Dann muss aber das, was der Verstand aufgenommen hat, auch in das Herz selbst überfließen. Denn Gottes Wort ist nicht schon dann im Glauben erfasst, wenn man es ganz oben im Hirn sich bewegen lässt, sondern erst dann, wenn es im innersten Herzen Wurzel geschlagen hat, um ein unbesiegliches Bollwerk zu werden, das alle Sturmwerkzeuge der Anfechtung aushalten und zurückwerfen kann!
Wenn es wahr ist, dass das wirkliche Begreifen unseres Verstandes die Erleuchtung durch Gottes Geist ist, so tritt Seine Kraft noch viel deutlicher in dieser Stärkung des Herzens in Erscheinung; die Vertrauenslosigkeit des Herzens ist ja auch soviel größer als die Blindheit des Verstandes, und es ist viel schwieriger, dem Herzen Gewißheit zu verleihen, als den Verstand mit Erkenntnis zu erfüllen. Deshalb ist der Heilige Geist wie ein Siegel: Er soll in unserem Herzen die gleichen Verheißungen versiegeln, deren Gewissheit Er zuvor unserem Verstande eingeprägt hat.
Johannes Calvin (1509–1564), Institutio Christianae Religionis, Bd. III, 2, 36
Enthält die Heilige Schrift „Paradoxa“? Was meinen wir damit?
Viele gebrauchen die Wörter „Paradoxon“ oder „paradox“, um Widersprüchliches zu bezeichnen. Das kann gefährlich werden, wenn man nicht angibt, was man mit diesem Wort meint. Für den einen bedeutet es Unsinn, für den anderen (logisch) Widersprüchliches. Entweder, weil es (beweisbar) so ist, oder aber, weil es dem Redenden so scheint. Letzteres ist ein großer Unterschied, der vor allem dann, wenn wir über die Heilige Schrift und die Lehre des Wortes Gottes reden, bedeutsam ist.
Was ist ein Paradoxon?
Der Duden liefert folgende Kurzdefinition:
»scheinbar unsinnige, falsche Behauptung, Aussage, die aber bei genauerer Analyse auf eine höhere Wahrheit hinweist«
https://www.duden.de/rechtschreibung/Paradoxon [08.08.2020] Fettdruck hinzugefügt
Wikipedia bietet eine etwas ausführlichere Worterklärung:
»Ein Paradoxon (sächlich; Plural Paradoxa; auch das Paradox oder die Paradoxie, Plural Paradoxe bzw. Paradoxien; vom altgriechischen Adjektiv παράδοξος parádoxos „wider Erwarten, wider die gewöhnliche Meinung, unerwartet, unglaublich“) ist ein Befund, eine Aussage oder Erscheinung, die dem allgemein Erwarteten, der herrschenden Meinung oder Ähnlichem auf unerwartete Weise zuwiderläuft oder beim üblichen Verständnis der betroffenen Gegenstände bzw. Begriffe zu einem Widerspruch führt. Die Analyse von Paradoxien kann zu einem tieferen Verständnis der betreffenden Gegenstände bzw. Begriffe oder Situationen führen, was den Widerspruch im besten Fall auflöst.«
https://de.wikipedia.org/wiki/Paradoxon [08.08.2020] Fettschrift im letzten Satz hinzugefügt.
James Anderson widmet sich in einem über 300-seitigen Buch dem Thema der Paradoxa in der christlichen Theologie. Er schreibt einleitend zum Begriff:
… es ist gleichbedeutend mit einem scheinbaren Widerspruch. Ein „Paradoxon“ ist also eine Reihe von Behauptungen, die zusammengenommen logisch widersprüchlich zu sein scheinen. Man beachte, dass nach dieser Definition Paradoxie nicht logische Inkonsistenz an sich bedeutet, sondern lediglich den Anschein von logischer Inkonsistenz.
James Anderson, Paradox in Christian Theology: An Analysis of Its Presence, Character, and Epistemic Status, Reihe: Paternoster Theological Monographs (Paternoster, 2007), S. 5–6. Übersetzt von Grace@logikos.club.
Phil Johnson, Bibellehrer und Pastor an der Grace Community Church in Sun Valley, CA, erklärt Vorkommnisse oxymoroner Sprache (die auf Paradoxa hinweist) im Predigttext von Galater 2,20 wie folgt:
»Unsere Sprache ist voller Oxymora. Wir lieben die Gegenüberstellung von Wörtern und Ideen, die normalerweise nicht zusammenpassen, weil sie die eigentliche Pointe vielleicht noch deutlicher hervortreten lassen, und das ist es, was Paulus hier tut. Er spielt mit Ideen, nicht nur mit Worten, sondern mit Ideen, und tatsächlich lassen sich viele Wahrheiten im christlichen Leben am besten in Oxymora, in paradoxer Sprache, ausdrücken, und in unserem Text verwendet Paulus ein Trio von Paradoxen, um die Realität und die Fülle unserer Erlösung in Christus zusammenzufassen. Schaut sie euch an. Er sagt: „Ich bin gekreuzigt und lebe doch. Doch nicht ich, sondern Christus. Und das Leben, das ich im Fleisch lebe, ist geistlich und wird durch den Glauben angetrieben.“ Ich möchte diese drei Paradoxa einzeln betrachten und versuchen, einige der Wahrheiten über unsere Erlösung auszupacken, die Paulus in dieser unglaublich reichen Aussage zusammengefasst hat.«
Phil Johnson, A Trio of Paradoxes (www.sermonaudio.com/sermon/49172032184), Mitschrift einer Predigt über Galater 2,20. Fettdruck hinzugefügt. Übersetzt von Grace@logikos.club.
Der oben schon zitierte James Anderson weiter:
»Indem ich für das Paradoxe plädiere, möchte ich nicht den Eindruck erwecken, dass ich einen Freibrief dafür gebe, nicht philosophisch zu denken, nicht tiefgründig über diese Lehren nachzudenken. Ganz im Gegenteil. … Ich vertrete den Standpunkt, dass wir über jede dieser Lehren so intensiv wie möglich nachdenken, sie so gut wie möglich auf der Grundlage der uns zur Verfügung stehenden biblischen Daten durchdringen, aber wir erkennen auch an, dass es Grenzen geben wird, und dass diese Grenzen eigentlich etwas Positives sind und nicht ein Ausdruck eines inhärenten Problems in den Lehren oder im Prozess der theologischen Reflexion. … Ich denke, wir können Fortschritte machen, beträchtliche Fortschritte, um diese Lehren zu verstehen und einige der … anfänglichen Schwierigkeiten, die wir mit ihnen haben, zu lösen, aber gleichzeitig erkennen wir, dass wir immer nur begrenzt weit kommen werden, und wenn wir an die Grenzen unserer Fähigkeit stoßen, sie auf bestimmte Weise zu formulieren oder bestimmte Schwierigkeiten in ihnen zu lösen, sollten wir uns darüber nicht zu sehr Sorgen machen. Wir sollten sicher nicht sagen: „Okay, wir müssen zugeben, dass Christen letztlich Irrationalisten sind.“ Nein. Das brauchen wir überhaupt nicht zu sagen. … Es ist eine biblisch eingeschränkte Rationalität. Es ist ein Mittelweg zwischen dem Rationalismus, für den ich denke, dass [Gordon H.] Clark ein Vertreter war, und dem Irrationalismus, für den, um ein Beispiel zu nehmen, ich denke, der neo-orthodoxe Karl Barth ein Beispiel wäre, wo man sagt, dass es tatsächlich Widersprüche gibt. Ich denke also, es geht darum, einen biblischen Mittelweg zwischen diesen beiden Extremen zu finden: einer Überbewertung des menschlichen Intellekts und vielleicht einer Unterbewertung des Intellekts, unserer Fähigkeit, die Dinge Gottes zu erkennen.«
Dr. James Anderson (extracted from James Anderson’s interview on the Reformed Forum radio program in 2010). Quelle: http://theoparadox.blogspot.com Fettdruck hinzugefügt. Übersetzt von Grace@logikos.club.
In seinem o. g. Buch widmet sich Anderson den beiden Fragen:
- (1) Sind irgendwelche zentralen christlichen Lehren grundlegend paradoxal?
- (2) Kann man vernünftiger Weise eine paradoxe Lehre glauben?
Er beantwortet im ersten Teil seines Buches (a. a. O.) die erste Frage bejahend mit Untersuchungen der Lehre von der Trinität und der Inkarnation. Im zweiten Teil des Buches beschäftigt er sich mit der zweiten Frage und stellt fest, dass ein Christ, der solche Lehren glaubt und bekennt, deswegen nicht irrational ist. Häufig handelt sich um scheinbare Widersprüche, die durch nicht-offenbare Äquivokation entstehen oder ihre Ursache in unserer menschlich begrenzten Fähigkeit des Wissens, Begreifens, Erlebens und Formulierens haben. Ein Konflikt unserer Glaubensinhalte mit der üblichen (menschlichen) Logik ist nicht notwendigerweise ein Kennzeichen von Falschheit oder Irrationalismus. Wir können weiterhin auch über paradoxale Glaubensinhalte vernünftig reden und diese als Wahrheit bekennen. Vernunft und Rationalismus sind nicht dasselbe. Göttliche Offenbarung und gelehrte Schlussfolgerungen ebensowenig.
Tension Deficient Disorder
Hyper-Calvinism and Arminianism both result from the same problem:
Deutsch ungefähr so: »Hyper-Calvinismus und Arminianismus entstehen aus der selben Krankheit: Dass man nicht in der Lage ist, Spannungen auszuhalten.« | Gefunden hier: http://theoparadox.blogspot.com
A tension-deficient disorder.
Warum die Souveränität Gottes und die Verantwortung des Menschen stets zusammengehen (müssen)
»Some who have manifested deep concern for the responsibility of man and have feared that the emphasis on God’s activity would crowd out the responsibility of man have proposed as the fundamental principle [of „Calvinism“] the combined thought of God’s sovereign decree and the responsibility of man, since they saw in Calvinism an emphasis upon both factors.
It is undoubtedly true that Calvinism does stress human responsibility to a very high degree. But again it would not be according to the genius of the Calvinist to place God’s sovereign decree and man’s responsibility, or any other aspect of man, on a level. God is to the Calvinist the first and last word, the primary thought always.
God’s sovereign decree and man’s responsibility do present themselves to the human mind as an apparent contradiction, an antinomy, a paradox, something which the mind of man fails to solve. This paradox, like the one of God’s transcendence and His immanence, or spirit and matter, the Calvinist readily adopts, even though he cannot solve it. However, he adopts this paradox, not because he holds to two coequal fundamental principles, God’s sovereignty and the freedom and responsibility of man, but just because he wants to let God be God.
He discovers that God in His written Word has stressed the responsibility of man, and that He is in no wise accountable for the sin of man, even though He is Ruler of all. It is just because the Calvinist would let God be God, that is, the final Authority for his thinking, even when his own logic fails to give an adequate account of things, that he accepts the full responsibility of man, as God has informed him in His Word. The sovereignty of God, it will then be seen, is a prior thought to the responsibility of man.«
H. Henry Meeter, The Basic Ideas of Calvinism (Grand Rapids: Baker Book House, 1939), Kap. I, S. 29–40.
Warum also müssen Gottes Souveränität und die Verantwortung des Menschen stets zusammengehen? Weil Gottes Wort ganz klar beides lehrt und nirgendwo irgendeinen Widerspruch zwischen diesen beiden Wahrheiten benennt.
Wer hier eine Spannung wahrnimmt und diese einseitig auflösen will, leidet an Tension Deficient Disorder 😉
Das Ziel der Theologie
Das Ziel der Theologie ist die Anbetung Gottes.
Sinclair B. Ferguson, zitiert in: James Montgomery Boice und Philip Graham Ryken, The Doctrines of Grace, Wheaton, IL (Crossway) 2002, S. 179; Deutsch: James Montgomery Boice und Philip Graham Ryken, Die Lehren der Gnade, Oerlinghausen (Betanien) 2009, S. 201.
Die Körperhaltung der Theologie ist auf den Knien.
Die Praxis der Theologie ist Buße.
Was ist eigentlich „Calvinismus“? (I)
»There are, in the religious world, almost as many different shades, phases, kinds, and degrees, of Calvinism, as there are Calvinists, (or professors of the doctrines of Calvin,) and almost as many diverse opinions on the faith and character of the Reformer himself. …
Hendry H. Cole in seinem Vorwort zu: Calvin, John ; Cole, Hendry H.: Calvin’s Calvinism: A Treatise on the Eternal Predestination of God. London : Wertheim and Macintosh, 1856.
Calvinism is a designation, by which the doctrines of the sovereign grace of God have been distinguished for the last two centuries; but, more particularly and generally, for the last century. The term derives, of course, its descriptiveness, from the historical fact, that the eminent Swiss Reformer was the chosen servant of God, appointed by Him to proclaim and defend, more prominently than any cotemporary or antecedent witness, the sublime doctrines in question. Not that these stupendous truths originated with Calvin, but with God himself. They form an essential portion of the revelation of his Word. They are no more Calvinism, than Augustinism, or Lutherism, or Bucerism, or Cranmerism, or Latimerism: for they are Bibleism: and they are the ism of every saint, and true minister of Christ: they are the solidity and security of all true religion: they are the fast-hold of faith: they form a substantial ingredient in every true ministry of the Gospel: and they constitute an essential doctrine in the confession of every true Church of Christ.«
Lehrpredigt – oder Leerpredigt?
»Einige Prediger haben eine Heidenangst davor, dass ihre Predigten zu viel biblische Lehre enthalten und so das geistliche Verdauungsvermögen ihrer Zuhörer schädigen könnten. Diese Angst ist völlig überflüssig … Wir leben in einer Zeit, die schwerlich eine theologische genannt werden kann, eine Zeit, in der man sich über gesundes biblisches Lehren furchtbar aufregt. Hier wird das Prinzip deutlich, dass der Unverständige stets die Weisheit verachtet. Die ruhmreichen Giganten der Zeit der Puritaner ernährten sich von etwas Besserem als buntem Zuckerzeugs und balaststoffarmen Knabbereien, die heute so in Mode sind.«
»Some preachers seem to be afraid lest their sermons should be too rich in doctrine, and so injure the spiritual digestions of their hearers. The fear is superfluous. . . . This is not a theological age, and therefore it rails at sound doctrinal teaching, on the principle that ignorance despises wisdom. The glorious giants of the Puritan age fed on something better than the whipped creams and pastries which are now so much in vogue.«
C. H. Spurgeon, The Sword and Trowel (London: Passmore & Alabaster, 1865–1891), S. 125–126.
Kirchenväter – Eine Autorität in Lehrfragen?
Der Bibellehrer John N. Darby (1800–1882) schrieb am 23. März 1880 in einem Brief Henry Chisholm Anstey (1843–1922) Folgendes:
»As to the Fathers, I have read some, consulted almost all, and some a good deal. But when, many years ago, I set about to read them, I found them as a body such trash that I gave it up as a study: for history they are of course useful, and I have examined them largely. Did Mr. – ever read Hermas? If that is not enough to destroy all confidence in the early church, I do not know what would. Did he ever read Cyprian or Chrysostom on the state of the church in their days? Talking of looking to the primitive church for some doctrine or morality is the most wicked humbug that ever was: either people have not read what is patristic, or they must love and excuse wickedness.«
Brief an H C Anstey. Letters of J.N.D., Bd. 3, [Kingston-on-Thames, o.J.], S. 70, Nr. 60.
Hybris und Ignoranz verarmen den Menschen ganz
»Es kommt nicht von ungefähr, dass das lnfragestellen der Bibel als dem geoffenbarten Gotteswort mit dem Einsetzen des aufklärerischen Denkens korrespondiert und dass damit die Erhebung des Menschen über Gott begann. Dies hängt ursächlich zusammen mit dem Anspruch, alles erkennen zu wollen, und dem allmählich entstehenden Glauben, auch tatsächlich alles erkennen zu können.
Demgegenüber ist hervorzuheben, dass die Menschen dieser Welt die Bibel niemals vollkommen werden ergründen können, was freilich eine Anfrage an die Denkmöglichkeiten und den Erkenntnisradius des Menschen bedeutet und nicht etwa eine Anfrage an den Realitätsgehalt von Gottes Wort.«
Prof. (em.) Dr. Lutz E. v. Padberg (*1950)
Die Bibel – Grundlage für Glauben, Denken und Erkennen (Neuhausen-Stuttgart: Hänssler, 1986).