John N. Darby über die „Arminianer“ (Deutsch)

Der anglo-irische Bibellehrer John N. Darby (1800–1882), einer der einflussreichsten Theologen der frühen „Brüderbewegung“ (sog. „Plymouth Brethren“), hatte in seiner Zeit wiederholt mit Vertretern der Denkschule der „Arminianer“ zu tun. Vor allem in der uralten Diskussion über den „freien Willen“ und der Zu- und Aneignung des ewigen Heils gab es zahlreiche Auseinandersetzungen, die größtenteils in seinen Collected Writings und seinen Letters erhalten geblieben sind.

Am 9. Mai 1879 schrieb Darby aus Pau einen Brief in italienischer Sprache an G. Biava, der einen Artikel über den „freien Willen“ verfasst und wohl Darby zur Beurteilung vorgelegt hatte. Darbys Antwort ist in den Letters in englischer Sprache erhalten geblieben. Hier einige Auszüge in eigener Übersetzung ins Deutsche (englisches Original hier):

»LIEBER BRUDER, – Der Artikel über den freien Willen hat mir sehr gefallen; ich finde nicht, dass es viel hinzuzufügen gibt. Alles hängt von der Tiefe der Überzeugung ab, die wir von unserem sündigen Zustand haben; und unsere Sicherheit und Freude hängen ebenfalls davon ab. Verlorensein oder Gerettetsein sind jene beiden Gegensätze, die unserer Stellung (Zustand) in Christus und unserer Stellung (Zustand) im alten Menschen entsprechen. Aber in der Argumentation der Arminianer gibt es einen völlig falschen Grundsatz, nämlich dass unsere Verantwortung von unserer Macht abhänge. Wenn ich jemandem 100.000 Pfund geliehen habe und er alles verschwendet hat, kann er das natürlich nicht zurückzahlen, aber ist seine Verantwortung deswegen beendet? Sicherlich nicht. Die Verantwortung hängt vom Recht desjenigen ab, der ihm das Geld geliehen hat, nicht von der Fähigkeit desjenigen, der das Geld zu Unrecht verschwendet hat. …

Alle Menschen haben seit dem Sündenfall ein Gewissen, das Wissen um Gut und Böse; sie wissen zu unterscheiden, aber das sagt nichts über den Willen aus. Da also das Gesetz Gehorsam verlangt und das Fleisch nicht unterworfen werden kann, ist es tatsächlich unmöglich, das Gesetz anzunehmen – nicht weil Gott ihn daran hindert, wie ich bereits gesagt habe, sondern weil der Mensch es nicht will. Außerdem verbietet das Gesetz die Begierde, aber der gefallene Mensch hat Begierde in seinem Fleisch [sündigen Wesen]; und auf diese Weise erkannte der Apostel die Sünde. Der Mensch muss sein sündiges Wesen verlieren, bevor er bereit ist, dem Gesetz zu gehorchen: Es ist daher notwendig, von neuem geboren zu werden. Nun kann der Mensch sich selbst nicht göttliches und ewiges Leben geben. Warum dann das Gesetz? Damit die Übertretung überhand nehme. Durch das Gesetz wird die Sünde „überaus sündig“; „das Gesetz erwirkt“ den gerechten „Zorn“ Gottes gegen uns, es erwirkt nicht die Furcht Gottes in uns. Das Gesetz gibt kein neues Leben. Alles, was wir haben, ist Feindschaft gegen Gott. Der Mensch im Fleisch kann das Gesetz nicht in sein Herz aufnehmen. …

Kann das Fleisch [unser sündiges Wesen] Christus empfangen – seine Freude am Sohn Gottes finden? Dann wäre es nicht mehr das Fleisch, es hätte den Geist des Vaters selbst. Wenn es im Menschen etwas anderes als Fleisch gibt, dann ist jener Mensch bereits aus Gott geboren, denn was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch. Wenn das Fleisch seine Freude an Christus finden könnte, besäße das Fleisch das Erhabenste, was es auf Erden und im Himmel gibt: es fände seine Freude dort, wo auch der Vater seine Freude findet. Dann wäre es nicht notwendig, aus Gott geboren zu sein, denn das Erhabenste, was jemand jetzt durch Gnade als Christ besitzt, besaß dieser bereits vor dem Empfang des Lebens, als er Christus empfing. Die Gewissheit der Erlösung wäre aber gleichzeitig dahin: Wenn die Erlösung die Frucht meines eigenen Willens wäre, hängte sie von meinem Willen ab. Wenn sie so leicht hervorgebracht werden könnte, könnte man nicht sagen: „Weil ich lebe, werdet auch ihr leben.“ …

Es heißt, der Glaube sei nur die Hand, die die Erlösung empfängt, aber was veranlasst uns, die Hand auszustrecken? Es ist die Gnade, die in uns wirkt.«

Quelle: John N. Darby, Letters, Vol. 2 (1868–1879), Nachdr., Kingston-on-Thames: Stow Hill Bible and Tract Depot, o. J., S. 501–503. Fett- und Farbdruck hinzugefügt. 
Textquelle (englisch) online auch hier: https://www.stempublishing.com/authors/darby/letters/52346I.html

Die pelagische Gefangenschaft der Kirche (R.C. Sproul)

Kurz nach Beginn der Reformation, in den ersten Jahren nachdem Martin Luther die 95 Thesen an die Kirchentür in Wittenberg angeschlagen hatte, veröffentlichte er einige kurze Broschüren zu verschiedenen Themen. Eine der provokantesten trug den Titel »Die babylonische Gefangenschaft der Kirche«. In diesem Buch blickte Luther auf jene Zeit in der Geschichte des Alten Testaments zurück, als Jerusalem von den einfallenden babylonischen Armeen zerstört und die Elite des Volkes in die Gefangenschaft verschleppt wurde. Luther übertrug im 16. Jahrhundert das Bild der historischen babylonischen Gefangenschaft auf seine Zeit und sprach von der neuen babylonischen Gefangenschaft der Kirche. Er bezeichnete Rom (die Römisch-katholische Kirche) als das moderne Babylon, das das Evangelium als Geisel hielt, indem es das biblische Verständnis der Rechtfertigung ablehnte. Man kann sich vorstellen, wie heftig die Kontroverse war und wie polemisch dieser Titel in dieser Zeit war, wenn man sagt, dass die Kirche nicht einfach nur geirrt oder vom Weg abgekommen sei, sondern gefallen sei – dass sie jetzt tatsächlich babylonisch sei, dass sie jetzt in heidnischer Gefangenschaft sei.

Ich habe mich oft gefragt, was Luther wohl sagen würde, wenn er heute leben und in unsere Kultur kommen würde und sich nicht die liberale Kirchengemeinschaften, sondern die evangelikalen Kirchen ansehen würde. Natürlich kann ich diese Frage nicht mit endgültiger Autorität beantworten, aber ich vermute Folgendes: Wenn Martin Luther heute leben und seinen Stift zur Hand nehmen würde, um zu schreiben, würde das Buch, das er in unserer Zeit schreiben würde, den Titel Die pelagische Gefangenschaft der evangelikalen Kirche tragen. Luther sah, dass die Rechtfertigungslehre durch ein viel tieferes theologisches Problem angegriffen wurde. Er schreibt ausführlich darüber in Von der Freiheit eines Christenmenschen. Wenn wir uns die Reformation ansehen und die Soli der Reformation betrachten – sola scriptura • sola fide • sola gratia • solus Christus • soli Deo gloria – war Luther davon überzeugt, dass das eigentliche Thema der Reformation die Frage der Gnade war; und dass der Lehre von sola fide, der Rechtfertigung durch den Glauben allein, die vorherige Verpflichtung zu sola gratia, dem Konzept der Rechtfertigung durch Gnade allein, zugrunde lag.

In der Fleming-Revell-Ausgabe von »The Bondage of the Will« [orig.: De Servo Arbitrio; dtsch.: Vom unfreien Willen, oder: Über den geknechteten Willen, 1525] fügten die Übersetzer J. I. Packer und O. R. Johnston eine etwas provokative historische und theologische Einführung in das Buch selbst ein. So lautet der Schluss dieser Einführung:

Über diese Dinge müssen Protestanten heute nachdenken. Mit welchem Recht können wir uns Kinder der Reformation nennen? Vieles im modernen Protestantismus würde von den Reformatoren der ersten Stunde weder anerkannt noch gutgeheißen werden. Das Buch Vom unfreien Willen zeigt uns ziemlich genau, was sie über die Erlösung der verlorenen Menschheit glaubten. 

Im Lichte dessen sind wir gezwungen zu fragen, ob das protestantische Christentum zwischen Luthers Zeit und unserer Zeit nicht auf tragische Weise sein Geburtsrecht verkauft hat. Ist der Protestantismus heute nicht eher erasmisch als lutherisch geworden? Versuchen wir nicht zu oft, Lehrunterschiede zu minimieren und zu beschönigen, um des Friedens zwischen den Parteien willen? Sind wir unschuldig, was die Gleichgültigkeit gegenüber der Lehre, die Luther Erasmus vorwarf, angeht? Glauben wir immer noch, dass die biblische Lehre wichtig ist? [1]

Historisch gesehen ist es eine einfache Tatsache, dass Luther, Calvin, Zwingli und alle führenden protestantischen Theologen der ersten Epoche der Reformation hier genau auf dem gleichen Standpunkt standen. In anderen Punkten hatten sie ihre Differenzen. Sie waren sich jedoch völlig einig, was die Hilflosigkeit des Menschen in der Sünde und die Souveränität Gottes in der Gnade betraf. Für jeden von ihnen waren diese Lehren das Herzblut des christlichen Glaubens. Ein moderner Herausgeber von Luthers Werken sagt dazu:

Wer dieses Buch aus der Hand legt, ohne erkannt zu haben, dass die evangelische Theologie mit der Lehre von der Unfreiheit des Willens steht oder fällt, hat es vergeblich gelesen. Die Lehre von der freien Rechtfertigung allein durch den Glauben, die während der Reformationszeit zum Zentrum so vieler Kontroversen wurde, wird oft als das Herzstück der Theologie der Reformatoren angesehen, aber das ist nicht richtig. Die Wahrheit ist, dass ihr Denken sich wirklich auf die Behauptung des Paulus konzentrierte, die von Augustinus und anderen aufgegriffen wurde, dass die gesamte Erlösung des Sünders nur durch freie und souveräne Gnade geschieht, und dass die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben für sie wichtig war, weil sie das Prinzip der souveränen Gnade sicherte. Diese Souveränität der Gnade fand in ihrem Denken auf einer noch tieferen Ebene in der Lehre von der monergistischen [allein von Gott gewirkten] Wiedergeburt Ausdruck. [2]

Das heißt, dass der Glaube, der Christus zur Rechtfertigung annimmt, selbst das freie Geschenk eines souveränen Gottes ist. Das Prinzip des sola fide wird erst dann richtig verstanden, wenn es als im umfassenderen Prinzip des sola gratia verankert betrachtet wird. Was ist die Quelle des Glaubens? Ist es das von Gott gegebene Mittel, durch das die von Gott gegebene Rechtfertigung empfangen wird, oder ist es eine Bedingung der Rechtfertigung, die der Mensch erfüllen muss? Hören Sie den Unterschied? Ich möchte es in einfachen Worten ausdrücken. Ich hörte kürzlich einen Evangelisten sagen: »Wenn Gott tausend Schritte unternimmt, um dich für deine Erlösung zu erreichen, musst du letztendlich immer noch den entscheidenden Schritt tun, um gerettet zu werden.« Denken Sie an die Aussage von Amerikas beliebtestem und führendem Evangelisten des 20. Jahrhunderts, Billy Graham, der mit großer Leidenschaft sagte: »Gott erledigt neunundneunzig Prozent, aber du musst immer noch das letzte Prozent tun.«

Was ist Pelagianismus?

Kommen wir nun kurz auf meinen Titel »Die pelagianische Gefangenschaft der Kirche« zurück. Worüber sprechen wir? Pelagius war ein Mönch, der im fünften Jahrhundert in Großbritannien lebte (um 350–420). Er war ein Zeitgenosse des größten Theologen des ersten Jahrtausends der Kirchengeschichte, wenn nicht aller Zeiten, Aurelius Augustinus (354–430), Bischof von Hippo in Nordafrika. Wir haben vom heiligen Augustinus gehört, von seinen großen theologischen Werken, von seinem »Gottesstaat« (De civitate Dei contra Paganos), von seinen »Bekenntnissen« (Confessiones) und so weiter, die nach wie vor zu den Klassikern der christlichen Literatur gehören.

Augustinus war nicht nur ein herausragender Theologe und ein erstaunlicher Intellektueller, sondern auch ein Mann von tiefer Spiritualität und Gebet. In einem seiner berühmten Gebete machte Augustinus eine scheinbar harmlose und unschuldige Aussage in dem Gebet zu Gott, in dem er sagte: »O Gott, befehle, was du willst, und gewähre, was du befiehlst.« Nun, würde Sie es in Rage versetzen, wenn Sie ein solches Gebet hörten? Jedenfalls versetzte es Pelagius, diesen britischen Mönch, ordentlich in Aufruhr. Er protestierte lautstark und appellierte sogar an Rom, dieses grässliche Gebet aus der Feder des Augustinus zu verbannen. Was war der Grund seiner Empörtheit? Er sagte: »Willst du damit sagen, Augustinus, dass Gott das angeborene Recht hat, seinen Geschöpfen alles zu befehlen, was er will? Niemand wird das bestreiten. Gott hat als Schöpfer von Himmel und Erde von Natur aus das Recht, seinen Geschöpfen Verpflichtungen aufzuerlegen und zu sagen: ‚Du sollst dies tun und du sollst das nicht tun.‘ ‚Befiehl, was du willst‘ – das ist ein vollkommen legitimes Gebet.«

Es ist der zweite Teil des Gebets, den Pelagius verabscheute, als Augustinus sagte: »und gewähre, was du befiehlst.« Er sagte: »Wovon redest du? Wenn Gott gerecht ist, wenn Gott rechtschaffen ist und Gott heilig ist und wenn Gott dem Geschöpf befiehlt, etwas zu tun, dann muss dieses Geschöpf sicherlich die Kraft in sich haben, die moralische Fähigkeit in sich haben, es auszuführen, sonst würde Gott es gar nicht erst verlangen.« Klingt logisch, oder? Pelagius wollte damit sagen, dass moralische Verantwortung immer und überall moralische Fähigkeit oder einfach moralische Befähigung impliziert. Warum sollten wir also beten müssen: »Gott, gib mir die Gabe, das zu tun, was du mir befiehlst«? Pelagius sah in dieser Aussage einen Schatten, der auf die Integrität Gottes selbst geworfen wurde, der die Menschen für etwas verantwortlich machen würde, das sie nicht tun können.

In der anschließenden Debatte machte Augustinus deutlich, dass Gott Adam und Eva bei der Schöpfung nichts befohlen hatte, was sie nicht hätten ausführen können. Aber als die Sünde Einzug hielt und die Menschheit fiel, wurde Gottes Gesetz nicht aufgehoben, noch passte Gott seine heiligen Anforderungen nach unten an, um dem geschwächten, gefallenen Zustand seiner Schöpfung Rechnung zu tragen. Gott bestrafte seine Schöpfung, indem er das Urteil der Erbsünde über sie verhängte, sodass jeder, der nach Adam und Eva in diese Welt geboren wurde, bereits tot in Sünde geboren wurde. Die Erbsünde ist nicht die erste Sünder, sie ist das Ergebnis der ersten Sünde. Sie bezieht sich auf unsere angeborene Verderbtheit, durch die wir in Sünde geboren werden: in Sünde haben uns unsere Mütter empfangen. Wir werden nicht in einem neutralen Zustand der Unschuld geboren, sondern in einem sündigen, gefallenen Zustand. Praktisch jede Kirche im historischen Ökumenischen Rat der Kirchen artikulierte zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Geschichte und in ihrer Bekenntnisentwicklung eine Lehre von der Erbsünde. Denn diese geht so klar aus der biblischen Offenbarung hervor, dass es einer Ablehnung der biblischen Sichtweise vom Menschen bedürfte, um die Erbsünde gänzlich zu leugnen.

Genau darum ging es im Streit zwischen Augustinus und Pelagius im fünften Jahrhundert. Pelagius sagte, dass es so etwas wie Erbsünde nicht gebe. Adams Sünde beträfe Adam, und nur Adam. Es gebe keine Übertragung oder Weitergabe von Schuld, Sündenfall oder Verderbtheit an die Nachkommen Adams und Evas. Jeder Mensch werde in demselben Zustand der Unschuld geboren, in dem Adam erschaffen wurde. Pelagius sagte, dass es für einen Menschen durchaus möglich sei, ein Leben im Gehorsam gegenüber Gott, ein Leben in moralischer Vollkommenheit, zu führen, ohne irgendeine Hilfe von Jesus oder irgendeine Hilfe durch die Gnade Gottes dafür zu benötigen. Pelagius sagte damit, dass die Gnade – und hier liegt der entscheidende Unterschied – die Gerechtigkeit erleichtert.

Was bedeutet aber in diesem Zusammenhang »erleichtern«? Die Gnade hilft, macht es einfacher, macht es leichter. Aber man muss diese Gnade nicht haben, man kann auch ohne Gnade vollkommen sein. Pelagius erklärte weiter, dass es für manche Menschen nicht nur theoretisch möglich sei, ein vollkommenes Leben ohne jegliche Hilfe durch göttliche Gnade zu führen, sondern dass es tatsächlich Menschen gebe, die dies tun. Augustinus reagierte darauf mit einem: »Nein, nein, nein, nein … wir sind von Natur aus bis in die Tiefen und den Kern unseres Seins von der Sünde infiziert – so sehr, dass kein Mensch die moralische Kraft hat, sich der Gnade Gottes zuzuwenden.« Der menschliche Wille hat aufgrund der Erbsünde zwar immer noch die Macht zu wählen, ist aber seinen bösen Wünschen und Neigungen verfallen. Der Zustand der gefallenen Menschheit ist einer, den Augustinus als die Unfähigkeit, nicht zu sündigen, beschreiben würde. Einfach gefasst sagte Augustinus damit, dass der Mensch durch den Sündenfall die moralische Fähigkeit verloren habe, das zu tun, was Gott will, und dass er von seinen eigenen bösen Neigungen gefangen gehalten werde.

Im fünften Jahrhundert verurteilte die Kirche Pelagius als Ketzer. Der Pelagianismus wurde auf dem Konzil von Orange (529, ehemals Arausio genannt, in Südfrankreich) verurteilt und erneut auf dem Konzil von Florenz (1437–1447), dem Konzil von Karthago (418) und ironischerweise auch auf dem Konzil von Trient (1545–1563) im 16. Jahrhundert in den ersten drei Anathemas der Kanones der sechsten Sitzung. Die Kirche hat also den Pelagianismus durchweg in der gesamten Kirchengeschichte rundheraus und entschieden verurteilt – weil der Pelagianismus die Gefallenheit unserer Natur leugnet; er leugnet die Lehre von der Erbsünde.

Nun war das, was man als Semi-Pelagianismus bezeichnet, wie das Präfix „semi“ andeutet, eine Art Mittelweg zwischen dem voll ausgebildeten Augustinianismus und dem voll ausgebildeten Pelagianismus. Der Semi-Pelagianismus besagt Folgendes: Ja, es gab einen Sündenfall; ja, es gibt so etwas wie Erbsünde; ja, die grundlegende Natur des Menschen wurde durch diesen Zustand der Verderbtheit verändert und alle Teile unserer Menschlichkeit wurden durch den Sündenfall erheblich geschwächt, so sehr, dass ohne die Hilfe der göttlichen Gnade niemand erlöst werden kann, sodass die Gnade nicht nur hilfreich, sondern für die Erlösung absolut notwendig ist. Wir sind zwar so tief gesunken, dass wir ohne Gnade nicht gerettet werden können, aber wir sind nicht so tief gesunken, dass wir nicht die Fähigkeit hätten, die Gnade anzunehmen oder abzulehnen, wenn sie uns angeboten wird. Der Wille ist geschwächt, aber nicht versklavt. Im Kern unseres Wesens gibt es eine Insel der Rechtschaffenheit, die vom Sündenfall unberührt bleibt. Ausgehend von dieser kleinen Insel der Rechtschaffenheit, diesem kleinen Stückchen Güte, das in der Seele oder im Willen noch intakt ist, liegt der entscheidende Unterschied zwischen Himmel und Hölle. Es ist diese kleine Insel, die genutzt werden muss, wenn Gott seine tausend Schritte unternimmt, um uns zu erreichen, aber letztendlich ist es der eine Schritt, den wir tun, der darüber entscheidet, ob wir in den Himmel oder in die Hölle kommen – ob wir diese kleine Gerechtigkeit, die im Kern unseres Wesens liegt, ausüben oder nicht. Diese kleine Insel würde Augustinus nicht einmal als Atoll im Südpazifik erkennen. Er sagte, es sei eine Insel der Phantasie (wörtlich.: »mythische Insel«), vielmehr sei der Wille versklavt und der Mensch tot in seinen Sünden und Verfehlungen.

Ironischerweise verurteilte die Kirche den Semi-Pelagianismus genauso vehement, wie den ursprünglichen Pelagianismus. Doch als man im 16. Jahrhundert das katholische Verständnis dessen las, was bei der Erlösung geschieht, wies die Kirche im Grunde genommen das zurück, was Augustinus und auch Aquin gelehrt hatten. Die Kirche kam zu dem Schluss, dass es immer noch diese Freiheit gebe, dass etwas im menschlichen Willen noch intakt sei, und dass der Mensch mit der »vorauslaufenden« Gnade, die Gott ihm anbietet, kooperieren und ihr zustimmen müsse (und könne). Wenn wir diesen Willen ausüben, wenn wir mit den Kräften, die uns noch bleiben, kooperieren, werden wir gerettet. Und so kehrte die Kirche im 16. Jahrhundert zum Semi-Pelagianismus zurück.

Zur Zeit der Reformation waren sich alle Reformatoren in einem Punkt einig: dass der gefallene Mensch unfähig sei, sich den Dingen Gottes zuzuwenden; dass alle Menschen, um gerettet zu werden, völlig, nicht zu neunundneunzig Prozent, sondern zu hundert Prozent von der monergistischen Arbeit der Erneuerung abhängig seien, um zum Glauben zu gelangen, und dass der (rettende) Glaube selbst ein Geschenk Gottes sei. Es ist nicht so, dass uns die Erlösung angeboten wird und wir wiedergeboren werden, wenn wir uns für den Glauben entscheiden. Wir können vielmehr nicht einmal (rettend) glauben, bis Gott in seiner Gnade und Barmherzigkeit zuerst die Neigungen unserer Seelen durch sein souveränes Werk der Erneuerung verändert. Mit anderen Worten: Die Reformatoren waren sich alle einig, dass ein Mensch, der nicht wiedergeboren ist, das Reich Gottes nicht einmal sehen kann, geschweige denn in es eintreten kann (Johannes 3,3.5). Wie Jesus im sechsten Kapitel des Johannesevangeliums sagt: »Niemand kann zu mir kommen, wenn der Vater, der mich gesandt hat, ihn nicht zieht« (6,44). Die notwendige Bedingung für den Glauben und die Erlösung eines jeden Menschen ist seine Erneuerung durch »Geburt von oben«.

Evangelikale und Glaube

Der moderne Evangelikalismus lehrt fast einheitlich und allgemein, dass ein Mensch, um wiedergeboren zu werden, zuerst Glauben ausüben muss. Man muss sich dafür entscheiden, wiedergeboren zu werden. Ist es nicht das, was Sie hören? In einer Umfrage von George Barna[3] äußerten mehr als siebzig Prozent der »bekennenden evangelikalen Christen« in Amerika die Überzeugung, dass der Mensch im Grunde gut ist. Und mehr als achtzig Prozent vertraten die Ansicht, dass Gott denen hilft, die sich selbst helfen. Diese Positionen – oder lassen Sie es mich negativ ausdrücken – keine dieser Positionen ist semi-pelagianisch. Sie sind beide pelagianisch. Zu sagen, dass wir im Grunde gut sind, ist die pelagianische Ansicht. Ich würde davon ausgehen, dass in mindestens dreißig Prozent der Menschen, die diesen Artikel lesen, und wahrscheinlich mehr, wenn wir ihr Denken wirklich eingehend untersuchen, wir Herzen finden würden, die für den Pelagianismus schlagen. Wir sind davon überwältigt. Wir sind davon umgeben. Wir sind darin versunken. Wir hören es jeden Tag. Wir hören es jeden Tag in der säkularen Kultur. Und wir hören es nicht nur jeden Tag in der säkularen Kultur, sondern auch jeden Tag im christlichen Fernsehen und im christlichen Radio.

Im 19. Jahrhundert gab es einen Prediger, der in Amerika sehr populär wurde und ein Buch über Theologie schrieb, das aus seiner eigenen juristischen Ausbildung hervorging und in dem er keinen Hehl aus seinem Pelagianismus machte. Er lehnte nicht nur den Augustinianismus ab, sondern auch den Semi-Pelagianismus, und bezog klar Stellung zum vollen Pelagianismus, indem er ohne Umschweife und ohne jegliche Zweideutigkeit sagte, dass es keinen Sündenfall gab und dass es so etwas wie Erbsünde nicht gebe. Dieser Mann griff die Lehre von der stellvertretenden Sühne Christi heftig an und lehnte darüber hinaus die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben allein durch die Zurechnung der Gerechtigkeit Christi so laut und deutlich wie möglich ab. Die Grundthese dieses Mannes lautete: Wir brauchen die Zurechnung der Gerechtigkeit Christi nicht, weil wir aus uns selbst heraus die Fähigkeit haben, gerecht zu werden. Sein Name ist Charles Finney, einer der am meisten verehrten Evangelisten Amerikas [4]. Wenn Luther nun Recht hatte mit seiner Aussage, dass »sola fide« der Artikel ist, auf dem die Kirche steht oder fällt, und wenn die Reformatoren sagten, dass die Rechtfertigung durch den Glauben allein eine wesentliche Wahrheit des Christentums ist, die auch argumentierten, dass die stellvertretende Sühne eine wesentliche Wahrheit des Christentums ist; wenn sie mit ihrer Einschätzung, dass diese Lehren wesentliche Wahrheiten des Christentums sind, Recht haben, dann können wir nur zu dem Schluss kommen, dass Charles Finney kein Christ war. Ich habe seine Schriften gelesen und sage: »Ich verstehe nicht, wie ein Christ so etwas schreiben kann.« Und doch ist er in der Ruhmeshalle des evangelikalen Christentums in Amerika. Er ist der Schutzpatron des Evangelikalismus des 20. Jahrhunderts. Und er ist kein Semi-Pelagianer; er vertrat vielmehr ungeschminkt den Pelagianismus.

Die Insel der Rechtschaffenen

Eines ist klar: Man kann rein pelagianisch und trotzdem in der heutigen evangelikalen Bewegung vollkommen willkommen sein. Es ist nicht einfach so, dass das Kamel seine Nase in das Zelt steckt; es kommt nicht nur in das Zelt – es wirft den Besitzer des Zeltes hinaus. Der moderne Evangelikalismus betrachtet die reformierte Theologie, die zu einer Art drittklassigem Bürger des Evangelikalismus geworden ist, heute mit Argwohn. Jetzt sagen Sie: »Moment mal, R. C.! Wir sollten nicht alle mit dem extremen Pelagianismus in einen Topf werfen, denn schließlich sagen Billy Graham und der Rest dieser Leute, dass es einen Sündenfall gab, dass man Gnade braucht, dass es so etwas wie Erbsünde gibt und dass Semi-Pelagianer nicht mit Pelagius‘ oberflächlicher und zuversichtlicher Sichtweise der ungefallenen menschlichen Natur übereinstimmen.« Und das ist wahr, keine Frage. Aber es ist diese Behauptung von einer kleinen Insel der Rechtschaffenheit, auf der der Mensch immer noch die Fähigkeit habe, aus sich selbst heraus sich zu bekehren, zu ändern, sich zu neigen, zu entscheiden, das Angebot der Gnade anzunehmen, das offenbart, warum der Semi-Pelagianismus historisch gesehen nicht Semi-Augustinianismus, sondern Semi-Pelagianismus genannt wird.

Ich habe gehört, wie ein Evangelist zwei Analogien verwendete, um zu beschreiben, was bei unserer Erlösung geschehe. (1) Er sagte, dass die Sünde uns so stark im Würgegriff habe, dass es wie bei einer Person sei, die nicht schwimmen kann und in einem tobenden Meer über Bord gehe. Sie gehe zum dritten Mal unter und nur noch die Fingerspitzen seien über dem Wasser zu sehen. Wenn niemand eingreift, um sie zu retten, habe sie keine Überlebenschance, ihr Tod sei gewiss. Und wenn Gott dieser Person keinen Rettungsring zuwerfe, könne sie unmöglich gerettet werden. Und Gott müsse ihm nicht nur einen Rettungsring in die ungefähre Richtung zuwerfen, in der er sich befindet, sondern dieser Rettungsring müsse ihn genau dort treffen, wo seine Finger noch aus dem Wasser ragten, und ihn so treffen, dass er ihn greifen könne. Er müsse also perfekt geworfen werden. Aber dennoch würde diese Person ertrinken, es sei denn, sie nehme ihre Finger und schließe sie um den Rettungsring. So rette Gott sie. Wenn aber diese winzige menschliche Handlung nicht ausgeführt würde, werde sie mit Sicherheit zugrunde gehen.

(2) Die andere Analogie ist folgende: Ein Mann sei todkrank und liege mit seiner tödlichen Krankheit in seinem Krankenhausbett. Es gebe keine Möglichkeit, ihn zu heilen, es sei denn, jemand von außerhalb käme mit einem Heilmittel, einem Medikament, das diese tödliche Krankheit heilen könne. Und Gott habe dieses Heilmittel und käme in das Krankenzimmer mit diesem rettenden Medikament. Aber der Mann sei so schwach, dass er sich nicht einmal selbst das Medikament geben könne, Gott müsse es selbst auf einen Löffel gießen. Der Mann sei aber so krank, dass er fast im Koma liege. Er könne nicht einmal den Mund öffnen, Gott müsse sich vorbeugen und seinen Mund für ihn öffnen. Gott müsse den Löffel an die Lippen des Mannes bringen. Aber der Mann müsse die Medizin trotzdem schlucken.

Wenn wir schon Analogien verwenden, dann sollten wir auch (biblisch) genau sein. Der Mann geht nicht zum dritten Mal unter, vielmehr liegt er in Leichenstarre tot auf dem Meeresgrund. Dort wart ihr einst, als ihr tot wart in Sünden und Vergehen und dem Lauf dieser Welt gefolgt seid, dem Fürsten der Macht der Luft [vgl. Epheser 2,1–3]. Und Gott hat euch mit Christus lebendig gemacht, als ihr tot wart [vgl. Epheser 2,4–8]. Gott tauchte auf den Meeresgrund und nahm diesen ertrunkenen Leichnam und hauchte ihm den Atem seines Lebens ein und erweckte ihn von den Toten. Und es ist nicht so, dass wir in einem Krankenhausbett an einer bestimmten Krankheit gestorben wären, sondern vielmehr, dass wir bei unserer Geburt tot auf die Welt kamen. Die Bibel sagt, dass wir moralisch tot geboren werden.

Haben wir einen Willen? Ja, natürlich haben wir einen Willen. Calvin sagte, wenn man unter einem freien Willen eine Entscheidungsfähigkeit versteht, durch die man die Macht in sich hat, das zu wählen, was man sich wünscht, dann haben wir alle einen freien Willen. Wenn man unter einem freien Willen die Fähigkeit gefallener Menschen versteht, sich zu beugen und diesen Willen auszuüben, um die Dinge Gottes zu wählen, ohne das vorherige monergistische Werk der Erneuerung, dann, so Calvin, ist der freie Wille ein viel zu großartiger Begriff, um ihn auf einen Menschen anzuwenden.

Die semi-pelagianische Doktrin des freien Willens, die heute in der evangelikalen Welt vorherrscht, ist eine heidnische Sichtweise, die die Gefangenschaft des menschlichen Herzens in der Sünde leugnet. Sie unterschätzt den Würgegriff, den die Sünde auf uns ausübt.

Keiner von uns möchte die Dinge so schlecht sehen, wie sie wirklich sind. Die biblische Lehre von der menschlichen Verderbtheit ist düster. Wir hören den Apostel Paulus nicht sagen: »Wisst ihr, es ist traurig, dass es so etwas wie Sünde in der Welt gibt; niemand ist perfekt. Aber seid guten Mutes. Wir sind im Grunde gut.« Sehen Sie, dass selbst eine oberflächliche Lektüre der Heiligen Schrift dies leugnet?

Nun zurück zu Luther. Was ist die Quelle und der Status des Glaubens? Ist er das von Gott gegebene Mittel, durch das die von Gott gegebene Rechtfertigung empfangen wird? Oder ist er eine Bedingung der Rechtfertigung, die wir erfüllen müssen? Ist Ihr Glaube ein Werk? Ist es das eine Werk, das Gott Ihnen zu tun überlässt? Ich hatte kürzlich eine Diskussion mit einigen Leuten in Grand Rapids, Michigan. Ich sprach über sola gratia, und ein Mann war verärgert.

Er sagte: »Wollen Sie mir sagen, dass es letztendlich Gott ist, der ein Herz souverän erneuert oder nicht?«

Und ich sagte: »Ja!«, und das hat ihn sehr verärgert. Ich sagte: »Lassen Sie mich Folgendes fragen: Sind Sie Christ?«

Er sagte: »Ja.«

Ich sagte: »Haben Sie Freunde, die keine Christen sind?«

Er sagte: »Nun, natürlich.«

Ich sagte: »Warum sind Sie Christ und Ihre Freunde nicht? Ist es, weil Sie rechtschaffener sind als sie?« Er war nicht dumm, darum sagte er nun nicht: »Natürlich, weil ich rechtschaffener bin. Ich habe das Richtige getan und mein Freund nicht.« Er wusste, worauf ich mit dieser Frage hinauswollte.

So sagte er: »Oh nein, nein, nein.«

Ich sagte: »Sagen Sie mir, warum. Ist es, weil Sie klüger sind, als Ihr Freund?«

Er antwortete: »Nein.«

Aber er wollte nicht zugeben, dass der entscheidende Punkt die Gnade Gottes war. Er wollte nicht darauf eingehen. Und nachdem wir fünfzehn Minuten lang darüber diskutiert hatten, sagte er: »Okay! Ich sage es: Ich bin Christ, weil ich das Richtige getan habe, ich habe die richtige Antwort gegeben, und mein Freund nicht«

Worauf vertraute diese Person für ihre Erlösung? Nicht auf ihre Werke im Allgemeinen, sondern auf das eine Werk, das sie vollbracht hatte. Und er war Protestant, ein Evangelikaler. Aber seine Ansicht über die Erlösung unterschied sich nicht von der römisch-katholischen Ansicht.

Gottes Souveränität in der Erlösung

Es geht im Kern um Folgendes: Was entscheidet letztlich das Heil? Ist es Teil von Gottes Geschenk der Erlösung oder ist es unser eigener Beitrag zur Erlösung? Ist unsere Erlösung ganz und gar Gottes Werk oder hängt sie letztlich von etwas ab, das wir selbst tun? Diejenigen, die Letzteres sagen, dass sie letztlich von etwas abhängt, das wir selbst tun, leugnen damit die völlige Hilflosigkeit des Menschen in der Sünde und behaupten damit, dass eine Form des Semi-Pelagianismus doch wahr sei. 

Es ist daher nicht verwunderlich, dass die spätere reformierte Theologie den Arminianismus im Prinzip sowohl als Rückkehr zu Rom verurteilte, weil er den Glauben in ein Verdienstwerk verwandelte, als auch als Verrat an der Reformation, weil er die Souveränität Gottes bei der Errettung von Sündern leugnete, was das tiefste religiöse und theologische Prinzip des Denkens der Reformatoren war. Der Arminianismus war in den Augen der Reformierten in der Tat eine Abkehr vom neutestamentlichen Christentum zugunsten des neutestamentlichen Judentums. Denn sich im Glauben auf sich selbst zu verlassen, ist im Prinzip nichts anders, als sich bei Werken auf sich selbst zu verlassen, und das eine ist genauso unchristlich und antichristlich wie das andere. Angesichts dessen, was Luther zu Erasmus sagt, besteht kein Zweifel daran, dass er dieses Urteil gebilligt hätte.

Und doch ist diese Ansicht heute in bekennenden evangelikalen Kreisen die überwältigende Mehrheit. Und solange der Semi-Pelagianismus, der im Kern einfach eine kaum verhüllte Version des echten Pelagianismus ist, in der Kirche vorherrscht, weiß ich nicht, was passieren wird. Aber ich weiß, was nicht passieren wird: Es wird keine neue Reformation geben. Solange wir uns nicht demütigen und verstehen, dass kein Mensch eine Insel ist und dass kein Mensch eine Insel der Gerechtigkeit hat, dass wir für unsere Erlösung völlig von der reinen Gnade Gottes abhängig sind, werden wir nicht anfangen, uns auf die Gnade zu verlassen und uns an der Größe der Souveränität Gottes zu erfreuen, und wir werden den heidnischen Einfluss des Humanismus nicht los, der den Menschen verherrlicht und in den Mittelpunkt der Religion stellt. Solange wir uns nicht demütigen, wird es keine neue Reformation geben, denn im Mittelpunkt der reformatorischen Lehre steht die zentrale Stellung der Anbetung und Dankbarkeit gegenüber Gott und Gott allein. Soli Deo gloria, Gott allein sei die Ehre.

Anmerkungen

  • [1] J. I. Packer und O. R. Johnston, „Introduction“ zu The Bondage of the Will (Old Tappan, NJ: Fleming Revell, 1957), S. 59–60. Deutsch: Vom unfreien Willen (orig.: De servo arbitrio, 1523). Digitalquelle: https://www.theology.de/downloads/deservoarbitrio.pdf [abgerufen 25.03.2025]. – Siehe auch: Scott Clark, Luther über die Freiheit und Knechtschaft des Willens. 6. November 2017. Digitalquelle: https://www.evangelium21.net/media/781/luther-ueber-die-freiheit-und-knechtschaft-des-willens [abgerufen 25.03.2025] .
  • [2] ders.
  • [3] George Barna (geb. 1954) ist der Gründer von The Barna Group, einem Unternehmen für Marktforschung, das sich auf die Untersuchung der religiösen Überzeugungen und Verhaltensweisen von Amerikanern sowie auf die Schnittstelle zwischen Glauben und Kultur spezialisiert hat.
  • [4] »Charles Grandison Finney (* 29. August 1792 in Warren, Litchfield County, Connecticut; † 16. August1875 in Oberlin, Ohio) war ein US-amerikanischer Jurist, evangelikaler Erweckungsprediger, Hochschullehrer und Rektor des Oberlin Collegiate Institute und wichtiger Vertreter der Heiligungsbewegung und des Oberlin Perfektionismus.« (https://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Grandison_Finney, abgerufen 14.04.2025).


Totgesagte leben länger | Ein Blick in das Gruselkabinett der Häretiker

Warum sollte man sich anstelle einer ausführlichen Beschäftigung mit den guten und richtigen Lehren der Heiligen Schrift über das Heil und den Heiland (Soteriologie) überhaupt mit der dunklen Seite der Irrlehren beschäftigen? Warum sollte man zumindest die größten Irrlehren bzgl. des Heils kennen?

Als Hirte und Lehrer in der Gemeinde Jesu Christi fallen mir dazu spontan zwei Argumente ein: (1) Die Heilige Schrift, Jesus Christus und die Apostel machten dies ebenso. Ihr Vorbild und ihr Befehl verpflichten: „Stellt sie bloß!“ (Epheser 5,11). (2) Alle groben Irrlehren sind trotz ihrer Verdammung und Verurteilung durch die Kirche bis heute „lebendig“ und fordern ihre Opfer! Totgesagte leben länger, Untote geistern durch die Medien, die Kirchen und Gemeinden und begegnen uns als Wiedergänger in den Traktatverteilern unserer Fußgängerzonen.

Im Folgenden werden fünf herausragende Irrlehren bzgl. des Heils und Heilandes (Retters) Jesus Christus aufgeführt und kurz erläutert, die trotz Lehrverurteilungen durch kirchliche Konzilien nie ausgestorben sind. Abschließend wird das Wesentliche in einer Tabelle übersichtlich dargestellt und dabei auch „modernere“ Vertreter genannt. In grob historischer Reihenfolge handelt es sich um folgende fünf Gruppen: 

  1. Gesetzeslehrer (Legalisten)
  2. Gnostiker
  3. Arianer
  4. Pelagianer und
  5. Sozinianer.

Die Gesetzeslehrer – Legalismus (Gesetzlichkeit)

  • Die Frage, in welcher Beziehung das Heil in Christus und das Christentum zum Gesetz Moses steht, hat die Gemeinden des Christus schon immer vor ernste Probleme gestellt. Schon zur Zeit der Apostel, während sie noch ihre Beiträge zur Heiligen Schrift verfassten, bedrohten bereits verschiedene Formen der Gesetzlichkeit, wie sie von jüdischen Gesetzeslehrern praktiziert, gelehrt und gefordert wurden, die Lehre des Neuen Testaments über das Heil. Der Kampf der Apostel gegen die Gesetzlichkeit spiegelt sich in der Apostelgeschichte und mehreren Briefen (z.B. Römer, Kolosser, Galater usw.) wider. – Auch heute gibt es noch viele Erscheinungsformen gesetzlicher Heilslehre, die wir manchmal auch richtig als „Gesetzlichkeit“ bezeichnen. (Achtung: Die Forderung des Gehorsams gegenüber Christus und Seinem Wort darf nicht mit „Gesetzlichkeit“ bezeichnet werden, sie ist es nicht. Gläubige sind nicht ohne Gesetz, sondern Christus „gesetzmäßig unterworfen“, 1Kor 9,21; Christus hast seinen Nachfolgern Gebote hinterlassen!)
  • Der Standpunkt der Gesetzeslehrer war, dass Nichtjuden nach jüdischer Vorschrift beschnitten werden und alle (oder gewisse) zeremoniellen und zivilen Vorschriften des Gesetzes Moses halten mussten, wenn sie Christen werden und so das Heil in Christus empfangen wollten (deswegen wurden diese Lehrer auch „Judaisierer“ genannt). Diese Sicht lag einem orthodoxen, strengen Juden sehr nahe, war er doch von Kind auf erzogen, alle Nichtjuden als unheilig, unrein und moralisch verwerflich zu beurteilen.
  • Einen frühen Höhepunkt des Streits und die erste große Niederlage der Gesetzeslehrer finden wir in Apostelgeschichte 15 dokumentiert: „Die Apostel aber und die Ältesten versammelten sich, um diese Angelegenheit zu besehen.“ (V6). Es gab eine intensive Diskussion (V7). Dann stand Petrus auf und erinnerte daran, was bei der Bekehrung des Kornelius passiert war (V7–10), verurteilt die Lehre der Gesetzeslehrer und formuliert das Heil wie Paulus (V10–11): „Nun denn, was versuchet ihr Gott, ein Joch auf den Hals der Jünger zu legen, das weder unsere Väter noch wir zu tragen vermochten? Sondern wir glauben durch die Gnade des Herrn Jesus in derselben Weise errettet zu werden wie auch jene.“
  • Der entscheidende Punkt wird damit deutlich: Errettung kam und kommt allein durch die Gnade Gottes. Schon immer. Das stand und steht bei den Gesetzeslehrern auf dem Spiel. Diese erste große Kontroverse war also ein Streit um die Heilslehre (soteriologischer Streit). Es ging um das Evangelium im allgemeinen und um die Lehre der Rechtfertigung allein aus Glauben im speziellen, also um das Herzstück des Heils. Das ist der Grund, warum Paulus so ernst und kompromisslos gegen die Gesetzeslehrer predigte und schrieb. Wenn eine Person zuerst beschnitten werden musste oder sonst ein Werk tun musste, bevor sie Christ werden konnte, dann war dieser Ritus oder dieses „Gesetzeswerk“ eine Vorbedingung der Rechtfertigung und die Rechtfertigung war nicht mehr „allein aus Gnade“ und daher unmöglich!
  • Die Heilige Schrift lehrt, dass wir keinerlei religiöse Zeremonien oder Werke nach dem Gesetz Moses vollbringen müssen, um von Gott gerecht erklärt zu werden. Kein Werk kann uns vor Gott bzgl. des ewigen Heils einen Vorteil oder Verdienst verschaffen. Die Rechtfertigung wird jedem erklärt (zugerechnet, d.h. rechtskräftig übertragen, sog. „Imputation“), der des Glaubens an Jesus ist: „Dem aber, der nicht wirkt, sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet. … welchem Gott Gerechtigkeit ohne Werke zurechnet“(Römer 4,5–6).
  • Fazit: Gott rechnet seine Gerechtigkeit dem zu, der glaubt, dass Gott den Gottlosen (!) rechtfertigt, ohne dass dieser zuvor irgend ein „Werk“ geleistet hat. Diese Kerntatsache verleugneten und verdunkelten die verschiedenen Gesetzeslehrer. Die Apostel bekämpften diese Irrlehre daher mit aller geistlichen Kraft, die ihnen verliehen war. — Auch wir sollten jeder Verfälschung des Evangeliums entschieden entgegen treten, wenn sie für die Rechtfertigung irgendeine Vorbedingung der Form „Glaube an Jesus plus Tue Irgendetwas“ stellt, egal, was dieses Irgendetwas ist. (Beachte: Wir reden hier nicht von Nachfolge und Heiligung, die auf die Rechtfertigung folgen, sondern von Vorbedingungen der Rechtfertigung.)

In der Diskussion über den Zusammenhang zwischen AT und NT in der Heilslehre sollte man beachten:

  • Kontinuität und Diskontinuität. Im Heil Gottes im AT wie im NT beobachten wir „durchlaufende Linien“, aber auch völlige Brüche, Neuanfänge. Wir sehen den selben Gott, die gleiche, völlige Verderbtheit des Menschen (Römer 1–3) und die stets notwendige Gnade Gottes zur Rettung. Andererseits sehen wir unterschiedliche Heilsangebote, Verantwortungen und Selbstoffenbarungen Gottes als Heiland (vgl. „Heilsgeschichte“).
  • Immer Gnade und immer Gesetz. Noch nie gab es effektiv Heil ohne Gnade, sondern stets nur auf Basis göttlicher Gnade. Das Angebot des Lebens im Gesetz Moses erwies sich als Fluch, da unerfüllbar, daher wurde es beendet (Römer 8,2; 10,4; Galater 2,19). Andererseits: Auch in der „Gnaden­zeit“ heute sind wir „nicht ohne Gesetz vor Gott, sondern Christus gesetzmäßig unterworfen“ (1Korinther 9,21 ELB; vgl. Römer 8,2; Galater 6,2)! Aber heute ist das Gesetz Gottes durch Gottes schöpferisches und gnädiges Heilshandeln in der Wiedergeburt auf die Tafeln unserer neuen, lebendig gemachten Herzen geschrieben (vgl. 2Korinther 3,3; Hesekiel 11,19; Jeremia 31,33 mit Hebräer 8,10; 10,16); vgl. den Psalmisten vorbildlich auf Jesus Christus redend: „dein Gesetz ist im Innern meines Herzens“ (Psalm 40,8). Das neue Leben will von Herzen Gottes Willen tun! Der Geist Gottes bewirkt es im Neugeborenen.
  • Die Bündnisse erklären, ob und wie Gott sein Heil gibt. Nur der „Neue Bund“ gibt effektiv Heil. Warum? Weil bei ihm das Blut Jesu die Grundlage der Sündenvergebung (usw.) ist und der Bund einseitig auf Leistungen und Versprechen Gottes beruht, nicht auf vorlaufendem Gehorsam oder Werken des Menschen (vgl. Hebräer 8,10; 10,16), sondern vielmehr auf reiner Gnade. An Christus Gläubige sind „Abrahams Same und nach Verheißung Erben“ (Galater 3,29).

Die Gnostiker – Verleugnung der Menschheit Jesu

  • Der Gnostizismus stellt das den Gesetzeslehrern entgegen gesetzte Ende des Spektrums der Irrlehren dar. Die Gesetzlichkeit der Gesetzeslehrer entstand aus einer Vermischung von pharisäischem Judentum mit dem Christentum. Der Gnostizismus ist eine Mischung heidnischer Philosophie mit dem Christentum. Die Judaisierer klammerten sich töricht an die/ihre Vergangenheit; die Gnostiker brachen radikal mit der Vergangenheit. So sind die Lehren der Gnostiker in verschiedener Hinsicht das genaue Gegenteil der Irrlehren der Gesetzeslehrer. Wie so oft schwang die Kirche Jesu von einem Extrem ins andere. Leider ist das Gegenteil eines Irrtums nicht automatisch die Wahrheit (C.S. Lewis). Als die falschen Lehren der Gesetzeslehrer Widerstand erfuhren, kehrte Satan das Pendel einfach um und schob es in die entgegengesetzte Richtung an. Das Ergebnis war Gnostizismus.
  • Der antike Gnostizismus ist schwer zu definieren, hierin gleicht er modernen Häresien. Er offenbart sich als komplexe Erscheinung. Zentraler Gedanke ist, dass die göttliche Weisheit in einem Geheimnis verborgen sei (Esoterik), welches nur den erleuchteten (eingeweihten) Nachfolgern geoffenbart würde. Diese Idee gab dem Gnostizismus den Namen: das griech. Wort gnosis bedeutet „Kenntnis“. Der Gnostiker glaubt, dass der Schlüssel zur Rettung in einem verborgenen Wissen liegt, das jenseits der in der Heiligen Schrift geoffenbarten Wahrheit liegt (hier wird der Begiff Esoterik relevant). Gnostizismus lehrt daher, dass „Rettung“ darin besteht, dieses geheime Wissen zu besitzen. Dies ist die zentrale Idee aller Formen des Gnostizismus’. – Die Sekte Christian Science (Christliche Wissenschaft) lehrt z.B. als „Erlösung“, dass man nur wissen müsse (dies ist das „Geheimwissen“ der Sekte), dass es so etwas wie Sünde gar nicht gebe; damit gebe es auch kein Schuldproblem und keine Erlösungsbedürftigkeit, kein Bedürfnis nach Gott, Retter und Gnade. Dass dies weder christlich noch wissenschaftlich ist, sollte jedem auffallen.
  • Die „christlichen“ Spielarten des Gnostizismus blühten erst im zweiten Jhdt nChr richtig auf. Gnostizismus hat die Eigenart und Fähigkeit, laufend in neue Formen zu mutieren. Wenn eine Form ihre Attraktivität verlor, kam die nächste Form ins Spiel. Deswegen hielt die Bedrohung der Gemeinde und der Heilslehre durch den Gnostizismus über viele Jahrhunderte an; sie ist bis heute nicht ausgestorben. Als der Gnostizismus die Kirche Jesu Christi das erste Mal hart angriff, konnte sie nur durch einen frontalen Gegenangriff überleben. Männer wie Irenäus, Tertullian, Ignatius und Justin, der Märtyrer waren damals bereit, für die Reinheit der Lehre zu kämpfen, manchmal mit dem Preis ihres Lebens.
  • Drei Hauptirrtümer kennzeichnen fast alle Erscheinungsformen des Gnostizismus:
    • Dualismus ist die Idee, dass alles im Universum auf zwei Ur-/Grundrealitäten zurückzuführen sei. Diese seien einander entgegengesetzt, bedingten aber einander (Ying-Yang, Licht-Finsternis, Gott-Satan, Materie-Geist usw.). Satan will sich so zum ebenbürtigen „Gegen-Gott“ aufplustern, aber es gibt Gott schon ewig, auch als Satan noch nicht war. Es besteht ein kategorialer Unterschied zwischen Gott und Geschöpf, sie stehen nie auf einer (dualistischen) Ebene.
    • Synkretismus ist die Vermischung zweier/mehrerer unterschiedlicher Glaubenssysteme in eines. Dies dürfte die „Grundreligion“ der Menschen heute ausmachen: Eine Selektion und Mischpoke unterschiedlichster Vorstellungen aus allerlei Gedankensystemen und Religionen zum höchst privaten, eigenen und nicht angreifbaren Glaubenssystem.
    • Doketismus ist die Irrlehre, dass Christus nur als Mensch erschienen, Er aber tatsächlich kein Mensch gewesen sei. Die Vorstellung, dass Gott als ewiger Geist Mensch (Fleisch, materiell) werde, lehnten sie entrüstet ab. Geist war göttlich, Fleisch/Irdisches hingegen schlecht, minderwertig und böse. Solche Gedanken bilden auch den Hintergrund für östliche Meditationstechniken, Leibfeindlichkeit im Christentum und überzogene Differenzierungen zwischen „himmlischen“ (=wertvollen, erhabenen) und „irdischen“ (=minderwertigen) Segnungen.
  • Obwohl der Gnostizismus allerlei Arten von Irrtümern umfasst, auch solche bzgl. der Heilslehre, führte er erstmalig massive Irrlehren über die Person Jesu Christi in die Gemeinde ein, sog. „christologische Irrtümer“. Die Briefe des Apostels Johannes sind eine Antwort auf Frühformen des Gnostizismus’ Ende des ersten Jhdt.s, die vor allem die wahre Menschheit Jesu angriffen. Johannes greift die Irrlehre der Gnostiker vor allem auf Basis der Lehre über Christus (Christologie) an; s. z.B. 1Johannesbrief 4,3; 2Johannesbrief 1,7.

Die Arianer – Verleugnung der Gottheit Jesu

  • Der Arianismus war ein offener Frontalangriff auf die Gottheit Jesu Christi. Die Arianer behaupteten, dass Jesus Christus ein geschaffenes Wesen sei, das zwar höher als „gewöhnliche Menschen“, aber niedriger als „der wahre Gott“ sei. 
  • Die Gnostiker hatten die Lehre über Christus vom Rand der Christenheit aus angegriffen, ihre Irrlehrer waren im allgemeinen Außenstehende, die kein Problem damit hatten, die apostolische Tradition und Lehre anzugreifen. Ihr sektiererisches Ziel war es, Menschen von der Kirche wegzuziehen und in ihre kleinen Splittergruppen hinein zu locken. – Der Arianismus ging den entgegengesetzten Weg und trug seine falsche Lehre direkt ins Herz der Kirche. Das Ziel war von Anfang an, die Kirche für sich zu gewinnen, um von ihr den Stempel der Rechtgläubigkeit auf die neuen, falschen Lehren zu erhalten.
  • Arius (Arianus; 256–336) aus Alexandrien ist der Namensgeber und Proponent dieser Irrlehre über Christus. Er lieferte (auch als Vertreter der Schule von Antiochien) eine Sicht von Christus, die diesen zu einem geschaffenen Wesen machte, das weder wirklich Mensch noch wirklich wahrer Gott ist, sondern einen Mittler, der zwischen Gott und der Menschheit steht. Gemäß Arius war Christus eine Art Halbgott, der „Erstgeborene aller Schöpfung“, zwar höher als andere Engelswesen, aber trotzdem ein Geschöpf, ein geschaffenes Wesen. Arius verwendete Bibelstellen wie Lukas 2,40.52; Johannes 4,6; 19,28; 13,31; Matthäus 24,26; Johannes 14,28 um zu zeigen, dass Jesus ein Mensch war und (im Sinne seiner Irrlehre) Gott-Vater auch wesensartig untergeordnet sei. — Exakt die gleiche Vorstellung haben und lehren die Anhänger der Wachturm-Sekte bis zum heutigen Tag und verwenden dabei die gleichen Argumente wie zuvor schon Arius. Untote leben länger!
  • Hin und her pendelnde Irrlehren. Arius reagierte mit seiner Irrlehre auf die Irrlehre des Sabbelianismus (=Modalismus), also die Lehre, dass es einen Gott gebe, der aber in „drei Modi“ erscheine. Der Erzbischof und Vorgesetzte von Arianus, Alexander von Alexandrien, lehrte aber dem entgegnend, dass Jesus dem Vater völlig gleich ist. Arianus lehrte im Kontrast dazu, dass Jesus Gott ähnlich, aber nicht gleich sei. Ein Konzil unter Alexander schloss Arius im Jahr 320 aus. Aber damit war die Kontroverse nicht beendet! (U.l.l.!)
  • Die theologische Antwort der Kirche auf den Arianismus gipfelte im Nicänischen Bekenntnis, das auf dem Konzil zu Nicäa 325 nChr (vom Kaiser Konstantin einberufene Reichssynode) formuliert und von fast allen unterzeichnet wurde. Aber auch mit dieser klaren Verdammung der arianischen Irrlehre war kein Schlusspunkt gesetzt, sondern der Beginn einer Jahrhunderte langen Kontroverse in der Kirche markiert. Im Rückblick scheint es so, dass die Abstimmungen bei den Konzilen jener Zeit eher von kirchlichen Machtfragen als denn von Verpflichtung gegenüber der Wahrheit des Wortes Gottes gekennzeichnet waren. Die Irrlehrer und Anhänger der arianischen Irrlehre erbaten in Folge auf breiter Basis Toleranz und Offenheit für ihre Position und erhielten sie immer! Selbst die Heimatgemeinde des Arius schloss diesen nicht als Irrlehrer aus, sondern stand zu ihm. Seine Anhänger riefen sogar ihrerseits Synoden aus, stimmten dort der Lehre des Arius’ ausdrücklich zu und hoben die Verdammung des Arius auf. Die Kirche neigte sich wieder stark dem Arianismus zu. Sein größter Gegener, Athanasius (s.u.), wird noch 335 an die Grenzen des römischen Reiches nach Trier verbannt und leidet sein gesamtes Leben wegen der arianischen Frage. … Im Schutz dieser Wirrnisse konnte der Arianismus die Kirche Christi weltweit in beträchtlichem Maß durchdringen und infizieren! (NB: Wulfila, der Apostel der Goten (gestorb. 383) war selbst von einem Arianer getauft worden; über die Westgoten übernahmen die Germanen das Christentum arianischer Ausprägung. Die germanischen Nationalkirchen machten der röm.-kathol. Kirche noch bis ins 6. Jhdt schwer zu schaffen. Dann erst konnte der röm. Katholizismus missionarisch bis in die Heimatbezirke der Germanen vordringen.) Kaiser Konstantin, der über die Einheit der Kirche auch sein weltliches Reich einen wollte, wurde über den arianischen Streit sehr frustriert und mischte sich daher mit seiner Macht in diese Kirchenangelegenheit ein. Leider identifizierten er und seine Söhne sich mit den Anhängern des Arius’ und so nimmt es nicht Wunder, dass innerhalb der nächsten 50 Jahre fast alle leitenden Bischöfe Arianer wurden. 
  • Nur ein Mann stand klar und deutlich gegen die Irrlehren Arius’ auf: Athanasius (296–372) aus Alexandrien. Er gab den Kampf gegen diese Häresie nicht auf. Als man ihm sagte, dass doch die ganze Welt gegen ihn stünde, antwortete er, dass (auch) er gegen die ganze Welt sei. Durch Gottes Gnade und zu unserem Segen gewannen die Argumente des Athanasius schließlich, weil er die Heilige Schrift gekonnt und überzeugend einsetzte, um den Irrtum der Häresie Arianus’ aufzuzeigen. Das Nicänische Bekenntnis wurde vom Konzil zu Konstantinopel aufgenommen. Athanasius wurde 328 als Nachfolger von Alexander Erzbischof von Alexandrien. Das setzte seinem Leiden allerdings kein Ende: Während seinen 46 Jahren im Amt wurde er von Arius zugeneigten Herrschern viermal verbannt und verbrachte insgesamt 20 Jahre im Exil! Er konnte seinen Lebensabend jedoch in Frieden und weiterhin klar gegen den Arianismus schreibend begehen. Diese Episode ist ein klassischer Beleg dafür, dass die Heilige Schrift –und nicht die Mehrheitsmeinung!– für die Gemeinde Jesu Christi der erste und letzte Test jeder Lehre sein muss.
  • Die Geschichte des Arianismus ist auch ein trauriger Beleg für die prophezeite Tatsache, dass Irrlehre häufig aus der Kirche Jesu Christi selbst heraus entstand. Der Arianismus verbreitete sich durch stille Infiltration und gewann seine Stärke durch die persönliche Ausstrahlungskraft seiner Lehrer. Förderlich für seine Verbreitung war ein Klima der Toleranz, so dass er massive Ausmaße und Verbreitung hatte, bevor überhaupt jemand Stellung gegen diese Irrlehre bezog. Satans beliebteste Taktik ist Selbsttarnung als „Engel des Lichts (2Korinther 11,13–15).

Die Pelagianer – Verleugnung der totalen Verdorbenheit des Menschen

  • Die nächste große Häresie in der Kirche, der Pelagianismus, ist wieder eine Irrlehre im Bereich der Heilslehre. Augustinus (354–430) betonte in seiner Lehre die Souveränität Gottes, weil er (wohl mit Recht) annahm, dass man nur so die absolut zentrale Rolle der göttlichen Gnade in der Errettung sicherstellen kann. Pelagius, ein britischer Mönch aus dem frühen 5. Jhdt,, stieß sich an dieser Lehre, weil sie seiner Meinung nach die Bedeutung der menschlichen Verantwortung herunterspiele oder gar außer Kraft setze. Im Gegenzug behauptete und betonte er den „freien menschlichen Willen“, weil er (wohl irrtümlich) davon überzeugt war, dass nur so die menschliche Verantwortung sichergestellt werden könne. (Diesem Fehler der Philosophen folgte auch Kant u.a., leider auch viele Christen unserer Zeit.)
  • Pelagius traf in Rom einen adligen Juristen namens Celestius und entwickelte mit ihm gemeinsam eine neue Heilslehre. Die Glaubenslehre war für sie nur reine Theorie, die Hauptsache der Religion war ihrer Ansicht nach die moralische Tat, das Halten der Zehn Gebote aus eigener Anstrengung. Die ethische Seite der Religion war ihnen wichtiger als die dogmatisch-theologische. 
  • Den Pelagianismus kann man wie folgt zusammenfassen: (1) Kein Mensch erbt von Adam die Sünde. Sünde ist eine Sache der Tat und nicht der Natur/des Wesens. (2) Jeder Mensch ist so geschaffen, dass er völlig frei das Gute oder das Böse tun kann. Ein sündloses Leben ist daher möglich. Man kann sich das Heil durch Gute Werke erwerben. (3) Babytaufe ist unnötig, da es keine Erbsünde gibt. (4) Das Heil ist zwar außerhalb des Gesetzes, des Evangeliums und der göttlichen Gnade zu finden, aber diese können natürlich beim Erwerb des Heils mithelfen. Christus hilft dabei mit seinem guten Vorbild.
  • Der wohl bemerkenswerteste Aspekt des Pelagianismus ist die Leugnung der Auswirkungen des Sündenfalls auf alle Menschen seit Adam und Eva. Die Pelagianer leugneten, dass die Sünde Adams irgendeine Schuld oder irgendeine Verdorbenheit auf den Rest der menschlichen Rasse brachte, der menschliche Wille sei daher von allen Fesseln frei. Pelagius argumentierte: Wenn alle Menschen durch Geburt Sünder sind (wenn also Sünde etwas ist, das wir ererben), dann wäre es ungerecht von Gott, wenn er den einzelnen Sünder für seine Sünde verantwortlich hält. Der menschliche Wille müsse völlig frei sein, weder zum Guten noch zum Bösen geneigt, sonst könnten unsere Entscheidungen nicht frei sein, und wir folglich auch nicht für unsere Taten verantwortlich gemacht werden.
  • Diese Lehren des Pelagianismus verbreiteten sich schnell in Nordafrika (einem Zentrum des Christentums damals) und führten zur Irrlehre einer Selbsterrettung durch Werke, zu einem „Werke-Evangelium“. Wenn man erst einmal die totale Verderbnis und Gefallenheit der Menschheit leugnet, erliegt man der Illusion, der Mensch könne und solle etwas zu seinem ewigen Heil beitragen. Und so landet man schließlich in der Verleugnung der heilsnotwendigen göttlichen Gnade, wie sie die Heilige Schrift lehrt.
  • Augustinus erkannte das Problem des Pelagianus von Anfang an und trat den Pelagianern entgegen, indem er aus der Heiligen Schrift zeigte, dass der menschliche Wille nicht in jenem Sinne frei ist, wie sie es lehrten: Unser Wille sei vielmehr hoffnungslos unter die Sünde geknechtet (Römer 8,7–8), Sünder seien absolut hilflos, sich selbst zu verbessern, es benötige die göttliche Gnade, die erneuernd im Herzen wirke (vgl. Jeremia 13,23).
  • Das Konzil zu Ephesus 431 nChr verurteilte den Pelagianismus als Irrlehre. Aber wie bei allen hier erwähnten Irrlehren war die Entscheidung des Konzils nicht das Ende der Bedrohung der Kirche durch diese gefährliche Irrlehre. Die Einflüsse des Pelagianismus’ plagten die Kirche noch viele Jahrhunderte. — Eine modifizierte Form des Pelagianismus’ entstand: der Semi-Pelagianismus, der praktisch mit dem modernen Arminianismus identisch ist; diese Irrlehre wurde vom Konzil zu Orange 529 nChr verdammt. …und lief weiter…
  • Die Römisch-katholische Kirche des 16. Jhdt. bekannte sich beim Gegenreformations-Konzil zu Trient 1546 nChr zu einer Heilslehre, die im Effekt dem Semi-Pelagianismus entspricht. Daher kann man kontemporären (auch „protestantisch-evangelikalen“!) Vertretern dieser falschen Lehre vorwerfen, der „Romanisierung“ (Re-Katholisierung) Vorschub zu leisten.
  • Der Konflikt zwischen Pelagius und Augustinus betraf einige Fragen, die später auch den Konflikt zwischen sog. „Calvinis­ten“ und „Arminianern (Remonstranten)“ ausmachten. In der protestantischen Reformation stellten sich die Reformatoren auf die Seite des Augustinus, indem sie die Souveränität Gottes, die Notwendigkeit göttlicher Gnade und die völlige Unfähigkeit des gefallenen Menschen, zu seiner eigenen Rettung etwas beizutragen, lehrten. Im Kontrast dazu verkündete die Römisch-katholische Kirche weiterhin eine verwässerte Form des Semi-Pelagianis­mus (ab dem II. Vaticanum lehrt sie sogar den Universalismus).
  • Die Lehren des Pelagianismus’ und des Semi-Pelagianismus’ haben auch den Protestantismus stellenweise massiv beeinflusst (z.B. sichtbar bei Charles Grandison Finney (1792–1875) und dessen Nachfolgern) und beeinflussen ihn in pragmatisch-evangelistisch ausgerichteten Gemeinden und Missionswerken in steigendem Ausmaß. [1]
  • NB: Die meisten Christen, die betreffs der Heilslehre zu den Ansichten des (Semi-) Pelagianismus neigen, neigen auch zu den Lehren des Arminianismus. Beispiele: Man behauptet, dass Jesus Christus für alle Menschen gestorben sei und daher auch alle Menschen gerettet werden bzw. schon gerettet sind; dass alle Menschen zwar bis zu einem gewissen Graf verderbt seien, alle aber ausreichend Gnade bekommen, um den Folgen ihrer Verderbtheit entgegenzuwirken und sich aus sich selbst heraus frei für das Heil zu entscheiden; dass derart begnadete Menschen aber auch die Freiheit und Macht haben, sich jederzeit gegen diese Gnade zu entscheiden, denn diese sei nicht unwiderstehlich; usw.

Die Sozinianer – Völlige Verwirrung

  • Der Sozinianismus ist einer der Höhepunkte der Irrlehren und Verwirrungen in der Heilslehre, er ist eine Vermischung anderer Irrlehren, die der Teufel schon erfolgreich in die Kirche hineingetragen hatte. Die Irrlehre des Sozinianismus’ wurde bald nach der Protestantischen Reformation geboren. Die beiden Italiener Fausto Paulo Sozzini (Socinus, 1539–1604) aus Sienna und sein Onkel Lelio (Laelius) Sozzini gaben dieser Irrlehre den Namen. Sie hatten sich vom römischen Katholizismus abgewandt und den Reformatoren zugewandt, kamen aber unter den Einfluss von Unitarianern und gaben letztlich alle Lehren der katholischen Religion auf, einschließlich der Lehren, die bibeltreu sind. Die Folge war, dass sie letztlich alle wesentlichen Fehler in ihr Lehrgebäude aufnahmen, die die Kirche je geplagt hatten und die diese verurteilt hatte.
  • Wie die Legalisten und Pelagianer lehrten sie eine Errettung aus Werken. Wie die Gnostiker und Arianer waren sie Anti-Trinitarianer (sie verleugneten die Dreieinheit Gottes). Sie verleugneten nicht nur die Gottheit Jesu, sondern jedes Wunder in der Heiligen Schrift. In diesem Zusammenhang mischten sie aus dem humanistischen Rationalismus und der Aufklärung ihre eigene tödliche Irrlehre. Schließlich nahmen sie auch noch die Lehre des Universalismus in ihr System auf. Sie schoben die Autorität der Heiligen Schrift zur Seite und erhoben die menschliche Vernunft zur obersten AutoritätDamit markierten sie den Start des Modernismus.
  • Ihr schlimmster Irrtum zerstört direkt die Bedeutung der Sühnung. Das sozinianische Argument gegen das stellvertretende Opfer Jesu Christi war einfach: Sie behaupteten, dass die Ideen der Vergebung und der Sühnung sich gegenseitig ausschließen würden. Entweder werden Sünden vergeben oder es ist dafür zu bezahlen, aber nicht Beides. Sie argumentierten: Wenn ein Preis dafür bezahlt werden musste, dann wurden nicht wirklich „vergeben“. Wenn Gott andererseits bereit ist, Sünden zu vergeben, dann sei kein Sühnungspreis dafür notwendig. – Die Spitzfindigkeit ihres Arguments bringt auch heute noch viele Leute in Verlegenheit. Aber es ist einfach völlig konträr zu dem, was die Heilige Schrift über Gnade, Sühnung und göttliche Gerechtigkeit lehrt. Die Heilige Schrift zerstört das sozinianische Argument und stellt es als Irrtum bloß: „Ohne Blutvergießung gibt es keine Vergebung [der Sünden].“ (Hebräer 9,22)

Der Sozinianismus ist die zur Zeit am meisten verbreitete Irrlehre, der moderne theologische Liberalismus ist nichts anderes als eine Variante des alten Sozinianismus’.

Überblick

Die 5 großen Irrtümer bzgl. des Erretters und der Errettung (© 1997–2023 logikos.club)

Endnoten und Literaturempfehlungen

Dieser Artikel wurde angeregt und adaptiert durch: Phil Johnson, Seminarmanuskript, Shepherds Conference (Sun Valley, CA, 2004).

[1] In Deutschland machte die „Bruderhand“ (Wilhelm Pahls) Werbung für die „Erweckung“ von Finney und verbreitete seine Biographie. Die Bruderhand stellt die Erfindung des „Altarrufes“ durch Finney als biblisch dar, weil Gott auch sein Volk rufe. Eine biblisch fundierte geistliche Beurteilung Finneys findet sich in: MacArthur, John F.: Wenn Salz kraftlos wird. Die Evangelikalen im Zeitalter juckender Ohren. 2. Auflage. Bielefeld, CLV, 1997, Anhang 2.

Eine empfehlenswerte Darlegung der biblischen Heilslehre ist: J. MacArthur & R. Mayhue: Biblische Lehre: Eine systematische Zusammenfassung biblischer Wahrheit. Berlin: EBTC, 2. Aufl. 11/2020. Eine Rezension finden Sie hier.

Heilsgeschichte: Arnd Bretschneider: Gott schreibt Geschichte – Ein Gang durch die biblische Heilsgeschichte. Christliche Verlagsges. Dillenburg, 2007.

Die Verfälschung der biblischen Heilslehre

Das Heil (die Errettung) und das Wesen des Heils wurde seit der Frühkirche immer wieder angegriffen, unterschiedlich interpretiert und widersprüchlich gelehrt. Neben einigen „geringfügigen“ Varianten kamen sehr früh auch schwerwiegende Irrlehren auf, die das Urteil der Verdammnis seitens des Apostels auf sich zogen, da sie es verunmöglichten, das göttliche Heil zu erkennen, zu glauben und zu bekommen. Wir „verdanken“ diesen Irrtümern und Irrlehrern einige fundamental klärende Texte im Neuen Testament.

Im Folgenden soll ein Überblick über das breite Spektrum falscher Heilslehren innerhalb des christlichen Bekenntnisses versucht werden. Dieser begrenzt sich aus Platzgründen auf fünf Schlaglichter.

Römisch-Katholische Kirche

Die Römisch-Katholische Kirche (RKK) lehrte zur Reformationszeit (also vor 500 Jahren) wie heute, dass der Mensch trotz seines gefallenen Zustands bei seiner Erlösung mitwirken kann. Gott schenke ihm seine Gnade (zuvorkommend!) und der Mensch antworte mit Glauben. Die Reformatoren verwarfen diese Idee und betonten, dass die Erlösung ein reines Geschenk Gottes ist, denn der Mensch ist geistlich tot und er muss deshalb wiedergeboren werden; sein Verstand, sein Herz und sein Wille müssen komplett erneuert werden, bevor er sich entscheiden kann. 

Die RKK hat in ihr System die Sakramente eingebaut, deren formgerechter Gebrauch in seiner Anwendung (ex opere operato) Gnade vermittelt, z.B. in Taufe, Buße, Messe. Die Heilslehre der RKK ist stets synergistisch, d.h. sie lehrt ein heilserbringendes Zusammenwirken des Handelns Gottes und des Menschen. Prinzip: Das Heil kommt durch Gnade und Werke. Das 2. Vatikanische Konzil führte zu einer Neudefinition des Heils mit dem Effekt, dass alle Nicht-Christen und sogar Atheisten ebenfalls ins Heil kommen bzw. sind. Die RKK ist seit dieser Zeit von der Lehrgrundlage her universalistisch (d.h. letztlich werden alle gerettet werden).

Theologischer Liberalismus

Im sog. „Theologischen Liberalismus“ wird gemäß des Denkrahmens der Aufklärung alles Übernatürliche geleugnet, mithin alle Wunder Gottes, die göttliche Autorität der Heiligen Schrift und andere klassischen Hauptlehren der Schrift. Die Heilslehre des sog. „Sozialen Evangeliums“ definierte das Heil als die Transformation der menschlichen Gesellschaft durch Erziehung, sozialen Wandel und politische Aktion, die durch die Ideale und die Ethik Jesu Christi motiviert wird. Der Mensch soll sich im Diesseitigen „christlich“ (d.i.: humanistisch) verwirklichen und ein diesseitiges Paradies erschaffen.

Christlicher Existenzialismus

Die Lehrer des „Christlichen Existenzialismus“ glauben, dass sich der Mensch durch reine Objektbezogenheit von seinem Wesen und der Realität entfremdet habe, weil Dinge keine Hingabe, kein Risiko und keine Entscheidung abverlangten. Der Mensch verstehe sich selber aber nur im Erleben seiner selbst, es gebe keine vorige Setzung seines Wesens oder seiner Bestimmung. Daher will man der Entfremdung, der Angst und Hoffnungslosigkeit in persönlichen Beziehungen und persönlichen Erlebnissen entgehen.

Reiner „Ding-Glaube“ (z.B. an Glaubensbekenntnisse und Lehren) rette nicht, sondern sei nur ein „billiger Glaube“. Rettender Glaube sei der Akt des Glaubens mit tiefer innerer Leidenschaft und radikalem Engagement; es sei ein Glaube, der sich selbst für ein Leben kostspieliger Jüngerschaft hingibt. Das Ergebnis dieser alles kostenden Entscheidung ist die Gegenwart Christi im Herzen und die persönliche Wahrnehmung einer authentischen Existenz, nämlich die Beseitigung der Angst, die Vergebung der Sünden, die Realisierung des vollen Potentials, das im Menschen steckt, und die Umgestaltung des Lebens. Der Glaube selbst wird zum existentiellen Erleben. Er wird nicht in Glaubensbekenntnissen, sondern im (Er-)Leben festgemacht.

Diese Verfälschung findet man in manchen Jüngerschaftsbewegungen, auch bei dem Theologen und Pionier der Existenzphilosophie, Søren Aabye Kierkegaard (1813–1855). Seine berechtigte Kritik am toten, rein theoretischen „Kopf-Glauben“ seiner Landsleute und Zeitgenossen („Hauptsache, man unterzeichnet das richtige Glaubensbekenntnis“) geriet zur Verirrung in das entgegengesetzte Extrem („Hauptsache, man erlebt Christ- und Menschsein“). Nicht ohne Grund gehört zur Glaubenslehre auch immer die entsprechende Glaubenspraxis – et vice versa: Orthodoxie und Orthopraxis sind im christlichen Glauben zwei Seiten derselben Medaille.

Befreiungstheologie

Die Befreiungstheologie ist eine praxisorientierte Theologie, die im wesentlichen auf der marxistischen Interpretation der Kultur beruht. Diese Bewegung will weg vom individuellen, persönlichen, innerlichen Glauben, hin zu kollektiven, äußeren und strukturellen Angelegenheiten. In der Regel geht man davon aus, dass alle Menschen „in Christus“ seien (vgl. Universalismus), dass aber die Zustände in der Gesellschaft die Menschen verbogen und entmenschlicht habe. Das Heil wird daher im gemeinsamen Umsturz aller ungerechten Regimes und sozialen Strukturen gesehen, notfalls durch Revolution und Gewalt. 

Der Exodus Israels muss für die „Befreiung“ als Paradigma herhalten. Die verschiedenen „unterdrückten“ Völker hätten ihre eigene Version der Heilslehre entwickelt, z.B. die Schwarzen (Angela Davis). Die Einheit des Heilswerks Gottes für alle Menschen gleichermaßen, weil alle gleichermaßen (!) verloren sind, wird damit en passant auch geleugnet. Die Lehren der Heiligen Schrift über das erlösende, stellvertretende, sühnende Werk Jesu Christi werden missachtet, ebenso wie die Tatsache des Verlorenseins ohne den Heiland Jesus Christus. Das Heil wird vor allem diesseitig und damit zeitlich gesehen.

Neoorthodoxie (Barth)

Die Neoorthodoxie Barths nahm Stellung gegen Bultmann und die Existenzialisten, und versuchte das Heilshandeln wieder voll in die Hände Gottes zu legen. Das Heil ist bei Barth ein rein objektives Ereignis und hat mit dem Einzelmenschen wenig zu tun. Als Jesus Christus in diese Welt kam, habe er sich mit der Menschheit (humanum = die gesamte menschliche Rasse) vereinigt und so für sie am Kreuz objektiv das Heil erworben. Durch Christi Tod sei die Sünde der Welt gerichtet wurden und durch sein Auferstehen sei der Sieg zu allen Menschen gekommen. Rettung und Heil ist also etwas, das alleine Gott gemacht hat, und zwar mit allen Menschen; der einzelne Mensch hat damit praktisch nichts zu tun. 

Barth lehrte, dass Glaube, Buße, Umkehr und Gehorsam nur die Sichtbarwerdung (Manifestation) des bereits erhaltenen Heils seien, nicht die Mittel, durch die das Heil persönlich ergriffen werde. Positiv ist das Bemühen, Gott als den Hauptagenten des Heilshandelns zurück zu gewinnen. Irrlehre ist seine Heilslehre aber schon allein durch die Aussage, dass alle Menschen „in Christus“ seien (auch wenn Christus noch nicht in allen Menschen sei, sondern der Mensch aus seinem geistlichen Schlaf aufwachen müsse); Barth ist damit ein weiterer Universalist.

Evangelikale Arminianer

Heilsabsicht Gottes. Die „evangelikalen“ Arminianer (viele sog. Freikirchen) lehren, dass Gott aus Liebe Christus in die Welt sandte, mit dem Ziel, die Menschheit, also alle Menschen, von dem Ruin der Sünde zu erretten (universale Versöhnung). Gott wolle die Errettung aller und jedes Menschen (bezugsnehmend auf 1Tim 2:4; 2Pet 3:9). Dass dies nicht zustande komme, sei alleine dem freien Willen und Widerstand des Menschen zuzurechnen.

Heilsergreifung. Sie lehren, dass eine universale, „vorlaufende“ Gnade vom Kreuz Christi gleichermaßen zu allen sündigen Menschen fließe und diese durch moralisches Licht in einen Stand versetze, in dem er seine moralische Blind- und Taubheit gegenüber dem Heilsangebot Gottes verliere, er in wiederhergestelltem freien und moralischen Willen von der Sünde überführt werde und in freier, ureigener Entscheidung dem Ruf zum Heil folgen könne. Die derart erweckte und berührte Seele kooperiere dabei aus freiem Vermögen mit Gott, bekenne ihre Sünden und vertraue Christus als ihrem Heiland. Viele Arminianer sehen die Wiedergeburt synergistisch als das Ergebnis des Zusammenwirkens von menschlicher Willigkeit und göttlichem Wirken.

Heils(un)sicherheit. Die evangelikalen Arminianer betonen, dass der Gnade und der Berufung Gottes effektiv und letztgültig Widerstand geleistet werden könne. Der neugeborene Christ könne sich jederzeit frei entscheiden, Christus zu verwerfen, in seiner Sünde fortzufahren und damit effektiv das ewige Heil (wieder!) zu verlieren. Die Arminianer verleugnen damit das Ausharren der Heiligen, wie es in der Schrift gelehrt wird.

Erwählung. Arminianer lehren die Lehre der Erwählung so, dass Gott nur jene Menschen zum Heil erwählte, von denen er voraussah, dass sie auf sein Gnadenangebot positiv reagieren und Christus annehmen würden (dies meine die Schrift mit dem Begriff „Vorkenntnis Gottes“; sog. Erwählung ex fide praevisa).

Methodismus (Perfektionismus). Einige Arminianer lehren, dass Gott sein heiligendes Handeln durch ein zweites Werk der Gnade vollkommen machen wolle, das dann die sündige Natur und die sündigen Wünsche des Menschen ausreiße und das Herz mit vollkommener Liebe gegenüber Gott erfülle (sog. Volle Errettung, Volles Heil, Sündlose Vollkommenheit; vgl. Wesleyanischen Methodismus, Charismatische und Pfingstler-Bewegung).  Dieses Heilsverständnis ist im Prinzip synergistisch, es ist ein Zusammenwirken einer göttlichen Gnade (welcher?) und des befreiten menschlichen Willens, wobei der Mensch der alles entscheidende Handelnde ist.

Wie Wolfgang Nestvogel belegt, greift diese Rekatholisierung der Heilslehre im arminianischen Gedankengut immer mehr Raum bei den Evangelischen und leider auch bei den (ehemals) „Evangelikalen“ (Freikirchen). [1]

Hyper-Calvinisten

Die sog. Hyper-Calvinisten [2] verdrehen die biblische Heilslehre dahingehend, dass sie die Souveränität Gottes im Heilshandeln so extrem betonen und so einseitig darstellen, dass bei ihnen die moralische und geistliche Verantwortung des Menschen völlig geleugnet wird. Folglich lehnen sie ab, dass den Nicht-Erwählten in der Predigt die Gute Botschaft frei angeboten wird oder anzubieten sei. Sie glauben nicht, dass im Evangelium allen Sündern ein ernst gemeintes Angebot der Retterliebe Gottes unterbreitet werden soll und unterbreitet wird. Andererseits leugnen sie die allgemeine Pflicht jedes Sünders, dem Evangelium zu glauben, Buße zu tun und an Jesus als ihrem Herrn und Heiland zu glauben (Sie meinen: „Er kann ja nicht, wenn er nicht weiß, ob er auserwählt ist.“).

Damit lenken sie den Blick statt auf Christus auf sich selbst, um nachzuforschen, ob sie erwählt seien, die „Gabe“ des Heils von Gott erhalten hätten usw. Hyper-Calvinisten unterscheiden nicht zwischen dem allgemeinen und speziellen Willen Gottes, also zwischen einerseits seinen Geboten, seinem wünschenden Wollen, dem der Mensch Widerstand und Ungehorsam entgegen bringen kann, und andererseits seinem feststehenden Willen in seinen Ratschlüssen, die unbereubar und durch den Menschen unaufhaltbar, unbeeinflussbar und fest sind.

Hyper-Calvinisten glauben alle an eine „doppelte Prädestination“ (Vorherbestimmung): nicht nur der Erwählten zum Heil, sondern gleicherweise auch der Nicht-Erwählten (sog. Abgefallene) zum Verderben.[3] Der Unterschied zwischen Hyper-Calvinisten und biblisch-reformiert denkenden Christen lieg hier darin, dass erstere die „doppelte Prädestination“ symmetrisch und als unbedingt denken (als ob Gott Beides sich gleich aktiv zuschreibe), letztere jedoch im Sinne von Römer 9,22–23 als asymmetrisch: die „Gefäße des Zorns“ sind zubereitet zum Verderben (passiv), die „Gefäße der Herrlichkeit“ werden von Gott zur Herrlichkeit bereitet (aktiv) [4].

Hyper-Calvinismus kam und kommt in verschiedenen Varianten vor, aber man kann dieses unbiblische Lehrsystem anhand einer (oder mehrerer) der folgenden Merkmale erkennen: Hyper-Calvinisten verleugnen1) dass der Ruf des Evangeliums alle Zuhörer angeht (Mt 11,28–29; Jes 45,22; 55,1–7; Offb 22,17); oder: 2) dass der Glaube Pflicht eines jeden Sünders ist (Mk 1,15; Apg 15,17; vgl. 17,30; seine moralische Unfähigkeit beraubt ihn nicht seiner Verantwortung!); oder 3) dass das Evangelium auch den Nichterwählten Christus, das Heil und die Barmherzigkeit anbietet (oder dass das Angebot der Gnade Gottes frei und universal ist); oder 4) dass es so etwas wie „Allgemeine Gnade“ gibt (vgl. 5Mo 10,18; Mt 5,44–45; Apg 14,17); oder 5) dass Gott irgendeine Art Liebe auch für die Nicht-Erwählten hat (vgl. aber seine Hingabe in der Feindesliebe!).

Diese Verleugnungen der Hyper-Calvinisten unterminieren und verdrehen das Evangelium Gottes. Eine typische Kurzfassung des Evangeliums Gottes seitens eines Hyper-Calvinisten könnte lauten: „Die Botschaft des Evangeliums ist, dass Gott die rettet, die sein Eigen sind und dass Er die verdammt, die es nicht sind.“ So wird die Gute Nachricht unseres Heiland-Gottes, der in echter Retterliebe auf diese Erde kam, „um zu suchen und zu retten, was verloren ist“ (Lukas 19,10) reduziert auf eine Sache von Erwählung und Verdammung. Ein Ringen und flehentliches Bitten um unsere verlorenen Mitmenschen, wie es die Schrift allen Christen als „Dienst der Versöhnung“ auferlegt (2Korinther 5,20), kennen sie nicht, sie verleugnen dies vielmehr.


Endnoten

[1] Nestvogel, Wolfgang: Wann ist ein Christ ein Christ? Der Kampf um die Rechtfertigung (2018). – Vertreter arminianistischer Gedanken in der deutschsprachigen, evangelikalen Gemeindewelt sind z. B. Prof. Herbert Jantzen (anabaptistische Mennoniten-Brüder) und Thomas Jettel (Kann ein Christ zu einem Nichtchristen werden?); Prof. Armin Mauerhofer (auch seine Brüder Walter und Erich), der Christliche Missions-Verlag Bielefeld (CMV), die Mission „Evangelium-für-alle“ (EfA) in Stuttgart-Bad Cannstatt unter Michael Happle, der Prediger Karl-Hermann Kauffmann u.v.a.

[2] Wir verwenden diese Bezeichnung im Sinne des Artikels von Phil Johnson, A Primer on Hyper-Calvinism. Shepherds Conference March 2003, Sun Valley, CA. Der Begriff ist trotzdem nicht überall gleich bekannt und wird unscharf verwendet.

[3] Es lohnt sich, einmal die Ausführungen Calvins selbst [http://www.calvin-institutio.de] samt seinen deutlichen Warnungen zu lesen (Institutio, Buch III, Kap. 21, Pkt. 1–2). Zur Prädestination schreibt Calvin u.a.: „Unter Vorbestimmung verstehen wir Gottes ewige Anordnung, vermöge deren er bei sich beschloß, was nach seinem Willen aus jedem einzelnen Menschen werden sollte! Denn die Menschen werden nicht alle mit der gleichen Bestimmung erschaffen, sondern den einen wird das ewige Leben, den anderen die ewige Verdammnis vorher zugeordnet. Wie also nun der einzelne zu dem einen oder anderen Zweck geschaffen ist, so – sagen wir – ist er zum Leben oder zum Tode vorbestimmt“. (Institutio, Buch III, Kap. 21, Pkt. 5. Übers. v. Otto Weber, Neukirchener Verlag, 1955. Betonung im Original.). Und: „Was demnach die Schrift klar zeigt, das sagen wir auch: Gott hat in seinem ewigen und unwandelbaren Ratschluß einmal festgestellt, welche er einst zum Heil annehmen und welche er andererseits dem Verderben anheimgeben will. Dieser Ratschluß ist, das behaupten wir, hinsichtlich der Erwählten auf Gottes unverdientes Erbarmen begründet, ohne jede Rücksicht auf menschliche Würdigkeit. Den Menschen aber, die er der Verdammnis überantwortet, denen schließt er nach seinem zwar gerechten und unwiderruflichen, aber unbegreiflichen Gericht den Zugang zum Leben zu!“ (op. cit., Kap. 21, Pkt. 7).

[4] R. C. Sproul, reformierter Theologe, hat den Unterschied sehr gut dargestellt in: Double Predestination (PDF). Einleitend schreibt er dort: „The distortion of double predestination looks like this: There is a symmetry that exists between election and reprobation. God WORKS in the same way and same manner with respect to the elect and to the reprobate. That is to say, from all eternity God decreed some to election and by divine initiative works faith in their hearts and brings them actively to salvation. By the same token, from all eternity God decrees some to sin and damnation (destinare ad peccatum) and actively intervenes to work sin in their lives, bringing them to damnation by divine initiative. In the case of the elect, regeneration is the monergistic work of God. In the case of the reprobate, sin and degeneration are the monergistic work of God. Stated another way, we can establish a parallelism of foreordination and predestination by means of a positive symmetry. We can call this a positive-positive view of predestination. This is, God positively and actively intervenes in the lives of the elect to bring them to salvation. In the same way God positively and actively intervenes in the life of the reprobate to bring him to sin. … Such a view of predestination has been virtually universally and monolithically rejected by Reformed thinkers.“ [Fettdruck hinzugefügt] „Sproul stellt zu Recht fest, dass diese Lehre mit dem Hyper-Calvinismus gleichzusetzen ist, den er lieber »Sub-Calvinismus« oder »Anti-Calvinismus« nennt. R. C. Sproul, Chosen by God (Wheaton, IL: Tyndale House, 1986), S. 142.“
John MacArthur,
der kein reformierter Theologe ist (und keiner Denomination angehört), schreibt zusammen mit Richard Mayhue in Biblische Lehre über Gottes Erwählen: „Der Ratschluss der Erwählung ist die freie und souveräne Wahl Gottes, die er in der Ewigkeit vor aller Zeit getroffen hat, seine Liebe auf bestimmte Einzelpersonen zu richten, und – auf der Grundlage von nichts in ihnen selbst, sondern allein wegen des Wohlgefallens seines Willens – zu beschließen, dass sie von der Sünde und Verdammnis errettet werden und durch das Werk Jesu Christi als Mittler die Segnungen des ewigen Lebens ererben sollten.“ (2. Aufl., Berlin: EBTC, 2021, S. 654). Über die Verwerfung siehe op. cit., S. 669ff. Auszug: „Obwohl dies die Vorstellung ist, an die viele denken, wenn sie die Begriffe Verwerfung oder doppelte Prädestination hören, ist dies eine grobe Karikatur der biblischen Lehre von der Verwerfung, die der Schrift absolut fremd und der Liebe und Gerechtigkeit Gottes zuwider ist; es ist eine Verirrung des historischen Calvinismus, die von der reformierten Orthodoxie durchgängig verworfen wurde und wird.“
Im Widerspruch zur symmetrischen Sicht der Römisch-katholischen Lehre und der Arminianer (doppeltes Vorhersehen), als auch zur Sicht der Hyper-Calvinisten und der Barthianer (doppelte Prädestination), führt uns der biblische Befund dazu, an einer asymmetrischen Sicht der Erwählung festzuhalten, nämlich einer vorbedingungslosen (o. unbedingten) Erwählung zum Leben (auf dem Grundsatz der Gnade) und einer bedingten Erwählung zur Verdammnis (auf dem Grundsatz der Gerechtigkeit). Wenn wir von einer »Erwählung zur Verdammnis« reden, meinen wir damit nicht, dass Gott Personen zur Sünde und zum Ungehorsam vorherbestimmt habe, sondern zur Verurteilung (und Verdammung), die zwangsweise jeder Sünde folgen muss.

Getretener Quark wird breit, nicht stark.

Dieser Ausspruch im Westöstlichen Diwan (1819/1827) von Goethe passt irgendwie hervorragend zu den immer wieder mantraartig (scheinbar sinnfrei) wiederholten Vorwürfen arminianisch und römisch geprägter Christen, die sie immer wieder in Richtung jener Christen äußern, die der bibeltreuen reformatorischen Heilslehre anhängen. Die Reformierten (meist als „Calvinisten“ Bezeichneten) fassten vor 400 Jahren im Schlussstatement ihrer Verwerfung der arminianischen Irrlehren (der sog. „Lehrregel“, 1619) diese haltlosen Vorwürfe wie unten angeführt zusammen.

Man gewinnt den Eindruck, dass auch 400 Jahre nicht reichen, den falschen Blick und das falsche Denken arminianisch argumentierender Menschen zu korrigieren. Durchblick gibt es erst bei überzeugter Bindung an die Wahrheit. Man muss demütig anerkennen und dann praktisch umsetzen, was der Sohn Gottes ein für allemal festgehalten hat: „DEIN WORT IST WAHRHEIT.“ Das wirft uns stets zurück auf die Heilige Schrift und die (wahren) Tatsachen. Dazu gehört also praktisch auch, dass man ehrlich und respektvoll mit dem Andersdenkenden umgeht, alle Behauptungen genau an den Tatsachen überprüft und kein falsches Zeugnis wider den Nächsten ausspricht.

Was „gegen alle Wahrheit und Liebe“ dem Volk eingeredet wird

»Die Lehre der reformierten Kirchen von der Gnadenwahl und damit zusammenhängenden Lehrstücken…

  • führe die Gemüter der Menschen durch einen gewissen eigentümlichen Geist und Richtung von aller Frömmigkeit und Gottesfurcht ab. Sie sei ein Ruhekissen des Fleisches und des Teufels und eine Burg des Satans, aus der er allen auflauere, die meisten verwunde und viele mit den Pfeilen der Verzweiflung oder Sicherheit tödlich treffe.
  • Sie mache Gott zum Urheber der Sünde, zu einem Ungerechten, einem Tyrannen, einem Heuchler und
  • sei nichts anderes als verfälschter Stoizismus, Manichäismus, Libertinismus und Islam.
  • Sie mache die Menschen fleischlich sicher, da sie nach ihr überzeugt wären, es schade der Seligkeit der Erwählten nicht, wie sie auch lebten, und deshalb könnten sie in Sicherheit auch die schwersten Frevel begehen.
  • Den Verworfenen helfe es nicht zur Seligkeit, wenn sie auch alle Werke der Heiligen wirklich vollbrächten.
  • Durch dieselbe würde gelehrt, dass Gott nach der bloßen und reinen Willkür seines Willens, ohne alle Rücksicht auf irgendeine Sünde und ohne Ansehen den größten Teil der Welt zur ewigen Verdammnis vorherbestimmt und geschaffen habe.
  • Auf dieselbe Weise, wie die Erwählung die Quelle und die Ursache des Glaubens und der guten Werke sei, so sei die Verwerfung die Ursache des Unglaubens und der Unfrömmigkeit.
  • Viele Kinder der Gläubigen würden von der Brust der Mutter unschuldig fortgerissen und tyrannisch in die Hölle gestürzt, so dass ihnen weder die Taufe noch die Gebete der Kirche bei ihrer Taufe etwas helfen könnten.«

Unschwer erkennt man, dass kontemporären, arminianisch denkenden Christen nichts Neues als „Argument“ gegen ihre biblisch glaubenden Geschwister einfällt. Es wird einfach immer wieder dasselbe Falsche, Verleumderische, Unsinnige und Unbiblische behauptet, auch wenn die Verleumdeten schon oft das Gegenteil bezeugt haben (siehe im folgenden Zitat). Dass diese Vorwürfe schon vor Jahrhunderten diskutiert und entkräftet wurden, wissen die arminianisch denkenden Christen nicht oder ignorieren es willentlich. Hier ist der Spruch vom „getretenen Quark“ tragisch zutreffend.

Was die Verantwortung jedes Christen ist, wenn er solche Behauptungen hört

„Und was der Art mehr ist, was die reformierten Kirchen nicht nur nicht anerkennen, sondern von ganzem Herzen verabscheuen.

Deshalb beschwören wir beim Namen des Herrn alle, welche den Namen unseres Heilandes Jesus Christus gottesfürchtig anrufen, dass sie über den Glauben der reformierten Kirche nicht aus den hier- und dorther zusammengehäuften Schmähungen oder aus den besonderen Äußerungen einiger älterer oder neuerer Lehrer, die oft entweder falsch angeführt oder entstellt und zu einem anderen Sinn verdreht sind, urteilen, sondern aus den öffentlichen Bekenntnissen dieser Kirchen und aus dieser Darlegung der rechtgläubigen Lehre, die durch diese Lehrregel festgestellt ist.

Die Verleumder aber selbst ermahnen wir ernsthaft, dass sie überlegen mögen, welch schwerem Gericht Gottes sie verfallen würden, wenn sie gegen so viele Kirchen und so vieler Kirchen Bekenntnisse falsches Zeugnis reden, das Gewissen der Schwachen beunruhigen und sich bemühen, vielen die Gemeinschaft der wahrhaft Gläubigen verdächtig zu machen.“

Was die Verkündiger des biblischen Glaubens beachten sollen

„Zuletzt ermahnen wir alle Diener Gottes im Evangelium Christi, dass sie bei Durchnahme dieser Lehre in Schulen und Kirchen fromm und gottesfürchtig zu Werke gehen, sie sowohl mündlich als schriftlich zum Ruhm des göttlichen Namens, zur Heiligkeit des Lebens und zum Trost niedergeschlagener Gemüter anwenden, mit der Schrift nach der Gleichmäßigkeit des Glaubens nicht nur denken, sondern auch sprechen und sich endlich aller der Ausdrücke enthalten, welche die uns vorgeschriebenen Grenzen des richtigen Sinnes der heiligen Schriften überschreiten und den nichtswürdigen Sophisten eine gute Gelegenheit bieten könnten, die Lehre der reformierten Kirche zu verhöhnen oder zu verleumden.

Der Sohn Gottes, Jesus Christus, der, zur Rechten des Vaters sitzend, den Menschen Gaben spendet, heilige uns in der Wahrheit, führe die, welche irren, zur Wahrheit, verschließe den Verleumdern der rechten Lehre den Mund und erfülle die treuen Diener seines Wortes mit dem Geist der Weisheit und Unterscheidung, damit alle ihre Reden zum Ruhm Gottes und der Erbauung der Zuhörer dienen. Amen.

Textquellen der Langzitate

Leseempfehlungen

  • Greg Forster, Fünf Mythen über den Calvinismus. (Artikel auf Evangelium21.net vom 3. Dezember 2018).
    • Mythos 1: Wir haben keinen freien Willen.
    • Mythos 2: Wir werden gegen unseren Willen gerettet.
    • Mythos 3: Wir sind total verdorben.
    • Mythos 4: Gott liebt die Verlorenen nicht.
    • Mythos 5: Der Calvinismus befasst sich hauptsächlich mit Gottes Souveränität und Prädestination.
  • Michael Haykin, Fünf Mythen über Johannes Calvin. (Artikel auf Evangelium21.net vom 24. Juli 2020).
    • Mythos Nr. 1: Calvin ließ Michael Servet hinrichten.
    • Mythos Nr. 2: Der Tyrann Calvin übte in der Hauptzeit seines Wirkens in Genf von 1541 bis 1564 in der Stadt eine Gulag-ähnliche Herrschaft aus.
    • Mythos Nr. 3: Calvins Theologie lässt sich mit dem Akronym TULIP zusammenfassen.
    • Mythos Nr. 4: Calvins monergistische Soteriologie bringt eine Tendenz zum Antinomismus mit sich.
    • Mythos Nr. 5: Calvin hatte kein Interesse an Mission.
  • Kenneth J. Stewart, Ten Myths About Calvinism – Recovering the Breadth of the Reformed Tradition. Downers Grove, IL: InterVarsityPress und Nottingham, England: Apollos, 2011.

Der Spruch zu guter Letzt

He that hath a head of wax musst not walk in the sun.

Was die „Fünf Punkte des Calvinismus“ nötig machte

Was man heute als die „Fünf Punkte des Calvinismus“ bezeichnet, gehört seit über 400 Jahren verbindlich zum reformierten Glaubensinhalt, ist aber auch Glaubensinhalt vieler anderer Christen, die sich in der Lehre – speziell in der Heilslehre – alleine auf Gottes Wort gründen. Diese „5 Punkte“ werden besser mit „Die Lehren der Gnade“ bezeichnet. Gnade und Barmherzigkeit sind zwei der Vollkommenheiten Gottes, die Er uns in besonders auffälliger Weise geoffenbart hat (2Mose 33,19; 34,6–9; Johannes 1,16 u.v.a.). Daher sind sie auch zentral wichtig für unsere Gotteserkenntnis und damit für die Anbetung Gottes.

Die „Lehren der Gnade“ sind also unverzichtbar wichtig und wertvoll. Man muss jedoch verstehen, dass der „Calvinismus“ (i.S.v. Glaubensinhalt der Reformierten) nicht (nur) aus (diesen) 5 Punkten besteht. Vielmehr sind dem reformiert Glaubenden Hunderte älterer und weiterer „Punkte“ genauso verpflichtender Glaubensinhalt. Diejenigen Nichtreformierten, die sich heute als „5-Punkte-Calvinisten“ bezeichnen, müssten zutreffender sagen, dass sie an „Die Lehren der Gnade“ glauben. Diese Lehren lassen sich (frühestens seit 1905!) mit dem Akrostichon TULIP in Erinnerung rufen (s.a.: TULIP – Wer hat’s erfunden? ). Sie wurden notwendig als Zurechtweisung formuliert, als die reformierte Kirche von Falschlehre(r)n angegriffen wurde und der Antrag gestellt wurde, diese Falschlehren in das Glaubensbekenntnis der Kirche aufzunehmen. Robert Godfrey ordnet die „5 Punkte“ so ein: „Der Calvinismus hat fünf Antworten auf die fünf Irrlehren des Arminianismus. Die Lehrregeln antworten Punkt für Punkt auf die arminianische Zusammenfassung, die 1610 vorlegt wurde.“ (Artikel: Gründe für Dordrecht, 2019)

Der damalige politische Streit war immer auch ein religiöser, da die Römische Kirche es gewohnt war, ihre Macht wie im Kirchlichen so auch in der Politik auszuüben. Romanisierungstendenzen sind als Ergebnis aktiver Gegenreformation und andererseits mangelnder Lehrfestigkeit der „Protestanten“ daher immer wieder wahrzunehmen, wie damals so auch heute (s.z.B. Gemeinsame Erklärung), wenngleich die Taktik und Methoden angepasst werden.

Die inhaltliche Beurteilung der „Fünf Punkte“ der Protestler (Arminianer)

Das Lehrsystem, das als „Calvinismus“ bekannt geworden (oder verleumdet worden) ist, behauptet, dass es eine richtige Darstellung der biblischen Heilslehre ist. Daneben gibt es verschiedene andere Lehrsysteme bzgl. der Heilslehre mit verschiedenen Graden des Unglaubens. Der „Calvinismus“ als theologisches Lehrsystem wurde natürlich nicht von der Synode von Dordrecht (Dordt) im Jahr 1619 [1] erfunden, sondern dort nur gegen Angriffe aus der Kirche verteidigt und als die in der Heiligen Schrift enthaltene Heilslehre bekräftigt. Diese Verteidigung wurde 1619 in „fünf Punkten“ (eigentlich als „Lehrregel“) formuliert, da es die Antwort auf die als unbiblisch beurteilten fünf Punkte ist, die die „Remonstranten“ („Protestler“; heute meist: „Arminianer“) der Kirche von Holland 1610 vorgelegt hatten. Die Lehren der arminianisch geprägten „Remonstranten“ wurden klar als Irrlehre bezeichnet und verurteilt.

Die Form der Beurteilung der „Fünf Punkte“ der Protestler (Arminianer)

Die Synode von Dordrecht war in der Verurteilung und Zurückweisung verbal nicht zimperlich. Sie erklärte in Reaktion auf die arminianischen und remonstrantischen Artikel und Meinungen in der „Lehrregel von Dordrecht“ (1619) [1] relativ offen und robust

  • dass Arminius und die Remonstranten „die Pelagianische Irrlehre wieder aus der Hölle hervorgebracht“ hatten.
  • Sie sagten von den Arminianern, sie „betrügen die Einfältigen“,
  • ihre arminianischen Lehren seien „eine Erdichtung des menschlichen Gehirns, ohne die Schrift ausgedacht“,
  • ein „schändlicher Irrtum“,
  • dass sie „nach der Gesinnung des Pelagius riecht“,
  • „der ganzen Schrift widerstreitet“ und „der Schrift widerspricht“,
  • ein „grober Irrtum“ sind,
  • „in Widerstreit mit der Erfahrung der Heiligen“ stehen,
  • „den klaren Zeugnissen der Schrift widerstreiten“,
  • dass sie Remonstranten „danach trachten, dem Volk das verderbliche Gift des Pelagianismus einzuflößen“,
  • „sie widersprechen dem Apostel“ und „sie widersprechen dem Heiland“,
  • ihre Lehre „verschmäht die Weisheit des Vaters und die Verdienste Jesu Christi und widerstreitet der Heiligen Schrift“,
  • sie „widerstreitet den klaren Zeugnissen der Schrift“,
  • sie „ist völlig pelagianisch und zu der ganzen Schrift im Widerspruch“.
  • Die Christen sollten wissen, dass „die alte Kirche diese Lehre schon seit langem in den Pelagianern […| verurteilt“ hat,
  • dass diese Lehre „einen deutlichen Pelagianismus offenbart“ und
  • dass „diese Meinung die Gnade, Rechtfertigung, Wiedergeburt und beständige Bewahrung Christi kraftlos macht“.

Die „Fünf Punkte“ der Protestler (Arminianer) sind Irrlehre, nicht nur Irrtum

Es wurde also nicht beschönigend von tolerierbarer „anderer Auffassung“, „anderer Erkenntnis“ o.ä. oder tolerierbar geringem Irrtum geredet (mit Entschuldigungen wie: „Wir alle irren mal“ und „Wir erkennen nur stückweise“, was natürlich Beides stimmt), sondern entlarvend von der Wiederkehr alter Irrlehren (Pelagianismus) und von Widerspruch zur Lehre der Heiligen Schrift.

Die rechtgläubigen Professoren, Theologen und Geistlichen Hollands und Englands versuchten daher beständig und aktiv, die Lehre der Arminianer zu unterdrücken und die Ausübung jenes Glaubens zu verbieten, den sie entschieden als häretisch verurteilten. Dies gelang ihnen durch die Einberufung der Synode von Dort recht wirksam. Aus diesen Gründen wurde der Arminianismus als (nichttolerierbare) Irrlehre (Häresie) – und nicht nur als (tolerierbarer) Irrtum – angesehen. Dieses Bewusstsein haben anscheinend manche „bibeltreue“ Gemeinden, Gemeinschaften und Missionswerke leider verloren.

Die Psychologisierung des Konflikts

Immer wieder gab es Versuche, die enormen lehrhaften Differenzen in diesem Konflikt herunterzuspielen und auf rein menschliche und persönliche Umstände und Lösungen abzuzielen. Wer als Theologe scheitert, versucht sich dann als Soziologe oder Psychologe? Dies ist gut zu beobachten beim bekannten Konflikt zwischen John Wesley und George Whitefield im 18. Jhdt., der in dieser Sache, insbes. in der Lehre von der Erwählung und der Heilssicherheit, tobte.[3] Whitefield schrieb in diesem Zusammenhang zurecht öffentlich an Wesley: „Die Kinder Gottes stehen in Gefahr, dem Irrtum zu verfallen. […] Oh, Sir, was ist denn das für eine Logik, oder besser: Sophistik?“ […] Sir, wie absurd argumentiert Ihr an dieser Stelle!“ (Brief vom 24.12.1740 von Bethesda, GA aus). Gleichzeitig verband er seine sachlich scharfe Kritik an der Irrlehre Wesley mit respektvollen Formulierungen gegenüber der Person des Gegners. Whitefield war nicht bereit, sein sachlich scharfes Urteil vom Ziel einer menschlichen Versöhnung trüben zu lassen, oder dem menschlichen Vertragen die Wahrheit und Gesundheit der Glaubenden zu opfern.

Es geht im Kern um nichts Geringeres als unser Gottesbild und unsere Anbetung

Gemäß der Lehren der Gnade wird das Heil durch die allmächtige Kraft des dreieinigen Gottes vollbracht: Der Vater hat ein Volk auserwählt, der Sohn ist für sie gestorben, der Heilige Geist macht den Tod Christi wirksam, indem er die Auserwählten zum Glauben und zur Umkehr bringt und sie dadurch veranlasst, dem Evangelium willig zu gehorchen (vgl. Hesekiel 36; Johannes 3, 6 u.a.).

Der Kreis der so gnädig Beschenkten wurde vor der Zeit allein durch göttliches Erwählen festgelegt und bleibt bei allen Heilswerken der Personen der Trinität (Opera ad extra) stets der selbe (s. a. Römer 8, 28–30). Diejenigen, für die der menschgewordene Sohn Gottes aus Liebe zum Vater und „den Seinigen“ (Johannes 13,1) im Opfer stirbt, sind exakt jene, die sich der Vater vor aller Zeit zum Besitz genommen hatte (Johannes 17,6b: „Dein waren sie“) und die er dann dem Sohn übergeben hatte („Mir hast du sie gegeben“, Johannes 17,6b), damit sie „die Seinigen“ seien, die er „bis aufs Äußerste“ und ewig göttlich lieben würde (Johannes 17,2.6.9.24). Wer diese Transaktion der Liebe nicht erfasst, glaubt, liebt, anbetet, verkündigt, dessen Gottesbild hat schon im Kernbereich erhebliche Mängel. Entsprechend dysfunktional wird seine Heilslehre. Würde es doch endlich begriffen: Erwählung zum Heil – und damit zur ewigen Gemeinschaft und Einheit – ist eine Liebesgeschichte! Eine Liebesgeschichte des Allmächtigen, der Licht und Liebe ist.

Der Streit zwischen der biblischen Auffassung des Heils bei den Reformatoren (und Reformierten) und bei den Gegen-Reformatoren ist im Kern immer auch ein Kampf zwischen einem gottzentrierten und einem menschzentrierten Verständnis der göttlichen Heilsveranstaltung. Die Heilige Schrift lehrt: Der gesamte Prozess, samt Erwählung, Erlösung, Wiedergeburt, ist das Werk Gottes und geschieht allein aus Gnade (Epheser 2,8–9). Auf diese Weise bestimmt Gott, und nicht der Mensch, wer die Gabe des Heils empfängt. Und Er macht das ganz gezielt so, dass Er am Ende alleine allen Dank und alle Anbetung dafür erhält (Römer 11,33–36): Soli Deo Gloria!


Anmerkungen

[1] Die Dordrechter Synode (auch Synode von Dordt) war eine nationale Versammlung der niederländischen reformierten Kirche unter Beteiligung von ausländischen reformierten Delegationen, die vom 13. November 1618 bis zum 9. Mai 1619 in Dordrecht stattfand. Siehe auch: 400 Jahre Synode in Dordrecht. Vgl. auch die Ausarbeitung Gründe für Dordrecht – Zur Entstehung und Bedeutung der Synode von Dordrecht von Robert Godfrey auf der Website von Evangelium 21 (2019) (Link).

[2] Text in Deutsch entweder online (SERK Deutschland) oder als Dokument (PDF).

[3] Sehr gute Darstellung in der Whitefield-Biografie von Benedikt Peters: George Whitefield: Der Erwecker Englands und Amerikas. 2. Aufl. (Bielefeld: CLV, 2003), leider vergriffen, und Christian Klein: George Whitefield: Das Leben des Evangelisten und sein Konflikt mit John Wesley (PDF).

Die Pflicht zum Widerstand gegen Falschlehre (J.C. Ryle)

John Charles Ryle (1816–1900)

Der ursprüngliche Artikel trägt die Überschrift Opposing False Doctrine und erschien in seiner Buchreihe Expository Thoughts on the Gospels (1869).

Und er rief die Volksmenge herzu und sprach zu ihnen: Hört und versteht! Nicht was in den Mund eingeht, verunreinigt den Menschen, sondern was aus dem Mund ausgeht, das verunreinigt den Menschen.
Dann traten seine Jünger herzu und sprachen zu ihm: Weißt du, dass die Pharisäer Anstoß genommen haben, als sie das Wort hörten?
Er aber antwortete und sprach: Jede Pflanze, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, wird ausgerissen werden. Lasst sie; sie sind blinde Leiter [der] Blinden. Wenn aber ein Blinder einen Blinden leitet, werden beide in eine Grube fallen.
Petrus aber antwortete und sprach zu ihm: Deute uns dieses Gleichnis.
Er aber sprach: Seid auch ihr noch unverständig? Begreift ihr nicht, dass alles, was in den Mund eingeht, in den Bauch geht und in [den] Abort ausgeschieden wird? Was aber aus dem Mund ausgeht, kommt aus dem Herzen hervor, und das verunreinigt den Menschen. Denn aus dem Herzen kommen hervor böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsche Zeugnisse, Lästerungen; diese Dinge sind es, die den Menschen verunreinigen, aber mit ungewaschenen Händen essen verunreinigt den Menschen nicht. (Matthäus 15,10-20)



In diesem Abschnitt gibt es zwei auffällige Aussagen des Herrn Jesus. Die eine bezieht sich auf falsche Lehre, die andere bezieht sich auf das menschliche Herz. Beide Aussagen verdienen unsere größte Aufmerksamkeit.

Falsche Lehre

In Bezug auf falsche Lehre erklärt unser Herr, dass es eine Pflicht ist, sie zu bekämpfen, dass ihre endgültige Zerstörung sicher ist und dass man sich von ihren Lehren distanzieren sollte. Er sagt: »Jede Pflanze, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, wird entwurzelt werden. Schenkt ihr keine Beachtung.«

Aus der Untersuchung des Textes geht hervor, dass die Jünger überrascht waren von den scharfen Worten unseres Herrn über die Pharisäer und ihre Traditionen. Wahrscheinlich hatten sie sich von Jugend an daran gewöhnt, sie als die weisesten und besten Menschen anzusehen. Sie waren erschrocken, als sie hörten, wie ihr Meister sie als Heuchler anprangerte und sie beschuldigte, das Gebot Gottes zu übertreten. » Weißt du,« sagten sie, »dass die Pharisäer Anstoß genommen?« Dieser Frage verdanken wir eine erklärende Aussage unseres Herrn – eine Aussage, die sonst vielleicht nie die Beachtung gefunden hätte, die sie verdient.

Die klare Bedeutung der Worte unseres Herrn ist, dass eine falsche Lehre, wie die der Pharisäer, wie eine Pflanze war, der man keine Gnade erweisen sollte. Es war eine »Pflanze, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat«, und eine Pflanze, die auszureißen die Pflicht war, was auch immer sie anrichten mochte. Es war keine Nächstenliebe, sie zu verschonen, denn sie schadete den Seelen der Menschen. Es spielte keine Rolle, dass diejenigen, die sie pflanzten, hohe Ämter innehatten oder gelehrt waren. Wenn eine Lehre dem Wort Gottes widerspricht, muss sie bekämpft, widerlegt und verworfen werden. Seine Jünger mussten daher verstehen, dass es richtig war, allen Lehren zu widerstehen, die unbiblisch waren, und alle Lehrer, die diese Lehren fortwährend brachten, unbeachtet stehen zu lassen und sich von ihnen zu distanzieren: »Lasst sie!« Früher oder später würden sie feststellen, dass alle Irrlehren völlig umgestürzt und zu Schanden gemacht werden. Nichts wird Bestand haben außer dem, was auf Gottes Wort gegründet ist.

In diesem Ausspruch unseres Herrn stecken Lektionen von tiefer Weisheit, die dazu dienen, die Pflicht manches bekennenden Christen zu beleuchten. Lasst uns diese Lektionen gut überfliegen und erkennen, was sie uns lehren. Aus dem praktischen Gehorsam gegenüber dem Ausspruch des Herrn »Lasst sie!« entstand auch die segensreiche protestantische Reformation. Diese Lektionen Lehren verdienen also unsere größte Aufmerksamkeit.

Sehen wir hier nicht, dass wir verpflichtet sind, im Widerstand gegen falsche Lehren unerschrocken zu sein? Zweifellos sehen wir diese Pflicht. Keine Angst, Anstoß zu erregen, keine Furcht vor kirchlicher Zensur sollte uns zum Schweigen bringen, wenn Gottes Wahrheit in Gefahr steht. Wenn wir wahre Nachfolger unseres Herrn sind, sollten wir freimütige, unerschrockene Zeugen gegen den Irrtum sein. »Die Wahrheit«, sagt Musculus, »darf nicht unterdrückt werden, denn die Menschen sind böse und blind.«

Sehen wir nicht erneut die Pflicht, Irrlehrer zu verlassen, wenn sie ihren Wahn nicht aufgeben wollen? Zweifellos ja. Kein falsches Feingefühl, keine falsche Demut sollten uns davor zurückschrecken lassen, die Dienste eines Geistlichen zu fliehen, der Gottes Wort widerspricht. Es ist zu unserem eigenen Verderben, wenn wir uns unbiblischer Lehre ausliefern. Und es wird ganz unsere eigene Schuld sein, wenn wir entsprechend im Glauben Schaden nehmen. Um es mit den Worten von Whitby zu sagen: »Es kann niemals richtig sein, einem Blinden in den Graben zu folgen.«

Erkennen wir, als letztem Punkt, nicht auch die Pflicht zur Geduld, wenn wir zuschauen müssen, wie falsche Lehren mehr und mehr zunehmen? Zweifellos erkennen wir diese Pflicht. Wir können uns mit dem Gedanken trösten, dass sie nicht lange Bestand haben werden. Gott selbst wird die Sache seiner Wahrheit verteidigen. Früher oder später wird jede Irrlehre »ausgerissen werden«. Wir sollen nicht mit fleischlichen Waffen kämpfen, sondern warten, predigen, protestieren und beten. Früher oder später, sagte Wycliffe, »wird die Wahrheit obsiegen«.

Das Herz des Menschen

Was das Herz des Menschen betrifft, erklärt unser Herr in diesen Versen, dass es die wahre Quelle aller Sünde und Verunreinigung ist. Die Pharisäer lehrten, dass die Heiligkeit von Speisen und Getränken von körperlichen Waschungen und Reinigungsriten abhing. Sie meinten, dass alle, die ihre Traditionen in diesen Dingen befolgten, vor Gott rein und sauber seien, und dass alle, die diese Traditionen vernachlässigten, unrein und unrein seien. Unser Herr verwarf diese elende Lehre, indem er seinen Jüngern zeigte, dass die wahre Quelle aller Verunreinigungen nicht außerhalb des Menschen liegt, sondern in seinem Inneren: »Aus dem Herzen«, sagte er, »kommen hervor böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsche Zeugnisse; diese Dinge sind es, die den Menschen verunreinigen«. Wer Gott recht dienen will, braucht etwas viel Wichtigeres als körperliche Waschungen: Er muss danach streben, »ein reines Herz« zu haben.

Was für ein schreckliches Bild des menschlichen Wesens haben wir hier vor uns! Und es wurde auch noch von jemand gezeichnet, der genau wusste, was im Menschen ist. Was für ein furchtbares Verzeichnis ist das davon, was in unserer eigenen Brust steckt! Welch traurige Liste von Samen des Bösen hat unser Herr aufgedeckt, die tief in jedem von uns liegen und jederzeit bereit sind, ins aktive Leben zu treten! Was können die Stolzen und Selbstgerechten sagen, wenn sie eine solche Stelle wie diese lesen? Hier skizziert der Herr nicht das Herzen eines Räubers oder Mörders, sondern berichtet wahr und getreu über die Herzen aller Menschen. Möge Gott uns gewähren, dass wir gut darüber nachdenken und weise werden!

Lasst es uns zu einem festen Vorsatz machen, dass der Zustand unseres Herzens die Hauptsache unseres Glaubenslebens sein soll. Möge es uns nicht genügen, in die Kirche zu gehen und die äußeren Formen der Religion einzuhalten. Lasst uns viel tiefer blicken, als nur so weit, und vielmehr danach trachten, ein »aufrichtiges Herz vor Gott« zu haben (Apostelgeschichte 8,21.) Das rechte Herz ist ein Herz, das mit dem Blut Christi besprengt, durch den Heiligen Geist erneuert und durch den Glauben gereinigt wurde. Lasst uns niemals ruhen, bis wir in uns das Zeugnis des Geistes Gottes darüber finden, dass Gott in uns ein reines Herz geschaffen und alles neu gemacht hat (Psalm 51,10. 2Korinther 5,17).

Schließlich soll es uns fester Vorsatz sein, alle Tage unseres Lebens unser »Herz mehr als alles, was zu bewahren ist« zu behüten (Sprüche 4,23.) Selbst nach der Erneuerung sind unsere Herzen schwach. Selbst nachdem wir den neuen Menschen angezogen haben, sind unsere Herzen trügerisch. Vergessen wir nie, dass unsere größte Gefahr von innen kommt. Die Welt und der Teufel zusammen können uns nicht so viel Schaden zufügen, wie unser eigenes Herz, wenn wir nicht wachen und beten. Glücklich ist, wer sich täglich an die Worte Salomos erinnert: »Wer auf sein Herz vertraut, der ist ein Tor; wer aber in Weisheit wandelt, der wird entkommen« (Sprüche 28,26).

Über den Autor

John Charles Ryle (1816–1900) war war der erste anglikanische Bischof von Liverpool. Er ist inzwischen auch in Deutschland durch seine Bücher Seid heilig (Holiness), Gedanken für junge Männer (Thoughts for young men), Mit Gott auf dem Weg (Walking with God), Die Pflichten der Eltern und Beten Sie? bekannt. Er gilt als einer der größten viktorianischen Evangelikalen. Spurgeon nannte ihn den »besten Mann der Kirche Englands« (unter Verwendung von: https://de.wikipedia.org/wiki/John_Charles_Ryle). – Übersetzt von grace@logikos.club

Literaturverweise

  • Do Not Tolerate False Teaching by J.C. Ryle (im Web hier)
  • 8 Symptoms of False Doctrine von J.C. Ryle (im Web hier)

Ad impossibilia nemo obligatur – Zu Unmöglichem ist niemand verpflichtet (?)

Beim Studium der Heiligen Schrift biegt man immer wieder einmal quietschend in Sackgassen falscher Vorannahmen und Denkvoraussetzungen (Presuppositionen), Interpretationsgrundsätzen (Hermeneutik) und Denkweisen (Logik) ab. Dies gilt besonders betreffs der Lehren der Schrift, die uns im Wort beschrieben, aber unserer normalen Erfahrung und „Logik  nicht vertraut, rätselhaft oder unserem menschlich-fleischlichen Denken und Empfinden sogar zuwider sind.

Heilslehre (Soteriologie) – „Logisch“ und/oder biblisch?

Dazu ein fast „klassisches  Beispiel aus der Heilslehre (Soteriologie). Peter Streitenberger schreibt –wie einige lange vor ihm– in seinem Buch Die Fünf Punkte des Calvinismus – Eine Antwort (CMD, 2007) Folgendes: »Es ist ein Fehlschluss menschlicher Logik und in sich widersprüchlich, zu unterstellen, dass das, was Gott dem sündigen Menschen eindeutig und immer wieder befiehlt, eigentlich unmöglich wäre.« (S. 26). Er kritisiert damit Theologen, die er wohl im Widerspruch zu seiner eigenen arminianischen Heilsauffassung sieht. Dank der Vernetztheit der Heilslehre mit anderen Wahrheiten der Schrift verursacht er damit allerdings auch Kollateralschäden an anderer Stelle.

Streitenberger wendet sich in der Vorrede seines Buchs noch gegen die „menschliche Logik, was ihn jedoch im Hauptteil nicht davon abhält, selbst Argumente der Logik anstelle von Aussagen der Heiligen Schrift einzusetzen, siehe Zitat. Dies ist klassische Selbstzerstörung eines vermeintlichen Arguments. Der Irrtum hier ist sogar doppelt, denn (1) beurteilt Streitenberger hier etwas als »Fehlschluss menschlicher Logik und in sich widersprüchlich«, was (2) in der Heiligen Schrift schon an anderer Stelle eindeutig und affirmativ vorkommt. Zum Ersten: Wenn es logisch (richtig) wäre, dann wäre es nicht widersprüchlich und wenn es widersprüchlich wäre, dann wäre es logisch nicht richtig. Was also meint er konkret? Kann man das auch klar sagen?

Streitenbergers Argument lautet: Wenn Gott dem Menschen etwas gebietet, dann bedeute dies, dass der Mensch auch in der Lage sei, dieses Gebot(ene) zu halten. Ein göttlich verordnetes Sollen sei mithin unmoralisch, wenn es das Können/Vermögen des Menschen überschreite. Daher beurteilt er die Aussage als falsch, dass der Mensch etwas, was ihm göttlich geboten ist (z. B. die Buße oder der rettende Glaube; Mk 1,15; Apg 17,30), nicht aus sich selbst heraus tun bzw. erbringen könne. Hier irrt Streitenberger, denn Römer 8,6-7 bezeugt diese Unfähigkeit und Unwilligkeit ausdrücklich: »Denn die Gesinnung des Fleisches ist der Tod, die Gesinnung des Geistes aber Leben und Frieden, weil die Gesinnung des Fleisches Feindschaft ist gegen Gott, denn sie ist dem Gesetz Gottes nicht untertan, denn sie vermag es auch nicht«. Noch klarer kann man wesenhaftes Unvermögen bei gleichzeitigem Verpflichtetsein kaum ausdrücken. Andere Stellen wären dem hinzuzufügen.

Streitenbergers Argument kann auch daran als fehlerhaft erkannt werden, dass uns in der Schrift anhand des Gesetzes das Gegenteil gelehrt wird. Gott hatte eindeutig und unter klarer, scharfer Androhung der ewigen Todesstrafe geboten, dass das Gebot Gottes zu halten sei (z. B. 5. Mose 28,15ff). Er meint es also absolut ernst. Aber er lässt ebenfalls als Wahrheit aufschreiben, dass (außer Jesus Christus) kein Mensch das Gesetz gehalten hat noch je hätte halten können (z. B. Apg 15,10; Römer 3,20–23; 5,20–21). Damit ist gezeigt, dass Gott sehr wohl vom Menschen etwas absolut verlangt (nämlich die Perfektion; z. B. Matthäus 5,48; Jakobus 2,10–11; Römer 3,10), was kein Mensch aus sich heraus zu erbringen vermag. Dieses Beispiel zeigt schon, dass das Argument Streitenbergers (das er mit manchem vor und mit ihm teilt) nicht aus dem Wort der Wahrheit stammen kann, denn dieses Wort ist durchgehend widerspruchsfrei.

Das falsche Argument ist ein alter Hut – aus falschen Quellen gefischt

Dem Kenner der Kirchengeschichte ist nicht verborgen, dass diese Art der Argumentation schon in der Denktradition der „Arminianer” (frühes 16 Jhdt.) oder auch später in der amerikanischen „New Haven-Theology” nach Nathaniel W. Taylor (frühes 19. Jhdt.) auftaucht. Berüchtigt ist auch der angebliche „Erweckungsprediger“ Charles Grandison Finney (1792–1875) und das Bibelseminar in Oberlin (OH, USA, gegr. 1833), dessen zweiter Präsident er war, die die selben falschen Behauptungen vertraten und verbreiteten (jeder könne völlig frei und aus eigenen Kräften das Heil erwerben und absolute Heiligung erreichen).

Die Behauptung »Sollen impliziert Können« ist jedoch als weltlich-heidnisches Rechtsprinzip um einiges älter. Als Grundsatz taucht sie schon in den Digesten (lat. digesta = Geordnetes; didaktische Zusammenstellung von Rechtssätzen) des römischen Rechts auf. Sinnverwandte Prinzipien und Rechtsgrundsätze lauten: »Ad impossibilia nemo obligatur/tenetur« (»Zu Unmöglichem ist niemand verpflichtet«; vgl. BGB § 275 Abs. 2-3); »Lex cogit neminem ad impossibilia« (»Das Gesetz zwingt niemand zu Unmöglichem«); »Ultra posse nemo obligatur« (»Über sein Können hinaus wird niemand verpflichtet«).

Der ungläubige Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) schreibt Ähnliches in seiner Critik der praktischen Vernunft (1788): »Denn, da sie [die reine Vernunft] gebietet, dass solche [Handlungen nach sittlicher Vorschrift] geschehen sollen, so müssen sie auch geschehen können.« (A807, B835). Autonomie ist damit bei Kant Bedingung dafür, dass Moral möglich ist. Autonomie in diesem Sinne ist die Freiheit, nach einem selbst bestimmten Willen zu handeln. Die Absolutsetzung der Autonomie müssen wir aber als Vergottung des Menschen als ethischem Wesen sehen. Kant selbst sagte: »Gott ist also keine ausser mir befindliche Substanz sondern blos ein moralisch Verhältnis in Mir.« ([sic!] Akademie-Ausgabe XXI, S. 149). Damit wird aber die widergöttliche Denkbasis und Denkrichtung schon bloßgelegt. Wo ist Kantsche Philosophie, wo biblische Wahrheit im Argument von Streitenberger?

Dieses im menschlichen Recht gerechterweise oft anzuwendende Prinzip ist aber weder kausale noch logische Implikation: Das Sollen garantiert niemals das Können. Und der Bibelleser weiß zudem sicher: Wenn Gott etwas als Sollen (oder Sein) fordert, ist es stets »heilig, gerecht und gut« (Römer 7,12)!

Es gibt bessere Erklärungen, biblische nämlich

Einige Bibellehrer haben den biblischen Sachverhalt besser ergriffen und mit Begriffen und Metaphern der Bibel erklärt (Schuld, Erlösung, Zurechnung usw.): Nehmen wir an, ein Mensch bekäme für eine gewisse Zeit eine größere Geldsumme anvertraut. Er nimmt hocherfreut die große Summe an, verprasst aber das ganze Geld in Saus und Braus. Zur vereinbarten Zeit kommt der Geber wieder zu ihm und fordert sein Geld zurück. Der Mensch kann aber nichts zurückgeben, ganz einfach deswegen, weil er nichts mehr hat. Außerdem will er gar nichts zurückgeben und streitet jede Forderung ab. Es ist aber völlig klar, dass er die geliehene Summe zurückzahlen muss, denn es war geliehenes Vermögen, es gehört einem anderen. Das faktische Unvermögen liefert hier nicht die Freistellung aus der moralischen Schuld, sondern begründet und vertieft diese zusätzlich. Anders gesagt: Die Forderung des Gläubigers besteht weiter und ist völlig rechtens, auch wenn dem Schuldner die Erfüllung der Forderung faktisch unmöglich ist.

To the Point: Die Forderung nach Rückzahlung der Schuld bedeutet eben nicht, dass diese dem Schuldner faktisch möglich sei. Trotz der Unfähigkeit des Schuldners ist die Forderung des Eigentümers juristisch unanfechtbar und gerecht. – Nun, dies gilt übertragen auch im diskutierten Kontext der biblischen Heilslehre mit Blick auf das menschliche Elend, die Gerechtigkeit Gottes und die Notwendigkeit eines freien Gnadengeschenks vonseiten des Heiland-Gottes. (Das Metapher der Schuld und des Schuldners ist direkt biblisch.)

Ein wesentlicher Denkfehler scheint mir zu sein, dass man die Situation des Sünders, die zu seiner faktischen Unfähigkeit und Unwilligkeit zur Umkehr geführt hat, moralfrei beurteilt, während doch die Heilige Schrift lehrt, dass die Unfähigkeit und Unwilligkeit des in Sünde gefallenen Menschen eine selbstverschuldete ist. Buße und Glauben oder anderen Aktivitäten des Herzens (Willen, Entscheidungen) oder der Hand (Werke) sind nach göttlichem Zeugnis einem Menschen innerlich erst möglich, wenn er diese vorher von außen her empfangen hat. Münchhausen funktioniert auch hier nicht.

Mit Empfang der göttlichen Rettungsgaben ändert sich alles: Es ist alles »aus Gott«, aber durch die freie Gabe Gottes sind im beschenkten Menschen nun Fähigkeit, Wille und gute Tat vorhanden und sein eigen: Es ist dann seine Fähigkeit (Vermögen), sein Wille (Motivation) und seine Tat (Vollbringen). Solange aber das Herz geistlich tot und in der Sklaverei der Sünde verkettet ist, gilt ohne göttliche „Operation am Herzen” (Hesekiel 11,19; 36,26) weiter: »Ihr wollt nicht zu mir kommen, damit ihr Leben habt«, und: »Ihr seid aus dem Vater, dem Teufel, und die Begierden eures Vaters wollt ihr tun« (Johannes 5,40; 8,44). Der ganze Vorgang wird in den Texten von den Segnungen des Neuen Bundes beeindruckend für Israel vorschattend beschrieben (s. z.B. Hesekiel 36,25–36) und im Johannesevangelium vom Sohn Gottes ausgelegt und auf den Glaubenden des NT angewandt. Im Heil kommt es danach nicht zuerst auf die Fähigkeit des Sünders an, sondern auf die Fähigkeit des rettenden Gottes. Er fordert – aber er gibt auch das, was er fordert. Glauben wir das? Dann werden und können wir zugreifen und dann sind wir ewig gerettet.

Gott aber sei Dank, dass ihr Sklaven der Sünde wart, aber von Herzen gehorsam geworden seid dem Bild der Lehre, dem ihr übergeben worden seid! Freigemacht aber von der Sünde, seid ihr Sklaven der Gerechtigkeit geworden.

Römer 6,17-18 (ELB03)


Bekehre mich, damit ich mich bekehre, denn du bist der Jahwe, mein Gott.

Jeremia 31,18b

Die angebliche Sensation des Ken Wilson

Eine Rezension von: War Augustinus der erste Calvinist?

Vor einiger Zeit wurden Nachrichten und Vorträge verbreitet, dass ein gewisser Ken Wilson eine Sensation entdeckt hätte, nämlich dass der Kirchenvater Augustinus der erste „Calvinist“ gewesen sei. Eine deutsche Kurzfassung der „bahnbrechenden Dissertation“ von Wilson (2012 in Oxford), die im Jahr 2018 veröffentlich wurde, trägt tatsächlich den Titel: „War Augustinus der erste Calvinist?“ (CMV-Hagedorn, Pb., ca. 156 Seiten, ISBN: 978-3-96190-062-6). Die Doktorarbeit lautet hingegen inhaltlich anders: „Augustine’s Conversion from Traditional Free Choice to “Non-free Free Will“: A Comprehensive Methodology“ (Tübingen: Mohr Siebeck, 2018, 388 Seiten, ISBN 978-3-16-155753-8). Es ist also zu vermuten, dass mit der deutschen Ausgabe tatsächlich eher reißerische Zwecke verfolgt werden, als denn seriöse und aufklärende.

Leider hat der Schweizer Bibellehrer Roger Liebi das Vorwort der CMV-Ausgabe geschrieben und aktiv Werbung für dieses Buch gemacht (Liebi leugnet auch die Erwählungslehre der Bibel).

Autor: Kenneth M. Wilson wurde 1956 geboren. 1981 wurde er Doktor der Medizin (!) an The University of Texas Medical School. 1989–95 war er Assistant Professor of Orthopaedic Surgery an der Oregon Health Sciences University. 2003 errang er den Titel Master of Divinity, 2006 den Titel Master of Theology und 2012 den Titel D. Phil. in Theologie von der University of Oxford. Gegenwärtig ist er ein zertifizierter Orthopaedic Hand Surgeon in Salem, Oregon und zugleich Professor für Kirchengeschichte und Systematische Theologie an der Grace School of Theology in The Woodlands, Texas, der Ausbildungsstätte einer christlichen Sondergruppe (Glaubensbekenntnis; bemerkenswert ist folgende schriftwidrige Behauptung dieser Bibelschule in ihrem Doctrinal Statement: »Initial faith resulting in justification and regeneration is not a gift of God.«).

Inhalt: Diskussion und Beurteilung der Behauptungen der Doktorarbeit von Ken Wilson findet sich an mancher Stelle. Eine davon fertigt(e) Mario Tafferner an (Abdruck auf Evangelium 21), eine tiefergehendere Chris Whisonant (hier veröffentlicht). Beide sind sehr lesenswert. Die Inhaltsangabe der Analyse von Whisonant mit kurzen Zusammenfassungen wird unten abgedruckt. Die Überschriften enthalten Links zu den vollen Artikeln. Vorsicht: das zugrundeliegende Studium ist nichts für Anfänger.

Allerdings könnte selbst ein Laie mit etwas Bildung erkennen, dass Augustinus (354–430) rein zeitlich niemals ein „Anhänger Calvins“ (1509–1564) oder dessen Lehren gewesen sein konnte. Ob diese Behauptung Geschichtsklitterung, Dummheit oder Effekthascherei ist, mag jeder selbst beurteilen. Man beachte auch folgende zwei Tatsachen:

(1) Gegen eine Erstentdeckung mit entsprechender Sensation seitens Ken Wilson (wie es die reisserische Bewerbung des Buches erwarten lässt) spricht jedenfalls, dass schon vor Kenneth Wilsons Veröffentlichung (2018) wissenschaftlich und ausführlich nachgewiesen worden war, dass Augustinus die „Lehren der Gnade“ vertrat, z. B. im Rahmen der Doktorarbeit von C. Matthew McMahon, Augustine’s Calvinism: The Doctrines of Grace in Augustine’s Writings, die bereits 2012 veröffentlicht wurde.

(2) Dass Augustinus der erste „Calvinist“ gewesen sei, die Kirchenväter vor ihm die Inhalte und Lehren der „Fünf Punkte des Calvinismus“ also noch nicht gelehrt hätten, muss anhand der Quellenlage zurückgewiesen werden (s. z. B. Artikel: Calvinism in the Early Church. The Doctrines of Grace Taught by the Early Church Fathers). Eine umfassende Arbeit mit Originalzitaten von den älteren Kirchenvätern hat bereits der Theologe und Sprachgelehrte John Gill vorgelegt (The Cause of God and Truth, 4. Band, 1738).

Man sollte sich aufgrund der Tatsachen wohl eher zu folgender Aussage reduzieren, wie sie McMahon in der Einleitung seiner Ausarbeitung trifft (op cit): „Der heilige Augustinus war ein Calvinist und Johannes Calvin war ein Augustiner. Das heißt, sowohl Augustinus als auch Calvin hielten sich an das Evangelium von Jesus Christus, das in der Bibel zu finden ist, obwohl sie über ein Jahrtausend auseinander lebten“ (weiter erhellende Fortsetzung des Zitats s. unten).

Fazit: Nach Einschätzung von Kennern der Materie ist zu befürchten, dass sich am Ende der 388 Seiten (des Originals) die Sensation des Ken Wilson als lahme Ente erweist, oder – wie der alte Goethe es sagen würde–: „Getretener Quark wird breit, nicht stark.(Westöstlicher Divan, 1819/1827).

Chris Whisonant: Discussing Ken Wilson’s Work – A Table of Contents

»Below you will find a Table of Contents with all of my posts in this current series. I will link to each post and provide a brief synopsis of its argument, typically a summary of each post’s conclusion.

Part 1 – Clement and Free Will

Dr. Wilson argues that when Clement stirred up the believers in Corinth to good works that the implicit logical consequence must only be libertarian free will. If this is clear through implication, what of  the explicit statements relating God’s will to our calling, justification, and opening of the eyes of our hearts that Clement understood believers are predestined and elected by God? By simply looking at the actual writing of Clement, there would be more data demonstrating that he was on the “traditional” belief in election as it relates to God’s purpose of salvation.

Part 2 – Augustine, 412, and Original Sin

Upon hearing that infants should be baptized not to remit original sin but simply to sanctify them, Augustine realized that this was not part of what he understood as the Christian faith handed down through the ages. He understood that the Church “guarded with utmost constancy” the doctrine that children were sinners due to their inheriting original sin from Adam. Therefore, his immediate argument was that the Church was against this novel doctrine of Pelagius and that infants should have always been baptized to cleanse them of their sin. If there was a side that Augustine would have understood as “traditional”, it was that side guarded by the Church that believed the transmission of original sin from Adam needed to be washed away in infants so that they could be clean and free from sin until such a time as they committed their own personal sin.

Part 3 – Some Earlier Comments from Augustine on Original Sin

Augustine spoke about the inherited sin nature by the sin of the first man very early in his Christian life in the year 393. And then in 401 we could see Augustine discussing the need for remission of sins by baptism in infants. The remission of sins was to renovate them from the sins of the old man. Augustine was saying something that the “traditional” advocate would not be able to say while being consistent with their own writings. Could a Provisionist say that “the custom of sinning has been turned into a nature of sinning according to mortal generation, by the sin of Adam”? That’s the language of Augustine before he explicitly wrote lengthy treatises on Original Sin.

Part 4 – Athanasius and Original Sin

Athanasius spoke of an origin of death from Adam, a curse of sin, and death being removed through regeneration from above and a quickening in Christ. At the very least, Athanasius shows that the church before Augustine was talking in ways that sound less “traditional” than the Provisionist would like.

Part 5 – Using Equal Scales in the Discussion

Wilson has also asserted that Biblical calls to repent or wake up must mean that man has that capability within himself to fulfill that call. In this post we see a similar statement by Mani where one is told to awaken. The “traditionalist” would read these statements in Scripture as meaning that man has moral ability to heed the call himself and wake up, but the same person will read some type of determinism into a statement by Mani. I would urge that we try to be consistent with regards to how we interpret passages based off of our presuppositions. I am in no way trying to defend the statement by Mani – he was, as we have seen, not even talking about the Christ of the Bible as the Redeemer but rather was talking about Zoroaster! What I am trying to do is to urge you to consider whether you are using the same criteria when you read traditional libertarian free will into early church fathers but not into what Mani was saying.

[Part 6 –] The Depths of Augustine’s Manichaeism

This foundational part of “faith” (a “Redeemer” known as Zoroaster,who Wilson equated with Christ, commanding one to awake from their slumber and that Redeemer gave the grace for someone to even be able to awaken) that Augustine supposedly snuck into Christianity was approved by Augustine, per Wilson. Yet it does not take into account that Augustine was quite explicit that the “faith” he had as a Manichaean was disapproved of by him. Certainly this “faith” would include such non-catholic beliefs in astrology and the false god along with Zoroaster the Redeemer in Manichaeism.

Part 7 – What If We Rewrite the Stars?

After reading this post, does it sound to you like Augustine was still under the influence of Stoic Providence guided by the stars in 388 and 398 (as well as from 393 and 397 in quotes below) when he explicitly denied the influence of stars over the birth of any man? As Augustine stated in Confessions, he had abandoned any type of atrological determinism by 386 – even before he was converted! When you have direct and explicit denials by Augustine of the assertions that Wilson is making, you have to ask yourself why Dr. Wilson is treating Augustine the way that he is. Augustine, in writings from 388-401 categorically denied any assertion that he continued to worship the heavenly bodies.

Part 8 – Council of Carthage

As this post demonstrates, the statements that Dr. Wilson made regarding the Council of Carthage do not hold water when we look at the actual document. They did believe that the church universal was baptizing infants and that it was to remit the sin that was in them as a result of generation from Adam.

Part 9 – Breaking The Silence of Augustine

Even excluding Ad Simplicianum we can see that Augustine spoke with similar language in the 10 years surrounding that letter. We see that what Dr. Wilson has conceded as non-traditional language in Ad Simplicianum is echoed by further non-traditional language in other works around that time (and the quotes that I have posted above are not exhaustive). If Augustine believed in 396 what he wrote in Ad Simplicianum, then Wilson’s entire thesis is a house of cards. But Dr. Wilson has stacked this house of cards on a single card at the bottom in order to serve as the firm foundation for this flimsy house. That single card is the fact that the word “reatus” is never found to be used prior to 412. This means that nobody believed that there was damnable guilt associated with original sin. But I have clearly just shown that Augustine, at least in 401, did believe in the inherited guilt of original sin such that he would recommend that children must be baptized to cleanse and regenerate them.

Part 10 – On The Magnitude of The Soul

When Augustine’s own words are read he appears to have spoken in a “non-traditional” way. I simply ask, yet again, if the things that Augustine wrote in this work are statements that the provisionists could agree with. Can they say that man cannot even begin or complete the renovation of spirit without God helping him to do that? Can they say that our use of free will “does not disturb any portion of the divine order and law”? These are serious questions that undermine much of Dr. Wilson’s thesis.

Part 11 – On Psalm 51 and Original Sin

After reading through some of Augustine yourself, it should be clear that it is anything but Wilsonian “Traditionalism”. As I have shown, Augustine not only says that children are born guilty (with a lack of innocence) but that they are further born with punishment upon them which makes them need the washing of regeneration in baptism. Guilty persons (infants) in need of regeneration, according to Augustine’s understanding of the catholic faith, would face the punishment of damnation.

Part 12 – On Psalm 51 and Concupiscence

This post is yet another that demonstrates the extreme prejudice employed by Wilson in his reading and assessment of Augustine. As a committed Protestant Baptist in the 21st Century, when I began reading Augustine in 2017 I approached it with no agenda. I knew that there would be many things that Augustine wrote with which I would agree and many with which I would disagree. But I have not approached my reading looking for a way to either assimilate Augustine into my tradition or accuse him of heresy from the start. My reading has been fruitful and a blessing. Dr. Wilson’s approach to Augustine appears to have been started with a bias and an effort to make Augustine someone that he was not.

Stay tuned for further posts…«

McMahon über „Calvinismus“ und „Augustinismus“ (2012)

„Der Inhalt ihrer [Calvin, Augustinus] Gedankensysteme über Rechtfertigung, Sühne, Souveränität, Gnade, Ausharren der Heiligen und dergleichen war derselbe. Sie lehrten dieselben Lehren von der Souveränität Gottes und der freien Gnade, die der „Calvinismus“ seit Hunderten von Jahren, nein, Tausenden von Jahren gelehrt hat. Und warum? Die Begriffe „augustinisch“ oder „calvinistisch“ beziehen sich einfach auf ein Denksystem, in dessen Mittelpunkt die vollständige und uneingeschränkte Souveränität Gottes in der Errettung steht. Das bedeutet, dass die Erlösung monergistisch ist. Sie wird von Gott im Namen des Menschen vollzogen. Wie der Psalmist so wortreich sagt: „Aber unser Gott ist in den Himmeln; alles, was ihm wohlgefällt, tut er“ (Psalm 115,3). Gott ist der Urheber und Vollender des Glaubens für diejenigen, für die Christus gestorben ist und sein Leben als Lösegeld gegeben hat. Gott initiiert das Heil, gibt die Gabe des Heils und bewahrt den Christen in der Erlösung. Er ist das Alles in Allem.

Dies ist kein neues Konzept oder eine neumodische Idee. Es ist die alte Religion des Evangeliums Jesu Christi, die seit dem Garten Eden in Genesis 3,15 gelehrt wird, durch die ganze Geschichte von Gottes auserwähltem Volk, durch das Wirken des menschgewordenen Wortes Jesus Christus, das Wirken der Apostel, das Wirken der frühen Kirchenväter und ja, das Wirken und die umfangreichen Lehren von St. Augustin.

Das augustinische oder calvinistische System bezieht sich nicht nur auf das, was gemeinhin als „Die Lehren der Gnade“ bekannt geworden ist. Diese biblischen Systeme des theologischen Denkens erstrecken sich auf alle Facetten der biblischen und systematischen Theologie. Wer nur an den „Lehren der Gnade“ festhält, kann nicht mit Fug und Recht behaupten, ein „Calvinist“ sein. […]

Die überarbeitete Systematisierung der fünf Punkte des Calvinismus, die als als „Die Lehren der Gnade“ in die moderne Kirche Eingang gefunden haben, wurde ursprünglich nicht von Calvin, sondern von Augustinus systematisiert und ausführlich beschrieben. Aus diesem Grund zitiert Johannes Calvin alle vier Seiten in seiner Institutio Christianae Religionis (deutsch: Unterricht/Unterweisung in der christlichen Religion) Augustinus. Aus diesem Grund würde sich Calvin nicht als Calvinist, sondern als Augustiner bezeichnen. Und sowohl Augustinus als auch Calvin würden sich wirklich als Kinder zu Füßen Jesu Christi und der Lehren der Bibel betrachten, vor allem, wenn sie ihre Lieblingspassagen des Apostels Paulus immer wieder zitieren. Sie sind paulinisch und bibeltreu, zur Ehre Jesu Christi.

C. Matthew McMahon, Augustine’s Calvinism: The Doctrines of Grace in Augustine’s Writings. (Coconut Creek, FL: Puritanischer Publications, 2012), Introduction. (eigene Übersetzung; typograf. Betonungen durch Übersetzer)

Sonnenfinsternis – Wo Phantasie die Wahrheit verdunkelt

Eine Rezension und biblische Kurzbeurteilung von:

Thomas Jettel, Herbert Jantzen
Kann ein Christ zu einem Nichtchristen werden?
CMV – Christlicher Missions-Verlag Bielefeld, 2010. Brosch., 109 Seiten | ISBN 978-3867015028

Der Herausgeber ist ein kleiner Verlag (e. V.), der von Mitgliedern der Mennoniten-Gemeinde Bielefeld ins Leben gerufen wurde (Webseite). Diese christliche Gruppe pflegt traditionell ein arminianisches Verständnis der Heilslehre und geht von der Unsicherheit und Verlierbarkeit des Heils in Christus aus. Das besprochene Werk ist Teil der CMV-Aufklärungsreihe. In dieser Reihe werden aus Sicht der Mennoniten wichtige Themen aufgegriffen, wie Gender, Erwählung, Heilssicherheit oder „das Äußere” (Kleidung).

Die beiden Autoren kommen aus unterschiedlichen Hintergründen, arbeiten jedoch seit einigen Jahrzehnten zusammen. Der Kanadier Herbert Jantzen (1922–2022) studierte am Canadian Mennonite Bible College in Winnipeg Theologie und Erziehungswissenschaften und war 1971–1981 Professor für Dogmatik an der FETA Gießen. 1999 kehrte er nach Kanada zurück. Der Österreicher Thomas Jettel (*1959) studierte an der STH Basel und wurde nach einer vorübergehenden Mitarbeit in Gemeinden im Salzburger Land (A) in den 80er und 90er Jahren und einer Umkehr zu einer anderen Heilslehre freier Prediger, dann Ältester einer Gemeinde in Hohentengen. Er arbeitete seit 1997 mit Herbert Jantzen zusammen.

Zum Inhalt. Die Autoren gehen davon aus, dass jemand, der an Jesus Christus glaubt, das Ewige Leben hat. Soweit biblisch richtig. Dann stellen sie die unbelegte und recht steile These auf, dass ein solcher mit Ewigem Leben beschenkte und „von-oben-geborene” Mensch seinen Glauben wieder restlos aufgeben könne, so dass alle Verheißungen und Folgen der Wiedergeburt von oben wieder genommen würden und so dieser Mensch auf dem Weg ins sichere Verderben der Hölle sei. Die biblische Lehre von der ewigen Heilssicherheit der Glaubenden schließe die Möglichkeit des Abfalls Wiedergeborener nicht aus. Die Heilssicherheit des Gläubigen einerseits, und die Möglichkeit, aufzuhören zu glauben, andererseits, seien biblische Lehren, die nicht im Widerspruch zu einander lägen. Platt gesagt wird hier die Meinung vertreten, dass der Mensch mittels des (eigenständigen) An- und Ausschaltens seines Glaubens sein ewiges Heil (eigenständig) an- bzw. ausschalte, der Heilsprozess mithin voll umkehrbar und voll in exklusiver Verfügung des betreffenden Menschen sei.

Beurteilung. Erstens werden in dieser Sicht der ewige Wille Gottes und seine ewigen und festen Besitzansprüche an die durch das Blut Jesu Erworbenen völlig außer (biblischer) Acht gelassen. Die Heilige Schrift lehrt als Wahrheit vielmehr, dass mit der Verleihung des Ewigen Lebens durch Gott unumkehrbare Dinge bei einem Menschen geschehen, denn Gott verändert ihn und Seine Beziehung zu ihm radikal (bis ins Zentrum des Wesens) und pervasiv (alles umfassend und durchdringend), sowohl initial (Stellung) als auch beständig (Glaubensleben). Die entsprechenden Gnadenhandlungen Gottes (d. h. einseitige Geschenke Gottes, beachte das betonte »ICH werde«) werden z. B. in Hesekiel 36 prophetisch vorausschauend bzgl. Israel und dem Neuen Bund im Alten Testament aufgezählt. Diese Segnungen des Neuen Bundes gehören zum Hintergrund des Gespräches Jesu Christi mit dem jüdischen Obertheologen Nikodemus (Johannes 3) zur Erklärung der Möglichkeit und Weise der geistlichen Neugeburt (Wiedergeburt, Geburt-von-oben-her):

»Und ich werde reines Wasser auf euch sprengen, und ihr werdet rein sein; von allen euren Unreinheiten und von allen euren Götzen werde ich euch reinigen. Und ich werde euch ein neues Herz geben und einen neuen Geist in euer Inneres geben; und ich werde das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben. Und ich werde meinen Geist in euer Inneres geben; und ich werde bewirken, dass ihr in meinen Satzungen wandelt und meine Rechte bewahrt und tut.«

Hesekiel 36,25-27 (ELBCSV)

Beachtenswert ist, dass auch das Bleiben eines Wiedergeborenen in einem Gott wohlgefälligen Leben in praktischer Heiligung zu diesen gnädigen Wirkungen gehört und mithin sicheres und bleibendes Gottesgeschenk und nicht fragwürdige menschlich-volatile Entscheidung ist. Es geht um Segnung und nicht um Verdienst. Dass dies so göttlich-sicher geschieht und bleibt, ist verbunden mit dem bleibend hochgelobten Namen und der Ehre Gottes (Hesekiel 36,32; vgl. Römer 3,21–28; Epheser 2,4–10).

Zweitens stellen die Autoren mit ihrer Lehre den Dienst Jesu Christi als Hoherpriester als fehlbar hin. Dieser ist jedoch vollkommen und wirksam: »Ich habe gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre« sagt Jesus zu Petrus nach dessen größter Sünde in dreimal wiederholter Leugnung Jesu (Lukas 22,31f). Jesu Blick (Lukas 22, 61–62) und seine Wiederherstellung und Indienststellung des Petrus (Johannes 21,15–19) reden, vor allem im Vergleich zum lange vorher in der Schrift angekündigten Verräter Judas Iskariot, Bände. Petrus gehörte zu denen, die durch Jesu Wort rein waren (Johannes 15,3), Judas hingegen war nie etwas anderes als ein Verräter und Teufel (vgl. Johannes 6,70; 13,2): »Als ich bei ihnen war, bewahrte ich sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast; und ich habe sie behütet, und keiner von ihnen ist verloren gegangen – als nur der Sohn des Verderbens, damit die Schrift erfüllt würde.« (Johannes 17,12).

Drittens wird der Dienst Jesu als Großer Hirte Seiner Schafe als unvollkommen verleumdet. Johannes 10 und 17 (u. a.) machen sehr klar, dass Jesus keinen der „Seinen” verliert, die Ihm der Vater anvertraut hat, sondern allen ewiges Leben gibt: »Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie gehen nicht verloren in Ewigkeit, und niemand wird sie aus meiner Hand rauben.« (Johannes 10,27-28). Wer wie die Autoren das Gegenteil einräumt, verleumdet Jesu Hirtentreue und Seine Macht als Gott, der Sohn.

Viertens: Bei der Rettung bekommt der Glaubende unwiderrufliche Rechtstitel zuerkannt. Dazu gehören: das Recht, Kind Gottes zu heißen; die Adoptionsurkunde als „an Sohnes statt Angenommener”; die Rechtfertigungsurkunde des Obersten Weltenrichters, ohne Revisionsmöglichkeit; den Erbschein als Miterbe Christi, (usw.). Dies ist alles im NT klar bezeugt. Keiner dieser Titel wird als „Leihtitel” oder „Bewährungstitel” ausgeteilt, sondern als göttlich feste Zusage im Indikativ des unwiderruflich Faktischen.

Der Beweis, dass kein Mensch sich durch Treue, Werke, Entschiedenheit (o. ä.) den Weg in den Himmel selbstständig bahnen oder erhalten kann, ist längst erbracht. Daher baut Gott Sein Heil auch nicht auf den Willen und die Tat eines sündigen oder „bekehrten” Menschen, sondern auf den Willen, die Tat und das Sterben und Auferstehen Jesu Christi, Seines Sohnes, auf: »Aus ihm aber seid ihr in Christus Jesus, der uns geworden ist Weisheit von Gott und Gerechtigkeit und Heiligkeit und Erlösung; damit, wie geschrieben steht: „Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn.”« (1. Korinther 1,30-31).

Fünftens: Es wäre ein Anfängerfehler, davon auszugehen, dass jede Art des Glaubens (als Tugend verstanden) rettend sei, dass es keine kategorisch unterschiedlichen Glaubensarten gäbe. Auch Dämonen glauben (Jakobus 2,19) –und zwar beständig–, aber sie waren und sind nie gerettet. Menschen glauben, solange sie spektakuläre Wunder sehen, die ihnen nützen (Brotglaube, Zeichenglaube). Weiterhin ist biblisch belegt, vorausgesagt und evident, dass Menschen biblische Glaubensinhalte mit falschen Inhalten und Lehren vertauschen (z. B. dem religiösen Asketismus, 1. Timotheus 4,1–3). Der rettende Glaube hingegen (manchmal als echter oder lebendiger Glauben bezeichnet) rettet, und zwar 100 Prozent sicher. Der Apostel Johannes lehrt unmissverständlich: Wer „den Glauben aufgibt” und die Gemeinde dauerhaft verlässt, fällt nicht vom sicheren Heil ab, verliert nicht das ewige Leben (usw.), sondern war nie gerettet, war nie „von uns” (1. Johannes 2,19).

Die Autoren gehen von einem in der Schrift nie vorkommenden, konstruierten Fall aus und bauen davon ausgehend Schlussfolgerungen auf. Wenn aber Prämissen falsch sind, werden die Schlussfolgerungen notwendigerweise auch falsch. Die Autoren verletzen das Auslegungsprinzip, dass sog. „schwierige Stellen” stets anhand klarer Stellen (s. z. T. o.) zu beleuchten sind. Durch Missverständnisse über die Treue und Macht Gottes und dem Werk Jesu besteht die Gefahr, dass sie Gott klein machen und zu einem ohnmächtig vor dem autonomen Menschen stehenden Retter degradieren. Die Ermahnungen und Drohungen Gottes sind trotzdem ernst zu nehmen, da die Heiligung das Mitwirken des Glaubenden einbezieht (Philipper 2,12–13). Für die Schar der nichtglaubenden Bekenner und der Mitläufer (vgl. Hebräer 6: »diejenigen« versus »euch, Geliebte«) haben alle mahnenden Stellen eine unsagbar wichtige Funktion: aufzurütteln, zu prüfen, ob man wirklich im Glauben steht (wie Paulus den Korinthern schreibt; 2. Korinther 13,5).

Fazit: Wer durch die Brille des Jettel-Jantzenschen Buches und damit durch die Brille der mennonitischen Sonderlehren auf die Lehre des Wortes Gottes über das Heil Gottes schaut, bekommt leider eine verzerrte und verfinsterte Sicht auf Gottes strahlende Größe und Herrlichkeit im Rettungswerk. Hier offenbart sich letztlich das Unheil schräger Theologie und „heiliger Lehrtraditionen”. Eine angemessene biblische Widerlegung der falschen und der lückenhaft einseitigen Aussagen der Autoren würde wieder ein Buch noch größeren Umfangs fordern. Dann lese man besser gleich ein gutes, biblisch richtiges Werk über die Heilslehre der Schrift und lasse die Sonne und das Licht der Wahrheit in die Seele und den Verstand leuchten. Denn diesseits der Ewigkeit sind wir alle noch Unvollkommene und Lernende und Erkennende. Das Sonnenlicht des Wortes der Wahrheit ist in diesem Wachstumsprozess hilfreicher als die Dunkelheit menschlicher Sonderlehren.

»Die Vorschriften des HERRN sind richtig und erfreuen das Herz; das Gebot des HERRN ist lauter und erleuchtet die Augen.« (Psalm 19,9)