Enthält die Heilige Schrift „Paradoxa“? Was meinen wir damit?

Viele gebrauchen die Wörter „Paradoxon“ oder „paradox“, um Widersprüchliches zu bezeichnen. Das kann gefährlich werden, wenn man nicht angibt, was man mit diesem Wort meint. Für den einen bedeutet es Unsinn, für den anderen (logisch) Widersprüchliches. Entweder, weil es (beweisbar) so ist, oder aber, weil es dem Redenden so scheint. Letzteres ist ein großer Unterschied, der vor allem dann, wenn wir über die Heilige Schrift und die Lehre des Wortes Gottes reden, bedeutsam ist.

Was ist ein Paradoxon?

Der Duden liefert folgende Kurzdefinition:

»scheinbar unsinnige, falsche Behauptung, Aussage, die aber bei genauerer Analyse auf eine höhere Wahrheit hinweist«

https://www.duden.de/rechtschreibung/Paradoxon [08.08.2020] Fettdruck hinzugefügt

Wikipedia bietet eine etwas ausführlichere Worterklärung:

»Ein Paradoxon (sächlich; Plural Paradoxa; auch das Paradox oder die Paradoxie, Plural Paradoxe bzw. Paradoxien; vom altgriechischen Adjektiv παράδοξος parádoxos „wider Erwarten, wider die gewöhnliche Meinung, unerwartet, unglaublich“) ist ein Befund, eine Aussage oder Erscheinung, die dem allgemein Erwarteten, der herrschenden Meinung oder Ähnlichem auf unerwartete Weise zuwiderläuft oder beim üblichen Verständnis der betroffenen Gegenstände bzw. Begriffe zu einem Widerspruch führt. Die Analyse von Paradoxien kann zu einem tieferen Verständnis der betreffenden Gegenstände bzw. Begriffe oder Situationen führen, was den Widerspruch im besten Fall auflöst.«

https://de.wikipedia.org/wiki/Paradoxon [08.08.2020] Fettschrift im letzten Satz hinzugefügt.

James Anderson widmet sich in einem über 300-seitigen Buch dem Thema der Paradoxa in der christlichen Theologie. Er schreibt einleitend zum Begriff:

… es ist gleichbedeutend mit einem scheinbaren Widerspruch. Ein „Paradoxon“ ist also eine Reihe von Behauptungen, die zusammengenommen logisch widersprüchlich zu sein scheinen. Man beachte, dass nach dieser Definition Paradoxie nicht logische Inkonsistenz an sich bedeutet, sondern lediglich den Anschein von logischer Inkonsistenz.

James Anderson, Paradox in Christian Theology: An Analysis of Its Presence, Character, and Epistemic Status, Reihe: Paternoster Theological Monographs (Paternoster, 2007), S. 5–6. Übersetzt von Grace@logikos.club.

Phil Johnson, Bibellehrer und Pastor an der Grace Community Church in Sun Valley, CA, erklärt Vorkommnisse oxymoroner Sprache (die auf Paradoxa hinweist) im Predigttext von Galater 2,20 wie folgt:

»Unsere Sprache ist voller Oxymora. Wir lieben die Gegenüberstellung von Wörtern und Ideen, die normalerweise nicht zusammenpassen, weil sie die eigentliche Pointe vielleicht noch deutlicher hervortreten lassen, und das ist es, was Paulus hier tut. Er spielt mit Ideen, nicht nur mit Worten, sondern mit Ideen, und tatsächlich lassen sich viele Wahrheiten im christlichen Leben am besten in Oxymora, in paradoxer Sprache, ausdrücken, und in unserem Text verwendet Paulus ein Trio von Paradoxen, um die Realität und die Fülle unserer Erlösung in Christus zusammenzufassen. Schaut sie euch an. Er sagt: „Ich bin gekreuzigt und lebe doch. Doch nicht ich, sondern Christus. Und das Leben, das ich im Fleisch lebe, ist geistlich und wird durch den Glauben angetrieben.“ Ich möchte diese drei Paradoxa einzeln betrachten und versuchen, einige der Wahrheiten über unsere Erlösung auszupacken, die Paulus in dieser unglaublich reichen Aussage zusammengefasst hat.«

Phil Johnson, A Trio of Paradoxes (www.sermonaudio.com/sermon/49172032184), Mitschrift einer Predigt über Galater 2,20. Fettdruck hinzugefügt. Übersetzt von Grace@logikos.club.

Der oben schon zitierte James Anderson weiter:

»Indem ich für das Paradoxe plädiere, möchte ich nicht den Eindruck erwecken, dass ich einen Freibrief dafür gebe, nicht philosophisch zu denken, nicht tiefgründig über diese Lehren nachzudenken. Ganz im Gegenteil. … Ich vertrete den Standpunkt, dass wir über jede dieser Lehren so intensiv wie möglich nachdenken, sie so gut wie möglich auf der Grundlage der uns zur Verfügung stehenden biblischen Daten durchdringen, aber wir erkennen auch an, dass es Grenzen geben wird, und dass diese Grenzen eigentlich etwas Positives sind und nicht ein Ausdruck eines inhärenten Problems in den Lehren oder im Prozess der theologischen Reflexion. … Ich denke, wir können Fortschritte machen, beträchtliche Fortschritte, um diese Lehren zu verstehen und einige der … anfänglichen Schwierigkeiten, die wir mit ihnen haben, zu lösen, aber gleichzeitig erkennen wir, dass wir immer nur begrenzt weit kommen werden, und wenn wir an die Grenzen unserer Fähigkeit stoßen, sie auf bestimmte Weise zu formulieren oder bestimmte Schwierigkeiten in ihnen zu lösen, sollten wir uns darüber nicht zu sehr Sorgen machen. Wir sollten sicher nicht sagen: „Okay, wir müssen zugeben, dass Christen letztlich Irrationalisten sind.“ Nein. Das brauchen wir überhaupt nicht zu sagen. … Es ist eine biblisch eingeschränkte Rationalität. Es ist ein Mittelweg zwischen dem Rationalismus, für den ich denke, dass [Gordon H.] Clark ein Vertreter war, und dem Irrationalismus, für den, um ein Beispiel zu nehmen, ich denke, der neo-orthodoxe Karl Barth ein Beispiel wäre, wo man sagt, dass es tatsächlich Widersprüche gibt. Ich denke also, es geht darum, einen biblischen Mittelweg zwischen diesen beiden Extremen zu finden: einer Überbewertung des menschlichen Intellekts und vielleicht einer Unterbewertung des Intellekts, unserer Fähigkeit, die Dinge Gottes zu erkennen

Dr. James Anderson (extracted from James Anderson’s interview on the Reformed Forum radio program in 2010). Quelle: http://theoparadox.blogspot.com Fettdruck hinzugefügt. Übersetzt von Grace@logikos.club.

In seinem o. g. Buch widmet sich Anderson den beiden Fragen:

  • (1) Sind irgendwelche zentralen christlichen Lehren grundlegend paradoxal?
  • (2) Kann man vernünftiger Weise eine paradoxe Lehre glauben?

Er beantwortet im ersten Teil seines Buches (a. a. O.) die erste Frage bejahend mit Untersuchungen der Lehre von der Trinität und der Inkarnation. Im zweiten Teil des Buches beschäftigt er sich mit der zweiten Frage und stellt fest, dass ein Christ, der solche Lehren glaubt und bekennt, deswegen nicht irrational ist. Häufig handelt sich um scheinbare Widersprüche, die durch nicht-offenbare Äquivokation entstehen oder ihre Ursache in unserer menschlich begrenzten Fähigkeit des Wissens, Begreifens, Erlebens und Formulierens haben. Ein Konflikt unserer Glaubensinhalte mit der üblichen (menschlichen) Logik ist nicht notwendigerweise ein Kennzeichen von Falschheit oder Irrationalismus. Wir können weiterhin auch über paradoxale Glaubensinhalte vernünftig reden und diese als Wahrheit bekennen. Vernunft und Rationalismus sind nicht dasselbe. Göttliche Offenbarung und gelehrte Schlussfolgerungen ebensowenig.