (oder dass das Angebot der Gnade Gottes frei und universal ist); oder 4) dass es so etwas wie „Allgemeine Gnade“ gibt (vgl. 5Mo 10,18; Mt 5,44–45; Apg 14,17); oder 5) dass Gott irgendeine Art Liebe auch für die Nicht-Erwählten hat (vgl. aber seine Hingabe in der Feindesliebe!).

Diese Verleugnungen der Hyper-Calvinisten unterminieren und verdrehen das Evangelium Gottes. Eine typische Kurzfassung des Evangeliums Gottes seitens eines Hyper-Calvinisten könnte lauten: „Die Botschaft des Evangeliums ist, dass Gott die rettet, die sein Eigen sind und dass Er die verdammt, die es nicht sind.“ So wird die Gute Nachricht unseres Heiland-Gottes, der in echter Retterliebe auf diese Erde kam, „um zu suchen und zu retten, was verloren ist“ (Lukas 19,10) reduziert auf eine Sache von Erwählung und Verdammung. Ein Ringen und flehentliches Bitten um unsere verlorenen Mitmenschen, wie es die Schrift allen Christen als „Dienst der Versöhnung“ auferlegt (2Korinther 5,20), kennen sie nicht, sie verleugnen dies vielmehr.


Endnoten

[1] Nestvogel, Wolfgang: Wann ist ein Christ ein Christ? Der Kampf um die Rechtfertigung (2018). – Vertreter arminianistischer Gedanken in der deutschsprachigen, evangelikalen Gemeindewelt sind z. B. Prof. Herbert Jantzen (anabaptistische Mennoniten-Brüder) und Thomas Jettel (Kann ein Christ zu einem Nichtchristen werden?); Prof. Armin Mauerhofer (auch seine Brüder Walter und Erich), der Christliche Missions-Verlag Bielefeld (CMV), die Mission „Evangelium-für-alle“ (EfA) in Stuttgart-Bad Cannstatt unter Michael Happle, der Prediger Karl-Hermann Kauffmann u.v.a.

[2] Wir verwenden diese Bezeichnung im Sinne des Artikels von Phil Johnson, A Primer on Hyper-Calvinism. Shepherds Conference March 2003, Sun Valley, CA. Der Begriff ist trotzdem nicht überall gleich bekannt und wird unscharf verwendet.

[3] Es lohnt sich, einmal die Ausführungen Calvins selbst [http://www.calvin-institutio.de] samt seinen deutlichen Warnungen zu lesen (Institutio, Buch III, Kap. 21, Pkt. 1–2). Zur Prädestination schreibt Calvin u.a.: „Unter Vorbestimmung verstehen wir Gottes ewige Anordnung, vermöge deren er bei sich beschloß, was nach seinem Willen aus jedem einzelnen Menschen werden sollte! Denn die Menschen werden nicht alle mit der gleichen Bestimmung erschaffen, sondern den einen wird das ewige Leben, den anderen die ewige Verdammnis vorher zugeordnet. Wie also nun der einzelne zu dem einen oder anderen Zweck geschaffen ist, so – sagen wir – ist er zum Leben oder zum Tode vorbestimmt“. (Institutio, Buch III, Kap. 21, Pkt. 5. Übers. v. Otto Weber, Neukirchener Verlag, 1955. Betonung im Original.). Und: „Was demnach die Schrift klar zeigt, das sagen wir auch: Gott hat in seinem ewigen und unwandelbaren Ratschluß einmal festgestellt, welche er einst zum Heil annehmen und welche er andererseits dem Verderben anheimgeben will. Dieser Ratschluß ist, das behaupten wir, hinsichtlich der Erwählten auf Gottes unverdientes Erbarmen begründet, ohne jede Rücksicht auf menschliche Würdigkeit. Den Menschen aber, die er der Verdammnis überantwortet, denen schließt er nach seinem zwar gerechten und unwiderruflichen, aber unbegreiflichen Gericht den Zugang zum Leben zu!“ (op. cit., Kap. 21, Pkt. 7).

[4] R. C. Sproul, reformierter Theologe, hat den Unterschied sehr gut dargestellt in: Double Predestination (PDF). Einleitend schreibt er dort: „The distortion of double predestination looks like this: There is a symmetry that exists between election and reprobation. God WORKS in the same way and same manner with respect to the elect and to the reprobate. That is to say, from all eternity God decreed some to election and by divine initiative works faith in their hearts and brings them actively to salvation. By the same token, from all eternity God decrees some to sin and damnation (destinare ad peccatum) and actively intervenes to work sin in their lives, bringing them to damnation by divine initiative. In the case of the elect, regeneration is the monergistic work of God. In the case of the reprobate, sin and degeneration are the monergistic work of God. Stated another way, we can establish a parallelism of foreordination and predestination by means of a positive symmetry. We can call this a positive-positive view of predestination. This is, God positively and actively intervenes in the lives of the elect to bring them to salvation. In the same way God positively and actively intervenes in the life of the reprobate to bring him to sin. … Such a view of predestination has been virtually universally and monolithically rejected by Reformed thinkers.“ [Fettdruck hinzugefügt] „Sproul stellt zu Recht fest, dass diese Lehre mit dem Hyper-Calvinismus gleichzusetzen ist, den er lieber »Sub-Calvinismus« oder »Anti-Calvinismus« nennt. R. C. Sproul, Chosen by God (Wheaton, IL: Tyndale House, 1986), S. 142.“
John MacArthur,
der kein reformierter Theologe ist (und keiner Denomination angehört), schreibt zusammen mit Richard Mayhue in Biblische Lehre über Gottes Erwählen: „Der Ratschluss der Erwählung ist die freie und souveräne Wahl Gottes, die er in der Ewigkeit vor aller Zeit getroffen hat, seine Liebe auf bestimmte Einzelpersonen zu richten, und – auf der Grundlage von nichts in ihnen selbst, sondern allein wegen des Wohlgefallens seines Willens – zu beschließen, dass sie von der Sünde und Verdammnis errettet werden und durch das Werk Jesu Christi als Mittler die Segnungen des ewigen Lebens ererben sollten.“ (2. Aufl., Berlin: EBTC, 2021, S. 654). Über die Verwerfung siehe op. cit., S. 669ff. Auszug: „Obwohl dies die Vorstellung ist, an die viele denken, wenn sie die Begriffe Verwerfung oder doppelte Prädestination hören, ist dies eine grobe Karikatur der biblischen Lehre von der Verwerfung, die der Schrift absolut fremd und der Liebe und Gerechtigkeit Gottes zuwider ist; es ist eine Verirrung des historischen Calvinismus, die von der reformierten Orthodoxie durchgängig verworfen wurde und wird.“
Im Widerspruch zur symmetrischen Sicht der Römisch-katholischen Lehre und der Arminianer (doppeltes Vorhersehen), als auch zur Sicht der Hyper-Calvinisten und der Barthianer (doppelte Prädestination), führt uns der biblische Befund dazu, an einer asymmetrischen Sicht der Erwählung festzuhalten, nämlich einer vorbedingungslosen (o. unbedingten) Erwählung zum Leben (auf dem Grundsatz der Gnade) und einer bedingten Erwählung zur Verdammnis (auf dem Grundsatz der Gerechtigkeit). Wenn wir von einer »Erwählung zur Verdammnis« reden, meinen wir damit nicht, dass Gott Personen zur Sünde und zum Ungehorsam vorherbestimmt habe, sondern zur Verurteilung (und Verdammung), die zwangsweise jeder Sünde folgen muss.

Getretener Quark wird breit, nicht stark.

Dieser Ausspruch im Westöstlichen Diwan (1819/1827) von Goethe passt irgendwie hervorragend zu den immer wieder mantraartig (scheinbar sinnfrei) wiederholten Vorwürfen arminianisch und römisch geprägter Christen, die sie immer wieder in Richtung jener Christen äußern, die der bibeltreuen reformatorischen Heilslehre anhängen. Die Reformierten (meist als „Calvinisten“ Bezeichneten) fassten vor 400 Jahren im Schlussstatement ihrer Verwerfung der arminianischen Irrlehren (der sog. „Lehrregel“, 1619) diese haltlosen Vorwürfe wie unten angeführt zusammen.

Man gewinnt den Eindruck, dass auch 400 Jahre nicht reichen, den falschen Blick und das falsche Denken arminianisch argumentierender Menschen zu korrigieren. Durchblick gibt es erst bei überzeugter Bindung an die Wahrheit. Man muss demütig anerkennen und dann praktisch umsetzen, was der Sohn Gottes ein für allemal festgehalten hat: „DEIN WORT IST WAHRHEIT.“ Das wirft uns stets zurück auf die Heilige Schrift und die (wahren) Tatsachen. Dazu gehört also praktisch auch, dass man ehrlich und respektvoll mit dem Andersdenkenden umgeht, alle Behauptungen genau an den Tatsachen überprüft und kein falsches Zeugnis wider den Nächsten ausspricht.

Was „gegen alle Wahrheit und Liebe“ dem Volk eingeredet wird

»Die Lehre der reformierten Kirchen von der Gnadenwahl und damit zusammenhängenden Lehrstücken…

  • führe die Gemüter der Menschen durch einen gewissen eigentümlichen Geist und Richtung von aller Frömmigkeit und Gottesfurcht ab. Sie sei ein Ruhekissen des Fleisches und des Teufels und eine Burg des Satans, aus der er allen auflauere, die meisten verwunde und viele mit den Pfeilen der Verzweiflung oder Sicherheit tödlich treffe.
  • Sie mache Gott zum Urheber der Sünde, zu einem Ungerechten, einem Tyrannen, einem Heuchler und
  • sei nichts anderes als verfälschter Stoizismus, Manichäismus, Libertinismus und Islam.
  • Sie mache die Menschen fleischlich sicher, da sie nach ihr überzeugt wären, es schade der Seligkeit der Erwählten nicht, wie sie auch lebten, und deshalb könnten sie in Sicherheit auch die schwersten Frevel begehen.
  • Den Verworfenen helfe es nicht zur Seligkeit, wenn sie auch alle Werke der Heiligen wirklich vollbrächten.
  • Durch dieselbe würde gelehrt, dass Gott nach der bloßen und reinen Willkür seines Willens, ohne alle Rücksicht auf irgendeine Sünde und ohne Ansehen den größten Teil der Welt zur ewigen Verdammnis vorherbestimmt und geschaffen habe.
  • Auf dieselbe Weise, wie die Erwählung die Quelle und die Ursache des Glaubens und der guten Werke sei, so sei die Verwerfung die Ursache des Unglaubens und der Unfrömmigkeit.
  • Viele Kinder der Gläubigen würden von der Brust der Mutter unschuldig fortgerissen und tyrannisch in die Hölle gestürzt, so dass ihnen weder die Taufe noch die Gebete der Kirche bei ihrer Taufe etwas helfen könnten.«

Unschwer erkennt man, dass kontemporären, arminianisch denkenden Christen nichts Neues als „Argument“ gegen ihre biblisch glaubenden Geschwister einfällt. Es wird einfach immer wieder dasselbe Falsche, Verleumderische, Unsinnige und Unbiblische behauptet, auch wenn die Verleumdeten schon oft das Gegenteil bezeugt haben (siehe im folgenden Zitat). Dass diese Vorwürfe schon vor Jahrhunderten diskutiert und entkräftet wurden, wissen die arminianisch denkenden Christen nicht oder ignorieren es willentlich. Hier ist der Spruch vom „getretenen Quark“ tragisch zutreffend.

Was die Verantwortung jedes Christen ist, wenn er solche Behauptungen hört

„Und was der Art mehr ist, was die reformierten Kirchen nicht nur nicht anerkennen, sondern von ganzem Herzen verabscheuen.

Deshalb beschwören wir beim Namen des Herrn alle, welche den Namen unseres Heilandes Jesus Christus gottesfürchtig anrufen, dass sie über den Glauben der reformierten Kirche nicht aus den hier- und dorther zusammengehäuften Schmähungen oder aus den besonderen Äußerungen einiger älterer oder neuerer Lehrer, die oft entweder falsch angeführt oder entstellt und zu einem anderen Sinn verdreht sind, urteilen, sondern aus den öffentlichen Bekenntnissen dieser Kirchen und aus dieser Darlegung der rechtgläubigen Lehre, die durch diese Lehrregel festgestellt ist.

Die Verleumder aber selbst ermahnen wir ernsthaft, dass sie überlegen mögen, welch schwerem Gericht Gottes sie verfallen würden, wenn sie gegen so viele Kirchen und so vieler Kirchen Bekenntnisse falsches Zeugnis reden, das Gewissen der Schwachen beunruhigen und sich bemühen, vielen die Gemeinschaft der wahrhaft Gläubigen verdächtig zu machen.“

Was die Verkündiger des biblischen Glaubens beachten sollen

„Zuletzt ermahnen wir alle Diener Gottes im Evangelium Christi, dass sie bei Durchnahme dieser Lehre in Schulen und Kirchen fromm und gottesfürchtig zu Werke gehen, sie sowohl mündlich als schriftlich zum Ruhm des göttlichen Namens, zur Heiligkeit des Lebens und zum Trost niedergeschlagener Gemüter anwenden, mit der Schrift nach der Gleichmäßigkeit des Glaubens nicht nur denken, sondern auch sprechen und sich endlich aller der Ausdrücke enthalten, welche die uns vorgeschriebenen Grenzen des richtigen Sinnes der heiligen Schriften überschreiten und den nichtswürdigen Sophisten eine gute Gelegenheit bieten könnten, die Lehre der reformierten Kirche zu verhöhnen oder zu verleumden.

Der Sohn Gottes, Jesus Christus, der, zur Rechten des Vaters sitzend, den Menschen Gaben spendet, heilige uns in der Wahrheit, führe die, welche irren, zur Wahrheit, verschließe den Verleumdern der rechten Lehre den Mund und erfülle die treuen Diener seines Wortes mit dem Geist der Weisheit und Unterscheidung, damit alle ihre Reden zum Ruhm Gottes und der Erbauung der Zuhörer dienen. Amen.

Textquellen der Langzitate

Leseempfehlungen

  • Greg Forster, Fünf Mythen über den Calvinismus. (Artikel auf Evangelium21.net vom 3. Dezember 2018).
    • Mythos 1: Wir haben keinen freien Willen.
    • Mythos 2: Wir werden gegen unseren Willen gerettet.
    • Mythos 3: Wir sind total verdorben.
    • Mythos 4: Gott liebt die Verlorenen nicht.
    • Mythos 5: Der Calvinismus befasst sich hauptsächlich mit Gottes Souveränität und Prädestination.
  • Michael Haykin, Fünf Mythen über Johannes Calvin. (Artikel auf Evangelium21.net vom 24. Juli 2020).
    • Mythos Nr. 1: Calvin ließ Michael Servet hinrichten.
    • Mythos Nr. 2: Der Tyrann Calvin übte in der Hauptzeit seines Wirkens in Genf von 1541 bis 1564 in der Stadt eine Gulag-ähnliche Herrschaft aus.
    • Mythos Nr. 3: Calvins Theologie lässt sich mit dem Akronym TULIP zusammenfassen.
    • Mythos Nr. 4: Calvins monergistische Soteriologie bringt eine Tendenz zum Antinomismus mit sich.
    • Mythos Nr. 5: Calvin hatte kein Interesse an Mission.
  • Kenneth J. Stewart, Ten Myths About Calvinism – Recovering the Breadth of the Reformed Tradition. Downers Grove, IL: InterVarsityPress und Nottingham, England: Apollos, 2011.

Der Spruch zu guter Letzt

He that hath a head of wax musst not walk in the sun.

Was die „Fünf Punkte des Calvinismus“ nötig machte

Was man heute als die „Fünf Punkte des Calvinismus“ bezeichnet, gehört seit über 400 Jahren verbindlich zum reformierten Glaubensinhalt, ist aber auch Glaubensinhalt vieler anderer Christen, die sich in der Lehre – speziell in der Heilslehre – alleine auf Gottes Wort gründen. Diese „5 Punkte“ werden besser mit „Die Lehren der Gnade“ bezeichnet. Gnade und Barmherzigkeit sind zwei der Vollkommenheiten Gottes, die Er uns in besonders auffälliger Weise geoffenbart hat (2Mose 33,19; 34,6–9; Johannes 1,16 u.v.a.). Daher sind sie auch zentral wichtig für unsere Gotteserkenntnis und damit für die Anbetung Gottes.

Die „Lehren der Gnade“ sind also unverzichtbar wichtig und wertvoll. Man muss jedoch verstehen, dass der „Calvinismus“ (i.S.v. Glaubensinhalt der Reformierten) nicht (nur) aus (diesen) 5 Punkten besteht. Vielmehr sind dem reformiert Glaubenden Hunderte älterer und weiterer „Punkte“ genauso verpflichtender Glaubensinhalt. Diejenigen Nichtreformierten, die sich heute als „5-Punkte-Calvinisten“ bezeichnen, müssten zutreffender sagen, dass sie an „Die Lehren der Gnade“ glauben. Diese Lehren lassen sich (frühestens seit 1905!) mit dem Akrostichon TULIP in Erinnerung rufen (s.a.: TULIP – Wer hat’s erfunden? ). Sie wurden notwendig als Zurechtweisung formuliert, als die reformierte Kirche von Falschlehre(r)n angegriffen wurde und der Antrag gestellt wurde, diese Falschlehren in das Glaubensbekenntnis der Kirche aufzunehmen. Robert Godfrey ordnet die „5 Punkte“ so ein: „Der Calvinismus hat fünf Antworten auf die fünf Irrlehren des Arminianismus. Die Lehrregeln antworten Punkt für Punkt auf die arminianische Zusammenfassung, die 1610 vorlegt wurde.“ (Artikel: Gründe für Dordrecht, 2019)

Der damalige politische Streit war immer auch ein religiöser, da die Römische Kirche es gewohnt war, ihre Macht wie im Kirchlichen so auch in der Politik auszuüben. Romanisierungstendenzen sind als Ergebnis aktiver Gegenreformation und andererseits mangelnder Lehrfestigkeit der „Protestanten“ daher immer wieder wahrzunehmen, wie damals so auch heute (s.z.B. Gemeinsame Erklärung), wenngleich die Taktik und Methoden angepasst werden.

Die inhaltliche Beurteilung der „Fünf Punkte“ der Protestler (Arminianer)

Das Lehrsystem, das als „Calvinismus“ bekannt geworden (oder verleumdet worden) ist, behauptet, dass es eine richtige Darstellung der biblischen Heilslehre ist. Daneben gibt es verschiedene andere Lehrsysteme bzgl. der Heilslehre mit verschiedenen Graden des Unglaubens. Der „Calvinismus“ als theologisches Lehrsystem wurde natürlich nicht von der Synode von Dordrecht (Dordt) im Jahr 1619 [1] erfunden, sondern dort nur gegen Angriffe aus der Kirche verteidigt und als die in der Heiligen Schrift enthaltene Heilslehre bekräftigt. Diese Verteidigung wurde 1619 in „fünf Punkten“ (eigentlich als „Lehrregel“) formuliert, da es die Antwort auf die als unbiblisch beurteilten fünf Punkte ist, die die „Remonstranten“ („Protestler“; heute meist: „Arminianer“) der Kirche von Holland 1610 vorgelegt hatten. Die Lehren der arminianisch geprägten „Remonstranten“ wurden klar als Irrlehre bezeichnet und verurteilt.

Die Form der Beurteilung der „Fünf Punkte“ der Protestler (Arminianer)

Die Synode von Dordrecht war in der Verurteilung und Zurückweisung verbal nicht zimperlich. Sie erklärte in Reaktion auf die arminianischen und remonstrantischen Artikel und Meinungen in der „Lehrregel von Dordrecht“ (1619) [1] relativ offen und robust

  • dass Arminius und die Remonstranten „die Pelagianische Irrlehre wieder aus der Hölle hervorgebracht“ hatten.
  • Sie sagten von den Arminianern, sie „betrügen die Einfältigen“,
  • ihre arminianischen Lehren seien „eine Erdichtung des menschlichen Gehirns, ohne die Schrift ausgedacht“,
  • ein „schändlicher Irrtum“,
  • dass sie „nach der Gesinnung des Pelagius riecht“,
  • „der ganzen Schrift widerstreitet“ und „der Schrift widerspricht“,
  • ein „grober Irrtum“ sind,
  • „in Widerstreit mit der Erfahrung der Heiligen“ stehen,
  • „den klaren Zeugnissen der Schrift widerstreiten“,
  • dass sie Remonstranten „danach trachten, dem Volk das verderbliche Gift des Pelagianismus einzuflößen“,
  • „sie widersprechen dem Apostel“ und „sie widersprechen dem Heiland“,
  • ihre Lehre „verschmäht die Weisheit des Vaters und die Verdienste Jesu Christi und widerstreitet der Heiligen Schrift“,
  • sie „widerstreitet den klaren Zeugnissen der Schrift“,
  • sie „ist völlig pelagianisch und zu der ganzen Schrift im Widerspruch“.
  • Die Christen sollten wissen, dass „die alte Kirche diese Lehre schon seit langem in den Pelagianern […| verurteilt“ hat,
  • dass diese Lehre „einen deutlichen Pelagianismus offenbart“ und
  • dass „diese Meinung die Gnade, Rechtfertigung, Wiedergeburt und beständige Bewahrung Christi kraftlos macht“.

Die „Fünf Punkte“ der Protestler (Arminianer) sind Irrlehre, nicht nur Irrtum

Es wurde also nicht beschönigend von tolerierbarer „anderer Auffassung“, „anderer Erkenntnis“ o.ä. oder tolerierbar geringem Irrtum geredet (mit Entschuldigungen wie: „Wir alle irren mal“ und „Wir erkennen nur stückweise“, was natürlich Beides stimmt), sondern entlarvend von der Wiederkehr alter Irrlehren (Pelagianismus) und von Widerspruch zur Lehre der Heiligen Schrift.

Die rechtgläubigen Professoren, Theologen und Geistlichen Hollands und Englands versuchten daher beständig und aktiv, die Lehre der Arminianer zu unterdrücken und die Ausübung jenes Glaubens zu verbieten, den sie entschieden als häretisch verurteilten. Dies gelang ihnen durch die Einberufung der Synode von Dort recht wirksam. Aus diesen Gründen wurde der Arminianismus als (nichttolerierbare) Irrlehre (Häresie) – und nicht nur als (tolerierbarer) Irrtum – angesehen. Dieses Bewusstsein haben anscheinend manche „bibeltreue“ Gemeinden, Gemeinschaften und Missionswerke leider verloren.

Die Psychologisierung des Konflikts

Immer wieder gab es Versuche, die enormen lehrhaften Differenzen in diesem Konflikt herunterzuspielen und auf rein menschliche und persönliche Umstände und Lösungen abzuzielen. Wer als Theologe scheitert, versucht sich dann als Soziologe oder Psychologe? Dies ist gut zu beobachten beim bekannten Konflikt zwischen John Wesley und George Whitefield im 18. Jhdt., der in dieser Sache, insbes. in der Lehre von der Erwählung und der Heilssicherheit, tobte.[3] Whitefield schrieb in diesem Zusammenhang zurecht öffentlich an Wesley: „Die Kinder Gottes stehen in Gefahr, dem Irrtum zu verfallen. […] Oh, Sir, was ist denn das für eine Logik, oder besser: Sophistik?“ […] Sir, wie absurd argumentiert Ihr an dieser Stelle!“ (Brief vom 24.12.1740 von Bethesda, GA aus). Gleichzeitig verband er seine sachlich scharfe Kritik an der Irrlehre Wesley mit respektvollen Formulierungen gegenüber der Person des Gegners. Whitefield war nicht bereit, sein sachlich scharfes Urteil vom Ziel einer menschlichen Versöhnung trüben zu lassen, oder dem menschlichen Vertragen die Wahrheit und Gesundheit der Glaubenden zu opfern.

Es geht im Kern um nichts Geringeres als unser Gottesbild und unsere Anbetung

Gemäß der Lehren der Gnade wird das Heil durch die allmächtige Kraft des dreieinigen Gottes vollbracht: Der Vater hat ein Volk auserwählt, der Sohn ist für sie gestorben, der Heilige Geist macht den Tod Christi wirksam, indem er die Auserwählten zum Glauben und zur Umkehr bringt und sie dadurch veranlasst, dem Evangelium willig zu gehorchen (vgl. Hesekiel 36; Johannes 3, 6 u.a.).

Der Kreis der so gnädig Beschenkten wurde vor der Zeit allein durch göttliches Erwählen festgelegt und bleibt bei allen Heilswerken der Personen der Trinität (Opera ad extra) stets der selbe (s. a. Römer 8, 28–30). Diejenigen, für die der menschgewordene Sohn Gottes aus Liebe zum Vater und „den Seinigen“ (Johannes 13,1) im Opfer stirbt, sind exakt jene, die sich der Vater vor aller Zeit zum Besitz genommen hatte (Johannes 17,6b: „Dein waren sie“) und die er dann dem Sohn übergeben hatte („Mir hast du sie gegeben“, Johannes 17,6b), damit sie „die Seinigen“ seien, die er „bis aufs Äußerste“ und ewig göttlich lieben würde (Johannes 17,2.6.9.24). Wer diese Transaktion der Liebe nicht erfasst, glaubt, liebt, anbetet, verkündigt, dessen Gottesbild hat schon im Kernbereich erhebliche Mängel. Entsprechend dysfunktional wird seine Heilslehre. Würde es doch endlich begriffen: Erwählung zum Heil – und damit zur ewigen Gemeinschaft und Einheit – ist eine Liebesgeschichte! Eine Liebesgeschichte des Allmächtigen, der Licht und Liebe ist.

Der Streit zwischen der biblischen Auffassung des Heils bei den Reformatoren (und Reformierten) und bei den Gegen-Reformatoren ist im Kern immer auch ein Kampf zwischen einem gottzentrierten und einem menschzentrierten Verständnis der göttlichen Heilsveranstaltung. Die Heilige Schrift lehrt: Der gesamte Prozess, samt Erwählung, Erlösung, Wiedergeburt, ist das Werk Gottes und geschieht allein aus Gnade (Epheser 2,8–9). Auf diese Weise bestimmt Gott, und nicht der Mensch, wer die Gabe des Heils empfängt. Und Er macht das ganz gezielt so, dass Er am Ende alleine allen Dank und alle Anbetung dafür erhält (Römer 11,33–36): Soli Deo Gloria!


Anmerkungen

[1] Die Dordrechter Synode (auch Synode von Dordt) war eine nationale Versammlung der niederländischen reformierten Kirche unter Beteiligung von ausländischen reformierten Delegationen, die vom 13. November 1618 bis zum 9. Mai 1619 in Dordrecht stattfand. Siehe auch: 400 Jahre Synode in Dordrecht. Vgl. auch die Ausarbeitung Gründe für Dordrecht – Zur Entstehung und Bedeutung der Synode von Dordrecht von Robert Godfrey auf der Website von Evangelium 21 (2019) (Link).

[2] Text in Deutsch entweder online (SERK Deutschland) oder als Dokument (PDF).

[3] Sehr gute Darstellung in der Whitefield-Biografie von Benedikt Peters: George Whitefield: Der Erwecker Englands und Amerikas. 2. Aufl. (Bielefeld: CLV, 2003), leider vergriffen, und Christian Klein: George Whitefield: Das Leben des Evangelisten und sein Konflikt mit John Wesley (PDF).

Die Pflicht zum Widerstand gegen Falschlehre (J.C. Ryle)

John Charles Ryle (1816–1900)

Der ursprüngliche Artikel trägt die Überschrift Opposing False Doctrine und erschien in seiner Buchreihe Expository Thoughts on the Gospels (1869).

Und er rief die Volksmenge herzu und sprach zu ihnen: Hört und versteht! Nicht was in den Mund eingeht, verunreinigt den Menschen, sondern was aus dem Mund ausgeht, das verunreinigt den Menschen.
Dann traten seine Jünger herzu und sprachen zu ihm: Weißt du, dass die Pharisäer Anstoß genommen haben, als sie das Wort hörten?
Er aber antwortete und sprach: Jede Pflanze, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, wird ausgerissen werden. Lasst sie; sie sind blinde Leiter [der] Blinden. Wenn aber ein Blinder einen Blinden leitet, werden beide in eine Grube fallen.
Petrus aber antwortete und sprach zu ihm: Deute uns dieses Gleichnis.
Er aber sprach: Seid auch ihr noch unverständig? Begreift ihr nicht, dass alles, was in den Mund eingeht, in den Bauch geht und in [den] Abort ausgeschieden wird? Was aber aus dem Mund ausgeht, kommt aus dem Herzen hervor, und das verunreinigt den Menschen. Denn aus dem Herzen kommen hervor böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsche Zeugnisse, Lästerungen; diese Dinge sind es, die den Menschen verunreinigen, aber mit ungewaschenen Händen essen verunreinigt den Menschen nicht. (Matthäus 15,10-20)



In diesem Abschnitt gibt es zwei auffällige Aussagen des Herrn Jesus. Die eine bezieht sich auf falsche Lehre, die andere bezieht sich auf das menschliche Herz. Beide Aussagen verdienen unsere größte Aufmerksamkeit.

Falsche Lehre

In Bezug auf falsche Lehre erklärt unser Herr, dass es eine Pflicht ist, sie zu bekämpfen, dass ihre endgültige Zerstörung sicher ist und dass man sich von ihren Lehren distanzieren sollte. Er sagt: »Jede Pflanze, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, wird entwurzelt werden. Schenkt ihr keine Beachtung.«

Aus der Untersuchung des Textes geht hervor, dass die Jünger überrascht waren von den scharfen Worten unseres Herrn über die Pharisäer und ihre Traditionen. Wahrscheinlich hatten sie sich von Jugend an daran gewöhnt, sie als die weisesten und besten Menschen anzusehen. Sie waren erschrocken, als sie hörten, wie ihr Meister sie als Heuchler anprangerte und sie beschuldigte, das Gebot Gottes zu übertreten. » Weißt du,« sagten sie, »dass die Pharisäer Anstoß genommen?« Dieser Frage verdanken wir eine erklärende Aussage unseres Herrn – eine Aussage, die sonst vielleicht nie die Beachtung gefunden hätte, die sie verdient.

Die klare Bedeutung der Worte unseres Herrn ist, dass eine falsche Lehre, wie die der Pharisäer, wie eine Pflanze war, der man keine Gnade erweisen sollte. Es war eine »Pflanze, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat«, und eine Pflanze, die auszureißen die Pflicht war, was auch immer sie anrichten mochte. Es war keine Nächstenliebe, sie zu verschonen, denn sie schadete den Seelen der Menschen. Es spielte keine Rolle, dass diejenigen, die sie pflanzten, hohe Ämter innehatten oder gelehrt waren. Wenn eine Lehre dem Wort Gottes widerspricht, muss sie bekämpft, widerlegt und verworfen werden. Seine Jünger mussten daher verstehen, dass es richtig war, allen Lehren zu widerstehen, die unbiblisch waren, und alle Lehrer, die diese Lehren fortwährend brachten, unbeachtet stehen zu lassen und sich von ihnen zu distanzieren: »Lasst sie!« Früher oder später würden sie feststellen, dass alle Irrlehren völlig umgestürzt und zu Schanden gemacht werden. Nichts wird Bestand haben außer dem, was auf Gottes Wort gegründet ist.

In diesem Ausspruch unseres Herrn stecken Lektionen von tiefer Weisheit, die dazu dienen, die Pflicht manches bekennenden Christen zu beleuchten. Lasst uns diese Lektionen gut überfliegen und erkennen, was sie uns lehren. Aus dem praktischen Gehorsam gegenüber dem Ausspruch des Herrn »Lasst sie!« entstand auch die segensreiche protestantische Reformation. Diese Lektionen Lehren verdienen also unsere größte Aufmerksamkeit.

Sehen wir hier nicht, dass wir verpflichtet sind, im Widerstand gegen falsche Lehren unerschrocken zu sein? Zweifellos sehen wir diese Pflicht. Keine Angst, Anstoß zu erregen, keine Furcht vor kirchlicher Zensur sollte uns zum Schweigen bringen, wenn Gottes Wahrheit in Gefahr steht. Wenn wir wahre Nachfolger unseres Herrn sind, sollten wir freimütige, unerschrockene Zeugen gegen den Irrtum sein. »Die Wahrheit«, sagt Musculus, »darf nicht unterdrückt werden, denn die Menschen sind böse und blind.«

Sehen wir nicht erneut die Pflicht, Irrlehrer zu verlassen, wenn sie ihren Wahn nicht aufgeben wollen? Zweifellos ja. Kein falsches Feingefühl, keine falsche Demut sollten uns davor zurückschrecken lassen, die Dienste eines Geistlichen zu fliehen, der Gottes Wort widerspricht. Es ist zu unserem eigenen Verderben, wenn wir uns unbiblischer Lehre ausliefern. Und es wird ganz unsere eigene Schuld sein, wenn wir entsprechend im Glauben Schaden nehmen. Um es mit den Worten von Whitby zu sagen: »Es kann niemals richtig sein, einem Blinden in den Graben zu folgen.«

Erkennen wir, als letztem Punkt, nicht auch die Pflicht zur Geduld, wenn wir zuschauen müssen, wie falsche Lehren mehr und mehr zunehmen? Zweifellos erkennen wir diese Pflicht. Wir können uns mit dem Gedanken trösten, dass sie nicht lange Bestand haben werden. Gott selbst wird die Sache seiner Wahrheit verteidigen. Früher oder später wird jede Irrlehre »ausgerissen werden«. Wir sollen nicht mit fleischlichen Waffen kämpfen, sondern warten, predigen, protestieren und beten. Früher oder später, sagte Wycliffe, »wird die Wahrheit obsiegen«.

Das Herz des Menschen

Was das Herz des Menschen betrifft, erklärt unser Herr in diesen Versen, dass es die wahre Quelle aller Sünde und Verunreinigung ist. Die Pharisäer lehrten, dass die Heiligkeit von Speisen und Getränken von körperlichen Waschungen und Reinigungsriten abhing. Sie meinten, dass alle, die ihre Traditionen in diesen Dingen befolgten, vor Gott rein und sauber seien, und dass alle, die diese Traditionen vernachlässigten, unrein und unrein seien. Unser Herr verwarf diese elende Lehre, indem er seinen Jüngern zeigte, dass die wahre Quelle aller Verunreinigungen nicht außerhalb des Menschen liegt, sondern in seinem Inneren: »Aus dem Herzen«, sagte er, »kommen hervor böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsche Zeugnisse; diese Dinge sind es, die den Menschen verunreinigen«. Wer Gott recht dienen will, braucht etwas viel Wichtigeres als körperliche Waschungen: Er muss danach streben, »ein reines Herz« zu haben.

Was für ein schreckliches Bild des menschlichen Wesens haben wir hier vor uns! Und es wurde auch noch von jemand gezeichnet, der genau wusste, was im Menschen ist. Was für ein furchtbares Verzeichnis ist das davon, was in unserer eigenen Brust steckt! Welch traurige Liste von Samen des Bösen hat unser Herr aufgedeckt, die tief in jedem von uns liegen und jederzeit bereit sind, ins aktive Leben zu treten! Was können die Stolzen und Selbstgerechten sagen, wenn sie eine solche Stelle wie diese lesen? Hier skizziert der Herr nicht das Herzen eines Räubers oder Mörders, sondern berichtet wahr und getreu über die Herzen aller Menschen. Möge Gott uns gewähren, dass wir gut darüber nachdenken und weise werden!

Lasst es uns zu einem festen Vorsatz machen, dass der Zustand unseres Herzens die Hauptsache unseres Glaubenslebens sein soll. Möge es uns nicht genügen, in die Kirche zu gehen und die äußeren Formen der Religion einzuhalten. Lasst uns viel tiefer blicken, als nur so weit, und vielmehr danach trachten, ein »aufrichtiges Herz vor Gott« zu haben (Apostelgeschichte 8,21.) Das rechte Herz ist ein Herz, das mit dem Blut Christi besprengt, durch den Heiligen Geist erneuert und durch den Glauben gereinigt wurde. Lasst uns niemals ruhen, bis wir in uns das Zeugnis des Geistes Gottes darüber finden, dass Gott in uns ein reines Herz geschaffen und alles neu gemacht hat (Psalm 51,10. 2Korinther 5,17).

Schließlich soll es uns fester Vorsatz sein, alle Tage unseres Lebens unser »Herz mehr als alles, was zu bewahren ist« zu behüten (Sprüche 4,23.) Selbst nach der Erneuerung sind unsere Herzen schwach. Selbst nachdem wir den neuen Menschen angezogen haben, sind unsere Herzen trügerisch. Vergessen wir nie, dass unsere größte Gefahr von innen kommt. Die Welt und der Teufel zusammen können uns nicht so viel Schaden zufügen, wie unser eigenes Herz, wenn wir nicht wachen und beten. Glücklich ist, wer sich täglich an die Worte Salomos erinnert: »Wer auf sein Herz vertraut, der ist ein Tor; wer aber in Weisheit wandelt, der wird entkommen« (Sprüche 28,26).

Über den Autor

John Charles Ryle (1816–1900) war war der erste anglikanische Bischof von Liverpool. Er ist inzwischen auch in Deutschland durch seine Bücher Seid heilig (Holiness), Gedanken für junge Männer (Thoughts for young men), Mit Gott auf dem Weg (Walking with God), Die Pflichten der Eltern und Beten Sie? bekannt. Er gilt als einer der größten viktorianischen Evangelikalen. Spurgeon nannte ihn den »besten Mann der Kirche Englands« (unter Verwendung von: https://de.wikipedia.org/wiki/John_Charles_Ryle). – Übersetzt von grace@logikos.club

Literaturverweise

  • Do Not Tolerate False Teaching by J.C. Ryle (im Web hier)
  • 8 Symptoms of False Doctrine von J.C. Ryle (im Web hier)

Ad impossibilia nemo obligatur – Zu Unmöglichem ist niemand verpflichtet (?)

Beim Studium der Heiligen Schrift biegt man immer wieder einmal quietschend in Sackgassen falscher Vorannahmen und Denkvoraussetzungen (Presuppositionen), Interpretationsgrundsätzen (Hermeneutik) und Denkweisen (Logik) ab. Dies gilt besonders betreffs der Lehren der Schrift, die uns im Wort beschrieben, aber unserer normalen Erfahrung und „Logik  nicht vertraut, rätselhaft oder unserem menschlich-fleischlichen Denken und Empfinden sogar zuwider sind.

Heilslehre (Soteriologie) – „Logisch“ und/oder biblisch?

Dazu ein fast „klassisches  Beispiel aus der Heilslehre (Soteriologie). Peter Streitenberger schreibt –wie einige lange vor ihm– in seinem Buch Die Fünf Punkte des Calvinismus – Eine Antwort (CMD, 2007) Folgendes: »Es ist ein Fehlschluss menschlicher Logik und in sich widersprüchlich, zu unterstellen, dass das, was Gott dem sündigen Menschen eindeutig und immer wieder befiehlt, eigentlich unmöglich wäre.« (S. 26). Er kritisiert damit Theologen, die er wohl im Widerspruch zu seiner eigenen arminianischen Heilsauffassung sieht. Dank der Vernetztheit der Heilslehre mit anderen Wahrheiten der Schrift verursacht er damit allerdings auch Kollateralschäden an anderer Stelle.

Streitenberger wendet sich in der Vorrede seines Buchs noch gegen die „menschliche Logik, was ihn jedoch im Hauptteil nicht davon abhält, selbst Argumente der Logik anstelle von Aussagen der Heiligen Schrift einzusetzen, siehe Zitat. Dies ist klassische Selbstzerstörung eines vermeintlichen Arguments. Der Irrtum hier ist sogar doppelt, denn (1) beurteilt Streitenberger hier etwas als »Fehlschluss menschlicher Logik und in sich widersprüchlich«, was (2) in der Heiligen Schrift schon an anderer Stelle eindeutig und affirmativ vorkommt. Zum Ersten: Wenn es logisch (richtig) wäre, dann wäre es nicht widersprüchlich und wenn es widersprüchlich wäre, dann wäre es logisch nicht richtig. Was also meint er konkret? Kann man das auch klar sagen?

Streitenbergers Argument lautet: Wenn Gott dem Menschen etwas gebietet, dann bedeute dies, dass der Mensch auch in der Lage sei, dieses Gebot(ene) zu halten. Ein göttlich verordnetes Sollen sei mithin unmoralisch, wenn es das Können/Vermögen des Menschen überschreite. Daher beurteilt er die Aussage als falsch, dass der Mensch etwas, was ihm göttlich geboten ist (z. B. die Buße oder der rettende Glaube; Mk 1,15; Apg 17,30), nicht aus sich selbst heraus tun bzw. erbringen könne. Hier irrt Streitenberger, denn Römer 8,6-7 bezeugt diese Unfähigkeit und Unwilligkeit ausdrücklich: »Denn die Gesinnung des Fleisches ist der Tod, die Gesinnung des Geistes aber Leben und Frieden, weil die Gesinnung des Fleisches Feindschaft ist gegen Gott, denn sie ist dem Gesetz Gottes nicht untertan, denn sie vermag es auch nicht«. Noch klarer kann man wesenhaftes Unvermögen bei gleichzeitigem Verpflichtetsein kaum ausdrücken. Andere Stellen wären dem hinzuzufügen.

Streitenbergers Argument kann auch daran als fehlerhaft erkannt werden, dass uns in der Schrift anhand des Gesetzes das Gegenteil gelehrt wird. Gott hatte eindeutig und unter klarer, scharfer Androhung der ewigen Todesstrafe geboten, dass das Gebot Gottes zu halten sei (z. B. 5. Mose 28,15ff). Er meint es also absolut ernst. Aber er lässt ebenfalls als Wahrheit aufschreiben, dass (außer Jesus Christus) kein Mensch das Gesetz gehalten hat noch je hätte halten können (z. B. Apg 15,10; Römer 3,20–23; 5,20–21). Damit ist gezeigt, dass Gott sehr wohl vom Menschen etwas absolut verlangt (nämlich die Perfektion; z. B. Matthäus 5,48; Jakobus 2,10–11; Römer 3,10), was kein Mensch aus sich heraus zu erbringen vermag. Dieses Beispiel zeigt schon, dass das Argument Streitenbergers (das er mit manchem vor und mit ihm teilt) nicht aus dem Wort der Wahrheit stammen kann, denn dieses Wort ist durchgehend widerspruchsfrei.

Das falsche Argument ist ein alter Hut – aus falschen Quellen gefischt

Dem Kenner der Kirchengeschichte ist nicht verborgen, dass diese Art der Argumentation schon in der Denktradition der „Arminianer” (frühes 16 Jhdt.) oder auch später in der amerikanischen „New Haven-Theology” nach Nathaniel W. Taylor (frühes 19. Jhdt.) auftaucht. Berüchtigt ist auch der angebliche „Erweckungsprediger“ Charles Grandison Finney (1792–1875) und das Bibelseminar in Oberlin (OH, USA, gegr. 1833), dessen zweiter Präsident er war, die die selben falschen Behauptungen vertraten und verbreiteten (jeder könne völlig frei und aus eigenen Kräften das Heil erwerben und absolute Heiligung erreichen).

Die Behauptung »Sollen impliziert Können« ist jedoch als weltlich-heidnisches Rechtsprinzip um einiges älter. Als Grundsatz taucht sie schon in den Digesten (lat. digesta = Geordnetes; didaktische Zusammenstellung von Rechtssätzen) des römischen Rechts auf. Sinnverwandte Prinzipien und Rechtsgrundsätze lauten: »Ad impossibilia nemo obligatur/tenetur« (»Zu Unmöglichem ist niemand verpflichtet«; vgl. BGB § 275 Abs. 2-3); »Lex cogit neminem ad impossibilia« (»Das Gesetz zwingt niemand zu Unmöglichem«); »Ultra posse nemo obligatur« (»Über sein Können hinaus wird niemand verpflichtet«).

Der ungläubige Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) schreibt Ähnliches in seiner Critik der praktischen Vernunft (1788): »Denn, da sie [die reine Vernunft] gebietet, dass solche [Handlungen nach sittlicher Vorschrift] geschehen sollen, so müssen sie auch geschehen können.« (A807, B835). Autonomie ist damit bei Kant Bedingung dafür, dass Moral möglich ist. Autonomie in diesem Sinne ist die Freiheit, nach einem selbst bestimmten Willen zu handeln. Die Absolutsetzung der Autonomie müssen wir aber als Vergottung des Menschen als ethischem Wesen sehen. Kant selbst sagte: »Gott ist also keine ausser mir befindliche Substanz sondern blos ein moralisch Verhältnis in Mir.« ([sic!] Akademie-Ausgabe XXI, S. 149). Damit wird aber die widergöttliche Denkbasis und Denkrichtung schon bloßgelegt. Wo ist Kantsche Philosophie, wo biblische Wahrheit im Argument von Streitenberger?

Dieses im menschlichen Recht gerechterweise oft anzuwendende Prinzip ist aber weder kausale noch logische Implikation: Das Sollen garantiert niemals das Können. Und der Bibelleser weiß zudem sicher: Wenn Gott etwas als Sollen (oder Sein) fordert, ist es stets »heilig, gerecht und gut« (Römer 7,12)!

Es gibt bessere Erklärungen, biblische nämlich

Einige Bibellehrer haben den biblischen Sachverhalt besser ergriffen und mit Begriffen und Metaphern der Bibel erklärt (Schuld, Erlösung, Zurechnung usw.): Nehmen wir an, ein Mensch bekäme für eine gewisse Zeit eine größere Geldsumme anvertraut. Er nimmt hocherfreut die große Summe an, verprasst aber das ganze Geld in Saus und Braus. Zur vereinbarten Zeit kommt der Geber wieder zu ihm und fordert sein Geld zurück. Der Mensch kann aber nichts zurückgeben, ganz einfach deswegen, weil er nichts mehr hat. Außerdem will er gar nichts zurückgeben und streitet jede Forderung ab. Es ist aber völlig klar, dass er die geliehene Summe zurückzahlen muss, denn es war geliehenes Vermögen, es gehört einem anderen. Das faktische Unvermögen liefert hier nicht die Freistellung aus der moralischen Schuld, sondern begründet und vertieft diese zusätzlich. Anders gesagt: Die Forderung des Gläubigers besteht weiter und ist völlig rechtens, auch wenn dem Schuldner die Erfüllung der Forderung faktisch unmöglich ist.

To the Point: Die Forderung nach Rückzahlung der Schuld bedeutet eben nicht, dass diese dem Schuldner faktisch möglich sei. Trotz der Unfähigkeit des Schuldners ist die Forderung des Eigentümers juristisch unanfechtbar und gerecht. – Nun, dies gilt übertragen auch im diskutierten Kontext der biblischen Heilslehre mit Blick auf das menschliche Elend, die Gerechtigkeit Gottes und die Notwendigkeit eines freien Gnadengeschenks vonseiten des Heiland-Gottes. (Das Metapher der Schuld und des Schuldners ist direkt biblisch.)

Ein wesentlicher Denkfehler scheint mir zu sein, dass man die Situation des Sünders, die zu seiner faktischen Unfähigkeit und Unwilligkeit zur Umkehr geführt hat, moralfrei beurteilt, während doch die Heilige Schrift lehrt, dass die Unfähigkeit und Unwilligkeit des in Sünde gefallenen Menschen eine selbstverschuldete ist. Buße und Glauben oder anderen Aktivitäten des Herzens (Willen, Entscheidungen) oder der Hand (Werke) sind nach göttlichem Zeugnis einem Menschen innerlich erst möglich, wenn er diese vorher von außen her empfangen hat. Münchhausen funktioniert auch hier nicht.

Mit Empfang der göttlichen Rettungsgaben ändert sich alles: Es ist alles »aus Gott«, aber durch die freie Gabe Gottes sind im beschenkten Menschen nun Fähigkeit, Wille und gute Tat vorhanden und sein eigen: Es ist dann seine Fähigkeit (Vermögen), sein Wille (Motivation) und seine Tat (Vollbringen). Solange aber das Herz geistlich tot und in der Sklaverei der Sünde verkettet ist, gilt ohne göttliche „Operation am Herzen” (Hesekiel 11,19; 36,26) weiter: »Ihr wollt nicht zu mir kommen, damit ihr Leben habt«, und: »Ihr seid aus dem Vater, dem Teufel, und die Begierden eures Vaters wollt ihr tun« (Johannes 5,40; 8,44). Der ganze Vorgang wird in den Texten von den Segnungen des Neuen Bundes beeindruckend für Israel vorschattend beschrieben (s. z.B. Hesekiel 36,25–36) und im Johannesevangelium vom Sohn Gottes ausgelegt und auf den Glaubenden des NT angewandt. Im Heil kommt es danach nicht zuerst auf die Fähigkeit des Sünders an, sondern auf die Fähigkeit des rettenden Gottes. Er fordert – aber er gibt auch das, was er fordert. Glauben wir das? Dann werden und können wir zugreifen und dann sind wir ewig gerettet.

Gott aber sei Dank, dass ihr Sklaven der Sünde wart, aber von Herzen gehorsam geworden seid dem Bild der Lehre, dem ihr übergeben worden seid! Freigemacht aber von der Sünde, seid ihr Sklaven der Gerechtigkeit geworden.

Römer 6,17-18 (ELB03)


Bekehre mich, damit ich mich bekehre, denn du bist der Jahwe, mein Gott.

Jeremia 31,18b

Die angebliche Sensation des Ken Wilson

Eine Rezension von: War Augustinus der erste Calvinist?

Vor einiger Zeit wurden Nachrichten und Vorträge verbreitet, dass ein gewisser Ken Wilson eine Sensation entdeckt hätte, nämlich dass der Kirchenvater Augustinus der erste „Calvinist“ gewesen sei. Eine deutsche Kurzfassung der „bahnbrechenden Dissertation“ von Wilson (2012 in Oxford), die im Jahr 2018 veröffentlich wurde, trägt tatsächlich den Titel: „War Augustinus der erste Calvinist?“ (CMV-Hagedorn, Pb., ca. 156 Seiten, ISBN: 978-3-96190-062-6). Die Doktorarbeit lautet hingegen inhaltlich anders: „Augustine’s Conversion from Traditional Free Choice to “Non-free Free Will“: A Comprehensive Methodology“ (Tübingen: Mohr Siebeck, 2018, 388 Seiten, ISBN 978-3-16-155753-8). Es ist also zu vermuten, dass mit der deutschen Ausgabe tatsächlich eher reißerische Zwecke verfolgt werden, als denn seriöse und aufklärende.

Leider hat der Schweizer Bibellehrer Roger Liebi das Vorwort der CMV-Ausgabe geschrieben und aktiv Werbung für dieses Buch gemacht (Liebi leugnet auch die Erwählungslehre der Bibel).

Autor: Kenneth M. Wilson wurde 1956 geboren. 1981 wurde er Doktor der Medizin (!) an The University of Texas Medical School. 1989–95 war er Assistant Professor of Orthopaedic Surgery an der Oregon Health Sciences University. 2003 errang er den Titel Master of Divinity, 2006 den Titel Master of Theology und 2012 den Titel D. Phil. in Theologie von der University of Oxford. Gegenwärtig ist er ein zertifizierter Orthopaedic Hand Surgeon in Salem, Oregon und zugleich Professor für Kirchengeschichte und Systematische Theologie an der Grace School of Theology in The Woodlands, Texas, der Ausbildungsstätte einer christlichen Sondergruppe (Glaubensbekenntnis; bemerkenswert ist folgende schriftwidrige Behauptung dieser Bibelschule in ihrem Doctrinal Statement: »Initial faith resulting in justification and regeneration is not a gift of God.«).

Inhalt: Diskussion und Beurteilung der Behauptungen der Doktorarbeit von Ken Wilson findet sich an mancher Stelle. Eine davon fertigt(e) Mario Tafferner an (Abdruck auf Evangelium 21), eine tiefergehendere Chris Whisonant (hier veröffentlicht). Beide sind sehr lesenswert. Die Inhaltsangabe der Analyse von Whisonant mit kurzen Zusammenfassungen wird unten abgedruckt. Die Überschriften enthalten Links zu den vollen Artikeln. Vorsicht: das zugrundeliegende Studium ist nichts für Anfänger.

Allerdings könnte selbst ein Laie mit etwas Bildung erkennen, dass Augustinus (354–430) rein zeitlich niemals ein „Anhänger Calvins“ (1509–1564) oder dessen Lehren gewesen sein konnte. Ob diese Behauptung Geschichtsklitterung, Dummheit oder Effekthascherei ist, mag jeder selbst beurteilen. Man beachte auch folgende zwei Tatsachen:

(1) Gegen eine Erstentdeckung mit entsprechender Sensation seitens Ken Wilson (wie es die reisserische Bewerbung des Buches erwarten lässt) spricht jedenfalls, dass schon vor Kenneth Wilsons Veröffentlichung (2018) wissenschaftlich und ausführlich nachgewiesen worden war, dass Augustinus die „Lehren der Gnade“ vertrat, z. B. im Rahmen der Doktorarbeit von C. Matthew McMahon, Augustine’s Calvinism: The Doctrines of Grace in Augustine’s Writings, die bereits 2012 veröffentlicht wurde.

(2) Dass Augustinus der erste „Calvinist“ gewesen sei, die Kirchenväter vor ihm die Inhalte und Lehren der „Fünf Punkte des Calvinismus“ also noch nicht gelehrt hätten, muss anhand der Quellenlage zurückgewiesen werden (s. z. B. Artikel: Calvinism in the Early Church. The Doctrines of Grace Taught by the Early Church Fathers). Eine umfassende Arbeit mit Originalzitaten von den älteren Kirchenvätern hat bereits der Theologe und Sprachgelehrte John Gill vorgelegt (The Cause of God and Truth, 4. Band, 1738).

Man sollte sich aufgrund der Tatsachen wohl eher zu folgender Aussage reduzieren, wie sie McMahon in der Einleitung seiner Ausarbeitung trifft (op cit): „Der heilige Augustinus war ein Calvinist und Johannes Calvin war ein Augustiner. Das heißt, sowohl Augustinus als auch Calvin hielten sich an das Evangelium von Jesus Christus, das in der Bibel zu finden ist, obwohl sie über ein Jahrtausend auseinander lebten“ (weiter erhellende Fortsetzung des Zitats s. unten).

Fazit: Nach Einschätzung von Kennern der Materie ist zu befürchten, dass sich am Ende der 388 Seiten (des Originals) die Sensation des Ken Wilson als lahme Ente erweist, oder – wie der alte Goethe es sagen würde–: „Getretener Quark wird breit, nicht stark.(Westöstlicher Divan, 1819/1827).

Chris Whisonant: Discussing Ken Wilson’s Work – A Table of Contents

»Below you will find a Table of Contents with all of my posts in this current series. I will link to each post and provide a brief synopsis of its argument, typically a summary of each post’s conclusion.

Part 1 – Clement and Free Will

Dr. Wilson argues that when Clement stirred up the believers in Corinth to good works that the implicit logical consequence must only be libertarian free will. If this is clear through implication, what of  the explicit statements relating God’s will to our calling, justification, and opening of the eyes of our hearts that Clement understood believers are predestined and elected by God? By simply looking at the actual writing of Clement, there would be more data demonstrating that he was on the “traditional” belief in election as it relates to God’s purpose of salvation.

Part 2 – Augustine, 412, and Original Sin

Upon hearing that infants should be baptized not to remit original sin but simply to sanctify them, Augustine realized that this was not part of what he understood as the Christian faith handed down through the ages. He understood that the Church “guarded with utmost constancy” the doctrine that children were sinners due to their inheriting original sin from Adam. Therefore, his immediate argument was that the Church was against this novel doctrine of Pelagius and that infants should have always been baptized to cleanse them of their sin. If there was a side that Augustine would have understood as “traditional”, it was that side guarded by the Church that believed the transmission of original sin from Adam needed to be washed away in infants so that they could be clean and free from sin until such a time as they committed their own personal sin.

Part 3 – Some Earlier Comments from Augustine on Original Sin

Augustine spoke about the inherited sin nature by the sin of the first man very early in his Christian life in the year 393. And then in 401 we could see Augustine discussing the need for remission of sins by baptism in infants. The remission of sins was to renovate them from the sins of the old man. Augustine was saying something that the “traditional” advocate would not be able to say while being consistent with their own writings. Could a Provisionist say that “the custom of sinning has been turned into a nature of sinning according to mortal generation, by the sin of Adam”? That’s the language of Augustine before he explicitly wrote lengthy treatises on Original Sin.

Part 4 – Athanasius and Original Sin

Athanasius spoke of an origin of death from Adam, a curse of sin, and death being removed through regeneration from above and a quickening in Christ. At the very least, Athanasius shows that the church before Augustine was talking in ways that sound less “traditional” than the Provisionist would like.

Part 5 – Using Equal Scales in the Discussion

Wilson has also asserted that Biblical calls to repent or wake up must mean that man has that capability within himself to fulfill that call. In this post we see a similar statement by Mani where one is told to awaken. The “traditionalist” would read these statements in Scripture as meaning that man has moral ability to heed the call himself and wake up, but the same person will read some type of determinism into a statement by Mani. I would urge that we try to be consistent with regards to how we interpret passages based off of our presuppositions. I am in no way trying to defend the statement by Mani – he was, as we have seen, not even talking about the Christ of the Bible as the Redeemer but rather was talking about Zoroaster! What I am trying to do is to urge you to consider whether you are using the same criteria when you read traditional libertarian free will into early church fathers but not into what Mani was saying.

[Part 6 –] The Depths of Augustine’s Manichaeism

This foundational part of “faith” (a “Redeemer” known as Zoroaster,who Wilson equated with Christ, commanding one to awake from their slumber and that Redeemer gave the grace for someone to even be able to awaken) that Augustine supposedly snuck into Christianity was approved by Augustine, per Wilson. Yet it does not take into account that Augustine was quite explicit that the “faith” he had as a Manichaean was disapproved of by him. Certainly this “faith” would include such non-catholic beliefs in astrology and the false god along with Zoroaster the Redeemer in Manichaeism.

Part 7 – What If We Rewrite the Stars?

After reading this post, does it sound to you like Augustine was still under the influence of Stoic Providence guided by the stars in 388 and 398 (as well as from 393 and 397 in quotes below) when he explicitly denied the influence of stars over the birth of any man? As Augustine stated in Confessions, he had abandoned any type of atrological determinism by 386 – even before he was converted! When you have direct and explicit denials by Augustine of the assertions that Wilson is making, you have to ask yourself why Dr. Wilson is treating Augustine the way that he is. Augustine, in writings from 388-401 categorically denied any assertion that he continued to worship the heavenly bodies.

Part 8 – Council of Carthage

As this post demonstrates, the statements that Dr. Wilson made regarding the Council of Carthage do not hold water when we look at the actual document. They did believe that the church universal was baptizing infants and that it was to remit the sin that was in them as a result of generation from Adam.

Part 9 – Breaking The Silence of Augustine

Even excluding Ad Simplicianum we can see that Augustine spoke with similar language in the 10 years surrounding that letter. We see that what Dr. Wilson has conceded as non-traditional language in Ad Simplicianum is echoed by further non-traditional language in other works around that time (and the quotes that I have posted above are not exhaustive). If Augustine believed in 396 what he wrote in Ad Simplicianum, then Wilson’s entire thesis is a house of cards. But Dr. Wilson has stacked this house of cards on a single card at the bottom in order to serve as the firm foundation for this flimsy house. That single card is the fact that the word “reatus” is never found to be used prior to 412. This means that nobody believed that there was damnable guilt associated with original sin. But I have clearly just shown that Augustine, at least in 401, did believe in the inherited guilt of original sin such that he would recommend that children must be baptized to cleanse and regenerate them.

Part 10 – On The Magnitude of The Soul

When Augustine’s own words are read he appears to have spoken in a “non-traditional” way. I simply ask, yet again, if the things that Augustine wrote in this work are statements that the provisionists could agree with. Can they say that man cannot even begin or complete the renovation of spirit without God helping him to do that? Can they say that our use of free will “does not disturb any portion of the divine order and law”? These are serious questions that undermine much of Dr. Wilson’s thesis.

Part 11 – On Psalm 51 and Original Sin

After reading through some of Augustine yourself, it should be clear that it is anything but Wilsonian “Traditionalism”. As I have shown, Augustine not only says that children are born guilty (with a lack of innocence) but that they are further born with punishment upon them which makes them need the washing of regeneration in baptism. Guilty persons (infants) in need of regeneration, according to Augustine’s understanding of the catholic faith, would face the punishment of damnation.

Part 12 – On Psalm 51 and Concupiscence

This post is yet another that demonstrates the extreme prejudice employed by Wilson in his reading and assessment of Augustine. As a committed Protestant Baptist in the 21st Century, when I began reading Augustine in 2017 I approached it with no agenda. I knew that there would be many things that Augustine wrote with which I would agree and many with which I would disagree. But I have not approached my reading looking for a way to either assimilate Augustine into my tradition or accuse him of heresy from the start. My reading has been fruitful and a blessing. Dr. Wilson’s approach to Augustine appears to have been started with a bias and an effort to make Augustine someone that he was not.

Stay tuned for further posts…«

McMahon über „Calvinismus“ und „Augustinismus“ (2012)

„Der Inhalt ihrer [Calvin, Augustinus] Gedankensysteme über Rechtfertigung, Sühne, Souveränität, Gnade, Ausharren der Heiligen und dergleichen war derselbe. Sie lehrten dieselben Lehren von der Souveränität Gottes und der freien Gnade, die der „Calvinismus“ seit Hunderten von Jahren, nein, Tausenden von Jahren gelehrt hat. Und warum? Die Begriffe „augustinisch“ oder „calvinistisch“ beziehen sich einfach auf ein Denksystem, in dessen Mittelpunkt die vollständige und uneingeschränkte Souveränität Gottes in der Errettung steht. Das bedeutet, dass die Erlösung monergistisch ist. Sie wird von Gott im Namen des Menschen vollzogen. Wie der Psalmist so wortreich sagt: „Aber unser Gott ist in den Himmeln; alles, was ihm wohlgefällt, tut er“ (Psalm 115,3). Gott ist der Urheber und Vollender des Glaubens für diejenigen, für die Christus gestorben ist und sein Leben als Lösegeld gegeben hat. Gott initiiert das Heil, gibt die Gabe des Heils und bewahrt den Christen in der Erlösung. Er ist das Alles in Allem.

Dies ist kein neues Konzept oder eine neumodische Idee. Es ist die alte Religion des Evangeliums Jesu Christi, die seit dem Garten Eden in Genesis 3,15 gelehrt wird, durch die ganze Geschichte von Gottes auserwähltem Volk, durch das Wirken des menschgewordenen Wortes Jesus Christus, das Wirken der Apostel, das Wirken der frühen Kirchenväter und ja, das Wirken und die umfangreichen Lehren von St. Augustin.

Das augustinische oder calvinistische System bezieht sich nicht nur auf das, was gemeinhin als „Die Lehren der Gnade“ bekannt geworden ist. Diese biblischen Systeme des theologischen Denkens erstrecken sich auf alle Facetten der biblischen und systematischen Theologie. Wer nur an den „Lehren der Gnade“ festhält, kann nicht mit Fug und Recht behaupten, ein „Calvinist“ sein. […]

Die überarbeitete Systematisierung der fünf Punkte des Calvinismus, die als als „Die Lehren der Gnade“ in die moderne Kirche Eingang gefunden haben, wurde ursprünglich nicht von Calvin, sondern von Augustinus systematisiert und ausführlich beschrieben. Aus diesem Grund zitiert Johannes Calvin alle vier Seiten in seiner Institutio Christianae Religionis (deutsch: Unterricht/Unterweisung in der christlichen Religion) Augustinus. Aus diesem Grund würde sich Calvin nicht als Calvinist, sondern als Augustiner bezeichnen. Und sowohl Augustinus als auch Calvin würden sich wirklich als Kinder zu Füßen Jesu Christi und der Lehren der Bibel betrachten, vor allem, wenn sie ihre Lieblingspassagen des Apostels Paulus immer wieder zitieren. Sie sind paulinisch und bibeltreu, zur Ehre Jesu Christi.

C. Matthew McMahon, Augustine’s Calvinism: The Doctrines of Grace in Augustine’s Writings. (Coconut Creek, FL: Puritanischer Publications, 2012), Introduction. (eigene Übersetzung; typograf. Betonungen durch Übersetzer)

Sonnenfinsternis – Wo Phantasie die Wahrheit verdunkelt

Eine Rezension und biblische Kurzbeurteilung von:

Thomas Jettel, Herbert Jantzen
Kann ein Christ zu einem Nichtchristen werden?
CMV – Christlicher Missions-Verlag Bielefeld, 2010. Brosch., 109 Seiten | ISBN 978-3867015028

Der Herausgeber ist ein kleiner Verlag (e. V.), der von Mitgliedern der Mennoniten-Gemeinde Bielefeld ins Leben gerufen wurde (Webseite). Diese christliche Gruppe pflegt traditionell ein arminianisches Verständnis der Heilslehre und geht von der Unsicherheit und Verlierbarkeit des Heils in Christus aus. Das besprochene Werk ist Teil der CMV-Aufklärungsreihe. In dieser Reihe werden aus Sicht der Mennoniten wichtige Themen aufgegriffen, wie Gender, Erwählung, Heilssicherheit oder „das Äußere” (Kleidung).

Die beiden Autoren kommen aus unterschiedlichen Hintergründen, arbeiten jedoch seit einigen Jahrzehnten zusammen. Der Kanadier Herbert Jantzen (1922–2022) studierte am Canadian Mennonite Bible College in Winnipeg Theologie und Erziehungswissenschaften und war 1971–1981 Professor für Dogmatik an der FETA Gießen. 1999 kehrte er nach Kanada zurück. Der Österreicher Thomas Jettel (*1959) studierte an der STH Basel und wurde nach einer vorübergehenden Mitarbeit in Gemeinden im Salzburger Land (A) in den 80er und 90er Jahren und einer Umkehr zu einer anderen Heilslehre freier Prediger, dann Ältester einer Gemeinde in Hohentengen. Er arbeitete seit 1997 mit Herbert Jantzen zusammen.

Zum Inhalt. Die Autoren gehen davon aus, dass jemand, der an Jesus Christus glaubt, das Ewige Leben hat. Soweit biblisch richtig. Dann stellen sie die unbelegte und recht steile These auf, dass ein solcher mit Ewigem Leben beschenkte und „von-oben-geborene” Mensch seinen Glauben wieder restlos aufgeben könne, so dass alle Verheißungen und Folgen der Wiedergeburt von oben wieder genommen würden und so dieser Mensch auf dem Weg ins sichere Verderben der Hölle sei. Die biblische Lehre von der ewigen Heilssicherheit der Glaubenden schließe die Möglichkeit des Abfalls Wiedergeborener nicht aus. Die Heilssicherheit des Gläubigen einerseits, und die Möglichkeit, aufzuhören zu glauben, andererseits, seien biblische Lehren, die nicht im Widerspruch zu einander lägen. Platt gesagt wird hier die Meinung vertreten, dass der Mensch mittels des (eigenständigen) An- und Ausschaltens seines Glaubens sein ewiges Heil (eigenständig) an- bzw. ausschalte, der Heilsprozess mithin voll umkehrbar und voll in exklusiver Verfügung des betreffenden Menschen sei.

Beurteilung. Erstens werden in dieser Sicht der ewige Wille Gottes und seine ewigen und festen Besitzansprüche an die durch das Blut Jesu Erworbenen völlig außer (biblischer) Acht gelassen. Die Heilige Schrift lehrt als Wahrheit vielmehr, dass mit der Verleihung des Ewigen Lebens durch Gott unumkehrbare Dinge bei einem Menschen geschehen, denn Gott verändert ihn und Seine Beziehung zu ihm radikal (bis ins Zentrum des Wesens) und pervasiv (alles umfassend und durchdringend), sowohl initial (Stellung) als auch beständig (Glaubensleben). Die entsprechenden Gnadenhandlungen Gottes (d. h. einseitige Geschenke Gottes, beachte das betonte »ICH werde«) werden z. B. in Hesekiel 36 prophetisch vorausschauend bzgl. Israel und dem Neuen Bund im Alten Testament aufgezählt. Diese Segnungen des Neuen Bundes gehören zum Hintergrund des Gespräches Jesu Christi mit dem jüdischen Obertheologen Nikodemus (Johannes 3) zur Erklärung der Möglichkeit und Weise der geistlichen Neugeburt (Wiedergeburt, Geburt-von-oben-her):

»Und ich werde reines Wasser auf euch sprengen, und ihr werdet rein sein; von allen euren Unreinheiten und von allen euren Götzen werde ich euch reinigen. Und ich werde euch ein neues Herz geben und einen neuen Geist in euer Inneres geben; und ich werde das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben. Und ich werde meinen Geist in euer Inneres geben; und ich werde bewirken, dass ihr in meinen Satzungen wandelt und meine Rechte bewahrt und tut.«

Hesekiel 36,25-27 (ELBCSV)

Beachtenswert ist, dass auch das Bleiben eines Wiedergeborenen in einem Gott wohlgefälligen Leben in praktischer Heiligung zu diesen gnädigen Wirkungen gehört und mithin sicheres und bleibendes Gottesgeschenk und nicht fragwürdige menschlich-volatile Entscheidung ist. Es geht um Segnung und nicht um Verdienst. Dass dies so göttlich-sicher geschieht und bleibt, ist verbunden mit dem bleibend hochgelobten Namen und der Ehre Gottes (Hesekiel 36,32; vgl. Römer 3,21–28; Epheser 2,4–10).

Zweitens stellen die Autoren mit ihrer Lehre den Dienst Jesu Christi als Hoherpriester als fehlbar hin. Dieser ist jedoch vollkommen und wirksam: »Ich habe gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre« sagt Jesus zu Petrus nach dessen größter Sünde in dreimal wiederholter Leugnung Jesu (Lukas 22,31f). Jesu Blick (Lukas 22, 61–62) und seine Wiederherstellung und Indienststellung des Petrus (Johannes 21,15–19) reden, vor allem im Vergleich zum lange vorher in der Schrift angekündigten Verräter Judas Iskariot, Bände. Petrus gehörte zu denen, die durch Jesu Wort rein waren (Johannes 15,3), Judas hingegen war nie etwas anderes als ein Verräter und Teufel (vgl. Johannes 6,70; 13,2): »Als ich bei ihnen war, bewahrte ich sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast; und ich habe sie behütet, und keiner von ihnen ist verloren gegangen – als nur der Sohn des Verderbens, damit die Schrift erfüllt würde.« (Johannes 17,12).

Drittens wird der Dienst Jesu als Großer Hirte Seiner Schafe als unvollkommen verleumdet. Johannes 10 und 17 (u. a.) machen sehr klar, dass Jesus keinen der „Seinen” verliert, die Ihm der Vater anvertraut hat, sondern allen ewiges Leben gibt: »Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie gehen nicht verloren in Ewigkeit, und niemand wird sie aus meiner Hand rauben.« (Johannes 10,27-28). Wer wie die Autoren das Gegenteil einräumt, verleumdet Jesu Hirtentreue und Seine Macht als Gott, der Sohn.

Viertens: Bei der Rettung bekommt der Glaubende unwiderrufliche Rechtstitel zuerkannt. Dazu gehören: das Recht, Kind Gottes zu heißen; die Adoptionsurkunde als „an Sohnes statt Angenommener”; die Rechtfertigungsurkunde des Obersten Weltenrichters, ohne Revisionsmöglichkeit; den Erbschein als Miterbe Christi, (usw.). Dies ist alles im NT klar bezeugt. Keiner dieser Titel wird als „Leihtitel” oder „Bewährungstitel” ausgeteilt, sondern als göttlich feste Zusage im Indikativ des unwiderruflich Faktischen.

Der Beweis, dass kein Mensch sich durch Treue, Werke, Entschiedenheit (o. ä.) den Weg in den Himmel selbstständig bahnen oder erhalten kann, ist längst erbracht. Daher baut Gott Sein Heil auch nicht auf den Willen und die Tat eines sündigen oder „bekehrten” Menschen, sondern auf den Willen, die Tat und das Sterben und Auferstehen Jesu Christi, Seines Sohnes, auf: »Aus ihm aber seid ihr in Christus Jesus, der uns geworden ist Weisheit von Gott und Gerechtigkeit und Heiligkeit und Erlösung; damit, wie geschrieben steht: „Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn.”« (1. Korinther 1,30-31).

Fünftens: Es wäre ein Anfängerfehler, davon auszugehen, dass jede Art des Glaubens (als Tugend verstanden) rettend sei, dass es keine kategorisch unterschiedlichen Glaubensarten gäbe. Auch Dämonen glauben (Jakobus 2,19) –und zwar beständig–, aber sie waren und sind nie gerettet. Menschen glauben, solange sie spektakuläre Wunder sehen, die ihnen nützen (Brotglaube, Zeichenglaube). Weiterhin ist biblisch belegt, vorausgesagt und evident, dass Menschen biblische Glaubensinhalte mit falschen Inhalten und Lehren vertauschen (z. B. dem religiösen Asketismus, 1. Timotheus 4,1–3). Der rettende Glaube hingegen (manchmal als echter oder lebendiger Glauben bezeichnet) rettet, und zwar 100 Prozent sicher. Der Apostel Johannes lehrt unmissverständlich: Wer „den Glauben aufgibt” und die Gemeinde dauerhaft verlässt, fällt nicht vom sicheren Heil ab, verliert nicht das ewige Leben (usw.), sondern war nie gerettet, war nie „von uns” (1. Johannes 2,19).

Die Autoren gehen von einem in der Schrift nie vorkommenden, konstruierten Fall aus und bauen davon ausgehend Schlussfolgerungen auf. Wenn aber Prämissen falsch sind, werden die Schlussfolgerungen notwendigerweise auch falsch. Die Autoren verletzen das Auslegungsprinzip, dass sog. „schwierige Stellen” stets anhand klarer Stellen (s. z. T. o.) zu beleuchten sind. Durch Missverständnisse über die Treue und Macht Gottes und dem Werk Jesu besteht die Gefahr, dass sie Gott klein machen und zu einem ohnmächtig vor dem autonomen Menschen stehenden Retter degradieren. Die Ermahnungen und Drohungen Gottes sind trotzdem ernst zu nehmen, da die Heiligung das Mitwirken des Glaubenden einbezieht (Philipper 2,12–13). Für die Schar der nichtglaubenden Bekenner und der Mitläufer (vgl. Hebräer 6: »diejenigen« versus »euch, Geliebte«) haben alle mahnenden Stellen eine unsagbar wichtige Funktion: aufzurütteln, zu prüfen, ob man wirklich im Glauben steht (wie Paulus den Korinthern schreibt; 2. Korinther 13,5).

Fazit: Wer durch die Brille des Jettel-Jantzenschen Buches und damit durch die Brille der mennonitischen Sonderlehren auf die Lehre des Wortes Gottes über das Heil Gottes schaut, bekommt leider eine verzerrte und verfinsterte Sicht auf Gottes strahlende Größe und Herrlichkeit im Rettungswerk. Hier offenbart sich letztlich das Unheil schräger Theologie und „heiliger Lehrtraditionen”. Eine angemessene biblische Widerlegung der falschen und der lückenhaft einseitigen Aussagen der Autoren würde wieder ein Buch noch größeren Umfangs fordern. Dann lese man besser gleich ein gutes, biblisch richtiges Werk über die Heilslehre der Schrift und lasse die Sonne und das Licht der Wahrheit in die Seele und den Verstand leuchten. Denn diesseits der Ewigkeit sind wir alle noch Unvollkommene und Lernende und Erkennende. Das Sonnenlicht des Wortes der Wahrheit ist in diesem Wachstumsprozess hilfreicher als die Dunkelheit menschlicher Sonderlehren.

»Die Vorschriften des HERRN sind richtig und erfreuen das Herz; das Gebot des HERRN ist lauter und erleuchtet die Augen.« (Psalm 19,9)

Dünnes Brett: Streitenberger gegen Strohmänner (Rezension)

Peter Streitenberger
Die fünf Punkte des Calvinismus aus biblischer Perspektive
VTR, 2012, Pb., 67 Seiten | ISBN: 978-3941750425

Der Herausgeber, der Nürnberger Verlag für Theologie und Religionswissenschaft (VTR) veröffentlichte 2012 dieses 67-seitige Büchlein Streitenbergers in der Reihe „Zur Diskussion gestellt”. Beworben wird es hingegen nicht als Diskussionsbeitrag, sondern als Buch, das den Leser von der Bibel her überzeugen will: »Die vorliegende Abhandlung befasst sich mit dem unter Christen durchaus umstrittenen Thema der Erwählungslehre, insbesondere mit den so genannten fünf Punkten des Calvinismus und versucht, den interessierten Leser zu einer eigenen, von der Bibel her begründeten Überzeugung zu verhelfen.« (Buchrückseite).

Das Vorwort wurde von Franz Graf-Stuhlhofer, einem Historiker aus Wien, verfasst. Stuhlhofer studierte in Wien Geschichte und Naturwissenschaften und promovierte 1980 dort zum Dr. phil. mit einer Untersuchung zu Astronomie und Humanismus nach 1500. Er versucht in seinem über 6-seitigen Vorwort Gründe zu finden, warum Christen in manchen Fragen des Heils unterschiedliche Antworten vertreten. Überdies deutet er auch eigene Positionen an, die meist dem arminianischen Theologiesystem entsprechen (z. B. anonym-kollektive Erwählung) und daher gut zu der Position des Autors passen. Stuhlhofer karikiert abschließend in herabwürdigender Weise Gottes Heilswirken zusammenfassend so: »Alle jene Menschen, die sich von Gott ein JA abringen lassen, gehören zu diesem Überrest – damals wie heute.« (S. 11).

Der Autor, Peter Streitenberger (*1979), ist Diplom-Sozialpädagoge (FH). Er hat im Zweitstudium Germanistik und Philosophie studiert. Dieses kleine Buch gründet sich auf die Magisterarbeit des Verfassers, die 2010 von der Universität Eichstätt-Ingolstadt angenommen wurde. Er „recycelte” und verkürzte dabei eine längere Ausarbeitung, die schon etliche Jahre vorher in PDF-Form oder als E-Book im Internet herumgeisterte und 2007 im Christlichen Mediendienst Hünfeld (CMD) von Wilfried Plock unter dem Titel Die Fünf [sic!] Punkte des Calvinismus – Eine Antwort– 2007 herausgebracht wurde (159 Seiten, ISBN 978-3-939833-08-6; Rezension hier). Ein dort ca. 60-seitiger bibelorientierter Abschnitt zu „Umkämpfte Schriftstellen“ fehlt indessen in dem hier besprochenen, wesentlich kürzeren Werk; umso mehr befremdet der Titel dieser Magisterarbeit. Streitenberger ist auch wegen seiner anti-calvinistischen Beiträge (und deren Stil) auf der Webseite bibelkreis.ch bekannt geworden.

Zum Inhalt: Die Heilige Schrift stellt das Heilsangebot Gottes an uns Menschen in Jesus Christus überzeugend, klar und einladend vor. Streitenberger bezieht in dem Spannungsfeld zwischen der Souveränität Gottes und der Verantwortung des Menschen in der Frage der Heilsaneignung Stellung. Er geht dieser Frage indes nicht „evangelikal” nur aufgrund der Offenbarung Gottes –der Heiligen Schrift– nach (wie es der Titel vermuten lässt), sondern liefert seine persönliche Meinung, gezielt auf einen einige Jahrhunderte alten Lehrstreit zwischen sog. „Calvinisten” und „Arminianern”. Er nimmt dabei im Wesentlichen gegen die calvinistische (und hyper-calvinistische) Sicht Partei und greift „Die Fünf Punkte” eines größeren Kirchenkonzils gegen einige Protestler („Remonstranten”) in den Niederlanden an. Das ist an und für sich schon nicht sehr originell; viele haben dazu Lesbareres, Systematischeres, Biblischeres und Überzeugenderes geschrieben. Zudem besteht „der Calvinismus” nicht und bestand niemals aus nur und genau diesen fünf Punkten. Diesen historischen und dogmengeschichtlichen Irrtum sollten Vorwortschreiber und Herausgeber VTR eigentlich erkannt haben. Dem Versprechen im Titel „aus biblischer Perspektive” wird der Autor mangels sorgfältiger exegetischer Arbeit am Text der Heiligen Schrift leider nicht gerecht. Warum solches „Noch-einmal-bekannte-Argumente-aufzählen”, verkürzt entnommen aus schon längst Veröffentlichtem, die Anerkennung einer Magisterarbeit bekommen konnte, entzieht sich meiner Kenntnis.

Zum Stil: Eine Magisterarbeit muss auch in einem (zugegeben) kontroversen Thema beide Seiten sachlich richtig zitieren und ausgewogen darstellen. Sie entspricht heute einer Master-Arbeit, soll also gehobenen Ansprüchen an Form und Inhalt genügen. Wissenschaftliche Sachlichkeit und Korrektheit ist akademisches Muss. Wohltuend ist, dass Streitenberger seine öffentlichen Formulierungen, wie »das calvinistische Übergehungs- und Vergewaltigungsevangelium«, »die Sekte der Calvinisten« u. ä., in diesem Büchlein nicht wiederholt. Einige Rezensenten haben öffentlich kritisch angemerkt, dass Streitenberger unversöhnlich, reißerisch und unsachlich gegen Calvin und die reformatorische Heilslehre schreibt. Der Stil der Jesuiten der Gegenreformation findet heute wieder ein Echo in den Romanisierungsbestrebungen innerhalb des (ehemaligen ) Protestantismus. Das Werk des Autors Streitenberger hätte mit Wahl eines sachlicheren Stils und gründlicherer Erarbeitung sicher leicht Respekt gewinnen können.

Calvinismus”: Damit wird dehnbar alles das bezeichnet, was nicht in das Theologiesystem des „Arminianismus” passt und/oder in dieser Theologie verachtet wird. Leider liefert die Lektüre des Büchleins von Streitenberger keine Klärungen, die für die Diskussion fruchtbar oder für die Interessierten und die Gemeinde Gottes sachlich oder geistlich hilfreich wären. Die Bibel hat offenbar für uns auch einige unbequeme Aussagen, „links” wie „rechts”. Sie klärt auch nicht alle Spannungen, die sich dem menschlichen Intellekt und der menschlichen Erwartungshaltung angesichts des göttlichen Wesens, Entscheidens und Handelns stellen. Erschreckend ist der Mangel, Gott Gott sein zu lassen, IHN anstelle dessen lieber in die Schublade (Super-) Mensch eigener Vorstellungen zu pressen: „er” muss so klein sein, dass er in unsere Vorstellungen vom lieben Gott passt und so uns gefällt. Psalm 135,6 sagt: »Alles, was dem HERRN gefällt, tut er in den Himmeln und auf der Erde…« (ELBCSV). Ergo: Sein Wille und Sein Wohlgefallen (inkl. Vorsehung) sind der Urgrund alles Seienden und Geschehenden.

FAZIT: Ein Sozialpädagoge wünscht sich vielleicht lieber einen „menschlicheren” Gott, einen Partner auf Augenhöhe, oder –wie Stuhlhofer– einen Sanitäter, der fast verzweifelt um die Aufmerksamkeit und das zustimmende Kopfnicken des Sünders ringt, weil Ihm sonst etwas fehle. Aber Gott ist schon so, wie ER ist, absolut perfekt. Schon immer. Auch für Sein im Wort und in Christus geoffenbartes Heilshandeln gilt unumschränkt: »Denn von ihm und durch ihn und für ihn sind alle Dinge; ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen.« (Römer 11,36 ELBCSV). Wer das verstanden hat, hat angefangen zu verstehen, was es bedeutet, „durch die Gnade”, also als reine Gottesgabe, errettet zu sein (vgl. Epheser 2,8–9). Gott ist –nach der Heiligen Schrift– dann Gott und nicht Ab-Gott, wenn gilt: Soli Deo Gloria.

Es gibt schon lange viel Besseres, und –leider– auch noch viel Schlechteres, als diese Magisterarbeit von Streitenberger. Das Büchlein ist die Mühe des Lesens nicht wert.

Wir müssen den Zirkel bei der Liebe Gottes einstechen! – Wirklich?

Ein Redner und Autor der evangelikalen Szene in Deutschland behauptete in einer Diskussion, dass die Calvinisten“ ihren Zirkel fälschlicher Weise immer bei der Souveränität Gottes einstechen würden. Dies sei das Kernproblem der „Calvinisten“ und mache deren Theologie falsch. Richtig sei hingegen, dass man den Zirkel bei der Liebe Gottes einsteche – und dann erst wäre die Theologie (und insbesondere die Heilslehre) richtig.

Bevor wir uns in eine Diskussion Liebe“ versus Souveränität“ Gottes hineinziehen lassen (welche der bibellesende Gläubige überhaupt nicht verstehen kann, da er hier keinen Gegensatz, sondern vollkommene Harmonie sieht), sollten wir einen Schritt zurücktreten und uns ernsthaft einmal fragen: Dürfen wir überhaupt den Zirkel irgendwo, das heißt, in einem Einzelaspekt, in das Wesen Gottes stechen und die so gewählte Wesensart (Vollkommenheit) Gottes zum Zentralen oder Wichtigsten erklären? Ist uns solches eklektisches Denken, Priorisieren und Wählen (samt dem damit einhergehenden Ab-Wählen!) überhaupt erlaubt? Tiefer gefragt: Zeigt sich hier nicht einmal mehr, dass der gefallene Mensch zwar unheilbar religiös“ (Nikolai Berdjajew, 1874-1948), aber zugleich ein unermüdlicher Fabrikant von Götzen“ (Johannes Calvin) ist, von selbstgestalteten Gottesbildern, die der menschlichen Phantasie, den menschlichen Wünschen, Gefühlen und den menschlichen Vorlieben entsprechen? Menschliche Vorstellungen des Guten werden übersteigert an den Himmel geworfen (Ludwig A. Feuerbach: »Gott ist der Spiegel des Menschen.«). Das Ergebnis davon wird aber stets kategorisch (und nicht nur graduell) die in der Heiligen Schrift selbstgeoffenbarte Realität des Ewigen, Der da ist, verfehlen. Das ist tragisch.

Aber noch schlimmer ist: Das Ergebnis wird zum Gegenentwurf. Wenn ER sich uns nicht offenbart, wissen wir nicht, wer ER ist. Nun aber hat ER sich uns geoffenbart in der Summe Seines Wortes, der Heiligen Schrift. Dieser Offenbarung Gottes im Wort darf man weder mit Zirkel noch mit Schere zu Leibe rücken, sonst ist das Ergebnis ein Ab-Gott, ein Götze, ein Idol, ein Nichts (Psalm 96,5). Zirkelstecher“ produzieren unausweichlich Nichtse.

D. A. Carson schrieb allen Zirkelstechern“ folgende Warnung ins Stammbuch:

…um Zerrbilder zu vermeiden, sollten wir über die Liebe Gottes nur in Verbindung mit der Betrachtung aller anderen Vollkommenheiten Gottes nachdenken. Andernfalls besteht die Tendenz, ein Attribut Gottes gegen andere Attribute Gottes auszuspielen, eine oder mehrere Eigenschaften Gottes zu entschärfen, indem man sich auf die Überlegenheit einer anderen beruft. Wenn wir uns an Gottes Liebe erfreuen, dann sollten wir uns gleichzeitig nicht weniger an Gottes Heiligkeit, an Gottes Souveränität, an Gottes Allwissenheit (usw.) erfreuen, und wir werden sicher sein, dass alle Vollkommenheiten Gottes zusammenwirken.

D. A. Carson, Love in Hard Places (Crossway, 2002), S. 17 [1]

Carson liefert auch noch eine zweite, sehr notwendige Warnung vor selbstgebastelten Vorstellungen und Klischees über die Liebe Gottes, von denen es nicht wenige gibt, zum Beispiel Gottes Liebe kennt keine Bedingungen“. Er zeigt, dass diese Aussage in ihrer –angesichts des biblischen Zeugnisses unzulässigen– Undiffenziertheit falsch ist:

Gottes Liebe ist bedingungslos.“ Ist das wahr? Zunächst einmal trifft dies offensichtlich auf einige der Weisen zu, in denen die Bibel von der Liebe Gottes spricht. Gottes versorgende Liebe [Vorsehungsliebe] zum Beispiel ist bedingungslos, denn dieses Liebe wird über Gerechte und Ungerechte gleichermaßen ausgegossen. Gottes erwählende Liebe ist bedingungslos, denn nichts kann uns von ihr trennen (Römer 8,31-39). Aber die Liebe Gottes, von der im Dekalog [Zehn Gebote] und in Johannes 15 und Judas 21 die Rede ist (d. h. die fünfte in der obigen Liste), ist ausdrücklich an Bedingungen geknüpft. Auch hier sagen Christen oft: „Gott liebt jeden Menschen auf die gleiche Weise und in gleichem Maße.“ Stimmt das denn? Bei den Bibelstellen, in denen von Gottes Liebe zu den Gerechten und den Ungerechten die Rede ist, scheint es sicherlich wahr zu sein. In den Bibelstellen, die von Gottes auserwählter Liebe sprechen, scheint es sicher falsch zu sein. Und in den Bibelstellen, die davon sprechen, dass Gottes Liebe vom Gehorsam abhängt, wird seine Liebe zu verschiedenen Menschen je nach deren Gehorsam unterschiedlich sein.“

D. A. Carson, Love in Hard Places (Crossway, 2002), S. 17 [2]

An dieser Stelle können dem an Wahrheit und Erkenntnis interessierten Christen (2. Korinther 8,7; Epheser 3,19; 2. Petrus 3,18; Hebräer 5,14) die beiden Leseempfehlungen zu D. A. Carson unten zur Lektüre mit geöffneter und beständig konsultierter Bibel wärmstens empfohlen werden. Offensichtlich betreten wir (auch) hier das Gelände der geistlichen Auseinandersetzung mit den Mächten der(/s) Wahrheitsverdreher(s), für den wir unbedingt alle Unterstützung „von oben“ nötig haben. Zudem ist die Liebe Gottes etwas, was erfassbar und erkennbar und gleichzeitig unsere Erkenntnis übersteigend ist. Daher müssen wir beständig wie Paulus um Wachstum in der Erkenntnis der Liebe Gottes flehen:

Deshalb beuge ich meine Knie vor dem Vater unseres Herrn Jesus Christus, von dem jede Familie in den Himmeln und auf der Erde benannt wird, damit er euch gebe, nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit mit Kraft gestärkt zu werden durch seinen Geist an dem inneren Menschen; dass der Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne, indem ihr in Liebe gewurzelt und gegründet seid, damit ihr völlig zu erfassen vermögt mit allen Heiligen, welches die Breite und Länge und Höhe und Tiefe sei, und zu erkennen die die Erkenntnis übersteigende Liebe des Christus, damit ihr erfüllt sein mögt zu der ganzen Fülle Gottes.

Epheser 3,14–19 (ELB2003)

Endnoten

[1] Original: »…to avoid distortion we should reflect on the love of God only in conjunction with reflection on all of God’s other perfections. Otherwise there will be a tendency to pit one attribute of God against other attributes of God, to domesticate one or more of God’s characteristics by appealing to the supremacy of another. If we rejoice in God’s love, we shall rejoice no less in God’s holiness, in God’s sovereignty, in God’s omniscience, and so forth, and we shall be certain that all of God’s perfections work together.«

[2] Original: »God’s love is unconditional. Is this true? Transparently, it is true of some of the ways the Bible speaks of the love of God. For instance, God’s providential love is unconditional, for it is poured out on the just and the unjust alike. God’s elective love is unconditional, for absolutely nothing can separate us from it (Rom. 8:31-39). But the love of God spoken of in the Decalogue and in John 15 and Jude 21 (i.e., the fifth in the list above) is explicitly conditional. Again, Christians often say, God loves everyone exactly the same way and to the same extent.” Is this true? In passages that speak of God’s love for the just and the unjust, it certainly appears to be true. In passages that speak of God’s elective love, it certainly appears to be false. And in passages that speak of God’s love being conditioned by obedience, then his love for different individuals will vary with their obedience.«

Leseempfehlungen

  • D. A. Carson, Love in Hard Places. Wheaton, IL: Crossway, 2002.
  • D. A. Carson, The Difficult Doctrine of The Love of God. Wheaton, IL: Crossway, 2000.
  • J. MacArthur, R. Mayhue, Hrsg., Biblische Lehre: Eine systematische Zusammenfassung biblischer Wahrheit, (Berlin: EBTC, 2020), S. 217–254.
  • A. Tozer, Das Wesen Gottes: Eigenschaften Gottes und ihre Bedeutung für das Glaubensleben. 3. Aufl., Berlin: EBTC, 2019. [Zitat: „Solange unsere Vorstellungen von Gott falsch oder unangemessen sind, ist es unmöglich, unser Verhalten und unsere innere Einstellung gesund zu erhalten. Wenn unser Leben wieder geistliche Kraft bekommen soll, müssen wir damit beginnen, so über Gott zu denken, wie er in Wirklichkeit ist.“]