Die intolerante Toleranz

»Der Begriff Toleranz hat sich im letzten Jahrhundert subtil verändert. Verstand man darunter früher die Haltung eines Menschen, der selbst einer von ihm als richtig erkannten Ansicht anhängt, aber das Vorhandensein und Artikulieren anderer, aus seiner Sicht falscher Ansichten akzeptiert, so fordert die „neue Toleranz“, jegliche Ansicht als gleich gültig zu akzeptieren – alles ist gleich „richtig“. Die Kehrseite ist, dass es nur noch einen Unwert gibt, nämlich die Intoleranz. Als solche gilt die Überzeugung, dass tatsächlich nicht alle Standpunkte gleich richtig sind. Wo solche „Intoleranz“ gewittert wird, zeigen sich die Verfechter der Toleranz meist außerordentlich intolerant.«

D. A. Carson: Die intolerante Toleranz, (Waldems: 3L Verlag, 2014), S. 13–14.25. Orig.: The Intolerance of Tolerance, Grand Rapids, MI (USA) und Cambridge, England: William B. Eerdmans Publishing, 2012. Paperback-Edition 2013.

Nichts ist wohl intoleranter als eine Toleranz, die die Aufgabe aller Überzeugungen verlangt, insbesondere jener Überzeugungen, die der Toleranzfordernde selbst nicht vertritt. Toleranz auf Kosten der Wahrheit (i.S.d. Übereinstimmung mit der Realität) zu fordern, kann nur nach Irrealis oder Dystopia führen und markiert das Ende der Rationalität. Rationaler Diskurs und Fortschritt in Wissenschaft und Denken kann nur im freien Austausch gegensätzlicher Theorien und Meinungen gedeihen. (Natürlich reden wir hier ausdrücklich nicht von Aufforderungen zu strafbaren oder unmoralischen Handlungen.) Der Angriff auf die Freiheit des Menschen, insbesondere seiner Denk- und Redefreiheit, fördert weder Freiheit noch Demokratie, sondern führt, wie viele rote und braune Beispiele zeigen, in den ideologischen und tyrannischen Staat.

In einem Interview mit John Starke erklärte Carson den Unterschied zwischen alter Toleranz und neuer Toleranz und das unvermeidliche Paradox der neuen Toleranz, das aber im Denken der Postmoderne nicht als schädlich erkannt, sondern vielmehr als wertvoll begrüßt wird:

»The old tolerance presupposed another system of thought already in place—Christianity, communism, Naziism, Buddhism, secularism—whatever. The issue then became how much deviation from that system could be tolerated before coercive force is applied. To the extent that one allowed deviation, one was tolerant; correspondingly, where one judges that deviation has gone too far (e.g., almost everyone agrees, even today, that pedophilia goes beyond the pale), then coercive force—in short, intolerance—is a virtue. It was quite possible to disagree strongly with what a person was saying, but still tolerate the opinion that was perceived to be aberrant, on the ground that it was better for society to allow such opinions than to coerce silence from those articulating them.

But invariably, tolerance has its limits. The new tolerance (1) tends to insist that those who merely disagree with others, at least in several spheres, are intolerant, even if no coercive force is applied; (2) tends to make such tolerance the supreme good, independently of surrounding systems of thought; and (3) tends to be remarkably blind in regard to its own intolerant condemnation of everyone who disagrees with its own definition of tolerance. The result is that in many domains, in many discussions, the question is rarely “Is this true?” but “Is anyone offended?” Rigorous discussion of content soon shuts down; truth is demoted; various forms of class warfare are encouraged; in some domains it becomes wrong (supreme irony) to say that anyone is wrong.«

Zitiert nach: https://www.thegospelcoalition.org/blogs/justin-taylor/the-intolerance-of-tolerance/ [19.02.2021] Fett- und Farbschrift hinzugefügt.

Seit der Antike verstanden die Menschen Wahrheit als Angleichung des Verstandes an das Sein (Wirklichkeit). Bibelkennende Christen wissen, dass es Gott Selbst ist, der Sein und Wirklichkeit in Raum, Zeit und Materie erschaffen hat (1Mose 1,1) und diese höchstpersönlich und beständig aufrecht erhält (Hebräer 1,3). Christen glauben auch, dass die Heilige Schrift Gottes Wort und mithin die Wahrheit ist, stammend aus einer zur Lüge und Täuschung unfähigen Quelle (5Mose 32,4; 1Petrus 2,22): Was Gott mitteilt, ist Wahrheit (Psalm 119,60; Johannes 17,17). Die Wahrheit ist erkennbar (Römer 1,19ff; 1Korinther 2,12–16) und diese Wahrheit macht frei, sagte der Sohn Gottes (Johannes 8,32). Diese Fakten widerlegen die Grundannahmen von Atheismus und Agnostizismus.

Der radikale Konstruktivismus und die neue Toleranz hingegen leugnen sowohl die Existenz objektiver Wahrheit als auch die Erkenntnismöglichkeit derselben. Damit sind wir scheinbar in subjektive Beliebigkeit und Gleich-Gültigkeit entlassen, bemerken aber bald, dass dieses Wahrheitsvakuum schnell und oppressiv von der herrschenden Klasse mit Ideologie und Narrativen (samt unterstützenden Fake-News) gefüllt wird. Die modernen Massenmedien verstärken diese Wirkkräfte ungemein. Die Quelle und das Interesse solcher Leugnung ist unschwer zu erkennen (Johannes 8,44). Ergebnis ist stets Versklavung.