Der Mensch – Ein unheilbarer Götzenproduzent

Das sind meine Gedanken über Gott. Ich und meine Vernunft bestimmen über Gott. Ich und meine Vernunft wissen, wie Gott handeln »muss«, um wirklich Gott zu sein: er muss zum Beispiel weise (aber in mir verständlicher Form weise) sein, er muß sinnvoll und mir zum Besten handeln. Er muss mein Leben durch Freude – und vielleicht auch durch Leid reich und köstlich machen (wir klugen Menschen wissen ja auch etwas vom Sinn des Leidens!). … Gott muss dies, Gott muss das, wenn er wirklich Gott sein will. Gott muss Steine in Brot verwandeln. Er muss von den Zinnen des Tempels springen können, wenn er wirklich Gott sein will.

So sind wir es, die Bedingungen stellen, denen Gott Genüge tun muß, damit wir ihn zu Gott ernennen können. Wir sind die Herren Gottes.

Helmut Thielicke (1908–1986), deutscher evangelischer Theologe, in: Zwischen Gott und Satan, 3. überarb. Aufl. (Hamburg: Furche-Verlag, 1955), S. 17–18.

Der Mensch ist unheilbar religiös.

Nikolai A. Berdjajew (1874–1948), Religionsphilosoph, christlicher Existenzialist (Николай Александрович Бердяев)

Wenn der Mensch Gott verstoßen hat,
so beugt er sich vor einem Götzen.

Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821–1881)

Glaube, dem die Tür versagt,
steigt als Aberglaub’ ins Fenster.

Emanuel Geibel (1815–1884), deutscher Lyriker und Dramatiker, in: Gedichte. Gedichte und Gedenkblätter. 4. Aufl. (Stuttgart: Cotta, 1865).

Opera ad extra – Das Zusammenwirken von Vater, Sohn und Heiligem Geist im Heilswerk

Text adaptiert von: James Buchanan, Die Lehre der Rechtfertigung. Nachdruck aus dem Druck von 1867 von T. and T. Clark, Edinburgh. Grand Rapids, MI: Baker Book House, 1977), S. 388–392.
Übersetzung, Überarbeitung und Erweiterung durch grace@logikos.club.
Bildquelle: unbekannt (Hinweise erbeten)

Die opera ad extra

Die Heilige Schrift offenbart uns, dass der Vater, der Sohn und der Heilige Geist im Plan und Werk der Erlösung des Menschen zusammenwirken, dass aber jeder von ihnen ein anderes Amt innehat und einen anderen Teil des Werkes übernimmt, um diesen Plan zu verwirklichen. Dies gilt für alle „Werke [Gottes] nach außen“ (den opera ad extra), für die erste Schöpfung und für die zweite Schöpfung (Heil). Sie sind Wirkungen, die aus dem Wesen Gottes heraustreten und offenbar werden, und die auf den „Werken Gottes nach innen“ (den opera ad intra) beruhen. Während uns die opera ad intra in der Schrift offenbaren, wie das Verhältnis der drei Personen der Dreieinheit zueinander ist, lassen uns die opera ad extra in der Schrift erkennen, wie die drei Personen der Trinität zwar in „göttlicher Arbeitsteilung“, jedoch untrennbar und stets harmonisch zusammenarbeiten zur Verwirklichung der einen gemeinsamen Zielsetzung (Wille, Vorsatz, Ratschluss usw.). Dies soll für das Heilswerk unten kurz skizziert werden. [1]

Die Offenbarung der drei Personen der Gottheit im Heilswerk

Das großartige Ziel Gottes, bestimmte erwählte Sünder zu erlösen, sowie die harmonische Zusammenarbeit der drei Personen der Gottheit bei der Verwirklichung dieses Ziels könnten aus der Einheit der göttlichen Natur (es gibt nur ein göttliches Wesen!) abgeleitet werden. Denn dieses impliziert notwendigerweise die Einheit in den Ratschlüssen des göttlichen Willens. Aber die Unterscheidungen innerhalb der Gottheit nach den drei Personen (Subsistenzen) hätten nie auf eine andere Weise so deutlich offenbart werden können, als durch die verschiedenen Ämter und Tätigkeiten, die ihnen im Zusammenhang mit dem Erlösungswerk zugeschrieben werden. Es ist ein Zeichen für die Harmonie ihrer Absichten und ihres Zusammenwirkens in dem einen gemeinsamen Selbstoffenbarungswerk.

Die Offenbarung der drei Personen der Gottheit wird erst im Heilswerk Gottes (im NT beschrieben) explizit deutlich. Nehmen wir das Beispiel der christlichen Taufe: Von jedem an Christus Gläubigen verlangt Gott, getauft zu werden, und zwar nicht einfach auf den Namen Gottes, sondern ausdrücklich „auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ (Matthäus 28,19). Auch in der apostolischen Segensformel werden ausdrücklich alle drei Personen der Trinität benannt: „Die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes [sei] mit euch allen! “ (2Korinther 13,13). Dies ist also ein spezifisch christliches Kennzeichen, im AT verborgen, im NT geoffenbart.

In der Epoche vorher, der letzten des Alten Testaments (vgl. Lukas 7,27f), gab es die vorbereitende Taufe des Johannes, die als „Taufe mit Wasser zur Buße“ (Matthäus 3,11f), „Taufe der Buße“ (Apostelgeschichte 19,2–6) und „Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden“ (Markus 1,4) beschrieben wird. Sie wurde den Menschen, die Jesu Dienst begleiteten, verabreicht, damit sie gelehrt würden, an den zu glauben, der „nach mir [Johannes Baptist] kommt“, und sie „mit Heiligem Geist taufen“ würde (Markus 1,7–8). Diese Bußtaufe war im Vergleich zur christlichen Taufe unvollkommen, weil sie den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist nicht deutlich benannte. Daher wurde die Taufe des Johannes bei der Gründung der christlichen Kirche durch die von Christus angeordnete (Matthäus 28,19) ersetzt, die alle drei Personen der Gottheit explizit benennt.

Aber auch das gesamte Heilswerk betreffend ist in der Heiligen Schrift zu beobachten, dass jede der drei Personen der Gottheit ein bestimmtes Amt ausübt und ein spezifisches Werk verrichtet. Auch hier gilt wieder, dass diese Ämter und Werke zwar eindeutig den göttlichen Personen zugeordnet sind, dass sie aber stets miteinander und in völliger Harmonie und Einheit ausgeführt werden. Die wahrgenommenen Unterschiede in den Werken ad extra sind keinesfalls Unterschieden im göttlichen Wesen zuzurechnen (es gibt solche nicht). Eine einzigartige Besonderheit entsteht dadurch, dass die Person, die der ewige Sohn Gottes ist, auch in der Zeit wahrer Mensch geworden ist. 

Das große Sühnungsopfer Jesu am Kreuz, an dessen Ende das geheimnisvolle „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ des Sohnes erklang, wird beeindruckend trinitarisch so beschrieben: „…das Blut des Christus, der durch den ewigen Geist sich selbst ohne Flecken Gott geopfert hat” (Hebräer 9,14a). Der wunderbare Anbetungshymnus in Epheser 1,3–14 ist ein glanzvolles Beispiel der Werke der Trinität im ewigen Heilsvorsatz. Im Einzelnen:

Gott-Vater

Der Vater wird als Repräsentant der Majestät der Gottheit geoffenbart, der die Souveränität ausübt und die Vorrechte der Gottheit wahrt. Von ihm wird gesagt, dass er uns geliebt hat, dass er uns gesegnet hat mit allem geistlichen Segen in Christus, dass er uns in ihm auserwählt hat vor Grundlegung der Welt, dass er uns vorherbestimmt hat zur Kindschaft durch Jesus Christus, nach dem Wohlgefallen seines Willens, zum Lobe der Herrlichkeit seiner Gnade, durch die er uns angenommen hat in dem Geliebten, dass er seinen eingeborenen Sohn gegeben hat, dass er seinen Sohn gesandt hat, um der Heiland der Welt zu sein, dass er ihn für uns zur Sünde gemacht hat, dass er ihn hingestellt hat zur Versöhnung durch den Glauben an sein Blut, dass er „seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingegeben hat“, dass „Gott … seine Liebe zu uns darin [erweist], dass Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist“, dass es „dem Herrn gefiel…, ihn zu zerschlagen, er hat ihn leiden lassen“, dass er „ihn aus den Toten auferweckt und ihm Herrlichkeit gegeben hat, damit euer Glaube und eure Hoffnung auf Gott sei“. Er hat Christus „durch seine Rechte zum Führer und Heiland erhöht, um Israel Buße und Vergebung der Sünden zu geben“. (Jesaja 53,10; Johannes 3,16; Apostelgeschichte 5,31; Römer 3,25; 5,8; 8,32; 2Korinther 5,21; Epheser 1,3.4.5; 1Petrus 1,21; Hebräer 2,7; 1Johannes 4,14)

Gott-Sohn

Der ewige Sohn, Sohn Gottes und Sohn des Menschen, wird [in Seiner Menschwerdung] als in offizieller Unterordnung unter den Vater handelnd offenbart als „gesandt“, als „gegeben“, als „gekommen, um [s]einen Willen zu tun“, ohne „Ansehen, dass wir seiner begehrt hätten. Er war verachtet und verlassen von den Menschen“, einer, der „sich selbst zu nichts machte und Knechtsgestalt annahm, indem er in Gleichheit der Menschen geworden ist“, der „sich selbst erniedrigte, indem er gehorsam wurde bis zum Tod, ja, zum Tod am Kreuz“, er wurde „geboren unter Gesetz“ und „für uns zur Sünde gemacht“, „indem er ein Fluch für uns geworden ist“, „von Gott geschlagen und niedergebeugt; doch um unserer Übertretungen willen war er verwundet, um unserer Ungerechtigkeiten willen zerschlagen“ und hat „selbst unsere Sünden an seinem Leib auf dem Holz getragen“, hat „sich selbst für uns hingegeben … als Darbringung und Schlachtopfer, Gott zu einem duftenden Wohlgeruch“. „Er ist wohl in Schwachheit gekreuzigt worden, aber er lebt durch Gottes Kraft“, er ist „hinaufgestiegen … über alle Himmel, damit er alles erfüllte“ und „hat sich auf immerdar gesetzt zur Rechten Gottes, fortan wartend, bis seine Feinde hingelegt sind als Schemel seiner Füße“. „ Gott [hat] ihn auch hoch erhoben und ihm den Namen gegeben, der über jeden Namen ist, damit in dem Namen Jesu jedes Knie sich beuge, der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und jede Zunge bekenne, dass Jesus Christus Herr ist, zur Verherrlichung Gottes, des Vaters“. (Jesaja 53; 2Korinther 13,4; Galater 3,13; Epheser 4,10; 5,2; Philipper 2,7–8.9–11; Hebräer 10,7.9.12–13; 1Petrus 1,24)

Gott-Heiliger Geist

Der Heilige Geist wird offenbart als der, „der vom Vater ausgeht“ und den Christus uns „von dem Vater senden“ würde. Er “. Er „wird von [Christus] zeugen“, Christus „verherrlichen“ und „von dem Meinen empfangen und euch verkündigen“. Er wird „die Welt überführen von Sünde und von Gerechtigkeit und von Gericht“, „von Sünde, weil sie nicht an [Christus] glauben“. Er ist der, „der in unsere Herzen geleuchtet hat zum Lichtglanz der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesu Christi“, der uns „erneuert … in dem Geist [unserer] Gesinnung“, der der „Geist der Weisheit und Offenbarung in der Erkenntnis seiner selbst“ ist. Er ist der „der Geist dessen, der Jesus aus den Toten auferweckt hat, [der] in euch wohnt“ (trinitarisch!), „der in uns wirkt“. Er ist „der Geist der Wahrheit“, der selbst „die Wahrheit ist“, [der] gekommen ist“, um uns „in die ganze Wahrheit [zu] leiten“. Er „nimmt … sich unserer Schwachheit an“ und „verwendet sich für uns in unaussprechlichen Seufzern“. „Der Geist selbst bezeugt mit unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.“ Alle Glaubenden sind „versiegelt worden … mit dem Heiligen Geist der Verheißung“ und haben ihn als „das Unterpfand [Zusicherung, Angeld] unseres Erbes“. (Johannes 15,26; 16,8–9.13.14; Römer 8,16.26; 2Korinther 4,6; Epheser 1,13.14; 4,23; Philipper 2,13; 1Johannes 5,6)

Fazit

Diese Zeugnisse reichen aus, um zu zeigen:

  • Es besteht ein wirklicher Unterschied zwischen dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist, da über jeden von ihnen vieles geoffenbart wird, was von den beiden anderen jeweils nicht ausgesagt wird. Dies betrifft aber nicht ihr Wesen als Gott, da sie dieses ewig völlig identisch besitzen. 
  • Im Rahmen desselben Gnadenplans bekleiden die Personen der Gottheit verschiedene Ämter und vollbringen in Abstimmung und Harmonie verschiedene Teile desselben Werkes der Errettung. 

Die Zielsetzung der Summe und Einheit alles Wirkens Gottes ist seine eigene Verherrlichung, also die glanzvolle Darstellung seiner Vollkommenheiten. (Dies ist auch im Schöpfungswerk zu beobachten, Genesis 1,1–2, Hebräer 1,2ff usw.)

Da diese grundlegenden Wahrheiten klar geoffenbart sind, können wir uns nur in unentwirrbaren Irrtum verwickeln, wenn wir leugnen oder missachten würden, dass es solche Unterscheidungen im Zeugnis (Selbstoffenbarung) Gottes in der Heiligen Schrift gibt. Wir sollten nicht dem Vater das zuschreiben, was die Schrift dem Sohn zuschreibt, oder dem Sohn das, was die Schrift dem Geist zuschreibt, oder dem Geist das, was die Schrift dem Sohn zuschreibt (usw.). 

Ein, zwei abschreckende Beispiele mögen genügen: Wer dem Vater dankt, dass er für uns am Kreuz gestorben sei, irrt. Wenn der Dankende lernfähig ist, kann ihm mit Gottes Wort schnell geholfen werden, wenn er aber diese Aussage festhält und gar lehrt, verbreitet er lästerlichen Irrtum (sog. Patripassianismus). Ein anderer Verwechslungsirrtum ist es, wenn man als Grund unserer Rechtfertigung das Werk des Geistes in uns (z.B. Buße und Glauben, denen angeblich die Neugeburt zeitlich folge, oder die prozesshafte Heiligung) angibt und nicht das Werk Christi für uns, das außerhalb von uns geschah (stellvertretender Sühnetod am Kreuz). (Dazu im Anschluss noch einige Anmerkungen und Zitate.) 

Endnoten und Ergänzungen

[1] Siehe: John MacArthur und Richard Mayhue, Biblische Lehre – Eine systematische Zusammenfassung biblischer Wahrheit, 2. Aufl. (Berlin: EBTC, 2020), S. 258 und 278.

Ergänzend noch einige sprachliche Anmerkungen und Zitate zur „Rechtfertigung aus Glauben“.

Die Schrift sagt in Römer 5,1, dass „wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben“. Das Verb rechtfertigen des deutschen Textes steht in der 1.Person Plural Indikativ Perfekt Vorgangspassiv, deutet also auf ein vollendetes Geschehnis (Akt) in der Vergangenheit, das fortlaufende Wirkung bis in die Gegenwart hat, nämlich Frieden zu haben (Präsens; Indikativ, m.l. Konjunktiv). Es gibt das durch Wortstellung am Satzanfang betonte griech. Wort dikaióo (im Aorist Partizip Passiv Plural Nominativ Maskulinum, δικαιωθέντες ) wieder, was auf jenen Zeitpunkt deutet, bei dem eine Person vollständig und in einem Akt von Gott gerechtfertigt wurde und nun daraus folgend bleibenden Frieden hat (Präsens von echo) aufgrund des aus Gnade geschenkten lebendigen Glaubens (so: Vine, Unger, White: NT Words 2 und z.B. Lange et al in ihrem Römerbrief-Kommentar). 

Die Präposition aus (griech. ek in ἐκ πίστεως = „aus Glauben“, auch: „auf der Grundlage des Glaubens“) markiert den Glauben als die subjektive Ursache und das aneignende Werkzeug, während „die Gnade [Gottes], in der wir stehen“ die objektive oder erzeugende (kreative) Ursache unserer Rechtfertigung ist, durch die wir aus dem Zustand der Sünde und Verdammnis in den Zustand der Gerechtigkeit und des Lebens gebracht wurden. Kurz gesagt: Die Gnade Gottes eignet uns aktiv die Rechtfertigung zu, wir empfangen sie passiv im Glauben. Dies hat dann vielfältige Folgen, die Römer 5 weiter benennt und ausführt.

Die richtige Zuordnung der Werke der Personen der Gottheit ist auch für den Zentralartikel des christlichen Glaubens, der „Rechtfertigung aus Glauben“, von großer Bedeutung:

  • Richard Albert Mohler jr. (*1959): „Die meisten Amerikaner glauben, dass ihr Problem darin besteht, dass ihnen irgend etwas von außen widerfahren sei, und dass die Lösung dieses Problems in ihnen selbst gefunden werden wird. Mit anderen Worten: sie glauben, dass sie ein externes Problem haben, das mit einer inneren Lösung beseitigt werden kann. Das Evangelium sagt aber im Gegensatz dazu, dass wir ein inneres Problem haben, und dass die einzige Lösung davon eine externe Gerechtigkeit ist.“ (Beitrag auf der Konferenz T4G, 2006)
  • R. C. Sproul (1939–2017): „Wenn wir sagen, dass die reformatorische Sicht der Rechtfertigung synthetisch ist, dann meinen wir damit, dass, wenn Gott einen Menschen gerecht spricht, das nicht aufgrund dessen geschieht, was er durch seine Analyse in dem Menschen findet. Stattdessen geschieht es aufgrund dessen, was der Person hinzugefügt wird. Dasjenige, was hinzugefügt wird, ist natürlich die Gerechtigkeit Christi. Deshalb sagte Luther, dass die Gerechtigkeit, durch die wir gerechtfertigt werden, extra nos ist, das heißt „getrennt von uns“ oder „außerhalb von uns“. Er nannte sie auch eine „fremde Gerechtigkeit“, nicht eine Gerechtigkeit, die uns gehört, sondern eine Gerechtigkeit, die uns fremd ist. Sie kommt von außerhalb der Sphäre unseres eigenen Verhaltens. Mit diesen beiden Begriffen redete Luther über die Gerechtigkeit Christi.“ (R.C. Sproul, Das Herzstück der Reformation. Artikel auf Evangelium21.net vom 17.11.2018) https://www.evangelium21.net/media/1128/das-herzstueck-der-reformation [Fettdruck hinzugefügt]

Calvinist werden – In 5 einfachen Schritten ;-))

Adaptiert von Jesse Johnson, How to become a Calvinist in 5 easy steps (The Cripplegate, 2. August 2022). Jesse Johnson ist Gemeindehirte und Lehrer der Immanuel Bible Church in Springfield, VA. Außerdem leitet er den Standort von The Master’s Seminary in Washington DC. Übersetzung, Adaptierung sowie Endnoten von grace@logikos.club.

In meinem Dienst als Gemeindehirte habe ich einen überraschenden Trend festgestellt. Die Menschen, die ich treffe und die sich für „Die 5 Punkte des Calvinismus“ (bekannt unter dem Akronym TULIP) begeistern, haben im Allgemeinen den gleichen Weg eingeschlagen, um dorthin zu gelangen. Das ist zwar nicht der Weg, den ich erwartet hätte, aber ich denke, ich sollte nicht überrascht sein, denn er deckt sich mit meinen eigenen Erfahrungen.

Um ihnen Zeit zu sparen, habe ich diesen Prozess auf fünf einfache Schritte reduziert: „How to become a Calvinist in 5 easy steps“. Wollen sie sich für die Souveränität Gottes im Heil begeistern, TULIPs (engl. „Tulpen“) in jedem Feld entdecken und die historischen Lehren der biblischen Heilslehre (Soteriologie) vorbehaltlos annehmen, die von fast allen Menschen mit auch nur halbwegs guter Theologie in der Kirchengeschichte vertreten worden sind? Nein, sie wollen das nicht? Nun, dann haben sie Glück, denn genau an diesem Punkt fangen wir an:

(1) Beginnen sie in einer Gemeinde, die Gottes Souveränität nicht lehrt. Damit meine ich nicht, dass sie eine Gemeinde finden sollen, die einfach nur die Bibel lehrt, ohne ständig darauf hinzuweisen, um welchen Teil von TULIP es sich handelt. Nein, machen sie langsam, sie werden schon noch dorthin kommen. Fürs Erste sollten sie ihre Reise in einer Gemeinde mit 20-minütigen Minipredigten beginnen. Eine Gemeinde, die denkt, dass (Er-)Wählen etwas sei, was man alle vier Jahre im Wahllokal macht. Sie müssen unbedingt eine Kirche finden, die ihnen sagt: „Halten sie sich von der Theologie fern, das ist gefährliches Zeugs!“ Wenn sie diesen Weg gehen wollen, müssen sie in einer Gemeinde anfangen, die ihnen etwas sagt wie: „Gott wählt nicht aus, wer gerettet wird, das ist Quatsch!“ Wenn der Pastor zufällig Epheser 1 oder Römer 9 vorliest, brauchen sie dazu eine Erklärung, die ungefähr so lautet: „Wenn in der Bibel von ‚Vorbestimmung‘ die Rede ist, heißt das: Gott gibt eine Stimme ab, Satan gibt eine Stimme ab und jeder Mensch hat dann die Möglichkeit, die entscheidende Stimme abzugeben.“ Wenn sie eine Kirche finden, in der der Pastor in einer Predigt einen Stift hochhält und sagt: „Wenn Gott souverän wäre, würde er mich daran hindern, den Stift fallen zu lassen“ und dann den Stift fallen lässt, dann haben sie einen guten Startpunkt für ihren Weg gefunden.

(2) Stoßen sie „zufällig“ auf den Calvinismus. Machen sie sich bloß noch keine Gedanken über den Gebrauch des Wortes „zufällig“. Nach Schritt 5 werden sie dieses Wort nicht mehr verwenden wollen, aber jetzt ist es noch erlaubt. Vielleicht stolpern sie in der Schule über eine Predigt von Jonathan Edwards [1] oder sie finden einen YouTube-Clip von John MacArthur [2]. Vielleicht gibt Ihnen ein Freund eine Spurgeon-Predigt [3], ohne sie vorher sorgfältig geprüft zu haben. Was auch immer es ist: Lesen sie es, hören sie es sich an und ärgern sie sich dann darüber. Werden sie richtig wütend! Schreien sie das Buch/Video an: „Was ist dann mit denen, die das Evangelium noch nie gehört haben!!! Das ist nicht F-A-I-R.“ So, oder so ähnlich. Das Entscheidende ist, so wütend zu werden, dass Schritt 3 unvermeidlich wird.

(3) Lesen sie anti-calvinistische Literatur. Jemand gibt ihnen ein Buch, um ihnen zu „helfen“, das zu verstehen, was sie gerade gelesen haben und was sie wütend gemacht hat. Zum Beispiel ein Gesprächsgruppenleiter aus der Gemeinde oder ein Freund deiner Eltern. Im Idealfall heißt dieses Buch „Calvinismus entlarvt!!!“. Dieses Buch muss – und das ist nicht verhandelbar – ihnen sagen, dass der Calvinismus nicht mit Evangelisation oder Mission vereinbar sei. Extrapunkte gibt es, wenn es ihnen sagt, dass die Prädestination (Vorherbestimmung der Geretteten) nicht wahr sei, weil Calvin in den 1690er Jahren Menschen auf dem Scheiterhaufen umbrachte, wie dies die Amerikaner zu dieser Zeit auch taten [4]. Außerdem habe John Wesley eine schlechte Ehe gehabt. Bei diesem Schritt gilt: Je absurder, desto besser! Denn dies alles bereitet sie auf Schritt 4 vor.

(4) Suchen sie nach einem besseren Weg als den des Calvinismus‘. Sie stellen fest, dass viele berühmte Evangelisten Calvinisten waren, dass der Calvinismus die weltweite Mission immens vorantrieb, dass Calvin selbst erst 1500 Jahre nach Epheser 1 auftrat und dass Wesley sowieso kein Calvinist war. Im Grunde genommen stellen sie fest, dass es mit dem Buch, das sie gerade gelesen haben, wohl einige logische und inhaltliche Probleme gibt. An diesem Punkt suchen sie also nach etwas Hilfreicherem. Nun – und das kann ich nicht genug betonen – müssen sie ein Buch finden, das behauptet, einen besseren Weg als den Calvinismus anzubieten. Vielleicht sogar einen „Sowohl-als-auch“-Ansatz. Wenn es die Formulierung „4-Punkte-Calvinismus“ enthält, umso besser! Idealerweise besorgen sie sich so etwas wie Norm Geislers Chosen but Free [5] oder The Five Points of Calvinism von Bryson [6]. Lesen sie es. Lesen sie es noch einmal. Machen sie sich Notizen. Verschlingen sie es. Lesen sie es, als wäre es wahr. Versuchen sie, alles aufzusaugen. Schließlich wollen sie immer noch kein Calvinist werden. Pfui, bloß nicht!

OK, haben sie Chosen but Free (oder etwas Ähnliches) gelesen? Prima. Mal sehen, wie lange sie das durchhalten können.

Die Wahrheit ist, dass diese Bücher nicht funktionieren. Sie mögen zwar die Spannung zwischen Freiheit und Souveränität anerkennen, aber sie formulieren selten einen Weg, wie man Freiheit und Souveränität in biblischer, voller Spannung stehen lassen kann. Vielmehr versuchen deren Autoren, sie zu überzeugen, dass sie stets die Souveränität Gottes herunterspielen und gleichzeitig felsenfest am „freien Willen“ [sog. „libertine Freiheit“; A.d.Ü.] des Menschen festhalten sollten. Diese Bücher geben dabei noch nicht einmal eine vernünftige Antwort auf die Frage: „Frei von was?“ Kurz gesagt: Sie können und dürfen hier nicht stehen bleiben. Die meisten Menschen werden hier gleich aussteigen und einfach beschließen, nie wieder über dieses Thema nachzudenken. Aber sie gehören nicht zu diesen Menschen! Stattdessen ist dies der Moment, auf den sie gewartet und auf den sie hingearbeitet haben. All Ihre harte Arbeit wird sich jetzt auszahlen:

(5) Lesen sie etwas Gutes, das den Calvinismus richtig erklärt – und zwar von einem Calvinisten  – und beenden sie die Reise. Schnappen sie sich The Potter’s Freedom und genießen sie James White, wie er Chosen but Free demontiert [7]. Schnappen sie sich Sklave von John MacArthur [8] und lassen sie sich von den Metaphern der Bibel in den Bann ziehen. Sie wollen etwas Kürzeres? Versuchen sie J. I. Packers Evangelisation und die Souveränität Gottes [9]. Oh, oh, oh, hier kommt sogar eine kostenlose Quelle: John Pipers Was wir über die fünf Punkte des Calvinismus lehren [10]. Sind Predigten ihr bevorzugtes Medium? Dann versuchen sie die 10-teilige Serie The Doctrines of Grace von MacArthur [11].

Haben sie Bryson gelesen? In der Debatte Who Controls Salvation? schießt White das Buch mit Dynamit ins All [12]. Möchten sie lieber etwas weniger Gefährliches in die Hände nehmen? Greifen sie zu Boice und Ryken mit Die Lehren der Gnade: Eine Erklärung und Verteidigung der fünf Punkte des Calvinismus, einem ruhigen und gewinnbringenden Spaziergang durch das TULIP-Feld [13]. Lesen sie, und beobachten sie dabei, wie sich die Gänseblümchen in ihrem Herzen langsam in TULIPs (Tulpen) verwandeln.

Und wenn sie aus dem Dunstkreis der „Brüderbewegung“ (sog. Plymouth Brethren, D: Christliche Versammlung) kommen, dann lesen sie die hervorragende Darstellung von Stevenson, Die Brüder und die Lehren der Gnade. Wie stand die Brüderbewegung des 19. Jahrhunderts zur calvinistischen Heilslehre? Sie werden staunen, wie große Teile der Bewegung ihre Fundierung der Heilslehre im Wort Gottes nach und nach loslassen und in eine mehr und mehr anthropozentrische Sicht abgleiten konnte. Als „Bruder“ werden sie verstehen, dass man zurück zur Quelle muss, wenn man rein(er)es Wasser trinken will (hier einer vom Anfang).

Nun, wenn sie all diese Schritte befolgt haben, sollten sie an der Ziellinie angekommen sein. Ich weiß, ich weiß: Sie sind diesen Weg gegangen und sind nun als Calvinist herausgekommen, was genau das war, was sie am Anfang vermeiden wollten. Aber das ist in Ordnung: Gott wollte ihnen Gutes tun und sich damit verherrlichen.


Endnoten

[1] Sinners in the hands of an angry God, https://www.blueletterbible.org/comm/edwards_jonathan/sermons/sinners.cfm

[2] How is limited atonement true when Scripture teaches that Christ died for the whole world?, https://www.youtube.com/watch?v=35poj19FXEg

[3] A Defense of Calvinism, https://reformed.org/calvinism/a-defense-of-calvinism-by-c-h-spurgeon/

[4] Hier wird wohl auf die Hexenprozesse von Salem (Salem witch trials) im Jahr 1692 angespielt; deren Opfer wurden allerdings größtenteils durch Erhängen hingerichtet. (A.d.Ü.)

[5] Norman L. Geisler, Chosen But Free – A Balanced View Of God’s Sovereignty And Free Will. 3. Aufl. Minneapolis, MN: Bethany House, 2010.

[6] George L Bryson, The Five Points of Calvinism: Weighed and Found Wanting. Lansing, MI: Calvary Chapel Publishing, 2015.

[7] James R. White, The Potter’s Freedom – A Defense of the Reformation and a Rebuttal of Norman Geisler’s Choosen but Free. Amityville, NY: Calvary Press Publishing, 2000.

[8] John MacArthur, Slave: The Hidden Truth About Your Identity in Christ. Nashville, TN: Thomas Nelson, 2010. Deutsche Version: Die unterschlagene Wahrheit über deine Identität in Christus. Augustdorf: Betanien, 2014.

[9] James Innell Packer, Evangelism and the Sovereignty of God. Nottingham: Inter Varsity, 1961. Neuere Ausgabe mit Vorwort von Mark Dever: Downers Grove, IL: InterVarsityPress, 2012. Deutsche Fassung: Prädestination und Verantwortung – Gott und Mensch in der Verkündigung.Verlag für Glaube, Theologie & Gemeinde (VGTG), 2021.

[10] John Piper, What We Believe About the Five Points of Calvinism. Blog-Artikel von desiringGod vom 1. März 1985 (https://www.desiringgod.org/articles/what-we-believe-about-the-five-points-of-calvinism).

[11] John MacArthur, The Doctrines of Grace. Predigtserie, 2004, 2005. Siehe: https://www.gty.org/library/topical-series-library/280/The-Doctrines-of-Grace.

[12] Who Controls Salvation? – White vs Bryson. YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=O1KJY-PpKFs (2:47:44 Std.)

[13] James Montgomery Boice und Philip Graham Ryken, The Doctrines of Grace: Rediscovering the Evangelical Gospel. Nachdruck der ersten Ausgabe von 2002. Wheaton, IL: Crossway, 2009. Deutsche Ausgabe: Die Lehren der Gnade: Eine Erklärung und Verteidigung der fünf Punkte des Calvinismus. Augustdorf: Betanien, 2009.

[14] Mark R. Stevenson, The Doctrines of Grace in an Unexpected Place. Calvinistic Soteriology in Nineteenth-Century Brethren Thought. Eugene, OR: Wipf and Stock, 2007 (ISBN 978-1-4982-8111-9). Deutsch: Mark R. Stevenson, Die Brüder und die Lehren der Gnade. Wie stand die Brüderbewegung des 19. Jahrhunderts zur calvinistischen Heilslehre? Bielefeld: CLV, 2019.

Totgesagte leben länger | Ein Blick in das Gruselkabinett der Häretiker

Warum sollte man sich anstelle einer ausführlichen Beschäftigung mit den guten und richtigen Lehren der Heiligen Schrift über das Heil und den Heiland (Soteriologie) überhaupt mit der dunklen Seite der Irrlehren beschäftigen? Warum sollte man zumindest die größten Irrlehren bzgl. des Heils kennen?

Als Hirte und Lehrer in der Gemeinde Jesu Christi fallen mir dazu spontan zwei Argumente ein: (1) Die Heilige Schrift, Jesus Christus und die Apostel machten dies ebenso. Ihr Vorbild und ihr Befehl verpflichten: „Stellt sie bloß!“ (Epheser 5,11). (2) Alle groben Irrlehren sind trotz ihrer Verdammung und Verurteilung durch die Kirche bis heute „lebendig“ und fordern ihre Opfer! Totgesagte leben länger, Untote geistern durch die Medien, die Kirchen und Gemeinden und begegnen uns als Wiedergänger in den Traktatverteilern unserer Fußgängerzonen.

Im Folgenden werden fünf herausragende Irrlehren bzgl. des Heils und Heilandes (Retters) Jesus Christus aufgeführt und kurz erläutert, die trotz Lehrverurteilungen durch kirchliche Konzilien nie ausgestorben sind. Abschließend wird das Wesentliche in einer Tabelle übersichtlich dargestellt und dabei auch „modernere“ Vertreter genannt. In grob historischer Reihenfolge handelt es sich um folgende fünf Gruppen: 

  1. Gesetzeslehrer (Legalisten)
  2. Gnostiker
  3. Arianer
  4. Pelagianer und
  5. Sozinianer.

Die Gesetzeslehrer – Legalismus (Gesetzlichkeit)

  • Die Frage, in welcher Beziehung das Heil in Christus und das Christentum zum Gesetz Moses steht, hat die Gemeinden des Christus schon immer vor ernste Probleme gestellt. Schon zur Zeit der Apostel, während sie noch ihre Beiträge zur Heiligen Schrift verfassten, bedrohten bereits verschiedene Formen der Gesetzlichkeit, wie sie von jüdischen Gesetzeslehrern praktiziert, gelehrt und gefordert wurden, die Lehre des Neuen Testaments über das Heil. Der Kampf der Apostel gegen die Gesetzlichkeit spiegelt sich in der Apostelgeschichte und mehreren Briefen (z.B. Römer, Kolosser, Galater usw.) wider. – Auch heute gibt es noch viele Erscheinungsformen gesetzlicher Heilslehre, die wir manchmal auch richtig als „Gesetzlichkeit“ bezeichnen. (Achtung: Die Forderung des Gehorsams gegenüber Christus und Seinem Wort darf nicht mit „Gesetzlichkeit“ bezeichnet werden, sie ist es nicht. Gläubige sind nicht ohne Gesetz, sondern Christus „gesetzmäßig unterworfen“, 1Kor 9,21; Christus hast seinen Nachfolgern Gebote hinterlassen!)
  • Der Standpunkt der Gesetzeslehrer war, dass Nichtjuden nach jüdischer Vorschrift beschnitten werden und alle (oder gewisse) zeremoniellen und zivilen Vorschriften des Gesetzes Moses halten mussten, wenn sie Christen werden und so das Heil in Christus empfangen wollten (deswegen wurden diese Lehrer auch „Judaisierer“ genannt). Diese Sicht lag einem orthodoxen, strengen Juden sehr nahe, war er doch von Kind auf erzogen, alle Nichtjuden als unheilig, unrein und moralisch verwerflich zu beurteilen.
  • Einen frühen Höhepunkt des Streits und die erste große Niederlage der Gesetzeslehrer finden wir in Apostelgeschichte 15 dokumentiert: „Die Apostel aber und die Ältesten versammelten sich, um diese Angelegenheit zu besehen.“ (V6). Es gab eine intensive Diskussion (V7). Dann stand Petrus auf und erinnerte daran, was bei der Bekehrung des Kornelius passiert war (V7–10), verurteilt die Lehre der Gesetzeslehrer und formuliert das Heil wie Paulus (V10–11): „Nun denn, was versuchet ihr Gott, ein Joch auf den Hals der Jünger zu legen, das weder unsere Väter noch wir zu tragen vermochten? Sondern wir glauben durch die Gnade des Herrn Jesus in derselben Weise errettet zu werden wie auch jene.“
  • Der entscheidende Punkt wird damit deutlich: Errettung kam und kommt allein durch die Gnade Gottes. Schon immer. Das stand und steht bei den Gesetzeslehrern auf dem Spiel. Diese erste große Kontroverse war also ein Streit um die Heilslehre (soteriologischer Streit). Es ging um das Evangelium im allgemeinen und um die Lehre der Rechtfertigung allein aus Glauben im speziellen, also um das Herzstück des Heils. Das ist der Grund, warum Paulus so ernst und kompromisslos gegen die Gesetzeslehrer predigte und schrieb. Wenn eine Person zuerst beschnitten werden musste oder sonst ein Werk tun musste, bevor sie Christ werden konnte, dann war dieser Ritus oder dieses „Gesetzeswerk“ eine Vorbedingung der Rechtfertigung und die Rechtfertigung war nicht mehr „allein aus Gnade“ und daher unmöglich!
  • Die Heilige Schrift lehrt, dass wir keinerlei religiöse Zeremonien oder Werke nach dem Gesetz Moses vollbringen müssen, um von Gott gerecht erklärt zu werden. Kein Werk kann uns vor Gott bzgl. des ewigen Heils einen Vorteil oder Verdienst verschaffen. Die Rechtfertigung wird jedem erklärt (zugerechnet, d.h. rechtskräftig übertragen, sog. „Imputation“), der des Glaubens an Jesus ist: „Dem aber, der nicht wirkt, sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet. … welchem Gott Gerechtigkeit ohne Werke zurechnet“(Römer 4,5–6).
  • Fazit: Gott rechnet seine Gerechtigkeit dem zu, der glaubt, dass Gott den Gottlosen (!) rechtfertigt, ohne dass dieser zuvor irgend ein „Werk“ geleistet hat. Diese Kerntatsache verleugneten und verdunkelten die verschiedenen Gesetzeslehrer. Die Apostel bekämpften diese Irrlehre daher mit aller geistlichen Kraft, die ihnen verliehen war. — Auch wir sollten jeder Verfälschung des Evangeliums entschieden entgegen treten, wenn sie für die Rechtfertigung irgendeine Vorbedingung der Form „Glaube an Jesus plus Tue Irgendetwas“ stellt, egal, was dieses Irgendetwas ist. (Beachte: Wir reden hier nicht von Nachfolge und Heiligung, die auf die Rechtfertigung folgen, sondern von Vorbedingungen der Rechtfertigung.)

In der Diskussion über den Zusammenhang zwischen AT und NT in der Heilslehre sollte man beachten:

  • Kontinuität und Diskontinuität. Im Heil Gottes im AT wie im NT beobachten wir „durchlaufende Linien“, aber auch völlige Brüche, Neuanfänge. Wir sehen den selben Gott, die gleiche, völlige Verderbtheit des Menschen (Römer 1–3) und die stets notwendige Gnade Gottes zur Rettung. Andererseits sehen wir unterschiedliche Heilsangebote, Verantwortungen und Selbstoffenbarungen Gottes als Heiland (vgl. „Heilsgeschichte“).
  • Immer Gnade und immer Gesetz. Noch nie gab es effektiv Heil ohne Gnade, sondern stets nur auf Basis göttlicher Gnade. Das Angebot des Lebens im Gesetz Moses erwies sich als Fluch, da unerfüllbar, daher wurde es beendet (Römer 8,2; 10,4; Galater 2,19). Andererseits: Auch in der „Gnaden­zeit“ heute sind wir „nicht ohne Gesetz vor Gott, sondern Christus gesetzmäßig unterworfen“ (1Korinther 9,21 ELB; vgl. Römer 8,2; Galater 6,2)! Aber heute ist das Gesetz Gottes durch Gottes schöpferisches und gnädiges Heilshandeln in der Wiedergeburt auf die Tafeln unserer neuen, lebendig gemachten Herzen geschrieben (vgl. 2Korinther 3,3; Hesekiel 11,19; Jeremia 31,33 mit Hebräer 8,10; 10,16); vgl. den Psalmisten vorbildlich auf Jesus Christus redend: „dein Gesetz ist im Innern meines Herzens“ (Psalm 40,8). Das neue Leben will von Herzen Gottes Willen tun! Der Geist Gottes bewirkt es im Neugeborenen.
  • Die Bündnisse erklären, ob und wie Gott sein Heil gibt. Nur der „Neue Bund“ gibt effektiv Heil. Warum? Weil bei ihm das Blut Jesu die Grundlage der Sündenvergebung (usw.) ist und der Bund einseitig auf Leistungen und Versprechen Gottes beruht, nicht auf vorlaufendem Gehorsam oder Werken des Menschen (vgl. Hebräer 8,10; 10,16), sondern vielmehr auf reiner Gnade. An Christus Gläubige sind „Abrahams Same und nach Verheißung Erben“ (Galater 3,29).

Die Gnostiker – Verleugnung der Menschheit Jesu

  • Der Gnostizismus stellt das den Gesetzeslehrern entgegen gesetzte Ende des Spektrums der Irrlehren dar. Die Gesetzlichkeit der Gesetzeslehrer entstand aus einer Vermischung von pharisäischem Judentum mit dem Christentum. Der Gnostizismus ist eine Mischung heidnischer Philosophie mit dem Christentum. Die Judaisierer klammerten sich töricht an die/ihre Vergangenheit; die Gnostiker brachen radikal mit der Vergangenheit. So sind die Lehren der Gnostiker in verschiedener Hinsicht das genaue Gegenteil der Irrlehren der Gesetzeslehrer. Wie so oft schwang die Kirche Jesu von einem Extrem ins andere. Leider ist das Gegenteil eines Irrtums nicht automatisch die Wahrheit (C.S. Lewis). Als die falschen Lehren der Gesetzeslehrer Widerstand erfuhren, kehrte Satan das Pendel einfach um und schob es in die entgegengesetzte Richtung an. Das Ergebnis war Gnostizismus.
  • Der antike Gnostizismus ist schwer zu definieren, hierin gleicht er modernen Häresien. Er offenbart sich als komplexe Erscheinung. Zentraler Gedanke ist, dass die göttliche Weisheit in einem Geheimnis verborgen sei (Esoterik), welches nur den erleuchteten (eingeweihten) Nachfolgern geoffenbart würde. Diese Idee gab dem Gnostizismus den Namen: das griech. Wort gnosis bedeutet „Kenntnis“. Der Gnostiker glaubt, dass der Schlüssel zur Rettung in einem verborgenen Wissen liegt, das jenseits der in der Heiligen Schrift geoffenbarten Wahrheit liegt (hier wird der Begiff Esoterik relevant). Gnostizismus lehrt daher, dass „Rettung“ darin besteht, dieses geheime Wissen zu besitzen. Dies ist die zentrale Idee aller Formen des Gnostizismus’. – Die Sekte Christian Science (Christliche Wissenschaft) lehrt z.B. als „Erlösung“, dass man nur wissen müsse (dies ist das „Geheimwissen“ der Sekte), dass es so etwas wie Sünde gar nicht gebe; damit gebe es auch kein Schuldproblem und keine Erlösungsbedürftigkeit, kein Bedürfnis nach Gott, Retter und Gnade. Dass dies weder christlich noch wissenschaftlich ist, sollte jedem auffallen.
  • Die „christlichen“ Spielarten des Gnostizismus blühten erst im zweiten Jhdt nChr richtig auf. Gnostizismus hat die Eigenart und Fähigkeit, laufend in neue Formen zu mutieren. Wenn eine Form ihre Attraktivität verlor, kam die nächste Form ins Spiel. Deswegen hielt die Bedrohung der Gemeinde und der Heilslehre durch den Gnostizismus über viele Jahrhunderte an; sie ist bis heute nicht ausgestorben. Als der Gnostizismus die Kirche Jesu Christi das erste Mal hart angriff, konnte sie nur durch einen frontalen Gegenangriff überleben. Männer wie Irenäus, Tertullian, Ignatius und Justin, der Märtyrer waren damals bereit, für die Reinheit der Lehre zu kämpfen, manchmal mit dem Preis ihres Lebens.
  • Drei Hauptirrtümer kennzeichnen fast alle Erscheinungsformen des Gnostizismus:
    • Dualismus ist die Idee, dass alles im Universum auf zwei Ur-/Grundrealitäten zurückzuführen sei. Diese seien einander entgegengesetzt, bedingten aber einander (Ying-Yang, Licht-Finsternis, Gott-Satan, Materie-Geist usw.). Satan will sich so zum ebenbürtigen „Gegen-Gott“ aufplustern, aber es gibt Gott schon ewig, auch als Satan noch nicht war. Es besteht ein kategorialer Unterschied zwischen Gott und Geschöpf, sie stehen nie auf einer (dualistischen) Ebene.
    • Synkretismus ist die Vermischung zweier/mehrerer unterschiedlicher Glaubenssysteme in eines. Dies dürfte die „Grundreligion“ der Menschen heute ausmachen: Eine Selektion und Mischpoke unterschiedlichster Vorstellungen aus allerlei Gedankensystemen und Religionen zum höchst privaten, eigenen und nicht angreifbaren Glaubenssystem.
    • Doketismus ist die Irrlehre, dass Christus nur als Mensch erschienen, Er aber tatsächlich kein Mensch gewesen sei. Die Vorstellung, dass Gott als ewiger Geist Mensch (Fleisch, materiell) werde, lehnten sie entrüstet ab. Geist war göttlich, Fleisch/Irdisches hingegen schlecht, minderwertig und böse. Solche Gedanken bilden auch den Hintergrund für östliche Meditationstechniken, Leibfeindlichkeit im Christentum und überzogene Differenzierungen zwischen „himmlischen“ (=wertvollen, erhabenen) und „irdischen“ (=minderwertigen) Segnungen.
  • Obwohl der Gnostizismus allerlei Arten von Irrtümern umfasst, auch solche bzgl. der Heilslehre, führte er erstmalig massive Irrlehren über die Person Jesu Christi in die Gemeinde ein, sog. „christologische Irrtümer“. Die Briefe des Apostels Johannes sind eine Antwort auf Frühformen des Gnostizismus’ Ende des ersten Jhdt.s, die vor allem die wahre Menschheit Jesu angriffen. Johannes greift die Irrlehre der Gnostiker vor allem auf Basis der Lehre über Christus (Christologie) an; s. z.B. 1Johannesbrief 4,3; 2Johannesbrief 1,7.

Die Arianer – Verleugnung der Gottheit Jesu

  • Der Arianismus war ein offener Frontalangriff auf die Gottheit Jesu Christi. Die Arianer behaupteten, dass Jesus Christus ein geschaffenes Wesen sei, das zwar höher als „gewöhnliche Menschen“, aber niedriger als „der wahre Gott“ sei. 
  • Die Gnostiker hatten die Lehre über Christus vom Rand der Christenheit aus angegriffen, ihre Irrlehrer waren im allgemeinen Außenstehende, die kein Problem damit hatten, die apostolische Tradition und Lehre anzugreifen. Ihr sektiererisches Ziel war es, Menschen von der Kirche wegzuziehen und in ihre kleinen Splittergruppen hinein zu locken. – Der Arianismus ging den entgegengesetzten Weg und trug seine falsche Lehre direkt ins Herz der Kirche. Das Ziel war von Anfang an, die Kirche für sich zu gewinnen, um von ihr den Stempel der Rechtgläubigkeit auf die neuen, falschen Lehren zu erhalten.
  • Arius (Arianus; 256–336) aus Alexandrien ist der Namensgeber und Proponent dieser Irrlehre über Christus. Er lieferte (auch als Vertreter der Schule von Antiochien) eine Sicht von Christus, die diesen zu einem geschaffenen Wesen machte, das weder wirklich Mensch noch wirklich wahrer Gott ist, sondern einen Mittler, der zwischen Gott und der Menschheit steht. Gemäß Arius war Christus eine Art Halbgott, der „Erstgeborene aller Schöpfung“, zwar höher als andere Engelswesen, aber trotzdem ein Geschöpf, ein geschaffenes Wesen. Arius verwendete Bibelstellen wie Lukas 2,40.52; Johannes 4,6; 19,28; 13,31; Matthäus 24,26; Johannes 14,28 um zu zeigen, dass Jesus ein Mensch war und (im Sinne seiner Irrlehre) Gott-Vater auch wesensartig untergeordnet sei. — Exakt die gleiche Vorstellung haben und lehren die Anhänger der Wachturm-Sekte bis zum heutigen Tag und verwenden dabei die gleichen Argumente wie zuvor schon Arius. Untote leben länger!
  • Hin und her pendelnde Irrlehren. Arius reagierte mit seiner Irrlehre auf die Irrlehre des Sabbelianismus (=Modalismus), also die Lehre, dass es einen Gott gebe, der aber in „drei Modi“ erscheine. Der Erzbischof und Vorgesetzte von Arianus, Alexander von Alexandrien, lehrte aber dem entgegnend, dass Jesus dem Vater völlig gleich ist. Arianus lehrte im Kontrast dazu, dass Jesus Gott ähnlich, aber nicht gleich sei. Ein Konzil unter Alexander schloss Arius im Jahr 320 aus. Aber damit war die Kontroverse nicht beendet! (U.l.l.!)
  • Die theologische Antwort der Kirche auf den Arianismus gipfelte im Nicänischen Bekenntnis, das auf dem Konzil zu Nicäa 325 nChr (vom Kaiser Konstantin einberufene Reichssynode) formuliert und von fast allen unterzeichnet wurde. Aber auch mit dieser klaren Verdammung der arianischen Irrlehre war kein Schlusspunkt gesetzt, sondern der Beginn einer Jahrhunderte langen Kontroverse in der Kirche markiert. Im Rückblick scheint es so, dass die Abstimmungen bei den Konzilen jener Zeit eher von kirchlichen Machtfragen als denn von Verpflichtung gegenüber der Wahrheit des Wortes Gottes gekennzeichnet waren. Die Irrlehrer und Anhänger der arianischen Irrlehre erbaten in Folge auf breiter Basis Toleranz und Offenheit für ihre Position und erhielten sie immer! Selbst die Heimatgemeinde des Arius schloss diesen nicht als Irrlehrer aus, sondern stand zu ihm. Seine Anhänger riefen sogar ihrerseits Synoden aus, stimmten dort der Lehre des Arius’ ausdrücklich zu und hoben die Verdammung des Arius auf. Die Kirche neigte sich wieder stark dem Arianismus zu. Sein größter Gegener, Athanasius (s.u.), wird noch 335 an die Grenzen des römischen Reiches nach Trier verbannt und leidet sein gesamtes Leben wegen der arianischen Frage. … Im Schutz dieser Wirrnisse konnte der Arianismus die Kirche Christi weltweit in beträchtlichem Maß durchdringen und infizieren! (NB: Wulfila, der Apostel der Goten (gestorb. 383) war selbst von einem Arianer getauft worden; über die Westgoten übernahmen die Germanen das Christentum arianischer Ausprägung. Die germanischen Nationalkirchen machten der röm.-kathol. Kirche noch bis ins 6. Jhdt schwer zu schaffen. Dann erst konnte der röm. Katholizismus missionarisch bis in die Heimatbezirke der Germanen vordringen.) Kaiser Konstantin, der über die Einheit der Kirche auch sein weltliches Reich einen wollte, wurde über den arianischen Streit sehr frustriert und mischte sich daher mit seiner Macht in diese Kirchenangelegenheit ein. Leider identifizierten er und seine Söhne sich mit den Anhängern des Arius’ und so nimmt es nicht Wunder, dass innerhalb der nächsten 50 Jahre fast alle leitenden Bischöfe Arianer wurden. 
  • Nur ein Mann stand klar und deutlich gegen die Irrlehren Arius’ auf: Athanasius (296–372) aus Alexandrien. Er gab den Kampf gegen diese Häresie nicht auf. Als man ihm sagte, dass doch die ganze Welt gegen ihn stünde, antwortete er, dass (auch) er gegen die ganze Welt sei. Durch Gottes Gnade und zu unserem Segen gewannen die Argumente des Athanasius schließlich, weil er die Heilige Schrift gekonnt und überzeugend einsetzte, um den Irrtum der Häresie Arianus’ aufzuzeigen. Das Nicänische Bekenntnis wurde vom Konzil zu Konstantinopel aufgenommen. Athanasius wurde 328 als Nachfolger von Alexander Erzbischof von Alexandrien. Das setzte seinem Leiden allerdings kein Ende: Während seinen 46 Jahren im Amt wurde er von Arius zugeneigten Herrschern viermal verbannt und verbrachte insgesamt 20 Jahre im Exil! Er konnte seinen Lebensabend jedoch in Frieden und weiterhin klar gegen den Arianismus schreibend begehen. Diese Episode ist ein klassischer Beleg dafür, dass die Heilige Schrift –und nicht die Mehrheitsmeinung!– für die Gemeinde Jesu Christi der erste und letzte Test jeder Lehre sein muss.
  • Die Geschichte des Arianismus ist auch ein trauriger Beleg für die prophezeite Tatsache, dass Irrlehre häufig aus der Kirche Jesu Christi selbst heraus entstand. Der Arianismus verbreitete sich durch stille Infiltration und gewann seine Stärke durch die persönliche Ausstrahlungskraft seiner Lehrer. Förderlich für seine Verbreitung war ein Klima der Toleranz, so dass er massive Ausmaße und Verbreitung hatte, bevor überhaupt jemand Stellung gegen diese Irrlehre bezog. Satans beliebteste Taktik ist Selbsttarnung als „Engel des Lichts (2Korinther 11,13–15).

Die Pelagianer – Verleugnung der totalen Verdorbenheit des Menschen

  • Die nächste große Häresie in der Kirche, der Pelagianismus, ist wieder eine Irrlehre im Bereich der Heilslehre. Augustinus (354–430) betonte in seiner Lehre die Souveränität Gottes, weil er (wohl mit Recht) annahm, dass man nur so die absolut zentrale Rolle der göttlichen Gnade in der Errettung sicherstellen kann. Pelagius, ein britischer Mönch aus dem frühen 5. Jhdt,, stieß sich an dieser Lehre, weil sie seiner Meinung nach die Bedeutung der menschlichen Verantwortung herunterspiele oder gar außer Kraft setze. Im Gegenzug behauptete und betonte er den „freien menschlichen Willen“, weil er (wohl irrtümlich) davon überzeugt war, dass nur so die menschliche Verantwortung sichergestellt werden könne. (Diesem Fehler der Philosophen folgte auch Kant u.a., leider auch viele Christen unserer Zeit.)
  • Pelagius traf in Rom einen adligen Juristen namens Celestius und entwickelte mit ihm gemeinsam eine neue Heilslehre. Die Glaubenslehre war für sie nur reine Theorie, die Hauptsache der Religion war ihrer Ansicht nach die moralische Tat, das Halten der Zehn Gebote aus eigener Anstrengung. Die ethische Seite der Religion war ihnen wichtiger als die dogmatisch-theologische. 
  • Den Pelagianismus kann man wie folgt zusammenfassen: (1) Kein Mensch erbt von Adam die Sünde. Sünde ist eine Sache der Tat und nicht der Natur/des Wesens. (2) Jeder Mensch ist so geschaffen, dass er völlig frei das Gute oder das Böse tun kann. Ein sündloses Leben ist daher möglich. Man kann sich das Heil durch Gute Werke erwerben. (3) Babytaufe ist unnötig, da es keine Erbsünde gibt. (4) Das Heil ist zwar außerhalb des Gesetzes, des Evangeliums und der göttlichen Gnade zu finden, aber diese können natürlich beim Erwerb des Heils mithelfen. Christus hilft dabei mit seinem guten Vorbild.
  • Der wohl bemerkenswerteste Aspekt des Pelagianismus ist die Leugnung der Auswirkungen des Sündenfalls auf alle Menschen seit Adam und Eva. Die Pelagianer leugneten, dass die Sünde Adams irgendeine Schuld oder irgendeine Verdorbenheit auf den Rest der menschlichen Rasse brachte, der menschliche Wille sei daher von allen Fesseln frei. Pelagius argumentierte: Wenn alle Menschen durch Geburt Sünder sind (wenn also Sünde etwas ist, das wir ererben), dann wäre es ungerecht von Gott, wenn er den einzelnen Sünder für seine Sünde verantwortlich hält. Der menschliche Wille müsse völlig frei sein, weder zum Guten noch zum Bösen geneigt, sonst könnten unsere Entscheidungen nicht frei sein, und wir folglich auch nicht für unsere Taten verantwortlich gemacht werden.
  • Diese Lehren des Pelagianismus verbreiteten sich schnell in Nordafrika (einem Zentrum des Christentums damals) und führten zur Irrlehre einer Selbsterrettung durch Werke, zu einem „Werke-Evangelium“. Wenn man erst einmal die totale Verderbnis und Gefallenheit der Menschheit leugnet, erliegt man der Illusion, der Mensch könne und solle etwas zu seinem ewigen Heil beitragen. Und so landet man schließlich in der Verleugnung der heilsnotwendigen göttlichen Gnade, wie sie die Heilige Schrift lehrt.
  • Augustinus erkannte das Problem des Pelagianus von Anfang an und trat den Pelagianern entgegen, indem er aus der Heiligen Schrift zeigte, dass der menschliche Wille nicht in jenem Sinne frei ist, wie sie es lehrten: Unser Wille sei vielmehr hoffnungslos unter die Sünde geknechtet (Römer 8,7–8), Sünder seien absolut hilflos, sich selbst zu verbessern, es benötige die göttliche Gnade, die erneuernd im Herzen wirke (vgl. Jeremia 13,23).
  • Das Konzil zu Ephesus 431 nChr verurteilte den Pelagianismus als Irrlehre. Aber wie bei allen hier erwähnten Irrlehren war die Entscheidung des Konzils nicht das Ende der Bedrohung der Kirche durch diese gefährliche Irrlehre. Die Einflüsse des Pelagianismus’ plagten die Kirche noch viele Jahrhunderte. — Eine modifizierte Form des Pelagianismus’ entstand: der Semi-Pelagianismus, der praktisch mit dem modernen Arminianismus identisch ist; diese Irrlehre wurde vom Konzil zu Orange 529 nChr verdammt. …und lief weiter…
  • Die Römisch-katholische Kirche des 16. Jhdt. bekannte sich beim Gegenreformations-Konzil zu Trient 1546 nChr zu einer Heilslehre, die im Effekt dem Semi-Pelagianismus entspricht. Daher kann man kontemporären (auch „protestantisch-evangelikalen“!) Vertretern dieser falschen Lehre vorwerfen, der „Romanisierung“ (Re-Katholisierung) Vorschub zu leisten.
  • Der Konflikt zwischen Pelagius und Augustinus betraf einige Fragen, die später auch den Konflikt zwischen sog. „Calvinis­ten“ und „Arminianern (Remonstranten)“ ausmachten. In der protestantischen Reformation stellten sich die Reformatoren auf die Seite des Augustinus, indem sie die Souveränität Gottes, die Notwendigkeit göttlicher Gnade und die völlige Unfähigkeit des gefallenen Menschen, zu seiner eigenen Rettung etwas beizutragen, lehrten. Im Kontrast dazu verkündete die Römisch-katholische Kirche weiterhin eine verwässerte Form des Semi-Pelagianis­mus (ab dem II. Vaticanum lehrt sie sogar den Universalismus).
  • Die Lehren des Pelagianismus’ und des Semi-Pelagianismus’ haben auch den Protestantismus stellenweise massiv beeinflusst (z.B. sichtbar bei Charles Grandison Finney (1792–1875) und dessen Nachfolgern) und beeinflussen ihn in pragmatisch-evangelistisch ausgerichteten Gemeinden und Missionswerken in steigendem Ausmaß. [1]
  • NB: Die meisten Christen, die betreffs der Heilslehre zu den Ansichten des (Semi-) Pelagianismus neigen, neigen auch zu den Lehren des Arminianismus. Beispiele: Man behauptet, dass Jesus Christus für alle Menschen gestorben sei und daher auch alle Menschen gerettet werden bzw. schon gerettet sind; dass alle Menschen zwar bis zu einem gewissen Graf verderbt seien, alle aber ausreichend Gnade bekommen, um den Folgen ihrer Verderbtheit entgegenzuwirken und sich aus sich selbst heraus frei für das Heil zu entscheiden; dass derart begnadete Menschen aber auch die Freiheit und Macht haben, sich jederzeit gegen diese Gnade zu entscheiden, denn diese sei nicht unwiderstehlich; usw.

Die Sozinianer – Völlige Verwirrung

  • Der Sozinianismus ist einer der Höhepunkte der Irrlehren und Verwirrungen in der Heilslehre, er ist eine Vermischung anderer Irrlehren, die der Teufel schon erfolgreich in die Kirche hineingetragen hatte. Die Irrlehre des Sozinianismus’ wurde bald nach der Protestantischen Reformation geboren. Die beiden Italiener Fausto Paulo Sozzini (Socinus, 1539–1604) aus Sienna und sein Onkel Lelio (Laelius) Sozzini gaben dieser Irrlehre den Namen. Sie hatten sich vom römischen Katholizismus abgewandt und den Reformatoren zugewandt, kamen aber unter den Einfluss von Unitarianern und gaben letztlich alle Lehren der katholischen Religion auf, einschließlich der Lehren, die bibeltreu sind. Die Folge war, dass sie letztlich alle wesentlichen Fehler in ihr Lehrgebäude aufnahmen, die die Kirche je geplagt hatten und die diese verurteilt hatte.
  • Wie die Legalisten und Pelagianer lehrten sie eine Errettung aus Werken. Wie die Gnostiker und Arianer waren sie Anti-Trinitarianer (sie verleugneten die Dreieinheit Gottes). Sie verleugneten nicht nur die Gottheit Jesu, sondern jedes Wunder in der Heiligen Schrift. In diesem Zusammenhang mischten sie aus dem humanistischen Rationalismus und der Aufklärung ihre eigene tödliche Irrlehre. Schließlich nahmen sie auch noch die Lehre des Universalismus in ihr System auf. Sie schoben die Autorität der Heiligen Schrift zur Seite und erhoben die menschliche Vernunft zur obersten AutoritätDamit markierten sie den Start des Modernismus.
  • Ihr schlimmster Irrtum zerstört direkt die Bedeutung der Sühnung. Das sozinianische Argument gegen das stellvertretende Opfer Jesu Christi war einfach: Sie behaupteten, dass die Ideen der Vergebung und der Sühnung sich gegenseitig ausschließen würden. Entweder werden Sünden vergeben oder es ist dafür zu bezahlen, aber nicht Beides. Sie argumentierten: Wenn ein Preis dafür bezahlt werden musste, dann wurden nicht wirklich „vergeben“. Wenn Gott andererseits bereit ist, Sünden zu vergeben, dann sei kein Sühnungspreis dafür notwendig. – Die Spitzfindigkeit ihres Arguments bringt auch heute noch viele Leute in Verlegenheit. Aber es ist einfach völlig konträr zu dem, was die Heilige Schrift über Gnade, Sühnung und göttliche Gerechtigkeit lehrt. Die Heilige Schrift zerstört das sozinianische Argument und stellt es als Irrtum bloß: „Ohne Blutvergießung gibt es keine Vergebung [der Sünden].“ (Hebräer 9,22)

Der Sozinianismus ist die zur Zeit am meisten verbreitete Irrlehre, der moderne theologische Liberalismus ist nichts anderes als eine Variante des alten Sozinianismus’.

Überblick

Die 5 großen Irrtümer bzgl. des Erretters und der Errettung (© 1997–2023 logikos.club)

Endnoten und Literaturempfehlungen

Dieser Artikel wurde angeregt und adaptiert durch: Phil Johnson, Seminarmanuskript, Shepherds Conference (Sun Valley, CA, 2004).

[1] In Deutschland machte die „Bruderhand“ (Wilhelm Pahls) Werbung für die „Erweckung“ von Finney und verbreitete seine Biographie. Die Bruderhand stellt die Erfindung des „Altarrufes“ durch Finney als biblisch dar, weil Gott auch sein Volk rufe. Eine biblisch fundierte geistliche Beurteilung Finneys findet sich in: MacArthur, John F.: Wenn Salz kraftlos wird. Die Evangelikalen im Zeitalter juckender Ohren. 2. Auflage. Bielefeld, CLV, 1997, Anhang 2.

Eine empfehlenswerte Darlegung der biblischen Heilslehre ist: J. MacArthur & R. Mayhue: Biblische Lehre: Eine systematische Zusammenfassung biblischer Wahrheit. Berlin: EBTC, 2. Aufl. 11/2020. Eine Rezension finden Sie hier.

Heilsgeschichte: Arnd Bretschneider: Gott schreibt Geschichte – Ein Gang durch die biblische Heilsgeschichte. Christliche Verlagsges. Dillenburg, 2007.

Die Verfälschung der biblischen Heilslehre

Das Heil (die Errettung) und das Wesen des Heils wurde seit der Frühkirche immer wieder angegriffen, unterschiedlich interpretiert und widersprüchlich gelehrt. Neben einigen „geringfügigen“ Varianten kamen sehr früh auch schwerwiegende Irrlehren auf, die das Urteil der Verdammnis seitens des Apostels auf sich zogen, da sie es verunmöglichten, das göttliche Heil zu erkennen, zu glauben und zu bekommen. Wir „verdanken“ diesen Irrtümern und Irrlehrern einige fundamental klärende Texte im Neuen Testament.

Im Folgenden soll ein Überblick über das breite Spektrum falscher Heilslehren innerhalb des christlichen Bekenntnisses versucht werden. Dieser begrenzt sich aus Platzgründen auf fünf Schlaglichter.

Römisch-Katholische Kirche

Die Römisch-Katholische Kirche (RKK) lehrte zur Reformationszeit (also vor 500 Jahren) wie heute, dass der Mensch trotz seines gefallenen Zustands bei seiner Erlösung mitwirken kann. Gott schenke ihm seine Gnade (zuvorkommend!) und der Mensch antworte mit Glauben. Die Reformatoren verwarfen diese Idee und betonten, dass die Erlösung ein reines Geschenk Gottes ist, denn der Mensch ist geistlich tot und er muss deshalb wiedergeboren werden; sein Verstand, sein Herz und sein Wille müssen komplett erneuert werden, bevor er sich entscheiden kann. 

Die RKK hat in ihr System die Sakramente eingebaut, deren formgerechter Gebrauch in seiner Anwendung (ex opere operato) Gnade vermittelt, z.B. in Taufe, Buße, Messe. Die Heilslehre der RKK ist stets synergistisch, d.h. sie lehrt ein heilserbringendes Zusammenwirken des Handelns Gottes und des Menschen. Prinzip: Das Heil kommt durch Gnade und Werke. Das 2. Vatikanische Konzil führte zu einer Neudefinition des Heils mit dem Effekt, dass alle Nicht-Christen und sogar Atheisten ebenfalls ins Heil kommen bzw. sind. Die RKK ist seit dieser Zeit von der Lehrgrundlage her universalistisch (d.h. letztlich werden alle gerettet werden).

Theologischer Liberalismus

Im sog. „Theologischen Liberalismus“ wird gemäß des Denkrahmens der Aufklärung alles Übernatürliche geleugnet, mithin alle Wunder Gottes, die göttliche Autorität der Heiligen Schrift und andere klassischen Hauptlehren der Schrift. Die Heilslehre des sog. „Sozialen Evangeliums“ definierte das Heil als die Transformation der menschlichen Gesellschaft durch Erziehung, sozialen Wandel und politische Aktion, die durch die Ideale und die Ethik Jesu Christi motiviert wird. Der Mensch soll sich im Diesseitigen „christlich“ (d.i.: humanistisch) verwirklichen und ein diesseitiges Paradies erschaffen.

Christlicher Existenzialismus

Die Lehrer des „Christlichen Existenzialismus“ glauben, dass sich der Mensch durch reine Objektbezogenheit von seinem Wesen und der Realität entfremdet habe, weil Dinge keine Hingabe, kein Risiko und keine Entscheidung abverlangten. Der Mensch verstehe sich selber aber nur im Erleben seiner selbst, es gebe keine vorige Setzung seines Wesens oder seiner Bestimmung. Daher will man der Entfremdung, der Angst und Hoffnungslosigkeit in persönlichen Beziehungen und persönlichen Erlebnissen entgehen.

Reiner „Ding-Glaube“ (z.B. an Glaubensbekenntnisse und Lehren) rette nicht, sondern sei nur ein „billiger Glaube“. Rettender Glaube sei der Akt des Glaubens mit tiefer innerer Leidenschaft und radikalem Engagement; es sei ein Glaube, der sich selbst für ein Leben kostspieliger Jüngerschaft hingibt. Das Ergebnis dieser alles kostenden Entscheidung ist die Gegenwart Christi im Herzen und die persönliche Wahrnehmung einer authentischen Existenz, nämlich die Beseitigung der Angst, die Vergebung der Sünden, die Realisierung des vollen Potentials, das im Menschen steckt, und die Umgestaltung des Lebens. Der Glaube selbst wird zum existentiellen Erleben. Er wird nicht in Glaubensbekenntnissen, sondern im (Er-)Leben festgemacht.

Diese Verfälschung findet man in manchen Jüngerschaftsbewegungen, auch bei dem Theologen und Pionier der Existenzphilosophie, Søren Aabye Kierkegaard (1813–1855). Seine berechtigte Kritik am toten, rein theoretischen „Kopf-Glauben“ seiner Landsleute und Zeitgenossen („Hauptsache, man unterzeichnet das richtige Glaubensbekenntnis“) geriet zur Verirrung in das entgegengesetzte Extrem („Hauptsache, man erlebt Christ- und Menschsein“). Nicht ohne Grund gehört zur Glaubenslehre auch immer die entsprechende Glaubenspraxis – et vice versa: Orthodoxie und Orthopraxis sind im christlichen Glauben zwei Seiten derselben Medaille.

Befreiungstheologie

Die Befreiungstheologie ist eine praxisorientierte Theologie, die im wesentlichen auf der marxistischen Interpretation der Kultur beruht. Diese Bewegung will weg vom individuellen, persönlichen, innerlichen Glauben, hin zu kollektiven, äußeren und strukturellen Angelegenheiten. In der Regel geht man davon aus, dass alle Menschen „in Christus“ seien (vgl. Universalismus), dass aber die Zustände in der Gesellschaft die Menschen verbogen und entmenschlicht habe. Das Heil wird daher im gemeinsamen Umsturz aller ungerechten Regimes und sozialen Strukturen gesehen, notfalls durch Revolution und Gewalt. 

Der Exodus Israels muss für die „Befreiung“ als Paradigma herhalten. Die verschiedenen „unterdrückten“ Völker hätten ihre eigene Version der Heilslehre entwickelt, z.B. die Schwarzen (Angela Davis). Die Einheit des Heilswerks Gottes für alle Menschen gleichermaßen, weil alle gleichermaßen (!) verloren sind, wird damit en passant auch geleugnet. Die Lehren der Heiligen Schrift über das erlösende, stellvertretende, sühnende Werk Jesu Christi werden missachtet, ebenso wie die Tatsache des Verlorenseins ohne den Heiland Jesus Christus. Das Heil wird vor allem diesseitig und damit zeitlich gesehen.

Neoorthodoxie (Barth)

Die Neoorthodoxie Barths nahm Stellung gegen Bultmann und die Existenzialisten, und versuchte das Heilshandeln wieder voll in die Hände Gottes zu legen. Das Heil ist bei Barth ein rein objektives Ereignis und hat mit dem Einzelmenschen wenig zu tun. Als Jesus Christus in diese Welt kam, habe er sich mit der Menschheit (humanum = die gesamte menschliche Rasse) vereinigt und so für sie am Kreuz objektiv das Heil erworben. Durch Christi Tod sei die Sünde der Welt gerichtet wurden und durch sein Auferstehen sei der Sieg zu allen Menschen gekommen. Rettung und Heil ist also etwas, das alleine Gott gemacht hat, und zwar mit allen Menschen; der einzelne Mensch hat damit praktisch nichts zu tun. 

Barth lehrte, dass Glaube, Buße, Umkehr und Gehorsam nur die Sichtbarwerdung (Manifestation) des bereits erhaltenen Heils seien, nicht die Mittel, durch die das Heil persönlich ergriffen werde. Positiv ist das Bemühen, Gott als den Hauptagenten des Heilshandelns zurück zu gewinnen. Irrlehre ist seine Heilslehre aber schon allein durch die Aussage, dass alle Menschen „in Christus“ seien (auch wenn Christus noch nicht in allen Menschen sei, sondern der Mensch aus seinem geistlichen Schlaf aufwachen müsse); Barth ist damit ein weiterer Universalist.

Evangelikale Arminianer

Heilsabsicht Gottes. Die „evangelikalen“ Arminianer (viele sog. Freikirchen) lehren, dass Gott aus Liebe Christus in die Welt sandte, mit dem Ziel, die Menschheit, also alle Menschen, von dem Ruin der Sünde zu erretten (universale Versöhnung). Gott wolle die Errettung aller und jedes Menschen (bezugsnehmend auf 1Tim 2:4; 2Pet 3:9). Dass dies nicht zustande komme, sei alleine dem freien Willen und Widerstand des Menschen zuzurechnen.

Heilsergreifung. Sie lehren, dass eine universale, „vorlaufende“ Gnade vom Kreuz Christi gleichermaßen zu allen sündigen Menschen fließe und diese durch moralisches Licht in einen Stand versetze, in dem er seine moralische Blind- und Taubheit gegenüber dem Heilsangebot Gottes verliere, er in wiederhergestelltem freien und moralischen Willen von der Sünde überführt werde und in freier, ureigener Entscheidung dem Ruf zum Heil folgen könne. Die derart erweckte und berührte Seele kooperiere dabei aus freiem Vermögen mit Gott, bekenne ihre Sünden und vertraue Christus als ihrem Heiland. Viele Arminianer sehen die Wiedergeburt synergistisch als das Ergebnis des Zusammenwirkens von menschlicher Willigkeit und göttlichem Wirken.

Heils(un)sicherheit. Die evangelikalen Arminianer betonen, dass der Gnade und der Berufung Gottes effektiv und letztgültig Widerstand geleistet werden könne. Der neugeborene Christ könne sich jederzeit frei entscheiden, Christus zu verwerfen, in seiner Sünde fortzufahren und damit effektiv das ewige Heil (wieder!) zu verlieren. Die Arminianer verleugnen damit das Ausharren der Heiligen, wie es in der Schrift gelehrt wird.

Erwählung. Arminianer lehren die Lehre der Erwählung so, dass Gott nur jene Menschen zum Heil erwählte, von denen er voraussah, dass sie auf sein Gnadenangebot positiv reagieren und Christus annehmen würden (dies meine die Schrift mit dem Begriff „Vorkenntnis Gottes“; sog. Erwählung ex fide praevisa).

Methodismus (Perfektionismus). Einige Arminianer lehren, dass Gott sein heiligendes Handeln durch ein zweites Werk der Gnade vollkommen machen wolle, das dann die sündige Natur und die sündigen Wünsche des Menschen ausreiße und das Herz mit vollkommener Liebe gegenüber Gott erfülle (sog. Volle Errettung, Volles Heil, Sündlose Vollkommenheit; vgl. Wesleyanischen Methodismus, Charismatische und Pfingstler-Bewegung).  Dieses Heilsverständnis ist im Prinzip synergistisch, es ist ein Zusammenwirken einer göttlichen Gnade (welcher?) und des befreiten menschlichen Willens, wobei der Mensch der alles entscheidende Handelnde ist.

Wie Wolfgang Nestvogel belegt, greift diese Rekatholisierung der Heilslehre im arminianischen Gedankengut immer mehr Raum bei den Evangelischen und leider auch bei den (ehemals) „Evangelikalen“ (Freikirchen). [1]

Hyper-Calvinisten

Die sog. Hyper-Calvinisten [2] verdrehen die biblische Heilslehre dahingehend, dass sie die Souveränität Gottes im Heilshandeln so extrem betonen und so einseitig darstellen, dass bei ihnen die moralische und geistliche Verantwortung des Menschen völlig geleugnet wird. Folglich lehnen sie ab, dass den Nicht-Erwählten in der Predigt die Gute Botschaft frei angeboten wird oder anzubieten sei. Sie glauben nicht, dass im Evangelium allen Sündern ein ernst gemeintes Angebot der Retterliebe Gottes unterbreitet werden soll und unterbreitet wird. Andererseits leugnen sie die allgemeine Pflicht jedes Sünders, dem Evangelium zu glauben, Buße zu tun und an Jesus als ihrem Herrn und Heiland zu glauben (Sie meinen: „Er kann ja nicht, wenn er nicht weiß, ob er auserwählt ist.“).

Damit lenken sie den Blick statt auf Christus auf sich selbst, um nachzuforschen, ob sie erwählt seien, die „Gabe“ des Heils von Gott erhalten hätten usw. Hyper-Calvinisten unterscheiden nicht zwischen dem allgemeinen und speziellen Willen Gottes, also zwischen einerseits seinen Geboten, seinem wünschenden Wollen, dem der Mensch Widerstand und Ungehorsam entgegen bringen kann, und andererseits seinem feststehenden Willen in seinen Ratschlüssen, die unbereubar und durch den Menschen unaufhaltbar, unbeeinflussbar und fest sind.

Hyper-Calvinisten glauben alle an eine „doppelte Prädestination“ (Vorherbestimmung): nicht nur der Erwählten zum Heil, sondern gleicherweise auch der Nicht-Erwählten (sog. Abgefallene) zum Verderben.[3] Der Unterschied zwischen Hyper-Calvinisten und biblisch-reformiert denkenden Christen lieg hier darin, dass erstere die „doppelte Prädestination“ symmetrisch und als unbedingt denken (als ob Gott Beides sich gleich aktiv zuschreibe), letztere jedoch im Sinne von Römer 9,22–23 als asymmetrisch: die „Gefäße des Zorns“ sind zubereitet zum Verderben (passiv), die „Gefäße der Herrlichkeit“ werden von Gott zur Herrlichkeit bereitet (aktiv) [4].

Hyper-Calvinismus kam und kommt in verschiedenen Varianten vor, aber man kann dieses unbiblische Lehrsystem anhand einer (oder mehrerer) der folgenden Merkmale erkennen: Hyper-Calvinisten verleugnen1) dass der Ruf des Evangeliums alle Zuhörer angeht (Mt 11,28–29; Jes 45,22; 55,1–7; Offb 22,17); oder: 2) dass der Glaube Pflicht eines jeden Sünders ist (Mk 1,15; Apg 15,17; vgl. 17,30; seine moralische Unfähigkeit beraubt ihn nicht seiner Verantwortung!); oder 3) dass das Evangelium auch den Nichterwählten Christus, das Heil und die Barmherzigkeit anbietet (oder dass das Angebot der Gnade Gottes frei und universal ist); oder 4) dass es so etwas wie „Allgemeine Gnade“ gibt (vgl. 5Mo 10,18; Mt 5,44–45; Apg 14,17); oder 5) dass Gott irgendeine Art Liebe auch für die Nicht-Erwählten hat (vgl. aber seine Hingabe in der Feindesliebe!).

Diese Verleugnungen der Hyper-Calvinisten unterminieren und verdrehen das Evangelium Gottes. Eine typische Kurzfassung des Evangeliums Gottes seitens eines Hyper-Calvinisten könnte lauten: „Die Botschaft des Evangeliums ist, dass Gott die rettet, die sein Eigen sind und dass Er die verdammt, die es nicht sind.“ So wird die Gute Nachricht unseres Heiland-Gottes, der in echter Retterliebe auf diese Erde kam, „um zu suchen und zu retten, was verloren ist“ (Lukas 19,10) reduziert auf eine Sache von Erwählung und Verdammung. Ein Ringen und flehentliches Bitten um unsere verlorenen Mitmenschen, wie es die Schrift allen Christen als „Dienst der Versöhnung“ auferlegt (2Korinther 5,20), kennen sie nicht, sie verleugnen dies vielmehr.


Endnoten

[1] Nestvogel, Wolfgang: Wann ist ein Christ ein Christ? Der Kampf um die Rechtfertigung (2018). – Vertreter arminianistischer Gedanken in der deutschsprachigen, evangelikalen Gemeindewelt sind z. B. Prof. Herbert Jantzen (anabaptistische Mennoniten-Brüder) und Thomas Jettel (Kann ein Christ zu einem Nichtchristen werden?); Prof. Armin Mauerhofer (auch seine Brüder Walter und Erich), der Christliche Missions-Verlag Bielefeld (CMV), die Mission „Evangelium-für-alle“ (EfA) in Stuttgart-Bad Cannstatt unter Michael Happle, der Prediger Karl-Hermann Kauffmann u.v.a.

[2] Wir verwenden diese Bezeichnung im Sinne des Artikels von Phil Johnson, A Primer on Hyper-Calvinism. Shepherds Conference March 2003, Sun Valley, CA. Der Begriff ist trotzdem nicht überall gleich bekannt und wird unscharf verwendet.

[3] Es lohnt sich, einmal die Ausführungen Calvins selbst [http://www.calvin-institutio.de] samt seinen deutlichen Warnungen zu lesen (Institutio, Buch III, Kap. 21, Pkt. 1–2). Zur Prädestination schreibt Calvin u.a.: „Unter Vorbestimmung verstehen wir Gottes ewige Anordnung, vermöge deren er bei sich beschloß, was nach seinem Willen aus jedem einzelnen Menschen werden sollte! Denn die Menschen werden nicht alle mit der gleichen Bestimmung erschaffen, sondern den einen wird das ewige Leben, den anderen die ewige Verdammnis vorher zugeordnet. Wie also nun der einzelne zu dem einen oder anderen Zweck geschaffen ist, so – sagen wir – ist er zum Leben oder zum Tode vorbestimmt“. (Institutio, Buch III, Kap. 21, Pkt. 5. Übers. v. Otto Weber, Neukirchener Verlag, 1955. Betonung im Original.). Und: „Was demnach die Schrift klar zeigt, das sagen wir auch: Gott hat in seinem ewigen und unwandelbaren Ratschluß einmal festgestellt, welche er einst zum Heil annehmen und welche er andererseits dem Verderben anheimgeben will. Dieser Ratschluß ist, das behaupten wir, hinsichtlich der Erwählten auf Gottes unverdientes Erbarmen begründet, ohne jede Rücksicht auf menschliche Würdigkeit. Den Menschen aber, die er der Verdammnis überantwortet, denen schließt er nach seinem zwar gerechten und unwiderruflichen, aber unbegreiflichen Gericht den Zugang zum Leben zu!“ (op. cit., Kap. 21, Pkt. 7).

[4] R. C. Sproul, reformierter Theologe, hat den Unterschied sehr gut dargestellt in: Double Predestination (PDF). Einleitend schreibt er dort: „The distortion of double predestination looks like this: There is a symmetry that exists between election and reprobation. God WORKS in the same way and same manner with respect to the elect and to the reprobate. That is to say, from all eternity God decreed some to election and by divine initiative works faith in their hearts and brings them actively to salvation. By the same token, from all eternity God decrees some to sin and damnation (destinare ad peccatum) and actively intervenes to work sin in their lives, bringing them to damnation by divine initiative. In the case of the elect, regeneration is the monergistic work of God. In the case of the reprobate, sin and degeneration are the monergistic work of God. Stated another way, we can establish a parallelism of foreordination and predestination by means of a positive symmetry. We can call this a positive-positive view of predestination. This is, God positively and actively intervenes in the lives of the elect to bring them to salvation. In the same way God positively and actively intervenes in the life of the reprobate to bring him to sin. … Such a view of predestination has been virtually universally and monolithically rejected by Reformed thinkers.“ [Fettdruck hinzugefügt] „Sproul stellt zu Recht fest, dass diese Lehre mit dem Hyper-Calvinismus gleichzusetzen ist, den er lieber »Sub-Calvinismus« oder »Anti-Calvinismus« nennt. R. C. Sproul, Chosen by God (Wheaton, IL: Tyndale House, 1986), S. 142.“
John MacArthur,
der kein reformierter Theologe ist (und keiner Denomination angehört), schreibt zusammen mit Richard Mayhue in Biblische Lehre über Gottes Erwählen: „Der Ratschluss der Erwählung ist die freie und souveräne Wahl Gottes, die er in der Ewigkeit vor aller Zeit getroffen hat, seine Liebe auf bestimmte Einzelpersonen zu richten, und – auf der Grundlage von nichts in ihnen selbst, sondern allein wegen des Wohlgefallens seines Willens – zu beschließen, dass sie von der Sünde und Verdammnis errettet werden und durch das Werk Jesu Christi als Mittler die Segnungen des ewigen Lebens ererben sollten.“ (2. Aufl., Berlin: EBTC, 2021, S. 654). Über die Verwerfung siehe op. cit., S. 669ff. Auszug: „Obwohl dies die Vorstellung ist, an die viele denken, wenn sie die Begriffe Verwerfung oder doppelte Prädestination hören, ist dies eine grobe Karikatur der biblischen Lehre von der Verwerfung, die der Schrift absolut fremd und der Liebe und Gerechtigkeit Gottes zuwider ist; es ist eine Verirrung des historischen Calvinismus, die von der reformierten Orthodoxie durchgängig verworfen wurde und wird.“
Im Widerspruch zur symmetrischen Sicht der Römisch-katholischen Lehre und der Arminianer (doppeltes Vorhersehen), als auch zur Sicht der Hyper-Calvinisten und der Barthianer (doppelte Prädestination), führt uns der biblische Befund dazu, an einer asymmetrischen Sicht der Erwählung festzuhalten, nämlich einer vorbedingungslosen (o. unbedingten) Erwählung zum Leben (auf dem Grundsatz der Gnade) und einer bedingten Erwählung zur Verdammnis (auf dem Grundsatz der Gerechtigkeit). Wenn wir von einer »Erwählung zur Verdammnis« reden, meinen wir damit nicht, dass Gott Personen zur Sünde und zum Ungehorsam vorherbestimmt habe, sondern zur Verurteilung (und Verdammung), die zwangsweise jeder Sünde folgen muss.

Getretener Quark wird breit, nicht stark.

Dieser Ausspruch im Westöstlichen Diwan (1819/1827) von Goethe passt irgendwie hervorragend zu den immer wieder mantraartig (scheinbar sinnfrei) wiederholten Vorwürfen arminianisch und römisch geprägter Christen, die sie immer wieder in Richtung jener Christen äußern, die der bibeltreuen reformatorischen Heilslehre anhängen. Die Reformierten (meist als „Calvinisten“ Bezeichneten) fassten vor 400 Jahren im Schlussstatement ihrer Verwerfung der arminianischen Irrlehren (der sog. „Lehrregel“, 1619) diese haltlosen Vorwürfe wie unten angeführt zusammen.

Man gewinnt den Eindruck, dass auch 400 Jahre nicht reichen, den falschen Blick und das falsche Denken arminianisch argumentierender Menschen zu korrigieren. Durchblick gibt es erst bei überzeugter Bindung an die Wahrheit. Man muss demütig anerkennen und dann praktisch umsetzen, was der Sohn Gottes ein für allemal festgehalten hat: „DEIN WORT IST WAHRHEIT.“ Das wirft uns stets zurück auf die Heilige Schrift und die (wahren) Tatsachen. Dazu gehört also praktisch auch, dass man ehrlich und respektvoll mit dem Andersdenkenden umgeht, alle Behauptungen genau an den Tatsachen überprüft und kein falsches Zeugnis wider den Nächsten ausspricht.

Was „gegen alle Wahrheit und Liebe“ dem Volk eingeredet wird

»Die Lehre der reformierten Kirchen von der Gnadenwahl und damit zusammenhängenden Lehrstücken…

  • führe die Gemüter der Menschen durch einen gewissen eigentümlichen Geist und Richtung von aller Frömmigkeit und Gottesfurcht ab. Sie sei ein Ruhekissen des Fleisches und des Teufels und eine Burg des Satans, aus der er allen auflauere, die meisten verwunde und viele mit den Pfeilen der Verzweiflung oder Sicherheit tödlich treffe.
  • Sie mache Gott zum Urheber der Sünde, zu einem Ungerechten, einem Tyrannen, einem Heuchler und
  • sei nichts anderes als verfälschter Stoizismus, Manichäismus, Libertinismus und Islam.
  • Sie mache die Menschen fleischlich sicher, da sie nach ihr überzeugt wären, es schade der Seligkeit der Erwählten nicht, wie sie auch lebten, und deshalb könnten sie in Sicherheit auch die schwersten Frevel begehen.
  • Den Verworfenen helfe es nicht zur Seligkeit, wenn sie auch alle Werke der Heiligen wirklich vollbrächten.
  • Durch dieselbe würde gelehrt, dass Gott nach der bloßen und reinen Willkür seines Willens, ohne alle Rücksicht auf irgendeine Sünde und ohne Ansehen den größten Teil der Welt zur ewigen Verdammnis vorherbestimmt und geschaffen habe.
  • Auf dieselbe Weise, wie die Erwählung die Quelle und die Ursache des Glaubens und der guten Werke sei, so sei die Verwerfung die Ursache des Unglaubens und der Unfrömmigkeit.
  • Viele Kinder der Gläubigen würden von der Brust der Mutter unschuldig fortgerissen und tyrannisch in die Hölle gestürzt, so dass ihnen weder die Taufe noch die Gebete der Kirche bei ihrer Taufe etwas helfen könnten.«

Unschwer erkennt man, dass kontemporären, arminianisch denkenden Christen nichts Neues als „Argument“ gegen ihre biblisch glaubenden Geschwister einfällt. Es wird einfach immer wieder dasselbe Falsche, Verleumderische, Unsinnige und Unbiblische behauptet, auch wenn die Verleumdeten schon oft das Gegenteil bezeugt haben (siehe im folgenden Zitat). Dass diese Vorwürfe schon vor Jahrhunderten diskutiert und entkräftet wurden, wissen die arminianisch denkenden Christen nicht oder ignorieren es willentlich. Hier ist der Spruch vom „getretenen Quark“ tragisch zutreffend.

Was die Verantwortung jedes Christen ist, wenn er solche Behauptungen hört

„Und was der Art mehr ist, was die reformierten Kirchen nicht nur nicht anerkennen, sondern von ganzem Herzen verabscheuen.

Deshalb beschwören wir beim Namen des Herrn alle, welche den Namen unseres Heilandes Jesus Christus gottesfürchtig anrufen, dass sie über den Glauben der reformierten Kirche nicht aus den hier- und dorther zusammengehäuften Schmähungen oder aus den besonderen Äußerungen einiger älterer oder neuerer Lehrer, die oft entweder falsch angeführt oder entstellt und zu einem anderen Sinn verdreht sind, urteilen, sondern aus den öffentlichen Bekenntnissen dieser Kirchen und aus dieser Darlegung der rechtgläubigen Lehre, die durch diese Lehrregel festgestellt ist.

Die Verleumder aber selbst ermahnen wir ernsthaft, dass sie überlegen mögen, welch schwerem Gericht Gottes sie verfallen würden, wenn sie gegen so viele Kirchen und so vieler Kirchen Bekenntnisse falsches Zeugnis reden, das Gewissen der Schwachen beunruhigen und sich bemühen, vielen die Gemeinschaft der wahrhaft Gläubigen verdächtig zu machen.“

Was die Verkündiger des biblischen Glaubens beachten sollen

„Zuletzt ermahnen wir alle Diener Gottes im Evangelium Christi, dass sie bei Durchnahme dieser Lehre in Schulen und Kirchen fromm und gottesfürchtig zu Werke gehen, sie sowohl mündlich als schriftlich zum Ruhm des göttlichen Namens, zur Heiligkeit des Lebens und zum Trost niedergeschlagener Gemüter anwenden, mit der Schrift nach der Gleichmäßigkeit des Glaubens nicht nur denken, sondern auch sprechen und sich endlich aller der Ausdrücke enthalten, welche die uns vorgeschriebenen Grenzen des richtigen Sinnes der heiligen Schriften überschreiten und den nichtswürdigen Sophisten eine gute Gelegenheit bieten könnten, die Lehre der reformierten Kirche zu verhöhnen oder zu verleumden.

Der Sohn Gottes, Jesus Christus, der, zur Rechten des Vaters sitzend, den Menschen Gaben spendet, heilige uns in der Wahrheit, führe die, welche irren, zur Wahrheit, verschließe den Verleumdern der rechten Lehre den Mund und erfülle die treuen Diener seines Wortes mit dem Geist der Weisheit und Unterscheidung, damit alle ihre Reden zum Ruhm Gottes und der Erbauung der Zuhörer dienen. Amen.

Textquellen der Langzitate

Leseempfehlungen

  • Greg Forster, Fünf Mythen über den Calvinismus. (Artikel auf Evangelium21.net vom 3. Dezember 2018).
    • Mythos 1: Wir haben keinen freien Willen.
    • Mythos 2: Wir werden gegen unseren Willen gerettet.
    • Mythos 3: Wir sind total verdorben.
    • Mythos 4: Gott liebt die Verlorenen nicht.
    • Mythos 5: Der Calvinismus befasst sich hauptsächlich mit Gottes Souveränität und Prädestination.
  • Michael Haykin, Fünf Mythen über Johannes Calvin. (Artikel auf Evangelium21.net vom 24. Juli 2020).
    • Mythos Nr. 1: Calvin ließ Michael Servet hinrichten.
    • Mythos Nr. 2: Der Tyrann Calvin übte in der Hauptzeit seines Wirkens in Genf von 1541 bis 1564 in der Stadt eine Gulag-ähnliche Herrschaft aus.
    • Mythos Nr. 3: Calvins Theologie lässt sich mit dem Akronym TULIP zusammenfassen.
    • Mythos Nr. 4: Calvins monergistische Soteriologie bringt eine Tendenz zum Antinomismus mit sich.
    • Mythos Nr. 5: Calvin hatte kein Interesse an Mission.
  • Kenneth J. Stewart, Ten Myths About Calvinism – Recovering the Breadth of the Reformed Tradition. Downers Grove, IL: InterVarsityPress und Nottingham, England: Apollos, 2011.

Der Spruch zu guter Letzt

He that hath a head of wax musst not walk in the sun.

Was die „Fünf Punkte des Calvinismus“ nötig machte

Was man heute als die „Fünf Punkte des Calvinismus“ bezeichnet, gehört seit über 400 Jahren verbindlich zum reformierten Glaubensinhalt, ist aber auch Glaubensinhalt vieler anderer Christen, die sich in der Lehre – speziell in der Heilslehre – alleine auf Gottes Wort gründen. Diese „5 Punkte“ werden besser mit „Die Lehren der Gnade“ bezeichnet. Gnade und Barmherzigkeit sind zwei der Vollkommenheiten Gottes, die Er uns in besonders auffälliger Weise geoffenbart hat (2Mose 33,19; 34,6–9; Johannes 1,16 u.v.a.). Daher sind sie auch zentral wichtig für unsere Gotteserkenntnis und damit für die Anbetung Gottes.

Die „Lehren der Gnade“ sind also unverzichtbar wichtig und wertvoll. Man muss jedoch verstehen, dass der „Calvinismus“ (i.S.v. Glaubensinhalt der Reformierten) nicht (nur) aus (diesen) 5 Punkten besteht. Vielmehr sind dem reformiert Glaubenden Hunderte älterer und weiterer „Punkte“ genauso verpflichtender Glaubensinhalt. Diejenigen Nichtreformierten, die sich heute als „5-Punkte-Calvinisten“ bezeichnen, müssten zutreffender sagen, dass sie an „Die Lehren der Gnade“ glauben. Diese Lehren lassen sich (frühestens seit 1905!) mit dem Akrostichon TULIP in Erinnerung rufen (s.a.: TULIP – Wer hat’s erfunden? ). Sie wurden notwendig als Zurechtweisung formuliert, als die reformierte Kirche von Falschlehre(r)n angegriffen wurde und der Antrag gestellt wurde, diese Falschlehren in das Glaubensbekenntnis der Kirche aufzunehmen. Robert Godfrey ordnet die „5 Punkte“ so ein: „Der Calvinismus hat fünf Antworten auf die fünf Irrlehren des Arminianismus. Die Lehrregeln antworten Punkt für Punkt auf die arminianische Zusammenfassung, die 1610 vorlegt wurde.“ (Artikel: Gründe für Dordrecht, 2019)

Der damalige politische Streit war immer auch ein religiöser, da die Römische Kirche es gewohnt war, ihre Macht wie im Kirchlichen so auch in der Politik auszuüben. Romanisierungstendenzen sind als Ergebnis aktiver Gegenreformation und andererseits mangelnder Lehrfestigkeit der „Protestanten“ daher immer wieder wahrzunehmen, wie damals so auch heute (s.z.B. Gemeinsame Erklärung), wenngleich die Taktik und Methoden angepasst werden.

Die inhaltliche Beurteilung der „Fünf Punkte“ der Protestler (Arminianer)

Das Lehrsystem, das als „Calvinismus“ bekannt geworden (oder verleumdet worden) ist, behauptet, dass es eine richtige Darstellung der biblischen Heilslehre ist. Daneben gibt es verschiedene andere Lehrsysteme bzgl. der Heilslehre mit verschiedenen Graden des Unglaubens. Der „Calvinismus“ als theologisches Lehrsystem wurde natürlich nicht von der Synode von Dordrecht (Dordt) im Jahr 1619 [1] erfunden, sondern dort nur gegen Angriffe aus der Kirche verteidigt und als die in der Heiligen Schrift enthaltene Heilslehre bekräftigt. Diese Verteidigung wurde 1619 in „fünf Punkten“ (eigentlich als „Lehrregel“) formuliert, da es die Antwort auf die als unbiblisch beurteilten fünf Punkte ist, die die „Remonstranten“ („Protestler“; heute meist: „Arminianer“) der Kirche von Holland 1610 vorgelegt hatten. Die Lehren der arminianisch geprägten „Remonstranten“ wurden klar als Irrlehre bezeichnet und verurteilt.

Die Form der Beurteilung der „Fünf Punkte“ der Protestler (Arminianer)

Die Synode von Dordrecht war in der Verurteilung und Zurückweisung verbal nicht zimperlich. Sie erklärte in Reaktion auf die arminianischen und remonstrantischen Artikel und Meinungen in der „Lehrregel von Dordrecht“ (1619) [1] relativ offen und robust

  • dass Arminius und die Remonstranten „die Pelagianische Irrlehre wieder aus der Hölle hervorgebracht“ hatten.
  • Sie sagten von den Arminianern, sie „betrügen die Einfältigen“,
  • ihre arminianischen Lehren seien „eine Erdichtung des menschlichen Gehirns, ohne die Schrift ausgedacht“,
  • ein „schändlicher Irrtum“,
  • dass sie „nach der Gesinnung des Pelagius riecht“,
  • „der ganzen Schrift widerstreitet“ und „der Schrift widerspricht“,
  • ein „grober Irrtum“ sind,
  • „in Widerstreit mit der Erfahrung der Heiligen“ stehen,
  • „den klaren Zeugnissen der Schrift widerstreiten“,
  • dass sie Remonstranten „danach trachten, dem Volk das verderbliche Gift des Pelagianismus einzuflößen“,
  • „sie widersprechen dem Apostel“ und „sie widersprechen dem Heiland“,
  • ihre Lehre „verschmäht die Weisheit des Vaters und die Verdienste Jesu Christi und widerstreitet der Heiligen Schrift“,
  • sie „widerstreitet den klaren Zeugnissen der Schrift“,
  • sie „ist völlig pelagianisch und zu der ganzen Schrift im Widerspruch“.
  • Die Christen sollten wissen, dass „die alte Kirche diese Lehre schon seit langem in den Pelagianern […| verurteilt“ hat,
  • dass diese Lehre „einen deutlichen Pelagianismus offenbart“ und
  • dass „diese Meinung die Gnade, Rechtfertigung, Wiedergeburt und beständige Bewahrung Christi kraftlos macht“.

Die „Fünf Punkte“ der Protestler (Arminianer) sind Irrlehre, nicht nur Irrtum

Es wurde also nicht beschönigend von tolerierbarer „anderer Auffassung“, „anderer Erkenntnis“ o.ä. oder tolerierbar geringem Irrtum geredet (mit Entschuldigungen wie: „Wir alle irren mal“ und „Wir erkennen nur stückweise“, was natürlich Beides stimmt), sondern entlarvend von der Wiederkehr alter Irrlehren (Pelagianismus) und von Widerspruch zur Lehre der Heiligen Schrift.

Die rechtgläubigen Professoren, Theologen und Geistlichen Hollands und Englands versuchten daher beständig und aktiv, die Lehre der Arminianer zu unterdrücken und die Ausübung jenes Glaubens zu verbieten, den sie entschieden als häretisch verurteilten. Dies gelang ihnen durch die Einberufung der Synode von Dort recht wirksam. Aus diesen Gründen wurde der Arminianismus als (nichttolerierbare) Irrlehre (Häresie) – und nicht nur als (tolerierbarer) Irrtum – angesehen. Dieses Bewusstsein haben anscheinend manche „bibeltreue“ Gemeinden, Gemeinschaften und Missionswerke leider verloren.

Die Psychologisierung des Konflikts

Immer wieder gab es Versuche, die enormen lehrhaften Differenzen in diesem Konflikt herunterzuspielen und auf rein menschliche und persönliche Umstände und Lösungen abzuzielen. Wer als Theologe scheitert, versucht sich dann als Soziologe oder Psychologe? Dies ist gut zu beobachten beim bekannten Konflikt zwischen John Wesley und George Whitefield im 18. Jhdt., der in dieser Sache, insbes. in der Lehre von der Erwählung und der Heilssicherheit, tobte.[3] Whitefield schrieb in diesem Zusammenhang zurecht öffentlich an Wesley: „Die Kinder Gottes stehen in Gefahr, dem Irrtum zu verfallen. […] Oh, Sir, was ist denn das für eine Logik, oder besser: Sophistik?“ […] Sir, wie absurd argumentiert Ihr an dieser Stelle!“ (Brief vom 24.12.1740 von Bethesda, GA aus). Gleichzeitig verband er seine sachlich scharfe Kritik an der Irrlehre Wesley mit respektvollen Formulierungen gegenüber der Person des Gegners. Whitefield war nicht bereit, sein sachlich scharfes Urteil vom Ziel einer menschlichen Versöhnung trüben zu lassen, oder dem menschlichen Vertragen die Wahrheit und Gesundheit der Glaubenden zu opfern.

Es geht im Kern um nichts Geringeres als unser Gottesbild und unsere Anbetung

Gemäß der Lehren der Gnade wird das Heil durch die allmächtige Kraft des dreieinigen Gottes vollbracht: Der Vater hat ein Volk auserwählt, der Sohn ist für sie gestorben, der Heilige Geist macht den Tod Christi wirksam, indem er die Auserwählten zum Glauben und zur Umkehr bringt und sie dadurch veranlasst, dem Evangelium willig zu gehorchen (vgl. Hesekiel 36; Johannes 3, 6 u.a.).

Der Kreis der so gnädig Beschenkten wurde vor der Zeit allein durch göttliches Erwählen festgelegt und bleibt bei allen Heilswerken der Personen der Trinität (Opera ad extra) stets der selbe (s. a. Römer 8, 28–30). Diejenigen, für die der menschgewordene Sohn Gottes aus Liebe zum Vater und „den Seinigen“ (Johannes 13,1) im Opfer stirbt, sind exakt jene, die sich der Vater vor aller Zeit zum Besitz genommen hatte (Johannes 17,6b: „Dein waren sie“) und die er dann dem Sohn übergeben hatte („Mir hast du sie gegeben“, Johannes 17,6b), damit sie „die Seinigen“ seien, die er „bis aufs Äußerste“ und ewig göttlich lieben würde (Johannes 17,2.6.9.24). Wer diese Transaktion der Liebe nicht erfasst, glaubt, liebt, anbetet, verkündigt, dessen Gottesbild hat schon im Kernbereich erhebliche Mängel. Entsprechend dysfunktional wird seine Heilslehre. Würde es doch endlich begriffen: Erwählung zum Heil – und damit zur ewigen Gemeinschaft und Einheit – ist eine Liebesgeschichte! Eine Liebesgeschichte des Allmächtigen, der Licht und Liebe ist.

Der Streit zwischen der biblischen Auffassung des Heils bei den Reformatoren (und Reformierten) und bei den Gegen-Reformatoren ist im Kern immer auch ein Kampf zwischen einem gottzentrierten und einem menschzentrierten Verständnis der göttlichen Heilsveranstaltung. Die Heilige Schrift lehrt: Der gesamte Prozess, samt Erwählung, Erlösung, Wiedergeburt, ist das Werk Gottes und geschieht allein aus Gnade (Epheser 2,8–9). Auf diese Weise bestimmt Gott, und nicht der Mensch, wer die Gabe des Heils empfängt. Und Er macht das ganz gezielt so, dass Er am Ende alleine allen Dank und alle Anbetung dafür erhält (Römer 11,33–36): Soli Deo Gloria!


Anmerkungen

[1] Die Dordrechter Synode (auch Synode von Dordt) war eine nationale Versammlung der niederländischen reformierten Kirche unter Beteiligung von ausländischen reformierten Delegationen, die vom 13. November 1618 bis zum 9. Mai 1619 in Dordrecht stattfand. Siehe auch: 400 Jahre Synode in Dordrecht. Vgl. auch die Ausarbeitung Gründe für Dordrecht – Zur Entstehung und Bedeutung der Synode von Dordrecht von Robert Godfrey auf der Website von Evangelium 21 (2019) (Link).

[2] Text in Deutsch entweder online (SERK Deutschland) oder als Dokument (PDF).

[3] Sehr gute Darstellung in der Whitefield-Biografie von Benedikt Peters: George Whitefield: Der Erwecker Englands und Amerikas. 2. Aufl. (Bielefeld: CLV, 2003), leider vergriffen, und Christian Klein: George Whitefield: Das Leben des Evangelisten und sein Konflikt mit John Wesley (PDF).

Die Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift

 Jesus Christus: Dein Wort ist Wahrheit. (JohEv 17,17)

Die Frage nach der Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift hat viele Motive. Die negativen Motive spannen sich von der Wahrnehmung einzelner schwer verständlicher oder scheinbar falscher Passagen bis hin zu einer grundsätzlichen Leugnung jeglicher Offenbarung oder Ablehnung jeder übergeordneten Autorität. Wer nicht an Gott glaubt, muss konsequenter Weise jedes „Wort Gottes“ ablehnen.

Für den gläubigen Christen ist die Frage nach der Qualität der Heiligen Schrift jedoch eine Frage des Glaubens, die untrennbar mit dem Wesen Gottes verbunden und daher absolut positiv motiviert ist. Der Sohn Gottes bezeugte: „Dein Wort ist Wahrheit“ (Johannes 17,17). Wenn die Heilige Schrift Gottes Wort ist, dann hat die Heilige Schrift die selben Eigenschaften wie Gott selbst. „Im Charakter des irrtumslosen und unfehlbaren Gottes liegt die Irrtumslosigkeit und Unfehlbarkeit seines Produktes, der Bibel, begründet. Der vollkommene Vater von Jesus Christus kann nichts Fehlerhaftes oder Unvollkommenes schaffen, auch nicht in logischer oder naturwissenschaftlicher Hinsicht.“ (M. Kotsch, Bibelbund, 2003)

Das Selbstzeugnis der Schrift über sich mag methodisch als Zirkelschluss abgelehnt werden, aber in der Tat haben wir in diesem speziellen Fall keine höhere Erkenntnisinstanz über das Wort Gottes als dieses Wort Gottes selbst. Nur Gott kann Sein Wort als Sein Wort autorisieren. Das kann man akzeptieren oder nicht – beides mit ewig reichenden Konsequenzen.

Die Autoren der ersten „Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel“ schreiben im Vorwort ihrer Erklärung folgendes:
„Die Autorität der Schrift ist für die christliche Kirche in unserer wie in jeder Zeit eine Schlüsselfrage. Wer sich zum Glauben an Jesus Christus als Herrn und Retter bekennt, ist aufgerufen, die Wirklichkeit seiner Jüngerschaft durch demütigen und treuen Gehorsam gegenüber Gottes geschriebenem Wort zu erweisen. In Glauben oder Leben von der Schrift abzuirren ist Untreue unserem Herrn gegenüber. Das Anerkennen der absoluten Wahrheit und Zuverlässigkeit der Heiligen Schrift ist für ein völliges Erfassen und angemessenes Bekenntnis ihrer Autorität unerlässlich.“
(Quelle: „Die Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel“, zitiert nach der Ausgabe des deutschen Bibelbund e.V., Download als PDF)

Einen Beitrag von Michael Kotsch zur Bedeutung der Chicago-Erklärung findet man hier.

Für die des Englischen mächtigen Leser sei betreffs der aktuellen Diskussion zur Chicago-Erklärung auf das Konferenz-Buch „The Inerrant Word: Biblical, Historical, Theological, and Pastoral Perspectives“ (Hrsg.: John MacArthur; Crossway, 2016) verwiesen. Der englische Originaltext der drei Chicagoerklärungen aus dem Archiv des DTS (Dallas Theological Seminary) kann über folgende Links als PDF heruntergeladen werden:

  1. The Chicago Statement on Biblical Inerrancy (Summit I, Oct 26-28, 1978) | Version mit Erklärungen
  2. The Chicago Statement on Biblical Hermeneutics (Summit II, Nov 10-13, 1982) | Version mit Erklärungen von Norman L. Geisler
  3. The Chicago Statement on Biblical Application (Summit III, Dec 10-13, 1986)

Die Pflicht zum Widerstand gegen Falschlehre (J.C. Ryle)

John Charles Ryle (1816–1900)

Der ursprüngliche Artikel trägt die Überschrift Opposing False Doctrine und erschien in seiner Buchreihe Expository Thoughts on the Gospels (1869).

Und er rief die Volksmenge herzu und sprach zu ihnen: Hört und versteht! Nicht was in den Mund eingeht, verunreinigt den Menschen, sondern was aus dem Mund ausgeht, das verunreinigt den Menschen.
Dann traten seine Jünger herzu und sprachen zu ihm: Weißt du, dass die Pharisäer Anstoß genommen haben, als sie das Wort hörten?
Er aber antwortete und sprach: Jede Pflanze, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, wird ausgerissen werden. Lasst sie; sie sind blinde Leiter [der] Blinden. Wenn aber ein Blinder einen Blinden leitet, werden beide in eine Grube fallen.
Petrus aber antwortete und sprach zu ihm: Deute uns dieses Gleichnis.
Er aber sprach: Seid auch ihr noch unverständig? Begreift ihr nicht, dass alles, was in den Mund eingeht, in den Bauch geht und in [den] Abort ausgeschieden wird? Was aber aus dem Mund ausgeht, kommt aus dem Herzen hervor, und das verunreinigt den Menschen. Denn aus dem Herzen kommen hervor böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsche Zeugnisse, Lästerungen; diese Dinge sind es, die den Menschen verunreinigen, aber mit ungewaschenen Händen essen verunreinigt den Menschen nicht. (Matthäus 15,10-20)



In diesem Abschnitt gibt es zwei auffällige Aussagen des Herrn Jesus. Die eine bezieht sich auf falsche Lehre, die andere bezieht sich auf das menschliche Herz. Beide Aussagen verdienen unsere größte Aufmerksamkeit.

Falsche Lehre

In Bezug auf falsche Lehre erklärt unser Herr, dass es eine Pflicht ist, sie zu bekämpfen, dass ihre endgültige Zerstörung sicher ist und dass man sich von ihren Lehren distanzieren sollte. Er sagt: »Jede Pflanze, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat, wird entwurzelt werden. Schenkt ihr keine Beachtung.«

Aus der Untersuchung des Textes geht hervor, dass die Jünger überrascht waren von den scharfen Worten unseres Herrn über die Pharisäer und ihre Traditionen. Wahrscheinlich hatten sie sich von Jugend an daran gewöhnt, sie als die weisesten und besten Menschen anzusehen. Sie waren erschrocken, als sie hörten, wie ihr Meister sie als Heuchler anprangerte und sie beschuldigte, das Gebot Gottes zu übertreten. » Weißt du,« sagten sie, »dass die Pharisäer Anstoß genommen?« Dieser Frage verdanken wir eine erklärende Aussage unseres Herrn – eine Aussage, die sonst vielleicht nie die Beachtung gefunden hätte, die sie verdient.

Die klare Bedeutung der Worte unseres Herrn ist, dass eine falsche Lehre, wie die der Pharisäer, wie eine Pflanze war, der man keine Gnade erweisen sollte. Es war eine »Pflanze, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt hat«, und eine Pflanze, die auszureißen die Pflicht war, was auch immer sie anrichten mochte. Es war keine Nächstenliebe, sie zu verschonen, denn sie schadete den Seelen der Menschen. Es spielte keine Rolle, dass diejenigen, die sie pflanzten, hohe Ämter innehatten oder gelehrt waren. Wenn eine Lehre dem Wort Gottes widerspricht, muss sie bekämpft, widerlegt und verworfen werden. Seine Jünger mussten daher verstehen, dass es richtig war, allen Lehren zu widerstehen, die unbiblisch waren, und alle Lehrer, die diese Lehren fortwährend brachten, unbeachtet stehen zu lassen und sich von ihnen zu distanzieren: »Lasst sie!« Früher oder später würden sie feststellen, dass alle Irrlehren völlig umgestürzt und zu Schanden gemacht werden. Nichts wird Bestand haben außer dem, was auf Gottes Wort gegründet ist.

In diesem Ausspruch unseres Herrn stecken Lektionen von tiefer Weisheit, die dazu dienen, die Pflicht manches bekennenden Christen zu beleuchten. Lasst uns diese Lektionen gut überfliegen und erkennen, was sie uns lehren. Aus dem praktischen Gehorsam gegenüber dem Ausspruch des Herrn »Lasst sie!« entstand auch die segensreiche protestantische Reformation. Diese Lektionen Lehren verdienen also unsere größte Aufmerksamkeit.

Sehen wir hier nicht, dass wir verpflichtet sind, im Widerstand gegen falsche Lehren unerschrocken zu sein? Zweifellos sehen wir diese Pflicht. Keine Angst, Anstoß zu erregen, keine Furcht vor kirchlicher Zensur sollte uns zum Schweigen bringen, wenn Gottes Wahrheit in Gefahr steht. Wenn wir wahre Nachfolger unseres Herrn sind, sollten wir freimütige, unerschrockene Zeugen gegen den Irrtum sein. »Die Wahrheit«, sagt Musculus, »darf nicht unterdrückt werden, denn die Menschen sind böse und blind.«

Sehen wir nicht erneut die Pflicht, Irrlehrer zu verlassen, wenn sie ihren Wahn nicht aufgeben wollen? Zweifellos ja. Kein falsches Feingefühl, keine falsche Demut sollten uns davor zurückschrecken lassen, die Dienste eines Geistlichen zu fliehen, der Gottes Wort widerspricht. Es ist zu unserem eigenen Verderben, wenn wir uns unbiblischer Lehre ausliefern. Und es wird ganz unsere eigene Schuld sein, wenn wir entsprechend im Glauben Schaden nehmen. Um es mit den Worten von Whitby zu sagen: »Es kann niemals richtig sein, einem Blinden in den Graben zu folgen.«

Erkennen wir, als letztem Punkt, nicht auch die Pflicht zur Geduld, wenn wir zuschauen müssen, wie falsche Lehren mehr und mehr zunehmen? Zweifellos erkennen wir diese Pflicht. Wir können uns mit dem Gedanken trösten, dass sie nicht lange Bestand haben werden. Gott selbst wird die Sache seiner Wahrheit verteidigen. Früher oder später wird jede Irrlehre »ausgerissen werden«. Wir sollen nicht mit fleischlichen Waffen kämpfen, sondern warten, predigen, protestieren und beten. Früher oder später, sagte Wycliffe, »wird die Wahrheit obsiegen«.

Das Herz des Menschen

Was das Herz des Menschen betrifft, erklärt unser Herr in diesen Versen, dass es die wahre Quelle aller Sünde und Verunreinigung ist. Die Pharisäer lehrten, dass die Heiligkeit von Speisen und Getränken von körperlichen Waschungen und Reinigungsriten abhing. Sie meinten, dass alle, die ihre Traditionen in diesen Dingen befolgten, vor Gott rein und sauber seien, und dass alle, die diese Traditionen vernachlässigten, unrein und unrein seien. Unser Herr verwarf diese elende Lehre, indem er seinen Jüngern zeigte, dass die wahre Quelle aller Verunreinigungen nicht außerhalb des Menschen liegt, sondern in seinem Inneren: »Aus dem Herzen«, sagte er, »kommen hervor böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsche Zeugnisse; diese Dinge sind es, die den Menschen verunreinigen«. Wer Gott recht dienen will, braucht etwas viel Wichtigeres als körperliche Waschungen: Er muss danach streben, »ein reines Herz« zu haben.

Was für ein schreckliches Bild des menschlichen Wesens haben wir hier vor uns! Und es wurde auch noch von jemand gezeichnet, der genau wusste, was im Menschen ist. Was für ein furchtbares Verzeichnis ist das davon, was in unserer eigenen Brust steckt! Welch traurige Liste von Samen des Bösen hat unser Herr aufgedeckt, die tief in jedem von uns liegen und jederzeit bereit sind, ins aktive Leben zu treten! Was können die Stolzen und Selbstgerechten sagen, wenn sie eine solche Stelle wie diese lesen? Hier skizziert der Herr nicht das Herzen eines Räubers oder Mörders, sondern berichtet wahr und getreu über die Herzen aller Menschen. Möge Gott uns gewähren, dass wir gut darüber nachdenken und weise werden!

Lasst es uns zu einem festen Vorsatz machen, dass der Zustand unseres Herzens die Hauptsache unseres Glaubenslebens sein soll. Möge es uns nicht genügen, in die Kirche zu gehen und die äußeren Formen der Religion einzuhalten. Lasst uns viel tiefer blicken, als nur so weit, und vielmehr danach trachten, ein »aufrichtiges Herz vor Gott« zu haben (Apostelgeschichte 8,21.) Das rechte Herz ist ein Herz, das mit dem Blut Christi besprengt, durch den Heiligen Geist erneuert und durch den Glauben gereinigt wurde. Lasst uns niemals ruhen, bis wir in uns das Zeugnis des Geistes Gottes darüber finden, dass Gott in uns ein reines Herz geschaffen und alles neu gemacht hat (Psalm 51,10. 2Korinther 5,17).

Schließlich soll es uns fester Vorsatz sein, alle Tage unseres Lebens unser »Herz mehr als alles, was zu bewahren ist« zu behüten (Sprüche 4,23.) Selbst nach der Erneuerung sind unsere Herzen schwach. Selbst nachdem wir den neuen Menschen angezogen haben, sind unsere Herzen trügerisch. Vergessen wir nie, dass unsere größte Gefahr von innen kommt. Die Welt und der Teufel zusammen können uns nicht so viel Schaden zufügen, wie unser eigenes Herz, wenn wir nicht wachen und beten. Glücklich ist, wer sich täglich an die Worte Salomos erinnert: »Wer auf sein Herz vertraut, der ist ein Tor; wer aber in Weisheit wandelt, der wird entkommen« (Sprüche 28,26).

Über den Autor

John Charles Ryle (1816–1900) war war der erste anglikanische Bischof von Liverpool. Er ist inzwischen auch in Deutschland durch seine Bücher Seid heilig (Holiness), Gedanken für junge Männer (Thoughts for young men), Mit Gott auf dem Weg (Walking with God), Die Pflichten der Eltern und Beten Sie? bekannt. Er gilt als einer der größten viktorianischen Evangelikalen. Spurgeon nannte ihn den »besten Mann der Kirche Englands« (unter Verwendung von: https://de.wikipedia.org/wiki/John_Charles_Ryle). – Übersetzt von grace@logikos.club

Literaturverweise

  • Do Not Tolerate False Teaching by J.C. Ryle (im Web hier)
  • 8 Symptoms of False Doctrine von J.C. Ryle (im Web hier)

Gloria in excelsis Deo

Und es waren Hirten in derselben Gegend, die auf freiem Feld blieben und in der Nacht Wache hielten über ihre Herde. Und siehe, ein Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Herrlichkeit des Herrn umleuchtete sie, und sie fürchteten sich mit großer Furcht.
Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkündige euch große Freude, die für das ganze Volk sein wird; denn euch ist heute in der Stadt Davids ein Erretter geboren, welcher ist Christus, der Herr.
Und dies sei euch das Zeichen: Ihr werdet ein Kind finden, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend. Und plötzlich war bei dem Engel eine Menge des himmlischen Heeres, das Gott lobte und sprach:
Herrlichkeit Gott in der Höhe
und Friede auf der Erde,
an den Menschen des Wohlgefallens!

Lukasevangelium 2,8-14 (ELBCSV, FN zu 2,14)

Gloria in excelsis Deo
et in terra pax hominibus bonae voluntatis.
Laudamus te, benedicimus te, adoramus te, glorificamus te,
gratias agimus tibi propter magnam gloriam tuam,
Domine Deus, Rex caelestis,
Deus Pater omnipotens,
Domine Fili unigenite, Jesu Christe,
Domine Deus, Agnus Dei,
Filius Patris,
qui tollis peccata mundi, miserere nobis;
qui tollis peccata mundi, suscipe deprecationem nostram.
Qui sedes ad dexteram Patris, miserere nobis.
Quoniam tu solus Sanctus,
tu solus Dominus,
tu solus Altissimus, Jesu Christe,
cum Sancto Spiritu:
in gloria Dei Patris.
Amen.

Ehre sei Gott in der Höhe
und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.
Wir loben dich, wir preisen dich, wir beten dich an,
wir rühmen dich und danken dir, denn groß ist deine Herrlichkeit:
Herr und Gott, König des Himmels,
Gott und Vater, Herrscher über das All,
Herr, eingeborener Sohn, Jesus Christus.
Herr und Gott, Lamm Gottes, Sohn des Vaters,
du nimmst hinweg die Sünden der Welt: Erbarme dich unser;
du nimmst hinweg die Sünden der Welt: Nimm an unser Gebet.
Du sitzest zur Rechten des Vaters: Erbarme dich unser.
Denn du allein bist der Heilige,
du allein der Herr,
du allein der Höchste, Jesus Christus,
mit dem Heiligen Geist,
zur Ehre Gottes des Vaters.
Amen.

Quellen

Bildnachweis: D. Lucas Evangelistes (Ausschnitt) von Dietrich Krüger (Hamburg, 1615) aus der Reihe Die vier Evangelisten. Druck auf Papier (293 x 217 mm). Rijksmuseum Amsterdam. Rechte: CC0 1.0 Universal (CC0 1.0) Public Domain Dedication.