Concursus Dei – Die göttliche Mitwirkung in allen Dingen

Aufmerksamen Bibellesern entgeht nicht, dass bestimmte Taten und Vorkommnisse sowohl Menschen als auch Gott zugeschrieben werden. Dies zu verstehen ist nicht leicht. Wie kann es zum Beispiel sein, dass die Heilige Schrift einerseits Gott als souverän (ohne Anstoß oder Hilfe von außen, also monergistisch) Handelnden beschreibt, gleichzeitig aber die Schrift Menschen dieselbe Handlung gebietet oder gestattet und damit (moralisch) diese Tat voll in die menschliche Verantwortung legt? Wer ist dann letztlich der verantwortlich Handelnde? Der Mensch oder Gott? Wer ist der effektiv Handelnde? Der Mensch oder Gott?

Diese Sache wurde schon lange erkannt, beschrieben und erforscht. Die Theologen nennen es den Concursus Dei oder Concursus Divinus. Gemeint ist damit die Kongruenz (das Zusammenfallen) von göttlichem und menschlichem Handeln. Dabei geht es bei den unterschiedlichen Akteuren zwar um das selbe Geschehnis, aber nicht zwingend um die gleichen Motive der Handelnden.

Am Beispiel des Leidens des Hiob (Hiob/Job 1) ist dies gut zu erkennen. Drei Handelnde sind klar benannt: (1) Satan löste das Leiden Hiobs aus, weil er Gott herausfordern wollte mit der Behauptung, dass Hiob nur deswegen gottesfürchtig lebe, weil Gott ihn segne und Hiob um dieses Segens Gottes (Reichtums, Gesundheit usw.) willen –also rein opportunistisch– Frömmigkeit spiele. (2) Die Sabäer und die Chaldäer griffen aus reiner Beutelust die Herden Hiobs an und raubten die Tiere. (3) Gott erlaubte Satan durch vollmächtige Anweisung, dass er Hiob bis zur jeweils festgesetzten Grenze schaden dürfe. – Hinzu kommt ein Sturm, der „wie zufällig“ ein Haus zum Einstürzen und alle Kinder Hiobs zu Tode brachte. – Wer war nun jeweils der Handelnde, wer war der moralisch Verantwortliche: Gott, Satan, die Sabäer/Chaldäer, jemand anders – oder keiner der Genannten?

Festhalten kann man: Drei Parteien verursachten das Leiden des Hiob, aber ihre Absichten (Motive) waren sehr unterschiedlich: (1) Satan wollte Hiob –und damit dessen Gott– diskreditieren. (2) Die Sabäer/Chaldäer wollten sich am Gut anderer gewalttätig bereichern. (3) Gott wollte den Glauben des Hiob offenbaren und beweisen. – Jeder der Handelnden war am Leiden Hiobs aktiv beteiligt, aber jeder auf unterschiedlicher Ebene und mit unterschiedlichem Beweggrund. Der Beweggrund Gottes war absolut rein und gut, der Beweggrund der anderen zweifelsohne bösartig.

Diese Differenzierung ist notwendig für das Verstehen eines Concursus Dei in der Heiligen Schrift. Sie erklärt uns, wie Gott selbst Böses vorherbestimmen (ordinieren) kann, ohne selbst des Bösen schuldig zu werden. Böses ist stets böse (und Gott legt dafür den Maßstab fest). Gott hat aber niemals böse Absichten und er tut niemals Böses. Er erfährt noch nicht einmal ein Verlangen danach, hat vielmehr größte heilige Abscheu vor allem Bösen. Aber Gott kann durch die bösen Absichten und die daraus folgenden Handlungen anderer dergestalt wirken, dass seine guten Absichten zustande kommen.

Wer das nicht verstanden hat, geht leicht an zentraler Stelle (bezüglich des Wesens und Handelns Gottes, also in der Fundamentaltheologie) in die Irre. Dies wird sehr deutlich an der denkbar bösesten Tat aller Zeiten: an der Ermordung des menschgewordenen Sohnes Gottes durch gesetzlose, böse Menschen, die aber gleichzeitig nach dem festen Ratschluss und Vorsatz Gottes geschah:

Männer von Israel, hört diese Worte: Jesus, … hingegeben nach dem bestimmten Ratschluss und nach Vorkenntnis Gottes, habt ihr durch die Hand von Gesetzlosen an das Kreuz geschlagen und umgebracht.

Apostelgeschichte 2,22-23 (ELB03)

Denn in dieser Stadt versammelten sich in Wahrheit gegen deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, sowohl Herodes als auch Pontius Pilatus mit den Nationen und den Völkern Israels, um alles zu tun, was deine Hand und dein Ratschluss zuvor bestimmt hat, dass es geschehen sollte.

Apostelgeschichte 4,27-28 (ELB03)

Freiheit Gottes. Auch jenseits der oben gegebenen Einzelbeispiele lehrt die Heilige Schrift, dass alles in der Schöpfung Geschehende im Rahmen und gemäß der Zielsetzung der göttlichen Vorsehung und Zuvorbestimmung erfolgt. Auch im ewigen Heilswerk Gottes geht alles »nach dem Vorsatz dessen, der alles wirkt nach dem Rat seines Willens« (Epheser 1,11b). Kein geschaffenes Wesen wirkt mithin völlig autonom, denn dafür mangelt diesem die Macht (etwas zu tun), die Autorität (etwas zu veranlassen) und das Wesen (der autonomen Souveränität). Nur Gott ist und wirkt „aus sich selbst heraus“ (sog. Aseität Gottes), alle Geschöpfe hingegen existieren ursprünglich und beständig alleine durch den Willen und die Erhaltung seitens ihres Schöpfers (vgl. Hebräer 1,3). Mit einem technischen Metapher platt gesagt: Jedes Geschöpf hängt existenziell und lebensenergetisch an der Steckdose des Schöpfers. Gott hat das Wesen und den Lebenskontakt selbst hergestellt, niemand anderes. Zieht Gott den Stecker, fällt das Geschöpf ins Nichts (Tod), in die Wirkungslosigkeit; die menschliche Seele jedoch ist unsterblich. Jede Lebensäußerung, auch die böse Tat, ist nur möglich, solange Gott dem Geschöpf den Lebensodem erhält. Kein Geschöpf ist mit eigenem Batteriesatz oder Kraftwerk lebens-autonom, auch nicht eine Sekunde, nur der Schöpfergott lebt aus sich ewig. (Dies zu bedenken gehört u. a. zur Theodizee-Frage.)

Verantwortung von Mensch und Engeln. Die Heilige Schrift lehrt, dass Gott den von ihm geschaffenen Engeln und Menschen im Rahmen der göttlichen Schöpfungsordnung Aufgaben und die zu deren Erledigung notwendigen Fähigkeiten, Freiheiten, Kräfte und Autoritäten verliehen hat. Verantwortung als ethisches Prinzip ist ein Dreiklang von Subjekt, Objekt und Instanz: Gott macht seine Geschöpfe (Subjekt) Ihm gegenüber (Instanz) verantwortlich für alle ihre Taten und Absichten (Objekt). Versucht ein Geschöpf, seine von Gott gesetzten Grenzen zu überschreiten, ist es ohne Ausweg dem göttlichen Urteil unterworfen und – nach göttlichem Wort – dem Tod geweiht. Die Schrift lehrt deutlich die persönliche Verantwortung vor Gott, u. a. hier:

Denn es steht geschrieben: „So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir wird sich jedes Knie beugen, und jede Zunge wird Gott bekennen“ [Jesaja 45,23.]. So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.

Römerbrief 14,11-12 (ELB03) [Fettdruck hinzugefügt]

Weitere Beispiele zum Zusammenwirken menschlich verantwortlichen Tuns und göttlich souveränen Handelns im selben Geschehen:

(1) Wer bewirkt die geistliche Herzensbeschneidung (Bekehrung)?: Gott befiehlt seinem erwählten Volk Israel: »So beschneidet denn die Vorhaut eures Herzens!« (5. Mose 10,16a). Gleichzeitig gilt die göttliche Verheißung: »Und JHWH, dein Gott, wird dein Herz und das Herz deiner Nachkommen beschneiden, damit du JHWH, deinen Gott, liebst mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele, damit du am Leben bleibst.« (5. Mose 30,6). – Was menschliche Tat und Verantwortung ist, ist vorlaufend und begleitend ebenso Gottes souveräne Tat und gnädiges Geschenk. Der Apostel Paulus erklärt diesen Zusammenhang und die Priorität des göttlichen Wirkens im zeitlichen, praktischen Heil u. a. in Philipper 2,12–13 und betreffs des ewigen Heils u. a. in Epheser 2,1–10 (zusammengefasst in 2,8–10; vgl. Römer 2,29; Philipper 3,3). Schon Jeremia hatte diese Prioritäten und Zusammenhänge richtig erkannt: »Bekehre mich, dass ich mich bekehre, denn du bist JHWH, mein Gott« (Jeremia 31,18b).

(2) Was motiviert zum christlichen Dienst?: Paulus bezeugt: »Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin; und seine Gnade gegen mich ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe viel mehr gearbeitet als sie alle; nicht aber ich, sondern die Gnade Gottes, die mit mir war.« (1. Korintherbrief 15,10). Die Gnade Gottes ist nicht passiv bleibendes Geschenk, sondern aktive, lebensverändernde Kraft im Glaubenden. Der von der Gnade Veränderte offenbart diese Veränderung in fleißigem, Gott hingegebenem Dienst.

(3) Wer hat unsere Werke getan und vollendet?: »JHWH, du wirst uns Frieden geben, denn du hast ja alle unsere Werke für uns vollendet.« (Jesaja 26,12). Ein Mensch betreibt seine eigenen Werke, aber Gott vollendet sie für ihn.

Weitere Beispiele für Concursus Dei in der Schöpfung und im Heilswerk Gottes samt Erläuterungen sind hier aufgezählt.

Die Gnade Gottes ist erschienen … und unterweist uns, gottselig zu leben

Die 95 Reformationsthesen Martin Luthers (1483–1546) wurden durch die üble Lehre und Praxis der Römisch-katholischen Kirche provoziert, die er als Augustinermönch (1505–1521?) bestens kannte. Schon in These 1 formuliert er daher unter Verweis auf Matthäus 4,17, dass Gott gewollt habe, »dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll«. Wie aber gelingt dem ein für alle Mal Gerechtfertigten solch ein gottseliges Leben echter Umkehr? Wie ist es möglich, dass ein an Jesus Christus Glaubender praktisch lernt, »besonnen und gerecht und gottselig [zu] leben« (Titus 2,12)?

Auf diese Frage rechter Glaubenspraxis wurden und werden leider falsche Antworten gegeben und damit die Glaubenden irregeleitet. Anhand einiger Schlüsselstellen der Schrift soll daher die biblische Lehre der Heiligung, des Prozesses also, der den Glaubenden im Leben der Nachfolge praktisch in das Bild des Sohnes Gottes verwandelt, umrissen werden, um Irrwege zu erkennen, zu vermeiden und echtes Wachstum zu erleben.

Zum 500. Reformationsjubiläum 2017 veranstaltete das EBTC e. V. in Lutherstadt Wittenberg eine mehrtägige Reformationskonferenz. Am 20.05.2017 wurde ein Vortrag zum angegebenen Thema gehalten, dessen schriftliche (Lang-)Fassung hier zur Verfügung gestellt wird (PDF, 670 kB). Es ist nicht gestattet, diesen Beitrag kommerziell zu nutzen oder online im Internet zur Verfügung zu stellen.

Gliederung des Beitrags

1 Leben wir in „beständiger Reformation“?

2 Der Kontext der Heiligung

2.1 Rechtfertigung
2.2 Verherrlichung
2.3 Heiligsein und Heiligwerden (Heil und Heiligung)
2.4 Gnade
2.5 Zusammenfassung
2.6 Was ist Heiligung und wie geschieht sie?
2.6.1 Warum müssen Heilige heilig(er) werden?
2.6.2 Wie geschieht Heiligung?
2.6.3 Wie heilig müssen Heilige werden?
2.6.4 Wo geht Heiligung „schief“?

3 Die Lehre der biblischen Heiligung nach Titus 2,11–15
3.1 Biblische Heiligung ist ein Gnadenwerk des Heiland-Gottes
3.2 Biblische Heiligung hat Jesus Christus zum Vorbild
3.3 Biblische Heiligung geschieht in aktiver, dynamischer Unterweisung
3.3.1 Unterweisung im Lebensvollzug
3.3.2 Unterweisung zum Lassen (Gelassenhaben)
3.3.3 Unterweisung im Tun
3.3.4 Biblische Heiligung ist vom Zweiten Kommen Jesu motiviert
3.4 Biblische Heiligung erleben nur Erkaufte und Gereinigte
3.5 Biblische Heiligung findet Ausdruck und Lebensinhalt im Eifer für Gute Werke
3.6 Biblische Heiligung muss Gegenstand der biblischen Ermahnung sein

4 Erfolgt biblische Heiligung monergistisch oder synergistisch?
4.1 Biblische Heiligung ist keine rein passive Veranstaltung
4.2 Biblische Heiligung erfolgt in einer lebendigen Vater-Sohn-Beziehung
4.3 Biblische Heiligung ist keine rein menschlich-aktive Veranstaltung
4.4 Biblische Heiligung geschieht unter Anwendung geistlicher Mittel

5 Drei Schlussfolgerungen
5.1 Biblische Heiligung verlangt anwendungsorientierte Auslegungspredigt
5.2 Biblische Heiligung verlangt vom Glaubenden Aktivität und Eifer
5.3 Biblische Heiligung schenkt dem Glaubenden alles zum Heil Notwendige

Literaturverzeichnis

Auserwählung – Fragen über Fragen

Die Frage der Auserwählung (kurz: Erwählung) ist unter den Christen seit Jahrhunderten umstritten. Was bezeichnet die Bibel als „Auserwählung“, was lehrt sie darüber? Auserwählung bezeichnet mehrere Akte Gottes, darunter auch die Auserwählung zum Heil.

Die Auserwählung zum Heil betrifft den in der vorzeitlichen Ewigkeit in göttlicher Liebe und mit göttlich freiem Willen gefassten Plan Gottes, bestimmte Menschen aus der Menge der zurecht verdammten Sünder wirksam herauszurufen, sie zu retten und sie in die ewige Lebensgemeinschaft mit sich selbst zu holen. Da die Bibel mehrfach und klar bezeugt, dass Gott Menschen zum Heil auserwählt hat, bedeutet das Leugnen dieser Tatsache ein Verlassen der uns göttlich geoffenbarten Wahrheit in der Heiligen Schrift und einen schwerwiegenden Affront gegen das souveräne Gnadenwirken unseres Heiland-Gottes und seine damit verbundene exklusive Herrlichkeit und Ehre.

Der Apostel Paulus beschreibt die Auserwählung zum Heil in Epheser 1 näher:

  • Er sagt, dass Gott »vor Grundlegung der Welt« (unserer Welt) auserwählt hat. Kein Geschöpf war also anwesend, kein Mensch hatte Anteil an dieser Wahl, weder durch seine Worte, sein Wesen noch seine Taten. Aber Gott war da, der Schöpfer und souveräne Herr aller Dinge und Wesen. Als solcher hat Er vor aller Zeit auserwählt.
  • Er sagt, dass Gott auserwählt hat »in ihm«, das ist Christus. Es gibt also keine Auserwählung und damit keine Auserwählten außerhalb von Christus. Gott hat damit entschieden, dass alles Heil nur in Christus zu haben ist. Die Einsmachung mit Christus ist elementare Wahrheit des Heils in Christus (siehe: »in ihm«, »in dem«, »in Christus« u. ä. in Epheser 1).
  • Er sagt, dass Gott auserwählt hat, »dass wir heilig und untadelig seien vor ihm in Liebe«. Das ist das Ziel, das Wozu, der Telos, der Auserwählung Gottes. In solcher Weise vor Gott zu sein bedeutet das größte Glück eines Menschen. Die völlige Errettung ist selbstverständlich Teil dieses Glücks. Die Behauptung, bei Erwählung ginge es nicht (auch) um das Heil, müsste jedem Bibelleser mithin als Unsinn offenbar sein. Gleiches gilt für die Behauptung, bei der Erwählung gehe es (nur) um die Sohnschaft (Epheser 1,5), nicht um das Heil: Wer die Sohnschaft hat, mithin ein Sohn Gottes ist, ist auch absolut sicher gerettet.

Trotzdem umwabert viel trüber Nebel und beißender Rauch die Gedanken und Lehren von Christen und Predigern in Sachen „Auserwählung“. Diese selbstverschuldete Finsternis in den Gedanken und Lehren über das Heil Gottes ist teilweise Ergebnis mangelnden Fleißes, die Schrift unter Gebet gründlich zu studieren, teilweise Ergebnis eines nicht aus der Schrift entnommenen Gedankenrahmens (Paradigmas), in der die exklusiven Rechte Gottes als Gott nicht gebührend Platz gefunden haben. Anders gesagt: Man weiß und glaubt zu wenig von der Wahrheit und/oder klammert sich an zu viele nicht-biblische Presuppositionen. Paul K. Jewett schreibt:

»Die Frage der individuellen Auserwählung hat mehr Menschen dazu verführt, die Heilige Schrift so zu lesen, dass sie dort (nur) das finden, was sie finden wollen (anstelle auf die Heilige Schrift zu hören, auch auf das, wovor sie Angst haben zu hören), als praktisch jede andere theologische Streitfrage.«

Paul K. Jewett, Election and Predestination (Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1985), S. 67

Viele Fragen zur Auserwählung werden von Interessierten gestellt, wichtige, mitunter schwierige Fragen. Das ist ein guter Anfang und Motivation für demütige Selbstreflexion und fleißiges Bibelstudium unter Gebet. Bruce Demarest liefert dankenswerter Weise in seinem Werk The Cross and Salvation (Wheaton, IL: Crossway Books, 1997) eine gute Sammlung solcher wichtigen Fragen, die in folgender Liste mitverwendet wurden:

  • F1:    Geht es bei der Auserwählung Gottes um die Berufung einiger Menschen nur zum (zeitlichen) Dienst, nur zur (ewigen) Errettung oder zu beidem?
  • F2:    Ist die Auserwählung bedingt (also dadurch bedingt, dass Gott die positive Reaktion einer Person auf das Evangelium notwendigerweise vorhersehen muss), oder ist sie bedingungslos (also ausschließlich in Gottes souveränem Willen und seinem Wohlgefallen gegründet und durch ihn verursacht)? Anders gesagt: Folgt logischerweise (kausal) die göttliche Auserwählung dem menschlichen Glauben, oder folgt der menschliche Glaube (kausal) der göttlichen Auserwählung?
  • F3:    Wenn die Auserwählung bedingungslos ist, wie unterscheidet sich diese Lehre dann vom heidnischen Determinismus (z. B. der Stoiker) und vom islamischen Fatalismus?
  • F4:    Ist Auserwählung passiv, also nur Gottes Ratifizierung (nachfolgende Bestätigung) der menschlichen Entscheidung, Christus zu vertrauen, oder ist sie aktiv, also Gottes vorauslaufende, souveräne Festlegung, bestimmte Menschen sicher zu retten?
  • F5:    Ist Auserwählung zur Rettung korporativ (eine [anonyme] Gruppe betreffend) oder individuell (Einzelpersonen betreffend), oder beides?
  • F6:    Betrifft die Auserwählung zum ewigen Heil nur das Ziel und den Inhalt der Auserwählung (das Wozu der Erwählung), oder auch (ggf. sogar primär) die (Einzel-) Personen, die auserwählt wurden (das Wer der Erwählung)? Geht es primär um die Sache oder um die beteiligten Personen?
  • F7:    Betrifft Gottes auserwählender Beschluss die Klasse (Gruppe) jener, die glauben werden, oder betrifft er spezifische Einzelpersonen, die Gott zuvorerkannt und ausgewählt hat?
  • F8:    Ruht die Auserwählung auf Gottes »Zuvorwissen« (rein kognitiv) oder auf Gottes »Zuvorerkennen« (beziehungsmäßig)?
  • F9:    (F8 vertieft) Was meint die Heilige Schrift, wenn sie feststellt, dass Gott die Heiligen »zuvor erkannt« hat (Röm 8:29; 11:2)? Bedeutet es nur, dass Gott in seiner Allwissenheit die glaubensvollen Reaktionen von Menschen voraussieht? Oder sagt sie damit vor allem und tiefergehender, dass Gott seine Liebe auf gewisse Sünder gelegt, eine Lebensbeziehung zu ihnen aufgebaut und folglich sie auserwählt hat, gerettet und geliebt zu werden?
  • F10:  Ist die göttliche Auserwählung einfach, nämlich nur zu ewigem Leben, oder doppelt, nämlich sowohl (manche sagen: in gleicher Weise) zum ewigen Leben also auch zum ewigen Tod?
  • F11:  Fordert die Lehre der bedingungslosen Auserwählung zur Errettung notwendigerweise (»logischerweise«) auch eine bedingungslose Auserwählung zur Verdammnis (Lehre der Reprobation)?
  • F12:  Wie rechtfertigten große Heilige der Vergangenheit, wie z. B. Luther, Calvin, Owen und Bunyan, biblisch ihren Glauben an eine »doppelte Prädestination«?
  • F13:  Liefert das Alte Testament eine andere Sicht auf die Lehre der Auserwählung, als das Neue Testament? Wie unterscheiden sich ggf. diese Sichten?
  • F14:  Welche Rolle spielt Jesus Christus in Gottes »Auserwählungsprogramm«?
  • F15:  Was bedeutet der biblische Ausdruck der Auserwählung »in Christus«? Bedeutet er, dass Glaubende erwählt wurden, weil sie eines Tages begannen, an Christus zu glauben, sich mittels dieses Glaubens »in Christus« hineinbegeben haben und Gott dies in seiner Allwissenheit vorhergesehen hatte? Oder bezeichnet es Gottes Absicht, Errettung nur aufgrund des gehorsamen Lebens und sühnenden Todes Christi zu geben?
  • F16:  Wie können wir den Vorwurf biblisch beantworten, dass die Lehre der bedingungslosen Auserwählung unfair und letztlich Gottes unwürdig sei?
  • F17:  (F16 vertieft) Kollidiert die Lehre der bedingungslosen Auserwählung mit dem in der Bibel geoffenbarten „Charakter“ Gottes?
  • F18:  Wenn Gott souverän festgelegt hat, wer errettet werden wird, würde das die Mission, das Predigen (Evangelisieren) und Überreden von Sündern und das Gebet für die Verlorenen überflüssig (o. sinnlos) machen?
  • F19:  Erzeugt die bedingungslose Sicht auf die Auserwählung nicht ein selbstzufriedenes Leben und untergräbt das Streben nach einem heiligen Leben (wie es z. B. der Methodist Wesley behauptete)?
  • F20:  Bietet die Auserwählungslehre für die Glaubenden praktischen Wert und Trost? Nennt die Heilige Schrift positive Auswirkungen dieser Lehre im Leben der Heiligen?
  • F21:  Sollte die Lehre der Auserwählung in der ganzen Welt gepredigt werden, wie Spurgeon drängte, oder sollte sie nur dem Volk Gottes in der Gemeinde (sozusagen als »Familiengeheimnis«) gelehrt werden?

Diese Fragen rund um die Lehre der Auserwählung sind wichtige. Sie erfordern sorgfältige Untersuchung anhand der Heiligen Schrift, dem »Wort der Wahrheit« (Johannes 17,17; 2.Korinther 6,7; Epheser 1,13; Kolosse 1,5; 2.Timotheus 2,15; Jakobus 1,18).

Eine Einführung und einen Überblick sowohl über die biblische Lehre der Auserwählung als auch über die verschiedenen Lehren und Ansichten unterschiedlicher christlicher Lehrschulen und Gruppen vermittelt Bruce Demarest im erwähnten Buch. Er hat seine Ausarbeitung wie folgt gegliedert (eigene Übersetzung):

1 Warum ist die Lehre der Auserwählung so »schwierig«?
2 Historische Interpretationen der Erwählungslehre
(Übers. wird nachgeliefert)
3 Die biblische Lehre der Auserwählung
3.1   Auserwählung zum Dienst
3.2   Korporative Auserwählung eines Volkes
3.3   Persönliche Auserwählung im AT: Ein Nebenthema
3.4   Persönliche Auserwählung im NT: Ein Hauptthema
3.5   Lehrt die Heilige Schrift eine »Doppelte Prädestination«?
3.6   Zusammenfassung
4 Praktische Auswirkungen der Erwählungslehre
4.1   Große Freude und Gewissheit, erwählt zu sein
4.2   Ermutigung zu Predigt, zur Evangelisation und zum Gebet
4.3   Ein positiver Stimulus für die Heiligung
4.4   Verkünde zuversichtlich: »Wer immer da will«
4.5   »Will« Gott wirklich, dass alle Menschen errettet werden?

Eine Übersetzung ins Deutsche mit vielen Ergänzungen und Erweiterungen durch Grace@logikos.club gibt es hier zum Download (PDF).

Wir haben empfangen … Gnade um Gnade

Der Apostel Johannes schreibt als einer der letzten der Autoren des Neuen Testaments. Die drei synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus und Lukas) sind alle schon einige Jahrzehnte geschrieben und verbreitet worden. Sie portraitierten den Herrn Jesus Christus als den König und Messias Israels, den Knecht Gottes und den wahren Menschen. Aber Johannes hat einen besonderen Auftrag: Er soll von Jesus Christus als dem menschgewordenen ewigen Sohn Gottes schreiben, damit Menschen an Ihn glaubend das ewige Leben haben (Johannes 20,31).

Das erste Kapitel seines Evangeliums ist voll tiefgründiger Aussagen über Christi Gottsein, Menschsein und Sendung. Johannes vergleicht das Kommen Jesu Christi mit dem größten Führer des Volkes Gottes alttestamentlicher Zeit, mit Mose:

Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben;
die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.

Johannes 1,17 (ELBCSV 2003)

Offenbar ist in Jesus Christus ein unvergleichlich Größerer zu uns Menschen gekommen, als der große Mose: der große Gott selbst. Und offenbar hat Jesus Christus etwas unvergleichlich Größeres mitgebracht, als Mose damals übermittelnd liefern konnte, nämlich Gnade und Wahrheit. Er, der als Gott selbst Licht (1.Johannesbrief 1,5) und Liebe (1.Johannesbrief 4,8) ist, bringt „uns allen“ leuchtende Wahrheit und liebende Gnade. Und dies mitnichten spärlich, sondern im Überfließen, „aus seiner Fülle“ [πληρώματος αὐτοῦ]:

Denn aus seiner Fülle haben wir alle empfangen,
und zwar Gnade um Gnade [χάριν ἀντὶ χάριτος].

Johannes 1,16 (ELBCSV 2003)

So wundert es nicht, dass vor allem das Evangelium nach Johannes eine Fund- und Schatzgrube für Beispiele, Aussagen und Lehren über die Gnade Gottes ist. Im menschgewordenen Sohn Gottes ist die Gnade Gottes sichtbar und für den Glauben rettend und beglückend greifbar geworden. Während der Apostel Paulus besonders erklärt, dass in Jesus die Gnade Gottes allen Menschen heilbringend erschienen ist (Titus 2,11ff), lehrt der Apostel Johannes vor allem, wie Gott seine Familie aus der verdorbenen, rebellischen Welt durch die Hingabe Seines einzigen Sohnes ans Kreuz rettet, ja: herausliebt (Johannes 3,16). Nun gilt für jeden Glaubenden, dass er im Sohn Gottes ewiges Leben hat, und zwar als Geschenk, nicht als Lohn, sondern „aus Gnade“ (Johannes 20,31).

Der amerikanische Theologe, Autor und Prediger Dr. Steven J. Lawson (Gründer und Präsident von OnePassion Ministries) hat eine Lehrreihe zu The Doctrines of Grace in John zur Verfügung gestellt. Es handelt sich dabei um 12 Kurslektionen zu je ca. 25 Minuten. Ein Kursteilnehmer hat freundlicherweise seine deutschsprachigen Notizen online zur Verfügung gestellt. Alle Rechte für den originalen Kurs bleiben natürlich beim Autor und beim Veranstalter Ligonier Ministries (Sanford, FL, USA, www.ligonier.org). Die Kursteilnahme mit offener Bibel sei hiermit wärmstens empfohlen.

Quellenverweise

  • Den Kurs in englischer Sprache (Original) kann man hier in verschiedenen Medien und Gruppenlizenzen kaufen.
  • Eine kostenlose Probelektion (Einleitung) des Kurses in englischer Sprache gibt es hier.
  • Kursunterlagen (Study Guide) in englischer Sprache (PDF; backup);
  • Kursunterlagen in englischer Sprache als Taschenbuch, Hörbuch und Audio-CD.
  • Kursnotizen (Mitschrift) in deutscher Sprache (PDF; backup).
  • Eine kürzere Abhandlung gleichen Themas des Baptisten R. Bruce Steward (1936–2006) ist in der Chapel Library der Mount Zion Bible Church enthalten (PDF).
  • Eine grundlegende Abhandlung über die Lehren der Gnade aus reformierter Sicht: James Montgomery Boice und Philip Graham Ryken, The Doctrines of Grace, Wheaton, IL: Crossway, 2002. Deutsch: Die Lehren der Gnade, Oerlinghausen: Betanien, 2009.
  • Eine dogmengeschichtliche Darstellung der Lehren der Gnade in der Plymouth-Brüder-Bewegung: Mark R. Stevenson: The Doctrines of Grace in an Unexpected Place. Calvinistic Soteriology in Nineteenth-Century Brethren Thought. Eugene, OR: Wipf and Stock, 2007). Deutsch: Die Brüder und die Lehren der Gnade. Wie stand die Brüderbewegung des 19. Jahrhunderts zur calvinistischen Heilslehre? Bielefeld: CLV, 2019.
  • Der bekannte Baptist und „Fürst der Prediger“ Charles H. Spurgeon (1834–1892) lehrte ebenfalls die Lehren der Gnade, siehe: Charles H. Spurgeon – Prediger der biblischen »Lehren der Gnade« (auf diesem BLOG).

»Es ist vollbracht!« – Was denn?

Als der Herr Jesus Christus am Karfreitag am Kreuz hängend sieben bedeutsame Worte aussprach, lautete das vorletzte: »Es ist vollbracht!« (Johannes 19,30 ELBCSV; vgl. Mt 27,50; Mk 15,37; Lk 23,46). Nur der Apostel Johannes berichtet es uns im Wortlaut. Danach neigte Christus sein Haupt und übergab mit dem siebten Ausruf seinen Geist Gott: Das Lamm Gottes, »das die Sünde der Welt wegnimmt« (Joh 1,29), starb in aktiver, völliger Hingabe an Gott. Der Mensch gewordene Sohn Gottes neigte sein Haupt, nicht in Resignation oder Schwäche, sondern wie zum Schlummer[1], um es am dritten Tag in eigener Autorität wieder zu erheben (Joh 10,18).

Was heißt »vollbracht«?

Jesus sprach tatsächlich nur ein Wort: » tetélestai «[2]. Schon zwei Verse vorher gebrauchte Johannes dieses Wort in identischer Form: »Danach, da Jesus wusste, dass alles schon vollbracht war[2], spricht er, damit die Schrift erfüllt würde[3]: Mich dürstet!« (Joh 19,28). Das Wort und seine Zeitform hier bedeuten, dass eine Tat oder ein Werk zum erfolgreichen Ziel gebracht wurde und nun bleibende Auswirkungen hat. Man schrieb tetélestai auf eine bezahlte Rechnung, auf eine abgesessene Gefängnisstrafe usw., also: „Bezahlt!“, „Abgeleistet!“, „Fertig!“: Nichts ist mehr zu bezahlen, keine Forderung besteht mehr, alles ist erledigt. – Hier wurde nicht nur „eine Tür zum Heil aufgestoßen“ oder „dem Sünder eine Chance geboten“ oder „dem Menschen ein großes Vorbild gegeben“ –alles Vorstellungen des bloß Potentiellen, im Prinzip also Unvollkommenen– , sondern etwas komplett fertiggestellt! »Welches Wort enthielt jemals so viel?« (William Kelly, An Exposition of the Gospel of John ).

»Es« – Was wurde vollbracht?

Auch hier gibt uns Johannes den Schlüssel zum Verständnis in die Hand. (1) Christi Gehorsam. Er berichtet, dass die Werke, die Christus tat, seine Sendung bezeugten: »die Werke, die der Vater mir gegeben hat, dass ich sie vollbringe, die Werke selbst, die ich tue, zeugen von mir, dass der Vater mich gesandt hat« (Joh 5,36). Christi Gehorsam und Widmung wurden auf dem Kreuzesaltar völlig offenbar. (2) Offenbarung des Vaters. Der Apostel Johannes berichtet ferner, dass Christus kurz vor seiner Passion rückblickend zum Vater sagte: »Ich habe dich verherrlicht[4] auf der Erde; das Werk habe ich vollbracht[5], das du mir gegeben hast, dass ich es tun sollte.« (Joh 17,4). Als Jesus ausrief: »Es ist vollbracht!«, war jenes Werk, das ihm der Vater aufgetragen hatte, erfolgreich fertiggestellt. Bei diesem Werk des Sohnes Gottes ging es letztlich darum, den Vater auf der Erde zu verherrlichen, also die Herrlichkeit Seines wunderbaren Wesens und einzigartigen Heilswerks bekannt zu machen, denn: »Niemand hat Gott jemals gesehen; der eingeborene Sohn, der im Schoß des Vaters ist, der hat ihn kundgemacht[6]« (Joh 1,18). (3) Vollkommene Sühnung. Und letztlich sagt uns der Apostel Johannes, dass Christus »das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt«, ist (Joh 1,29.36; vgl. Offb 5,6ff; 21,22–27). Der Apostel Petrus äußert sich in ähnlicher Weise, fokussiert sich jedoch auf das Volk Gottes. Er verbindet die vollkommene Erlösung der »Kinder des Gehorsams« mit ihrem vollkommenen Erlöser: »[Ihr seid] erlöst worden … mit dem kostbaren Blut Christi, als eines Lammes ohne Fehl und ohne Flecken« (1Pet 1,18–19). In Summa: »Denn mit einem Opfer hat er auf immerdar die vollkommen gemacht[7], die geheiligt werden.« (Hebr 10,14).

Ad (2): Am deutlichsten wurde das Kundtun (Darlegen, Erklären) des Vaters durch den Sohn im Sterben Jesu am Kreuz: Jeder kann am Kreuz Jesu nun sehen, dass Gott Liebe ist (1Joh 4,7–12) und dass Gott Licht ist (1Joh 1,5), gerecht und heilig:

  • Liebe: »Denn so hat Gott die Welt geliebt«
  • Licht: »dass er seinen eingeborenen Sohn [als Opfer] gab«
  • Liebe: »damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe.« (Joh 3,16).

Wer auf Christus im Glauben schaut, wer Sein Opfer am Kreuz für sich persönlich in Anspruch nimmt, sich für seine ewige Erlösung und Rettung alleine auf Jesu Person und Werk verlässt, der ist für immer gerettet, ist ein Kind Gottes, das zeitlebens Grund zum Jubeln hat, denn: »Es ist vollbracht!«

»Es ist vollbracht!« – Das muss man besingen!

Jacques Erné (1825–1883) hat den Siegesruf des Sohnes Gottes im 19. Jhdt. (1883?) in ein schönes Loblied gefasst:

Es ist vollbracht,
das große Werk, das schwere.
Gott ist gerecht, Ihm ward nun Seine Ehre
durch Seinen Sohn, der laut verkündet hat;
„Es ist vollbracht!“, „Es ist vollbracht!“

Es ist vollbracht!
Was Gottes Liebe wollte,
was für den Sünder, den verlornen, sollte
zur Rettung und zum ew’gen Heile sein,
das ist vollbracht, das ist vollbracht.

„Es ist vollbracht!“,
durchtönt’s die Ewigkeiten
zu Gottes Lob, zu der Erlösten Freuden;
sie danken Gott, sie beten Jesus an,
dass Er’s vollbracht, dass Er’s vollbracht.

Sprachliche Notizen

[1] κλίνας – Aorist Partizip Aktiv von κλίνω = neigen, beugen. »What is indicated in the statement “He bowed His head,” is not the helpless dropping of the head after death, but the deliberate putting of His head into a position of rest, John 19:30. The verb is deeply significant here. The Lord reversed the natural order. The same verb is used in His statement in Matt. 8:20 and Luke 9:58, “the Son of Man hath not where to lay His head.”« (Vine, W. E. ; Unger, Merrill F. ; White, William, Jr.: Vine’s Complete Expository Dictionary of Old and New Testament Words, 2, s. v. »bow, bowed (Verb)«. Vgl.: Walter Bauer, Das Johannes-Evangelium, 3. Aufl. (Tübingen, 1933), S. 218.
[2] τετέλεσται – Perfekt Passiv Indikativ 3.Pers. Sing. von τελέω = vollenden (nicht nur zum Ende, sondern zur Vollendung führen). Das Verb kommt im NT 28mal vor, in dieser Form nur 2mal im Johannesevangelium (Joh 19,28.30). Die ELBCSV gibt es wieder als: vollenden, zu Ende sein, bezahlen/entrichten (!), vollbringen, erfüllen.
[3] τελειωθῇ – Aorist Passiv Konjunktiv 3.Pers.Sing. von τελειόω = vollkommen machen; »bedeutet die abschließende Erfüllung des gesamten Schriftinhaltes« (Rienecker, Sprachlicher Schlüssel, S. 246). Das Verb kommt im NT 23mal vor, und wird in der ELBCSV auch mit vollenden, vollbringen, vollkommen machen wiedergegeben. Im Vergleich zum verwandten Verb τελέω (s. o.) betont es über die Vollendung hinaus den Aspekt der erzielten Perfektion (Vollkommenheit). Das Verb ist Kennzeichenverb des Hebräerbriefes (9mal: 2,10; 5,9; 7,19.28; 9,9; 10,1.14; 11,40; 12,23). Vgl. die Verwendung bei Johannes in Joh 4,34; 5,36; 17,4.23; 19,28; 1Joh 2,5; 4,12.17.18, sowie in Apg 20,24; Php 3,12; Jak 2,22.
[4] ἐδόξασα – Aorist Aktiv Indikativ von δοξάζω = verherrlichen, erheben, preisen, Ehre geben. Es ist also Feststellung einer bestehenden Tatsache. In dieser Form nur in Joh 12,28 »Ich habe ihn verherrlicht« und hier in 17,4 »Ich habe dich verherrlicht auf der Erde«.
[5] τελειώσας – Aorist Partizip Aktiv von τελειόω = ans Ziel bringen, vollenden. Versteht man dieses Partizip periphrastisch, dann war das Vollenden der Werke (punktueller Aspekt) der Begleitumstand oder die Art und Weise, mit dem bzw. der der Sohn Gottes seinen Vater verherrlichte (= Haupthandlung). Die ESV hat: »having accomplished the work that you gave me«. Das Vollenden war jedenfalls der Zielpunkt der Sendung des Sohnes, vgl. Johannes 5,36: »die Werke, die der Vater mir gegeben hat, damit ich sie vollbringe [τελειώσω – Aorist Konjunktiv Aktiv von τελειόω; Aspekt: punktuell, also feststellend, zusammenfassend betreffs der Absicht des Handelns]«.
[6] ἐξηγήσατο – Aorist Medium Indikativ 3.Pers Sing. von ἐξηγέομαι = darlegen, auseinandersetzen, auslegen, berichten; »etwas völlig bekannt machen durch sorgfältige Erklärung oder durch klare Offenbarung« (Louw, Johannes P., Nida, Eugene Albert: Greek-English Lexicon of the New Testament: Based on Semantic Domains (New York: United Bible Societies, 1996), 28.41; Üb.d.A.).
[7] τετελείωκεν – Perfekt Aktiv Indikativ von τελειόω = ans Ziel bringen, vollenden; mit expliziter Anfügung von εἰς τὸ διηνεκὲς = »auf immerdar«, »ununterbrochen«. Die von Gott Geheiligten sind durch Christi Opfer in einen Zustand versetzt worden, in dem sie ein für allemal und ohne jegliche Unterbrechung vollkommen sind (was Auswirkungen bis heute hat). Da das Opfer Christi für immer und stets vollwirksam gilt, besteht dieser vollkommene Zustand der »Geheiligten« in gleicher Weise immer und stets vollwirksam.


Wir stehen an der Seite von Pastor James Coates

Am 15. Februar 2021 stellte sich Pastor James Coates der GraceLife Church of Edmonton in der kanadischen Provinz Alberta der Polizei. Er wurde verhaftet wegen zweier Vorwürfe: einerseits habe er sich dem Public Health Act, einem provinziellen Gesetz, widersetzt und zweitens habe er die Straftat begangen, sich (oder seine Kirchgemeinde) einer Anordnung über Maskentragen, Distanzierung und Teilnehmerbeschränkung auf 15% der Kapazität nicht untergeordnet zu haben.

Die Inspektorin für Public Health, Janine Hanrahan, hatte am 14.02.2021 einen entsprechenden Bericht verfasst; sie klassifizierte die Sache als »Public Nuisance«, also als Handlung, die die Rechte der Öffentlichkeit verletze (ungefähr: „öffentliches Ärgernis“). Die Alberta Health Services forderten im Januar 2021 ein Gericht auf, ihre Gesundheitsanordnungen gegen die Gemeinde von Pastor Coates durchzusetzen. Dies richtete sich dann in persona gegen den Pastor der Gemeinde, dem am 7. Februar eine entsprechende Unterlassungserklärung zur Unterschrift vorgelegt wurde. Pastor Coates unterschrieb nicht, und so klagte ihn die Krone nun unter section 145(4) (a) (Failure to comply with undertaking) des Strafgesetzbuches an. Dort steht: »Every person is guilty of an indictable offence and liable to imprisonment for a term of not more than two years or an offence punishable on summary conviction who, (a) is at large on an undertaking and who fails, without lawful excuse, to comply with a condition of that undertaking;«

Pastor Coates folgte bewusst nicht der gerichtlichen Anordnung, die Gemeindeversammlungen auf unbestimmte Zeit auf 15% der Kapazität zu beschränken (usw.), war sich aber von den Androhungen der Unterlassungserklärung her im Klaren darüber, dass diese Verweigerung zu seiner Verhaftung führen würde. So erschien er, nachdem er am 14. Februar noch den Gottesdienst geleitet hatte, am Montag drauf freiwillig bei der Polizei. Eine Entlassung gegen Kaution, welche selbst Schwerverbrechern in der Regel gewährt wird, wurde ihm nach der Anhörung verwehrt. Er wurde im Provinzgefängnis Edmonton Remand Centre in Einzelhaft gehalten, anfänglich unter Quarantäne entsprechend den offiziellen COVID-19-Vorschriften (er hat aber keine Infektion). Die Bedingungen für eine Freilassung gegen Kaution waren, dass er die Einhaltung aller Gesundheitsverordnungen unterschrieb, ansonsten er weder als Teilnehmer noch als Pastor die Versammlungen besuchen dürfe, mithin alle seine Verpflichtungen als Pastor, inklusive Predigen, Abendmahl, Taufen sowie weitere Aktivitäten einzustellen hätte. Dies war Pastor Coates aus Gewissensgründen und aufgrund seiner biblisch begründeten und im Gewissen festen Glaubensüberzeugungen nicht bereit zu tun.

Die Gemeinde handelte offenbar vorbildlich verantwortungsvoll und stets im Wort Gottes gegründet. Als COVID-19 Anfang 2020 vermehrt auftrat und Hochrechnungen exorbitant hohe Todeszahlen prognostizierten (berühmt-berüchtigt die Simulationen von Neil Ferguson vom Imperial College), hatte die Gemeinde von Präsenzveranstaltungen komplett auf Livestream umgestellt. Als die erste Notsituation auch offiziell für beendet erklärt wurde, öffnete die Gemeinde wieder ihre Türen und hatte normale Gottesdienste (ab 21. Juni 2020). Anfang Juli wurde der Gemeindeleitung bekannt, dass sich zwei Personen, die zur Gemeinde gehören, sich irgendwo mit COVID-19 angesteckt hatten. Sofort wurden für 14 Tage alle Veranstaltungen wieder auf Online umgestellt, sozusagen als Quarantäne-Maßnahme. Als klar wurde, dass keine weiteren Ansteckungen unter den Gemeindegliedern und Besuchern erfolgt waren, wurde wieder auf normalen Präsenzbetrieb umstellt und dies bis heute beibehalten. Ein Todesfall ist trotzdem zu beklagen: ein Mitglied der Gemeinde bekam wegen des angeordneten COVID-Lockdowns nicht die nächste notwendige Krebsbehandlung und verstarb. Der Bericht und die Stellungnahme der Gemeinde ist hier zu lesen.

Dieser Fall ist nur einer von vielen, wo sich Regierungen oder nachgeordnete Stellen anmaßen, von Gott direkt und unveräußerlich dem Menschen gegebene Rechte wegzunehmen oder einzuschränken. (Diese Rechte ergeben sich aus dem Mandat, das Gott dem Menschen allgemein geben hat. Dies kann hier nicht vertieft werden.) Dies ist keine triviale Angelegenheit, sondern berührt die Verfassung und die Werte einer freiheitlichen Verfassungsgemeinschaft im Kern. Die medial massiv verbreiteten Angstszenarien (engl. narratives) rund um COVID-19 scheinen ein geeignetes Begründungsvehikel für übergriffige Verordnungen bis hin zu neuen Ermächtigungsgesetzen zu sein. Es ist auch ein Test dafür, ob die Strukturen der Gewaltentrennung im Staat wirksam sind. Hier soll es aber nicht um diese zivilbürgerlichen Herausforderungen gehen, sondern darum, ob und wie Himmelsbürger, bekennende Christen, die Christus ausdrücklich als den Obersten Herrn bekennen, der über jeder weltlichen Gewalt steht und dieser ein klar bestimmtes Mandat (Aufgabe, Verantwortung, Grenzen) mit entsprechender Autorität verliehen hat, zur verfolgten Gemeinde stehen sollten.

Dazu anregen soll die folgende Stellungnahme »We Stand with Pastor James Coates« der Ausbildungsstätte von Pastor Coates, dem The Master’s Seminary in Sun Valley, CA (USA). Sie stammt von Nathan Busenitz, dem Executive Vice President und Dean of Faculty am The Master’s Seminary. Er ist als Hirte von Cornerstone, einer Gemeinschaftsgruppe der Grace Community Church (23.02.2021), Glaubensbruder und Dienstkollege von James Coates. Die folgende Übertragung ins Deutsche nimmt keine Perfektion für sich in Anspruch; es gilt das veröffentlichte Original. Ein beeindruckendes Interview mit Erin Coates, der Ehefrau des Pastors, ist hier zu anzuhören. Ihre eidesstattliche Erklärung gegenüber dem Gericht in Edmonton (26. Februar 2021) ist hier zu lesen.
Update 05.07.2021: Ein Interview von Pastor Tobias Riemenschneider (ERB Frankfurt) mit Pastor James Coates ist auf YouTube zu sehen: James Coates: Im Gefängnis für Christus – ein Interview (Deutsch); englischsprachige Version: James Coates: In Jail For Christ – An Interview (English).

»Wir stehen an der Seite von Pastor James Coates«

Die Seiten der Geschichtsbücher sind voller Beispiele von treuen Gläubigen, die mit Entschiedenheit Gott gehorchten, selbst wenn dies bedeutete, dem harten Widerstand von Mitmenschen ins Auge zu sehen. Als Daniel sich weigerte, mit seinem täglichen Gebet aufzuhören, wurde er in die Löwengrube geworfen. Als die Apostel sich weigerten, die öffentliche Verkündigung des Namens Jesu einzustellen, wurden sie verhaftet und ausgepeitscht. Als der Kirchenvater Polycarp sich weigerte, Christus zu verleugnen, wurde er auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Als der Puritaner John Bunyan sich weigerte, mit dem Predigen aufzuhören, wurde er 12 Jahre ins Gefängnis geworfen. Viele weitere Beispiele könnten noch angeführt werden, aber der springende Punkt ist klar: Gott zu gehorchen ist nicht immer einfach. Aber dies war das Lebenszeichen aller Glaubenden zu allen Zeiten.

James Coates ist eine lebendige Illustration dieser Art von Entschlossenheit. Als Abgeordnete der Regierung sich einmischten in die Fähigkeit der Gemeinde, sich frei zu versammeln und Gottesdienst zu halten, entschieden James und seine Mitältesten, dass sie Gott Priorität vor der Regierung einzuräumen hatten. Diese mutige Stellungnahme hatte ihren Preis. James wurde verhaftet und angeklagt. Als er vor dem Richter erschien, wurde ihm mitgeteilt, dass man ihn freilasse, wenn er aufhören würde, Gottesdienste in seiner Gemeinde abzuhalten. Wie Luther einst auf dem Wormser Reichstag, antwortete er respektvoll, dass er dies niemals tun könne. Sein Gewissen sei gebunden an Gott und die Heilige Schrift. Das hatte zur Folge, dass James ins Gefängnis geworfen und wie ein gewöhnlicher Krimineller behandelt wurde.

Es ist klar, dass die Regierung in Edmonton an James ein Exempel statuieren will. Auch wir wollen James als Exempel [Vorbild] hinstellen, denn sein Verhalten war in der Tat vorbildlich. Die Fakultät, die Mitarbeiter und die Studierenden von The Master’s Seminary stehen solidarisch zu James und seiner Gemeinde. Er erfüllt uns mit rechtem Stolz. Unser Wunsch ist es nämlich, Männer auszubilden, die nicht nur den Inhalt der Heiligen Schrift kennen, sondern ihre biblischen Überzeugungen auch ausleben. James ist so ein Mann – ein Mann des Meisters [Wortspiel mit: a Master’s man]. Wir stehen zu seinem Mut. Vielmehr jedoch geben wir unseren Beifall jenen unverhandelbaren Überzeugungen, welche die Begründung für solchen Mut bilden. Wir vertrauen dem Herrn in allem diesem und werden weiter für unseren geschätzten Bruder, seine Ehefrau, seine Söhne, seine Mitältesten und seine Gemeinde beten. Unser Gebet ist nicht nur, dass James bald aus der Haft entlassen und seiner Familie wiedergegeben werde, sondern dass als Ergebnis des Ganzen das Evangelium weit hinaus scheine zur Verherrlichung und Ehre Christi.

Soli Deo Gloria!

Update 23.03.2021: Die Strafverfolger der Krone haben den wesentlichen Teil ihrer Anklagen gegen Pastor James Coates zurückgezogen und wollen ihn –entgegen dem bisher gefolgten Antrag der Staatsanwältin, Frau Karen Thorsrud– eventuell in Kürze auf freien Fuß setzen. Das Hearing dazu vor dem Stony Plain Provinzialgericht fand am 22. März statt, Coates war virtuell zugeschaltet. Der Provinzialrichter Jeffrey Champion erhöhte die von Staatsanwaltschaft (Krone) und Verteidiger einmütig vorgeschlagene Strafe für die Missachtung der gerichtlichen Unterlassungsanweisung von 100 Can$ auf 1.500 Can$. Coates willigte trotzdem in die Strafe ein. Da durch die Haftzeit eine größere Entschädigung ansteht, ist der Betrag mit einem Teil der Haft beglichen und Coates wurde ohne weitere gerichtliche Auflagen entlassen. Ein Prozess am 3.–5. Mai 2021 soll klären, ob die Anordnungen des Gesundheitsamtes (Alberta Health Services), ausgegeben von Frau Deena Hinshaw, Chief Medical Officer of Health der Provinz Alberta, die zur Verletzung von »Fundamental freedoms« gemäß der Canadian Charter of Rights and Freedoms (Teil der Kanadischen Verfassung) führten und vom Parlament oder gewählten Angehörigen des Parlaments (Legislative Assembly) nicht abgesegnet sind, gerechtfertigt waren und sind. Die Beweispflicht liegt auf Seiten des Staates, es wird also höchstwahrscheinlich politisch entschieden. (Bericht des Justice Centers hier.)
Update 01.07.2021: Die Provinz Alberta lässt am 01. Juli 2021 alle Restriktionen wegen COVID-19 fallen. Entsprechend muss sie auch alle physischen Hindernisse vom kircheneigenen Grundstück entfernen und darf freien Gottesdiensten nicht länger im Wege stehen. Damit dürfte das Intermezzo als „Erste Untergrundkirche Canadas“ an geheimen Orten vorerst zu Ende gehen.

Du, Herr, erhörest, wenn wir beten
und glaubend schaun zu Dir hinauf;
wir sind allzeit durch Dich vertreten,
durch Dich bewacht im Pilgerlauf.
Wir können frei und sicher gehn,
wenn wir, o Herr, auf Dich nur sehn.

Carl Brockhaus (1822–1899)

Textquelle: Siehe Uwe Seidel (EBTC), Wir stehen an der Seite von Pastor James Coates, hier.

Vor 500 Jahren: Luther auf dem Reichstag zu Worms

Am 18. April 1521 stand der Wittenberger Professor und Reformator Dr. Martin Luther vor dem jungen römisch-deutschen König und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Karl V. (1500–1558), der ihn zum Reichstag nach Worms eingeladen hatte. Dieser Reichstag ist einer der großen Wendepunkte der deutschen Geschichte. Er steht am Ende der verfassungsgebenden Reichsversammlungen, auf denen seit dem Wormser Tag von 1495 die zerrütteten Ordnungen des Reiches im Sinne der ständischen Gewalten neu verhandelt wurde (Paul Kalkoff, S. 6). Der Reichstag verhandelte also bedeutsame Sachen und tagte daher recht lange (27.01.–26.05.1521). Auch Vertreter des römischen Papstes waren anwesend, unter anderem Hieronymus Alexander, seit 1520 außerordentlicher Nuntius bei Karl V. Die römische Kirche wollte Karl V. bewegen, sich der Causa Luther anzunehmen und die Bannandrohungsbulle Exsurge Domino des Papstes gegen Martin Luther in Deutschland zu publizieren. Am 6. März 1521 lud Karl V. Luther mit Dreiwochenfrist ab Kenntnisnahme vor und sicherte ihm das freie kaiserliche Geleit zu. Reichsherold Kaspar Sturm übergab Luther die Vorladung am 29. März 1521. Die Zusicherung freien Geleits war natürlich in Erinnerung an das Schicksal des böhmischen Reformators Jan Hus einhundert Jahre vorher nicht überzeugend: Dieser wurde trotz entsprechender Zusicherung des deutschen Königs Sigismund nach dem Konzil zu Konstanz am 6. Juli 1415 nach langer Inhaftierung als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Trotz ähnlicher Gefahrenlage machte sich Luther mit Begleitern am 2. April 1521 auf den langen Weg von Wittenberg nach Worms.

Der Kaiser sprach nicht selbst mit dem vor ihm stehenden Luther. Soweit die gewählte Sprache Deutsch war, konnte er sowieso nur mittels Dolmetscher folgen. Er bediente sich eines Redners („Orator“), Johann von Eck, Offizial des Erzbischofs von Trier, also einem Vertreter der Gegenpartei Luthers. Überhaupt war der Kaiser derart entschieden gegen Luther voreingenommen, dass er bereits vor der Anhörung und ohne die Einwilligung der Stände ein „Sequestrationsmandat“ erlassen hatte (26/27. März 1521), das die Vernichtung der Schriften Luthers befahl und damit Luther schon im Voraus verurteilte. Johann von Eck stellte Luther am ersten Verhörtag 17. April 1521 (eine Disputation war von Luthers Gegenseite gar nicht vorgesehen) im Wesentlichen zwei Fragen: Ob die ausgelegten Schriften und Bücher die seinen wären und ob er diese widerrufe. Luther bejahte das Erste und verneinte das Zweite. Er verlangte und bekam daraufhin einen Tag Bedenkfrist.

Am 18. April 1521 wurden von Johann von Eck die Fragen des Vortags wiederholt. Luther antwortete nochmals ausführlich. Nach einer längeren Gegenrede von Ecks befragte dieser Luther abschließend nochmals, ob er seine Schriften widerrufe. Luther antwortete (auf Lateinisch) mit:

»… wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, daß sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!«

Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe, Band II: Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. [Der Reichstag zu Worms 1521]. Bearbeitet von Adolf Wrede. Gotha 1896.], Rede Luthers ab S. 551; siehe auch Nr. 80, S. 569–582. [Link digitale Kopie: https://archive.org/details/deutschereichst07kommgoog/page/n8/mode/2up]

Am 19. April 1521 gab Karl V. nach Verhandlungen mit den Reichsständen eine Erklärung ab, in der er sich zur tausendjährigen christlichen Tradition, zur Treue gegenüber Rom und zum Schutz der römischen Kirche bekannte. In Luther sah er nur einen Häretiker, gegen den vorzugehen sei. Dass sich jemand nur auf das Wort Gottes als letzter Instanz berief, war trotz Hus (u. a. Vorreformatoren) noch ungewohnt und aus Sicht der Herrschenden unakzeptabel und provokativ. Auf den Inhalt der Lehre Luthers ging der Kaiser nicht ein. Er war in den machtpolitischen Umwälzungen seiner Zeit zwischen den Reichsständen, dem Papst (Römisch-katholische Kirche, Kurie) und der um sich greifenden Reformation und deren Vertretern in Politik und Kirche stark gefordert und auch gefährdet. Der Reichstag hatte diese machtpolitischen Fragen bezüglich der Reichsreform als Hauptgegensstand, aber im Rückblick war die Causa Luther die alles überragende Frage des Reichstags zu Worms.

Es dauerte nur acht Jahre, bis auf dem Reichstag zu Speyer (19. April 1529) sechs Fürsten und die Bevollmächtigten von 14 Reichsstädten gegen die Reichsacht über Martin Luther und die Ächtung seiner Schriften und Lehre offiziell protestierten. Sie überreichten eine Protestationsschrift, aber der Leiter des Reichstags, Ferdinand I. (ab 1558 Kaiser des HRR), der seinen Bruder Kaiser Karl V. auf dem Reichstag vertrat, verweigerte die Annahme. Vielmehr wurde in der Schlusssitzung am 24. April 1529 nochmals die alte Reichsacht als geltendes Recht verlesen, die Protestation wurde mit keinem Wort erwähnt. Die „Protestanten“ nahmen dies so nicht hin, sondern verfassten am nächsten Tag das sog. Instrumentum Appellationis, in dem sie ihre Beschwerde gegen diesen Endbescheid des Reichstag (den sog. Reichsabschied) nochmals zusammenfassten.

Seitdem tragen die Anhänger der reformatorischen Bewegung die Bezeichnung „Protestanten“. Die grundlegende Argumentation Luthers begründet die Bezeichnung „Evangelische“, denn er beruft sich zuoberst und alleine auf das Evangelium, die Lehre Christi, die Heilige Schrift, welche Gottes Wort und damit –nach Aussage des Sohnes Gottes (Johannes 17,17)– die Wahrheit ist.

Luthers Verteidigungsrede auf dem Reichstag zu Worms (18. April 1521)

»Allergnädigster Herr und Kaiser!

Durchlauchtigste Fürsten! Gnädigste Herrn!

Ich erscheine gehorsam zu dem Zeitpunkt, der mir gestern abend bestimmt worden ist, und bitte die allergnädigste Majestät und die durchlauchtigsten Fürsten und Herren um Gottes Barmherzigkeit wollen, sie möchten meine Sache, die hoffe ich, gerecht und wahrhaftig ist, in Gnaden anhören. Und wenn ich aus Unkenntnis irgend jemand nicht in der richtigen Form anreden oder sonst in irgendeiner Weise gegen höfischen Brauch und Benehmen verstoßen sollte, so bitte ich, mir dies freundlich zu verzeihen; denn ich bin nicht bei Hofe, sondern im engen mönchischen Winkel aufgewachsen und kann von mir nur dies sagen, daß ich bis auf diesen Tag mit meinen Lehren und Schriften einzig Gottes Ruhm und die redliche Unterweisung der Christen einfältigen Herzens erstrebt habe.

Allergnädigster Kaiser, durchlauchtigste Fürsten! Mir waren gestern durch Eure allergnädigste Majestät zwei Fragen vorgelegt worden, nämlich ob ich die genannten, unter meinem Namen veröffentlichten Bücher als meine Bücher anerkennen wollte, und ob ich dabei bleiben wollte, sie zu verteidigen, oder bereit sei, sie zu widerrufen. Zu dem ersten Punkt habe ich sofort eine unverhohlene Antwort gegeben, zu der ich noch stehe und in Ewigkeit stehen werde: Es sind meine Bücher, die ich selbst unter meinem Namen veröffentlicht habe, vorausgesetzt, daß die Tücke meiner Feinde oder eine unzeitige Klugheit darin nicht etwa nachträglich etwas geändert oder fälschlich gestrichen hat. Denn ich erkenne schlechterdings nur das an, was allein mein eigen und von mir allein geschrieben ist, aber keine weisen Auslegungen von anderer Seite.

Hinsichtlich der zweiten Frage bitte ich aber Euer allergnädigste Majestät und fürstliche Gnaden dies beachten zu wollen, daß meine Bücher nicht alle den gleichen Charakter tragen.

Die erste Gruppe umfaßt die Schriften, in denen ich über den rechten Glauben und rechtes Leben so schlicht und evangelisch gehandelt habe, daß sogar meine Gegner zugeben müssen, sie seien nützlich, ungefährlich und durchaus lesenswert für einen Christen. Ja, auch die Bulle erklärt ihrer wilden Gegnerschaft zum Trotz einige meiner Bücher für unschädlich, obschon sie sie dann in einem abenteuerlichen Urteil dennoch verdammt. Wollte ich also anfangen, diese Bücher zu widerrufen – wohin, frag ich, sollte das führen? Ich wäre dann der einzige Sterbliche, der eine Wahrheit verdammte, die Freund und Feind gleichermaßen bekennen, der einzige, der sich gegen das einmütige Bekenntnis aller Welt stellen würde!

Die zweite Gruppe greift das Papsttum und die Taten seiner Anhänger an, weil ihre Lehren und ihr schlechtes Beispiel die ganze Christenheit sowohl geistlich wie leiblich verstört hat. Das kann niemand leugnen oder übersehen wollen. Denn jedermann macht die Erfahrung, und die allgemeine Unzufriedenheit kann es bezeugen, daß päpstliche Gesetze und Menschenlehren die Gewissen der Gläubigen aufs jämmerlichste verstrickt, beschwert und gequält haben, daß aber die unglaubliche Tyrannei auch Hab und Gut verschlungen hat und fort und fort auf empörende Weise weiter verschlingt, ganz besonders in unserer hochberühmten deutschen Nation. Und doch sehen sie in ihren Dekreten selbst vor, wie Distinctio 9 und 25, quaestio 1 und 9, zu lesen steht: Päpstliche Gesetze, die der Lehre des Evangeliums und den Sätzen des Evangeliums und den Sätzen der Kirchenväter widersprächen, seien für irrig und ungültig anzusehen. Wollte ich also diese Bücher widerrufen, so würde ich die Tyrannei damit geradezu kräftigen und stützen, ich würde dieser Gottlosigkeit für ihr Zerstörungswerk nicht mehr ein kleines Fenster, sondern Tür und Tor auftun, weiter und bequemer, als sie es bisher je vermocht hat. So würde mein Widerruf ihrer grenzenlosen, schamlosen Bosheit zugute kommen, und ihre Herrschaft würde das arme Volk noch unerträglicher bedrücken, und nun erst recht gesichert und gegründet sein, und das um so mehr, als man prahlen wird, ich hätte das auf Wunsch Eurer allergnädigsten Majestät getan und des ganzen Römischen Reiches. Guter Gott, wie würde ich da aller Bosheit und Tyrannei zur Deckung dienen!

Die dritte Gruppe sind die Bücher, die ich gegen einige sozusagen für sich stehende Einzelpersonen geschrieben habe, die den Versuch machten, die römische Tyrannei zu schützen und das Christentum, wie ich es lehre, zu erschüttern. Ich bekenne, daß ich gegen diese Leute heftiger vorgegangen bin, als in Sachen des Glaubens und bei meinem Stande schicklich war. Denn ich mache mich nicht zu einem Heiligen und trete hier nicht für meinen Lebenswandel ein, sondern für die Lehre Christi. Trotzdem wäre mein Widerruf auch für diese Bücher nicht statthaft; denn er würde wieder die Folge haben, daß sich die gottlose Tyrannei auf mich berufen könnte und das Volk so grausamer beherrschen und mißhandeln würde denn je zuvor.

Aber ich bin ein Mensch und nicht Gott. So kann ich meinen Schriften auch nicht anders beistehen, als wie mein Herr Christus selbst seiner Lehre beigestanden hat. Als ihn Hannas nach seiner Lehre fragte und der Diener ihm einen Backenstreich gegeben hatte, sprach er: «Habe ich übel geredet, so beweise, daß es böse gewesen sei.» Der Herr selbst, der doch wußte, daß er nicht irren könnte, hat also nicht verschmäht, einen Beweis wider seine Lehre anzuhören, dazu noch von einem elenden Knecht. Wieviel mehr muß ich erbärmlicher Mensch, der nur irren kann, da bereit sein, jedes Zeugnis wider meine Lehre, das sich vorbringen läßt, zu erbitten und zu erwarten. Darum bitte ich um der göttlichen Barmherzigkeit willen, Eure allergnädigste Majestät, durchlauchtigste fürstliche Gnaden oder wer es sonst vermag, er sei höchsten oder niedersten Standes, möchte mir Beweise vorlegen, mich des Irrtums überführen und mich durch das Zeugnis der prophetischen oder evangelischen Schriften überwinden. Ich werde völlig bereit sein, jeden Irrtum, den man mir nachweisen wird, zu widerrufen, ja, werde der erste sein, der meine Schriften ins Feuer wirft.

Es wird hiernach klar sein, daß ich die Nöte und Gefahren, die Unruhe und Zwietracht, die sich um meiner Lehre willen in aller Welt erhoben haben, und die man mir gestern hier mit Ernst und Nachdruck vorgehalten hat, sorgsam genug bedacht und erwogen habe. Für mich ist es ein denkbar erfreulicher Anblick, zu sehen, wie um Gottes Wort Unruhe und Zwietracht entsteht. Denn das ist der Lauf, Weg und Erfolg, den Gottes Wort zu nehmen pflegt, wie Christus spricht: «Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert; denn ich bin gekommen, den Menschen zu erregen wider seinen Vater usw.» Darum müssen wir bedenken, wie Gott wunderbar und schrecklich ist in seinen Ratschlüssen, daß nicht am Ende das, was wir ins Werk setzen, um der Unruhe zu steuern, damit anfängt, daß wir Gottes Wort verdammen, und so viel mehr einer neuen Sintflut ganz unerträgliche Leiden zustrebt. Wir müssen sagen, daß die Regierung unseres jungen, vortrefflichen Kaisers Karl, auf dem nächst Gott die meisten Hoffnungen ruhen, nicht eine unselige, verhängnisvolle Wendung nehme. Ich könnte es hier mit vielen Beispielen aus der Schrift vom Pharao, vom König Babylons und den Königen Israels veranschaulichen, wie sich gerade dann am sichersten zugrunde richteten, wenn sie mit besonders klugen Plänen darauf ausgingen, Ruhe und Ordnung in ihren Reichen zu behaupten. Denn er, Gott, fängt die Schlauen in ihrer Schlauheit und kehret die Berge um, ehe sie es inne waren. Darum ist’s die Furcht Gottes, deren wir bedürfen. Ich sage das nicht in der Meinung, so hohe Häupter hätten meine Belehrung oder Ermahnung nötig, sondern weil ich meinem lieben Deutschland den Dienst nicht versagen wollte, den ich ihm schuldig bin. Hiermit will ich mich Euer allergnädigsten kaiserlichen Majestät und fürstlichen Gnaden demütig befohlen und gebeten haben, sie wollten sich von meinen eifrigen Widersachern nicht ohne Grund gegen mich einnehmen lassen. Ich bin zu Ende …

Weil denn Eure allergnädigste Majestät und fürstlichen Gnaden eine einfache Antwort verlangen, will ich sie ohne Spitzfindigkeiten und unverfänglich erteilen, nämlich so: Wenn ich nicht mit Zeugnissen der Schrift oder mit offenbaren Vernunftgründen besiegt werde, so bleibe ich von den Schriftstellen besiegt, die ich angeführt habe, und mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort. Denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, weil es offenkundig ist, daß sie öfters geirrt und sich selbst widersprochen haben. Widerrufen kann und will ich nichts, weil es weder sicher noch geraten ist, etwas gegen sein Gewissen zu tun.

Gott helfe mir, Amen.«

Textquelle: https://www.projekt-gutenberg.org/luther/misc/chap008.html [Farb- und Fettdruck hinzugefügt]
Bildquelle: Anton Werner (1843–1915), Luther at the Diet of Worms (1877), im Auftrag des Königreiches Preußen für die Aula der Kieler Gelehrtenschule. Erworben 1883, wegen Zerstörung eigenhändige Replik (1944), Staatsgalerie Stuttgart (Öl auf Leinwand, 66 cm x 125 cm, Inv. Nr. 876). (Digitalbild: wikipedia.de; gemeinfrei)

Literatur

  • Paul Kalkoff, Der Wormser Reichstag von 1521 – Biographische und quellenkritische Studien zur Reformationsgeschichte. München und Berlin: R. Oldenburg, 1922.
  • Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe, Band II [Der Reichstag zu Worms 1521]. Bearbeitet von Adolf Wrede. Gotha, 1896.

Zwei Reiche auf Kollisionskurs: Das gemeinsame Singen der Gemeinde angesichts übergriffiger Verbote des Staates

Zu den Auflagen von Regierungen und nachgeordneten Stellen wegen der sog. „COVID-19-Krise“ gehör(t)en auch Verbote oder Einschränkungen bzgl. der Gemeindeversammlung und speziell des Gemeindegesangs. Während einschränkende Gesetze bzgl. der Religionsausübung in den USA verfassungswidrig sind (First Amendment: »Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof«), ist die Gesetzeslage und Rechtsprechung in den Staaten der EU und der Schweiz weniger übersichtlich. Die Situation und die vielen Auflagen werden inzwischen –wie auch in den Parlamenten beklagt– als widersprüchlich und volatil wahrgenommen, was den Verordnungen und Gesetzen teilweise jene Überzeugungskraft raubt, die aus Sachlichkeit, Faktengebundenheit und Angemessenheit erwächst.

Auch in der Gemeinde Gottes lös(t)en die Verordnungen und Verbote des Staates aufgrund dieser (keineswegs neuen) Infektionskrankheit Diskussionen aus. Leider sind auch innerkirchlich nicht alle Diskussionen und Stellungnahmen von Sachlichkeit, Sachkenntnis oder Brüderlichkeit gekennzeichnet. Bei aller Wertschätzung der Beteiligten sind die vorgebrachten Argumente und Aussagen wegen ihrer weitreichenden Wirkungen und Potentiale genau zu untersuchen.

Eine öffentliche Position vertritt der Schweizer Roger Liebi (s. z.B. auf der deutschen Website soundwords.de). Er vertritt seine Meinung mit der Ansicht, dass das gemeinsame laute Singen im Gottesdienst nicht biblisch geboten und daher nicht notwendig sei, und versucht dies aus einer Reihe von Bibelstellen sowie rabbinischen Überlegungen zu begründen. Praktisch gibt Liebi für die COVID-Zeiten –mit entsprechenden obrigkeitlichen Einschränkungen des Grundrechtes auf freie Religionsausübung– den Rat, dass es reiche, wenn jemand die erste Strophe eines Liedes vorliest und dann ein Instrument ohne weitere Textlesung und ohne Mitsingen der Gemeinde noch so oft die Liedmelodie spielt, wie Strophen übrig bleiben. Die Gottesdienstmitglieder werden angehalten, währenddessen den Text für sich im Liederbuch synchron stumm mitzulesen.

Zur Begründung behauptet Liebi eine Hierarchie der Gebote Gottes dergestalt, dass das Leben und die Gesundheit/Genesung eines Menschen höher zu werten seien, als ein ihr entgegenstehendes Zeremonial- oder Ritualgebot, wie beispielsweise das Sabbatruhegebot. Dem ist mit Blick auf die entsprechenden Ausführungen Jesu Christi anlässlich akuter oder chronischer menschlicher Not durch Hunger, Krankheit und Unfall (u. ä.) soweit zu folgen (s. z. B. Matthäus 12,1–14; Markus 2,23–28; 3,4; Lukas 6,1–11; 13,14–17). Schon seit der Gesetzgebung am Sinai galt nach Christi autoritativer Interpretation des Gesetzes, dass der Sabbath um des Menschen willen gegeben war, und nicht umgekehrt (Markus 2,27). Diese Einsicht war offenbar bei den „Hütern des Sabbaths“ verloren gegangen. Eine fast unüberschaubare Diskussionsgeschichte und Regelungsdichte umwob zu Jesu Zeiten das Sabbathgebot und führte zu etlichen Konflikten der „Hüter des Sabbaths“ mit Dem, der sowohl „Herr des Sabbaths“ als auch Geber jenes Gebotes ist. In seinen Weherufen gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer, den Deutungs- und Frömmigkeitsexperten jener Tage, lehrte der Sohn Gottes, dass es im Gesetz Gottes (zwar nichts Unwichtiges (Lukas 16,17), aber durchaus) »wichtigere Dinge« gibt, nämlich »das Gericht und die Barmherzigkeit und den Glauben« (Matthäus 23,23). Diese Lehre Jesu steht fest.

(1) Liebi bringt als Beleg seiner Ansicht leider auch Außerbiblisches aus der Zeit des Makkabäeraufstandes (1. Makkabäer 2:31ff): Als die Staatsexekutive des heidnischen Seleukiden Antiochus IV. Epiphanes aufständische religiöse Juden in ihren Fluchtorten aufsuchten und aufforderten, den götzendienerischen Forderungen des Königs Folge zu leisten, was diese aber als Abfall vom Gesetz Gottes verstanden (2,15), beschlossen diese: »Wir alle wollen lieber schuldlos sterben… So wurden sie am Sabbath überfallen und sie und ihre Frauen und Kinder samt dem Vieh umgebracht, an die tausend Personen.« (1.Makkabäer 2,37–38 LUT1984). Der jüdische Priester Mattatias und seine Freunde beschlossen nach diesem staatlichen Massenmord: »Wenn man uns am Sabbath angreift, so wollen wir uns wehren, damit wir nicht alle umkommen, wie unsere Brüder in den Höhlen ermordet worden sind.« (2,41). Die Verabsolutierung des Sabbathgebots in der damaligen Tradition hatte sich für die aufständischen Juden also als tödlich erwiesen. Die nun erfolgte Aufhebung des Sabbathgebotes im Verteidigungsfall erwuchs mithin nicht aus rein theologischen Überlegungen zum Sabbath oder gar einer plötzlich entdeckten Hierarchie im Dekalog, sondern offenbar aus existenzieller Not, die nicht nur zum Verlust ihrer Identität als Gottesvolk JHWHs, sondern auch zum Holocaust hätte führen können. – Auch in der Damaskusschrift, einer Schriftrolle vom Toten Meer (Qumran) aus dem 1.–2. Jhdt. v. Chr., wird festgehalten, dass das Retten von Menschenleben Vorrang hat vor der Einhaltung des Sabbaths (CD 11,16–17). Diese Regelung war ausdrücklich auf Notfälle eines Menschen begrenzt. Einem Tier beim Wurf oder aus einer Grube heraus zu helfen, war hingegen verboten (11,13ff). – Wie diese außerbiblische, wenngleich wohl geschichtliche, Begebenheit der jüdischen Aufständischen um Mattatias zur biblischen Begründung der Existenz einer Hierarchie in den Geboten Gottes beitragen soll, ist nicht nachvollziehbar. Wie Liebi dann von dort ohne weiteres den Sprung zur Frage der Rechtmäßigkeit des Verbotes des gemeinsamen Singens der neutestamentlichen Gemeinde seitens der „Obrigkeit“ schafft, ist erstaunlich – aber keinesfalls überzeugend. Jemand anders könnte anhand der Geschichte um Mattatias mit genau so viel oder wenig Recht argumentieren, dass es recht sei, dass man den Anordnungen der heidnischen Obrigkeit nicht Folge leistet, sondern entschieden Widerstand leistet, um seine Identität als Gottesvolk, das Gottes Willen tut, nicht zu verlieren. Dazu müsste man aber den gemeinsamen Gesang der Gemeinde Gottes zum Lob Gottes als unverzichtbares Element des Gottesdienstes in der Schrift erkennen, und darin nicht nur verzichtbares Beiwerk sehen. Eine solche Untersuchung fehlt erstaunlicher Weise in den o. g. Ausführungen des Theologen und Musikers Liebi.

(2) Diesem anschließend muss ein Zweites untersucht werden. Wenn es denn eine Hierarchie in den Geboten Gottes gibt (so verstanden, wie Christus darüber lehrt): Ist Liebis Argumentation trefflich und richtig, wenn er das Lob und die Erhebung Gottes im gemeinsamen Lied der Gemeinde einer angeblichen Gesundheitssicherung der Gemeindeglieder unterordnet? Hinkt hier der Vergleich? Oder sind die Gewichte zur Abwägung der Alternativen biblisch anders verteilt? Liebi scheint dies keine Frage zu sein. Die Schrift sagt: »Doch du bist heilig, der du wohnst bei den Lobgesängen Israels.« (Psalm 22,4 ELBCSV 2003). Sie sagt vom Haupt der Gemeinde, dem Sohn Gottes: »Inmitten der Versammlung will ich dir lobsingen« (Hebräer 2,12b; vgl. Psalm 22,23 ELBCSV 2003). Dürfen wir den Lobgesang des Hauptes der Gemeinde, Christi, in und durch seine Gemeinde behindern mit Blick auf mögliche (und äußerst geringe) Gesundheitsgefahren? Galt dieses Prinzip des Primats der Gesundheit auch für die geheimen Versammlungen der verfolgten christlichen Gemeinden unter kommunistischen Regierungen, die stets konkrete Gefahr für Leib und Leben darstell(t)en? Man darf und muss sich an dieser Stelle doch einmal die Frage stellen, um Wen es in der Gemeinde Gottes geht, Wer im Mittelpunkt steht und unter Wessen Leitung der Gottesdienst steht. Viele Christen beantworten diese Frage anders als Liebi, siehe dazu z. B. hier. »Hauptsache gesund!« ist eine Prämisse, die man schwerlich in der Bibel als Leitprinzip der Gemeinde Jesu ausmachen kann.

(3) In Verbindung damit löst sich der Musiker Liebi (Studium von Klavier und Violine) leider auch vom biblisch begründeten, reformatorischen Verständnis des Gemeindegesangs und der Funktion der Gottesdienstmusik. Der Reformator Martin Luther betrachtete Musik als eine Gabe Gottes, die –gleich nach der Theologie eingeordnet– zum Nutzen der Gemeinde gegeben wurde. Musik war für ihn ein wichtiges Mittel, um den persönlichen und gemeinsamen Glauben miteinander öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Daher bediente sich Luther eingängiger Melodien und einfacher, allgemein verständlicher (also deutscher, nicht lateinischer) Texte. Gemeinsame Lieder sollten zuerst Gottes Lob und Anbetung dienen und ebenso gemeinsame Gebete der Gemeinde zu Gott sein. Mit dieser Motivation schrieb Luther metrische Versionen verdeutschter Psalmen, übersetzte Lieder der lateinischen Messe und darüber hinaus über drei Dutzend freie, biblisch fundierte Lieder. „Ein feste Burg ist unser Gott“ (1529; Anspielungen an Psalm 46), „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ (Psalm 130) sind bis heute Schatz der bibelgläubigen Gemeinden (vgl. auch seine Lieder zu Psalmen 12, 14, 67 und 124). Die Hymne „Ein feste Burg“  bezeugt das Vertrauen in Gott in Zeiten von Gefahr und Widerstreit gegen die Wahrheit Gottes. Man kann diese Hymne fast als gesungene Predigt über Psalm 46 auffassen. Christuszentrierte Predigt war stets das Anliegen Luthers, und er zeigt dies im Hymnus mit der berühmten Frage der zweiten Strophe: „Fragst du, wer der ist? Er heisst Jesus Christ“. So redet die Gemeinde in öffentlicher, hörbarer Weise glaubensstärkend mit Gott und zueinander. Die von Liebi angeführte klassische Stelle in Kolosser 3,16: »Lasst das Wort des Christus reichlich in euch wohnen, indem ihr in aller Weisheit euch gegenseitig lehrt und ermahnt mit Psalmen, Lobliedern und geistlichen Liedern, Gott singend in euren Herzen in Gnade« enthält ja nicht nur die vielleicht auf Sprach- und Musiklosigkeit deutende Passage „in euren Herzen“, sondern auch das öffentliche, laute gegenseitige Lehren und Ermahnen „mit Psalmen, Lobliedern und geistlichen Liedern“, welches nur als wahrnehmbar laute Veranstaltung gedacht sein kann.

Luther verstand, dass Text und Melodie/Musik zusammen gehören und daher gut gepaart im öffentlichen Gottesdienst einzusetzen sind. Seiner Meinung nach gilt als Grundsatz guter Komposition: „Die Noten machen den Text lebendig“, aber niemals können die Noten die Botschaft des Texts ersetzen. Bei der Kirchenmusik Johann Sebastian Bachs ist es vornehmste Aufgabe des Komponisten, das von der Kanzel gepredigte Wort im Kantatentext und durch die Mittel der Musikkomposition darzustellen und auszudeuten, und so das gesprochene Wort der Verkündigung zu begleiten und durch Präsentation und gemeinsames Bekenntnis (Choräle, meist Kirchenlieder) und Reflexion (Arien, Rezitative) zu verstärken. Bekannt ist die Übertreibung: »Bach ist der 5. Evangelist.« Leider ist heute diese integrative „Kirchenmusik“ zur alleinigen Anbetung Gottes (und Erquickung der Seele) aufgeteilt in eher spärlich-ärmlichen Gesang im Gottesdienst, dies zur Verehrung Gottes, und exzellente Kirchenkonzerte mit stark säkularer Prägung und anhaltender Verehrung der Darbietenden. Nehmen wir uns lieber ein Vorbild an solchen Gemeinden, die mit Herzblut Gemeindegesangspflege als Mittel zur Förderung des gemeinsamen Glaubenszeugnisses und zur gemeinsamen Verehrung Gottes im Sinne eines Soli Deo Gloria betreiben (Kolosser 3,16–17).

Die Predigt und Wortverkündigung (samt Lesung) durch Personen mit entsprechenden Geistesgaben und Ämtern war nach Luther also nicht die einzige Weise, mit der das Evangelium in der Gemeinde verkündet wird. Er sah vielmehr die Gemeinde einbezogen in die Bezeugung und Verkündigung der Wahrheit des Evangeliums. Die Versammelten sind nach seinem Verständnis nicht rein passive Zuhörer, Beobachter und Empfänger des Gottesdienstes, sondern miteinander auch aktive Teilnehmer, insbesondere im gemeinsamen Lied und Gebet. Für Luther war dies ein unverzichtbarer Teil des Gottesdienstablaufs. Im Gegensatz zur römisch-katholischen Tradition kümmerte sich Luther darum, dass auch „einfache Leute“ und junge Menschen aktiv in den gemeinsamen Gottesdienst in Familie und Kirche eingebunden wurden. Daher förderte er die Polyphonie, bei der sich jeder entsprechend seiner/ihrer Stimmlage einbringen konnte, zudem auch choralähnliche Kompositionen, die einstimmig und im Stil der Volksmusik didaktisch komponiert waren. Der mehrstimmige gemeinsame Gesang im Gottesdienst kann biblisch bis in die Zeit Asaphs unter König David rückverfolgt werden (z. B. 1. Chronik 15,17–22; 2. Chronik 5,11–14): »Als die Leviten, die Sänger, sie alle, … mit Zimbeln und mit Harfen und Lauten auf der Ostseite des Altars standen, und mit ihnen 120 Priester, die mit Trompeten schmetterten – es geschah, als die Trompeter und die Sänger wie ein Mann waren, um eine Stimme ertönen zu lassen, den HERRN zu loben und zu preisen, und als sie die Stimme erhoben mit Trompeten und mit Zimbeln und mit Musikinstrumenten und mit dem Lob des Ewigen, weil er gut ist, weil seine Güte ewig währt: da wurde das Haus, das Haus des Ewigen, mit einer Wolke erfüllt.« (2. Chronik 5:12-13). Das gemeinsame Lied war für Gottes gerettetes Volk Ausdruck ihres gemeinsamen Glaubens und dankbaren Gotteslobes: »Er … erlöste sie aus der Hand des Feindes. … Da glaubten sie seinen Worten, sie sangen sein Lob.« (Psalm 106, 10–12). »Damals sangen Mose und die Kinder Israel dem HERRN dieses Lied und sprachen so: Singen will ich dem JHWH, denn hoch erhaben ist er; … Meine Stärke und mein Gesang ist Jah, denn er ist mir zur Rettung geworden; dieser ist mein Gott, und ich will ihn verherrlichen, meines Vaters Gott, und ich will ihn erheben.« (Das Lied des Mose, 2.Mose 15,1–2).

Die Entartung des Gottesdienstes zu reinen Musikveranstaltungen und Theateraufführungen unter der römisch-katholischen Kirchenkultur (und deren Rückschnitt gemäß den Forderungen des gegenreformatorischen Konzils von Trient 1562) zeigt auf, dass man immer von beiden Seiten vom Pferd fallen kann. Der italienische Komponist der Renaissance Giovanni Pierluigi da Palestrina (ca. 1525–1594) rettete den polyphonen Gesang in der röm.-kath. Kirche. Der Schweizer Reformator Huldrych Zwingli (1484–1531) hingegen widerstand unter dem Eindruck des Missbrauchs zeitlebens dem Gebrauch von Musikinstrumenten im Gottesdienst, obwohl er persönlich und zuhause ein großer Freund und Förderer der gemeinsamen Musik war. Zum Glück und Segen der Nachgeborenen konnte sich seine Ablehnung der Musik zur Verehrung Gottes im Gottesdienst nicht dauerhaft durchsetzen. Abusus non tollit usum.

(4) Der Beitrag Luthers zur Förderung des gemeinsamen Liedes der Gemeinde im Gottesdienst als freudige Glaubensbezeugung und ausdrucksstarkes Gebet war einer der bedeutendsten Beiträge der Reformation. Es ist schade und traurig, wenn dies aktuell nach wenigen Monaten der Oppression seitens bestimmter staatlicher Stellen kampflos aufgegeben wird. Viele Gerichtsurteile bis auf die Ebene der Verfassungsgerichte haben inzwischen solche Oppressionen mangels Verhältnismäßigkeit, Begründung, Wirksamkeit o. a. zurückgewiesen oder eingeschränkt. Wir dürfen für die Gewaltenteilung an dieser Stelle also dankbar sein. Liebis Argument, dass Gesundheit und Leben eines Menschen vor (allen?) anderen Geboten der Schrift Vorrang habe, muss jedoch nach biblischer Überprüfung auch mit Maß und Zahl bewertet werden. Ansteckung ist niemals auszuschließen, wenn sich Menschen real treffen und nicht-virtuell und ohne seuchenhygienische Distanzierung Gemeinschaft pflegen. Also ist es eine Frage der Risikoabwägung, des praktischen Glaubens und der Wahl angemessener Verhaltensregeln. Vor diesem Hintergrund ist es bedenklich, wenn man bei Liebi hören muss, dass er sich der maßlosen Übertreibung bedient, indem er die Maßnahmen wegen COVID-19 (Sterberate weltweit zur Zeit 0,031%; Feb. 2021) mit Maßnahmen gegen das Ebolavirus (initiale Sterberate am Fluss Ebola 88%; im Kongo bis Juni 2020 66%; Varianz lt. WHO 25%–90%; Liebi spricht von »7 aus 10«) vergleicht. Da werden also Dinge verglichen, die mindestens drei Größenordnungen auseinander liegen. Dieser Mangel an Wahrheit und Verhältnismäßigkeit hilft sicher nicht dabei, seine Schlussfolgerungen und Handlungsvorschläge dem Mitdenkenden einsichtig zu machen.

Das vernachlässigte Auslegungsproblem zum biblischen Mandat des modernen Verfassungsstaates

Die Interpretation und Anwendung der Lehrtexte des Neuen Testaments zum Mandat (Beauftragung/Weisung von höherer Stelle mit vorgegebener Rolle und Autorität) der »obrigkeitlichen Gewalten« nach Römer 13,1–7, der »Obrigkeiten und Gewalten« nach Titus 3,1 und der »menschlichen Einrichtungen« nach 1. Petrus 2,13–17 für die heute gegebene Situation von demokratischen Verfassungsstaaten bedarf dringend sorgfältiger Exegese- und Transferarbeit. In unseren demokratischen Staaten wird die Staatsgewalt meist dem Volk zugeordnet. Liebi ist wohl Schweizer, aber der oben angeführte Beitrag von ihm wird auf einer deutschen Website ohne weiteren Kommentar zum Ursprungsort dargestellt und vom Veröffentlicher für die deutsche Situation verwendet. Tippen wir nur ein paar Dinge für den Bereich der BRD an, die in den Ausführungen Liebis völlig übersehen oder übergangen werden. (Überlegungen zur speziellen Rechtslage in der Schweiz oder den Vereinigten Staaten von Amerika wären an anderer Stelle anzustellen.)

Zuerst einmal haben wir es bei der BRD mit einem modernen demokratischen Staatswesen zu tun, nicht mit dem römischen Nero-Kaiserreich vor 2.000 Jahren: »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.« (GG Art 20 (1)). Hier gilt: »Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus.« (GG Art 20, (2)). Der Souverän (Unumschränkte) in der BRD ist also nicht der Kaiser, sondern das Volk. Die hier als Grundgesetz verankerte Volkssouveränität bedeutet: »Jede staatliche Machtausübung muss durch das Volk legitimiert sein. … Die Amtsinhaber sind dem Volk bzw. seinen Repräsentanten verantwortlich und können aus ihrem Amt entfernt werden.« (DDD, S. 7). Das Volk übt seine Staatsgewalt »in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung aus« (Art 20 (2)). In diesem Satz ist die geltende Gewaltenteilung bereits enthalten. Dieses alles ist wesensmäßig anders, als es im römischen Reich des 1. Jhdt. nach Christus war. Auch so zu reden, als sei die amtierende Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel gleichzusetzen mit Kaiser Friedrich I Barbarossa oder Kaiser Wilhelm I. Friedrich Ludwig von Preußen, ist weder überzeugend noch für unsere Situation heute hilfreich.

»Grundrechte schützen den Freiheitsraum des Einzelnen vor Übergriffen der öffentlichen Gewalt, es sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Zugleich sind sie Grundlage der Wertordnung der Bundesrepublik Deutschland, sie gehören zum Kern der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes.Menschenrechte sind überstaatliche Rechte, sie gehören zur Natur des Menschen, es sind natürliche, angeborene Rechte. Dazu gehören die meisten Freiheitsrechte oder Grundfreiheiten, wie Freiheit der Person, Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit.« (DDD, S. 15). Kommt es zu Verletzungen der Grundrechte eines Bürgers der BRD, so gilt: »Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.« (Art 19 (4)). Auch dies war im Römischen Reich  so allgemein nicht gegeben, Privilegierte konnten sich hingegen auf Sonderrechte berufen. Für einen Deutschen gilt also, dass die Beschreitung des Klageweges keine „Auflehnung“ oder mangelnde Unterordnung gegenüber »Denen in Hoheit« ist, sondern vielmehr sein Recht und ggf. seine moralische Pflicht als Bürger. »Jeder Bürger hat das Recht, bei einer Verwaltungsbehörde einen förmlichen Widerspruch einzureichen, wenn er sich durch deren Maßnahmen zu Unrecht belastet bzw. in seinen Rechten unmittelbar und persönlich verletzt sieht. Führt der Widerspruch nicht zum Erfolg, hat der Bürger das Recht, die Gerichte anzurufen. Diese Rechtsweggarantie beseitigt die „Selbstherrlichkeit der vollziehenden Gewalt im Verhältnis zum Bürger“ (Bundesverfassungsgericht), der Einzelne steht nicht als „Untertan“ einer nach Belieben handelnden „Obrigkeit“ gegenüber« (DDD, S. 28).

Jeder Bürger ist den für ihn geltenden Gesetzen unterworfen, hingegen nicht per se bestimmten Einzelpersonen (für Soldaten, Arbeitnehmer u.a. gelten (auch) andere Normen). In der BRD gilt: »die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet« (Art 4, (2)). »Die Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.« (Art 8, (1)). Solange dies nicht unter freiem Himmel erfolgt, vermerkt das GG keine Möglichkeit, dies durch Gesetz einzuschränken, außer man missbraucht dieses Recht zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, was wohl bei einer Gemeinde des Christus nicht gegeben ist. Art. 19 nennt weiteres. 

Der Begriff der „Obrigkeit“ ist dem Text des GG fremd (und nicht enthalten), ebenso die Begriffe „Autorität“, „Untertan“ oder „Gehorsam“. Der Begriff „hoheitlich/Hoheit“ taucht vielfach auf und bezeichnet Aufgaben und Rechte des Staates als solchem, die aber auch zwischenstaatlichen Institutionen oder Einzelnen, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis zum Staat stehen, übertragen werden können. Das wirtschaftlich aufstrebende Bürgertum hat im GG die Prinzipien des liberalen Rechtsstaats »im Kampf gegen den monarchischen Obrigkeitsstaat, der die Bürger als Untertanen bevormundete, durchgesetzt« (DDD, S. 26). Mit Verwendung des biblischen Ausdrucks der „Obrigkeit“ bei der Diskussion der Grundordnung und Grundrechte der Bürger der BRD besteht also zumindest gründlicher Erklärungs- und Definitionsbedarf, der von Liebi (und Ähnlichdenkenden) nicht geliefert wird.

Der zivilreligiöse Aspekt des heute meist säkular interpretierten Grundgesetzes kommt vor allem in seiner Präambel zum Ausdruck. Dort wurde von den Verfassern angesichts der grausamen Ursachen, Taten und Folgen des 2. Weltkrieges formuliert, dass sich das Deutsche Volk »Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen« dieses GG gegeben habe. Welcher Gott gemeint ist, und wie der Atheist damit umzugehen hat, wird heute offen gelassen. Wie soll aber eine Verantwortung real und greifbar sein, wenn die Instanz nicht geklärt ist? Weiter steht, dass das GG »für das gesamte Deutsche Volk« gelte. Die Deutschen in der sowjetischen Besatzungszone, späterer DDR, waren mitgemeint, aber nicht miteingebunden, vielmehr wurden sie ca. 40 Jahre später bloßes Beitrittsgebiet (Anhang EV von 1990). Das GG funktioniert mangels Verfassung, wie freie Völker sie sich selbst geben (vgl. Art. 146), praktisch wie eine solche und verwendet den Begriff im Text auch vielfach. Die Präambel des GG ist also als Versuch zu werten, das aufzurufen, was Grundlage zum Funktionieren jeder Demokratie ist, was aber die Demokratie selbst weder liefern noch sichern kann. Ob die Regierung der BRD sich heute im Mandat seitens Gottes und in konkreter Verantwortung vor Gott (dem Gott, den die Grundgesetzschreiber 1949 meinten!) sieht, muss mangels Bekenntnis und Evidenz wohl verneint werden. Wenigstens hier ist eine Parallele zum alten römischen Reich zur Zeitenwende.

Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass die Situation und Rechtsstruktur im demokratischen Staatswesen der BRD eine völlig andere ist, als zur Zeit des Paulus im Römischen Reich, und dass dies in den Ausführungen von Liebi leider überhaupt nicht bedacht wird. Er nennt zwar den historischen Kontext zu Paulus Zeiten unter Nero (was für das Verstehen der damaligen Ermahnungen des Paulus unverzichtbar wichtig ist), aber bleibt nach dieser Betrachtung in der Luft hängen. Er schafft es nicht, biblische Vorgaben korrekt in die tatsächliche, aktuelle Situation seiner Zuhörer, die so sehr unähnlich zu der des Ursprungstextes ist, hinein zu denken. So zu tun, als sei unsere Rechtssituation vergleichbar mit der Zeit des Römischen Reiches unter Kaiser Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus, muss als falsch und irreführend beklagt werden. Das selbe gilt, wenn wir die politischen Veränderungen ignorieren oder als irrelevant beurteilen. Dieses staatswissenschaftliche wie pastorale Zukurzspringen schreit nach sorgfältiger Grundlagenarbeit: Wie sind die Bibeltexte aus einer Kaiserreichskultur in unser demokratisches Staatswesen zu übertragen, wo es nicht länger „Untertane“ gibt, sondern wahlberechtigte, mündige und verantwortliche Bürger, denen als Volk grundgesetzlich die Staatsgewalt und Souveränität im Staat zugeordnet ist?

Die besondere deutsche Situation

Es mag sein, dass Christen in Deutschland mit größerer Sorgfalt als andere Nationen bedenken sollten, dass es in ihrem Land vor nicht allzu langer Zeit „deutsche Christen“ gab, die dem braunen Regime mit seiner brutal-heidnischen Religion mit feigem Schweigen, stiller Duldung bis hin zu enthusiastischer Führertreue begegneten. Die damaligen Argumente der Kirche zur Vertretung von „Staatstreue“ und „Führergehorsam“ sollten in unseren Gewissen brennend beständiges Mahnmal sein. Der evangelische Theologe (!) Emanuel Hirsch schrieb z. B. nach der Machtergreifung Hitlers: »Kein einziges Volk der Welt hat so wie das unsere einen Staatsmann, dem es so ernst um das Christliche ist; als Adolf Hitler am 1. Mai seine große Rede mit einem Gebet schloß, hat die ganze Welt die wunderbare Aufrichtigkeit darin gespürt.« (Emanuel Hirsch, Das kirchliche Wollen der Deutschen Christen (Berlin-Charlottenburg, 1933), S. 24. Lt. de.wikipedia.org trat Hirsch 1937 in die NSDAP ein, wurde förderndes Mitglied der SS und denunzierte Kollegen und Studenten.). Besser kann man die Verführtheit und Perversion der Christen in ihrem Verhältnis zu Gott und Staat nicht dokumentieren. Müssen wir heute wieder die Notwendigkeit für eine „Bekennende Kirche“ konstatieren?

Zur Veranschaulichung der „deutschen Erblast“ sei anekdotisch ein Blick auf Wilhelm Stücher (1898–1969) aus Eiserfeld (Siegen) eingefügt, der im Gegensatz zu vielen anderen deutschen Christen in Kirchen und Freikirchen den antichristlichen Charakter des Nationalsozialismus schon früh durchschaute, entsprechend redete, lehrte und handelte und folglich zahlreiche Oppressionen und Strafen seitens der „Obrigkeit“ erduldete: Die Propaganda der Parteileute stellte ihn als »Volksverräter« dar, die Gestapo spionierte ihn aus, bedrohte ihn und beschlagnahmte alle seine Schriften. Kirchenintern verwies ihn ein führender Mann auf »die Pflicht des Christen zum Gehorsam gegenüber der Obrigkeit« hin. Eine angemessene Berücksichtigung der clausula Petri (Apostelgeschichte 4,19; 5,29) vermisste man leider auch damals schon, entsprechenden Mangel muss man auch bzgl. einer trefflichen Auslegung und Anwendung von Römer 13 beklagen. In seinen Erinnerungen (nach Tonbandaufzeichnungen, Eiserfeld, 1972) liest man, dass Stücher z. B. eine Beteiligung an den Reichstagswahlen 1933 kategorisch ablehnte: Die Schrift spreche nicht davon, »die Obrigkeit tatkräftig zu unterstützen«, sondern ihr unterworfen zu sein, was einen beträchtlichen Unterschied darstelle.

Stüchers Ausführungen zum Widerstandsrecht gehören zum Besten, was je von Mitgliedern der sog. „Brüderbewegung“ in Deutschland verfasst wurde: Die Autorität und Macht der „Obrigkeit“ sei ihr von Gott gegeben, wobei nicht gesagt sei, dass jede obrigkeitliche Institution von Gott eingesetzt sei. Das haben heute offenbar einige wieder vergessen. Stücher meinte, der Christ solle die obrigkeitliche Gewalt allgemein anerkennen, so wie er Gottes Autorität anerkenne. Gott habe jedoch der Obrigkeit Grenzen zugeordnet, wie sie in Römer 13,7 zu lesen sind: »Gebt allen, was ihnen gebührt: die Steuer, dem die Steuer, den Zoll, dem der Zoll, die Furcht, dem die Furcht, die Ehre, dem die Ehre [gebührt].« »Wenn sie diese Grenzen überschreite und in einen Bereich vordringe, den Gott, der allein Autorität über die Gewissen habe, sich selbst vorbehalten habe, heiße es zu widerstehen, was die Heiligen zu allen Zeiten getan hätten.« Er warnte die „Brüder“ seiner Glaubensgemeinschaft, nicht zur Hure des Staates zu werden, wie es die Bekennende Kirche in Deutschland bereits mutig formuliert hatte. Dergestalt klar biblisch positioniert erklärte er einmal einem Vernehmungsbeamten, der ihn mit Gefängnisandrohung einschüchtern wollte: »Ich möchte lieber mit gutem Gewissen im Gefängnis sein als mit schlechtem Gewissen in Freiheit.« Er erläuterte später in seinen Erinnerungen: »„Staatsbejahung“ [die der Staat und Bundesleiter Dr. Becker forderte] … war nicht das, was nach Römer 13 jedem Christen oblag, sondern bedeutete eine Bejahung des Nazi-Regimes! – und das war gottlos, antichristlich.« (Quelle: Volker Jordan, Die »Christliche Versammlung« in Deutschland von den Anfängen bis 1945, 3. Auflage, 2006; zit. n. PDF-Ausgabe, S. 64ff.) Einigen Pastoren und Missionaren ergeht es in der Welt des Jahres 2021 bereits ähnlich, nicht nur im Morgen-, sondern auch im Abendland. Antichristliche Oppression kennzeichnet sowohl braune wie rote, sozialistische wie kapitalistische Ideologien.

Widerstand gegen Übergriffe des Staates in die Meinungs-, Religions- und Versammlungsfreiheit des Menschen wird auf beiden Seiten schnell missverstanden: die einen wollen den politischen oder weltanschaulichen Gegner dämonisieren, die anderen die Beweggründe des andersdenkenden „Glaubensbruders“ diskreditieren. Verweigerung gegenüber übergriffigen Anordnungen eines säkularen oder andersgläubigen Staates bedeutet für den Christen aber nie die Flucht in die Anarchie, sondern Anerkennung, dass da Ein Höchster ist, der auch Oberstes Haupt seiner Gemeinde wie auch Mandatsgeber aller staatlichen Autorität und Gewalt ist. Der Gehorsam gegenüber Jesus Christus, dem Sohn Gottes, zwingt den Christen vielleicht ins Gefängnis oder in die Hand staatlich sanktionierter oder eigenmächtiger Mörder (wie die Inquisitionsgeschichte und noch heute manche muslimischen Länder zeigen), jedenfalls aber auf die Knie vor dem Allmächtigen, der in Seiner Autorität alles regiert und erhält und in Seiner Vorsehung alles lenkt und leitet. Die Psalmen geben uns hier gute Ausdrucksmittel des Glaubens, der Prophet Daniel beeindruckendes Anschauungsmaterial, der Apostel Petrus praktischen Lehrunterricht. Die Hoffnung auf eine vollkommene Regierung und ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit bleibt dem Glaubenden für Christi Reich reserviert und fixiert.

Eine Vordenker-Stimme der Kirche der Reformation

Johannes Calvin hatte sich angesichts der Verweigerung der Religionsfreiheit durch den Staat intensiv mit den biblischen Texten und damaligen Gegebenheiten beschäftigt. Er lebte ja selbst noch in einer Zeit der Könige und Kaiser und lehrte dementsprechend: »Die Schrift … betont … ausdrücklich, es sei die Vorsehung göttlicher Weisheit, daß die Könige herrschen, und gebietet uns besonders, den König zu ehren (Sprüche 8,35; 1. Petrus 2,17).« (Institutio, IV, 20, 7). Calvin war jedoch auch bei den besten Lehrern und Vordenkern Frankreichs in die Lehre gegangen: Erasmus, Le Fevre, Wolmar, Rabelais und Peter de L’Etoile, seinem Lehrer in Orleans. Schon zwei Jahrhunderte vor Montesquieus Idee der Gewaltenteilung führte er in der Stadt Genf den republikanischen Grundsatz ein, dass mehrere Ratsversammlungen sich gegenseitig kontrollierten, damit niemals Macht zentralisiert und damit unausweichlich Tyrannei gefördert würde (1543). Die Räte wurden von den Bürgern für eine begrenzte Amtszeit gewählt, wobei die Liste der wählbaren Kandidaten vom Rat vorbereitet wurde. Die Gewählten mussten sich regelmäßig vor dem Volk verantworten. Dies alles sind wichtige Grundelemente der Demokratie. Calvin verband so Ideale der Aristokratie (Herrschaft aufgrund charakterlicher Exzellenz) mit Idealen der Demokratie (Herrschaft aufgrund der Freiheitsidee). Während seiner Zeit in Basel musste er erfahren, dass etliche französische Protestanten von ihrem Staat (!) lebendig verbrannt worden waren. Calvin lag es daher sehr am Herzen, jede Form der Tyrannei zu verhindern. Seine Regelungen in Genf erwuchsen unmittelbar aus dem biblisch-realistischen Menschenbild, dass der Mensch in seiner Gefallenheit zu übelstem Machtmissbrauch fähig ist, und aus dem biblischen Mandat des Staates nach Calvins Verständnis. Viele seiner späteren Ideen wurden auch politisch in der Schweiz und später in der Republik der USA umgesetzt. (John T. McNeill: Calvin’s Ideas Still Politically Relevant Today. In: Robert M. Kingdom, Robert D. Linder: Calvin and Calvinism: Sources of Democracy? (Lexington, MA: D. C. Heath and Company, 1970), S. 72–76.)

Zur Frage der geeignetsten Staatsform hatte sich Calvin also gründliche Gedanken gemacht und diese in seiner Institutio (Buch IV, Kap. 20 Vom bürgerlichen Regiment, 8) niedergelegt. Die Frage nach der besten Staatsform ist außerhalb der Überlegungen an dieser Stelle. Seine klaren Aussagen dazu (unten meist mit Fettdruck markiert) sind jedoch für die heute wieder notwendige Diskussion der Rolle und des Mandates des Staates nach Römer 13 fruchtbar. »Freilich, wenn man jene drei Regierungsformen, die die Philosophen aufstellen (Monarchie, Aristokratie, Demokratie) an und für sich betrachtet, so würde ich durchaus nicht leugnen, daß die Aristokratie oder ein aus ihr und der bürgerlichen Gewalt gemischter Zustand weit über allen anderen steht, zwar nicht aus sich heraus, sondern weil es sehr selten vorkommt, daß die Könige sich so viel Maß auferlegen, daß ihr Wille niemals von Recht und Gerechtigkeit abweicht, und weil sie ferner auch sehr selten mit solchem Scharfsinn und solcher Vorsicht begabt sind, daß jeder einzelne König soviel sieht, wie es zureichend ist. So bringt es also die Gebrechlichkeit und Mangelhaftigkeit der Menschen mit sich, daß es sicherer und erträglicher ist, wenn mehrere das Steuerruder halten, so daß sie also einander gegenseitig beistehen, sich gegenseitig belehren und ermahnen, und wenn sich einer mehr als billig erhebt, mehrere Aufseher und Meister da sind, um seine Willkür im Zaume zu halten. Das hat einerseits die Erfahrung selbst allezeit bewiesen, andererseits hat es auch der Herr mit seiner Autorität bekräftigt, indem er bei den Israeliten, als er sie, bis er in David das Ebenbild Christi hervortreten ließ, in dem bestmöglichen Zustande halten wollte, eine Aristokratie einrichtete, die an die bürgerliche Regierungsform angrenzte. Und wie ich gerne zugebe, daß es keine glücklichere Art der Regierung gibt als die, wo die Freiheit die gebührende Mäßigung erfährt und in rechter Weise auf beständige Dauer eingerichtet ist, so halte ich auch die für die glücklichsten, denen es erlaubt ist, diesen Zustand zu genießen, und gebe zu, daß sie nichts tun, was ihrer Pflicht nicht entspräche, wenn sie sich wacker und beständig bemühen, ihn zu bewahren und aufrechtzuerhalten. Ja, die Obrigkeiten müssen mit höchster Anstrengung danach streben, daß sie es nicht zulassen, daß die Freiheit, zu deren Beschützern sie eingesetzt sind, in irgendeinem Stück gemindert, geschweige denn verletzt wird; wenn sie dabei zu nachlässig sind oder zu wenig Sorgfalt walten lassen, dann sind sie treulos in ihrem Amte und Verräter an ihrem Vaterlande.«

Calvin fährt fort (IV, 20, 9): »Nun haben wir an dieser Stelle noch kurz darzulegen, was für eine Amtspflicht die Obrigkeit nach der Beschreibung des Wortes Gottes hat und in welchen Dingen diese besteht. Daß sich diese Amtspflicht auf beide Tafeln des Gesetzes erstreckt, das könnte man, wenn es die Schrift nicht lehrte, bei den weltlichen Schriftstellern erfahren. Denn keiner hat über die Amtspflicht der Obrigkeiten, über die Gesetzgebung und die öffentliche Ordnung Erörterungen angestellt, der nicht mit der Religion und der Gottesverehrung den Anfang machte. Und so haben sie alle bekannt, daß keine bürgerliche Ordnung glücklich eingerichtet werden kann, wenn nicht an erster Stelle die Sorge für die Frömmigkeit steht, und daß alle Gesetze verkehrt sind, die Gottes Recht beiseite lassen und allein für die Menschen sorgen. Da also bei allen Philosophen die Religion auf der höchsten Stufe steht und man das auch allezeit bei allen Völkern in allgemeiner Übereinstimmung so gehalten hat, so sollten sich christliche Fürsten und Obrigkeiten ihrer Trägheit schämen, wenn sie sich dieser Fürsorge nicht mit Eifer widmen wollten. Auch haben wir bereits gezeigt, daß ihnen diese Aufgabe von Gott in besonderer Weise auferlegt wird, wie es ja auch billig ist, daß sie ihre Mühe daran wenden, die Ehre dessen zu schützen und zu verteidigen, dessen Statthalter sie sind und durch dessen Wohltat sie ihre Herrschaft innehaben. Deshalb werden auch die heiligen Könige in der Schrift ausdrücklich deshalb aufs höchste gepriesen, weil sie die verderbte oder hinfällig gewordene Verehrung Gottes wiederhergestellt oder für die Religion Sorge getragen haben, damit sie unter ihnen rein und unbeeinträchtigt blühte.«

Und letztlich noch hier (IV, 20, 31): »Aber wie man auch die Taten der Menschen selbst beurteilen mag, so führte der Herr doch durch diese Taten gleichermaßen sein Werk aus, indem er das blutige Zepter schamloser Könige zerbrach und manch unerträgliche Herrschaft stürzte. Das sollen die Fürsten hören – und darob erschrecken!

Wir aber sollen uns unterdessen nachdrücklichst hüten, diese Autorität der Obrigkeit, die mit verehrungswürdiger Majestät erfüllt ist und die Gott durch die ernstesten Gebote bekräftigt hat, zu verachten oder zu schänden – selbst wenn sie bei ganz unwürdigen Menschen liegt und bei solchen, die sie durch ihre Bosheit, soviel an ihnen ist, mit Schmutz bewerfen! Denn wenn auch die Züchtigung einer zügellosen Herrschaft Gottes Rache ist, so sollen wir deshalb doch nicht gleich meinen, solche göttliche Rache sei uns aufgetragen – denn wir haben keine andere Weisung, als zu gehorchen und zu leiden.

Dabei rede ich aber stets von amtlosen Leuten. Anders steht nun die Sache, wo Volksbehörden eingesetzt sind, um die Willkür der Könige zu mäßigen; von dieser Art waren z.B. vorzeiten die „Ephoren“ [fünf Aufsichtsbeamte im antiken Sparta, die jedes Jahr neu gewählt wurden], die den lakedämonischen Königen, oder die Volkstribunen, die den römischen Konsuln, oder auch die „Demarchen“, die dem Senat der Athener gegenübergestellt waren; diese Gewalt besitzen, wie die Dinge heute liegen, vielleicht auch die drei Stände in den einzelnen Königreichen, wenn sie ihre wichtigsten Versammlungen halten. Wo das also so ist, da verbiete ich diesen Männern nicht etwa, der wilden Ungebundenheit der Könige pflichtgemäß entgegenzutreten, nein, ich behaupte geradezu: wenn sie Königen, die maßlos wüten und das niedrige Volk quälen, durch die Finger sehen, so ist solch ihr absichtliches Übersehen immerhin nicht frei von schändlicher Treulosigkeit; denn sie verraten ja in schnödem Betrug die Freiheit des Volkes, zu deren Hütern sie, wie sie wohl wissen, durch Gottes Anordnung eingesetzt sind!«

Weiter betonte Calvin die stete Oberherrschaft Christi, die nicht nur über Seiner Kirche, sondern auch über alle säkularen Staaten und „Obrigkeiten“ besteht. Die „Obrigkeit“ muss, wenn sie im Rahmen ihres göttlichen Mandats bleiben will, den Willen Gottes als höchsten beachten, wenngleich in der Amtsausführung keine Perfektion verlangt werden kann (IV, 20, 32): »Aber bei diesem Gehorsam, der, wie wir festgestellt haben, den Weisungen der Oberen zukommt, ist stets eine Ausnahme zu machen, ja, es ist vor allem anderen auf eines zu achten, nämlich daß er uns nicht von dem Gehorsam gegen den wegführt, dessen Willen billigerweise aller Könige Begehren untertan sein muß, dessen Ratschlüssen ihre Befehle weichen und vor dessen Majestät ihre Zepter niedergelegt werden müssen. Und wahrlich, was wäre das für eine Torheit, wenn man, um den Menschen Genüge zu tun, den zu beleidigen unternähme, um des willen man eben den Menschen gehorcht? Der Herr also ist der König der Könige, und wo er seinen heiligen Mund aufgetan hat, da muß er allein vor allen und über alle gehört werden; dann sind wir auch den Menschen unterstellt, die uns vorgesetzt sind, aber allein in ihm. Wenn sie etwas gegen ihn befehlen, so ist dem kein Raum zu gönnen und zählt es nicht.«

Zum guten Schluss

Es mag sein, dass eine anti-calvinistische Einstellung selbst einem Bürger eines Landes der Reformation den Blick auf jene großartigen und seiner Zeit weit vorauseilenden Ideen des Schweizer Reformators Calvin zur Rolle und zum Mandat des Staates verhüllt.

Halten wir es doch mit dem alten Reformator Luther, der uns den Herzenskompass und die Blicke wieder auf das Zentrum alles Seins und aller wahren Freude richtet, und uns den Mund zum gemeinsamen, öffentlichen Singen zur Ehre Gottes öffnet:

Nun frewdt euch lieben Christen gemayn
Und laßt uns fröhlich spryngen
Das wir getröst unnd all in eyn
Mit lust unn lyebe singen

Was Gott an unns gewendet hatt
Und seyn syesse wunder thatt
Gar theuwr hatt ers erworben.

Martin Luther (1483–1546) 1523. Text nach dem Wittenberger Achtliederbuch (1524). Hauptlied am Reformationstag.

Einige Quellen zum Weiterlesen und Anhören

Grundlagen. Nachdem einige Schreiber und Redner deutliche Kenntnismängel über das Grundgesetz der BRD, wie es „funktioniert“ und wie es zu verstehen ist, haben, sei das Grundgesetz selbst und folgendes Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung als Erstlektüre empfohlen:

  • [DDD] Dossier Deutsche Demokratie der Bundeszentrale für politische Bildung, 2010 (www.bpb.de; PDF). Die Texte stammen von Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarb. u. akt. Aufl., Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2009.
  • Die Bundeszentrale hat eine Reihe von Lernmaterialien für den Unterricht über das Grundgesetz auf ihrer Website. Es wäre empfehlenswert und respektfördernd, sich mit den Grundlagen der Materie vertraut zu machen, bevor man darüber redet oder schreibt.

Die auf allerlei Ebenen der „Obrigkeit“ veranlassten Beschränkungen betreffs der Gottesdienste (Religions- und Versammlungsfreiheit) hat die berechtigte Sorge ausgelöst, ob durch die unterschiedlichen Beurteilungen der Situation innerhalb der Gemeinden nicht eine Gefährdung der inner- und intergemeindlichen Einheit der Christen darstellt. Dies ist wohl leider zu bejahen. Auch hier sollte man sich die alte Gerichtsfrage stellen: Cui bonoWem nützt es?

Folgende zwei Stellungnahmen aus Deutschland sind lesenswert, weil sie die unterschiedlichen Sichtweisen und Einstellungen im Freikirchenbereich deutlich zu erkennen geben. Die besseren Argumente hat wohl das Papier der ERB Frankfurt, das lehrhafte Fundament dazu liefert die ebenfalls angegebene Predigt von T. Riemenschneider:

  • Jesus im Mittelpunkt behalten – trotz Corona (backup PDF) von Michael Kotsch u.a. vom 04.01.2021, der auch in der Zeitschrift der KfG veröffentlicht wurde.
  • Jesus im Mittelpunkt behalten – trotz Corona. Biblische Widerlegung des Thesenpapiers „Jesus im Mittelpunkt behalten – trotz Corona“ (PDF) der ERB Frankfurt vom 09.03.2021.
  • Unterordnung und Widerstand (Römer 13, 1–7) (Video auf YouTube) – Eine sehr empfehlenswerte Predigt von Tobias Riemenschneider zu einem der am häufigsten missbrauchten Texte zum Thema „Christ und Staat“

Nach Erscheinen dieses BLOGS hat sich ein sehr guter, anonymer Diskussionsbeitrag in der Zeitschrift „fest und treu“ (No. 173, 01/2021) mit dem beängstigend geschichtsblinden vorlaufenden Gehorsam in allerlei Gemeindekreisen gegenüber „obrigkeitlichen“ Anordnungen unserer Zeit beschäftigt.

Die verfassungsmäßige Fehlbehandlung durch Angehörige des Bundestags wird in folgendem Beitrag von Professor Lepsius deutlich:

  • Das verfassungsrechtliche Argument hat es schwer von Prof. Dr. Oliver Lepsius, LL.M. (Chicago), Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verfassungstheorie an der WWU Münster, als Gastbeitrag für die Legal Tribune Online (LTO) vom 05.02.2021.

Die Diskussion von »Kirche und Staat in Deutschland« ist u. a. seit vielen Jahren Gegenstand der sog. Essener Gespräche (s. insbes. Essener Gespräche 39 (2005)). Es muss daran erinnert werden, dass die Situation in Deutschland bezüglich des Kirchenrechts eine besondere ist, und dass die Vorgaben der Weimarer Verfassung (WRV) bezüglich der gleichzeitigen Trennung und Kooperation von Kirche und Staat in einem säkularen freiheitlichen Staat ohne Staatskirche(n) explizit in das Grundgesetz übernommen wurden (Art. 140 GG: »Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.«). Das GG schließt mit der Neutralität des Staates einerseits eine Staatskirche für die BRD aus, andererseits realisiert es keinen laizistischen Staat (wie z. B. Frankreich). Religion darf auch im öffentlichen Raum sichtbar sein (und die Prägung der Rechtskultur der BRD durch das Christentum ist immer noch wahrnehmbar), aber der deutsche Staat legitimiert sich und sein Recht nicht mehr unter Bezugnahme auf die christliche (oder eine andere) Religion. Das aus der Wahrheit der Heiligen Schrift entnommene Mandat des Staates („Obrigkeit“) seitens Gottes wird im Prinzip vom Staat geleugnet, die »Verantwortung vor Gott« (Präambel des GG) ist damit eine leere Formel.

Gottesanmaßung #1. Insofern der Staat sich für das „irdische Heil“ seiner Bürger zuständig erklärt (die Kirchen wirken arbeitsteilig für das „himmlische Heil“, dürfen sich aber auch in Diakonie/Caritas und Ausbildung engagieren), und den Wohlfahrtsstaat als säkularisierte Heilsveranstaltung anstrebt, haben wir es mit einer Form der Zivilreligion zu tun. Böckenförde schreibt dazu: »Der Staat, auf die inneren Bindungskräfte nicht mehr vertrauend oder ihrer beraubt, wird dann auf den Weg gedrängt, die Verwirklichung der sozialen Utopie zu seinem Programm zu erheben. … Man darf bezweifeln, ob das prinzipielle Problem, dem er auf diese Weise entgehen will, dadurch gelöst wird.« (Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: Isensee, Josef/ Kirchhof, Paul (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts. Band III: Demokratie und Bundesorgane, 3. Aufl. (Heidelberg, 2005), S. 31-53 (§ 34)). Erwartet der Christ Wohlstand und Gesundheit vom Staat, hat er seinen Gott vergessen.

Gottesanmaßung #2. Dem Bürger des Wohlfahrtsstaates wird zunehmend (und entgegen dem Sinn und der Aussage des GG, s. o.) vermittelt, dass der Staat ihm Freiheiten und Menschenrechte gebe und daher das Recht habe, diese auch wieder zu nehmen. Der biblische Grundgedanke der Menschenrechte ist jedoch, dass diese dem Menschen bereits vor Einrichtung jeglicher Staatsform in den göttlichen Mandaten mitgegeben wurden, es also legitime Aufgabe des nachgeordneten Staates nur sein kann, diese als höheres Recht anzuerkennen und im Rahmen des göttlichen Mandats zu schützen und zu bewahren (Römer 13,3–4).

Gottesanmaßung #3. Da die Herrschaft Christi sich nach der Heiligen Schrift nicht auf seine (christliche) Kirche beschränkt, sondern alles umfasst und über allem steht, ist das Verständnis eines (von Gott) emanzipierten Staates zwingend stets auch ein Gegenentwurf zum biblischen Gottesverständnis und entsprechend verankerten Christentum, d. h. Götzendienst. Die Prioritätsfrage lautet für den Christen nicht: „Christ oder Staat?“, sondern schon immer: „Christus oder Cäsar?“. Siehe einführend dazu:

Speziell zu staatlichen Übergriffen mit Begründungsfiguren, die sich der COVID-19-Pandemie bedienen, hat Dr. Wolfgang Nestvogel, Pastor der Bekennenden Evangelischen Gemeinde Hannover (BEG), auf seiner persönlichen Website eine Materialsammlung zu Corona bereitgestellt. Sie umfasst medizinische, juristische, wissenschaftliche und andere Stellungnahmen. Die Gemeinde BEG wehrt(e) sich auch juristisch gegen übergriffige Grundrechtsbeschneidungen durch die „Obrigkeit“, und versucht so, die im GG verankerte Gewaltenteilung in der BRD fruchtbar zum Wohl der Bürger und Christen einzusetzen.

Parallelen in den USA und Canada. Ein aktueller Beispielsfall staatlicher Oppression gegen einen Pastor in Kanada und seine Gemeinde wird hier angesprochen. Eine Vielzahl von Fällen ist auch in den USA, vor allem in von Angehörigen der Democratic Party regierten Staaten –wie Kalifornien und New York–, bekannt geworden. Zu beachten ist hier, dass in Kanada die Canadian Charta of Rights and Freedoms gilt, in den USA die Constitution und The Bill of Rights mit ihren Amendments. Etliche Autoren in DACH realisieren diese unterschiedliche Rechtslage nicht, sondern scheren alles undifferenziert über einen Kamm. Man sollte nicht vergessen, dass die „Pilgerväter“ einst Europa verlassen haben, weil sie mit Gefängnisstrafen und Exekutionstod durch die „Obrigkeit“ (!) bedacht wurden, wenn sie sich frei versammeln und dabei die Bibel lesen oder predigen wollten. Schon damals gab es eine „Anti-Kirche“, die die Verfolgung Andersdenkender und Andersgläubiger massiv und vor keinen Maßnahmen sich scheuend vorantrieb (z. B. Inquisition).

Ein Nachtrag zu Roger Liebi

Der Schweizer Theologe Dr. Roger Liebi, dessen Ausführungen zum gemeinsamen Singen in der christlichen Gemeinde oben untersucht wurden, lieferte in seinem „News-Letter“ vom 10. Juli 2021 folgenden persönlichen Hintergrund bzgl. Covid19:

»Anfangs Dezember wurde ich jedoch von Covid19 sehr stark betroffen. Der HERR nahm mich damit einige Wochen aus allem Betrieb heraus. Nach längerer Krankheitszeit, verbunden mit einer sehr schweren Lungenentzündung inkl. Erstickungshusten, einem massiven Angriff der Corona-Viren auf die Leber (Hepatitis) und Schwindel, durfte ich weitestgehend wieder genesen. Es hat aber mehr als 6 Monate gebraucht, um zumindest fast wieder zur selben Kraft zu kommen wie davor.«

Seine oben zitierten Ausführungen mögen daher auch vom persönlichen Erleben der Krankheit beeinflusst worden sein. (Seine Frau »hatte sich nach einer Woche Krankheit (wie eine schwere Grippe) relativ schnell von Covid19 erholt«.) Mit seinem internationalen Reisedienst gehört Roger Liebi leider zu der Gruppe von Menschen, die es erst möglich gemacht haben, dass Seuchen und „Pandemien“ sich so rasend schnell auf dem Erdkreis verbreiten können. Auch sein aktueller Kalender ist mit internationalen Reisen und Einladungen Anderer zu solchen Reisen bestückt, auch in Länder hoher Inzidenzwerte trotz hoher Impfquote.

Ein Glaube ohne Werke ist tot

Seit Jahrtausenden haben sich Christen darüber unterhalten und gestritten, wie Glauben und (Gute) Werke im christlichen Glauben zueinander stehen und miteinander gehen. Sogar der Reformator Martin Luther, der in der Rechtfertigungslehre des Neuen Testaments den Zentralartikel der christlichen Kirche sah, konnte mit der mahnenden Botschaft des Jakobus im Neuen Testament und seiner Aussage, dass die (guten) Werke zur Rechtfertigung führen, eher wenig anfangen.

Was nützt es, meine Brüder, wenn jemand sagt, er habe Glauben, hat aber keine Werke? Kann etwa der Glaube ihn erretten? …
So ist auch der Glaube, wenn er keine Werke hat, in sich selbst tot.
Willst du aber erkennen, o nichtiger Mensch, dass der Glaube ohne die Werke tot ist?

Jakobus 2,14.17.20 (ELBCSV 2003)

Zu schnell wurde ein Gegensatz oder Widerspruch zwischen den Aussagen des Apostels Paulus und des Jakobus wahrgenommen oder behauptet. Beide sind jedoch in der Sache ohne jeglichen Widerspruch. Problematisch ist nur, wenn man den Begriff Rechtfertigung beider Schreiber als identisch in der Blickrichtung ansieht. Beide Schreiber meinen mit rechtfertigen dasselbe: gerecht gesprochen zu werden. Paulus spricht jedoch von der Rechtfertigung eines Sünders vor Gott und durch Gott alleine, während Jakobus von der Rechtfertigung eines Gläubigen durch seine Glaubenswerke angesichts einer beobachtenden Welt spricht: seine Glaubenswerke weisen seinen Glauben als echt aus.

Beide Glaubenslehrer stehen sich also nicht mit überkreuzten Klingen gegenüber, sondern sie verteidigen die selbe biblische Wahrheit Rücken an Rücken gegen unterschiedliche Feinde dieser Lehre: Paulus gegen jene, die mit eigener Frömmigkeit und Werken sich die Annahme bei Gott erarbeiten wollen, Jakobus gegen jene, die meinen, der rettende Glaube in Christus habe nichts mit einem entsprechenden Weg in guten Werken des Glaubens zu tun. Allerdings muss man festhalten, dass beide Schreiber beide Aspekte kennen und lehren. Wenden wir uns zuerst dem Fundamentalartikel der Rechtfertigung allein aus Glauben zu.

Die Schrift lehrt einstimmig die Rechtfertigung »allein aus Glauben«

Sowohl Paulus wie Jakobus halten einmütig und mit der selben zentralen Belegstelle der Schrift fest, dass die Gerechterklärung des Sünders durch Gott alleine auf der Grundlage des Glaubens (d. i. alleine mittels des Glaubens) erfolgt. Beide deuten auf das Glaubensvorbild Abraham und zitieren als Schriftbeleg 1. Mose 15,6:

Und die Schrift wurde erfüllt, die sagt: „Abraham aber glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet“, und er wurde Freund Gottes genannt.

Jakobus 2,23 (ELBCSV 2003)

Denn was sagt die Schrift? „Abraham aber glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet.“

Römer 4,3 (ELBCSV 2003)

Etliche Jahre nach Jakobus schreibt der Apostel Paulus also, dass die Rechtfertigung des Sünders, also seine Für-gerecht-Erklärung seitens Gottes, eine exklusive Sache Gottes ist, die mittels des Glaubens und nur aufgrund des Glaubens, also unter Ausschluss der Anrechnung von Werken (»Gesetzeswerken«), erfolgt.

Darum, aus Gesetzeswerken wird kein Fleisch vor ihm gerechtfertigt werden. … Denn wir urteilen, dass ein Mensch durch Glauben gerechtfertigt wird, ohne Gesetzeswerke. …
Dem aber, der nicht wirkt, sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet;

Römer 3,20a.28; 4,5 (ELBCSV 2003)

Denn durch die Gnade seid ihr errettet, mittels des Glaubens; und das nicht aus euch, Gottes Gabe ist es; nicht aus Werken, damit niemand sich rühme.

Epheser 2,8-9 (ELBCSV 2003)

Da die Rechtfertigung nach der Schrift »allein durch Glauben«geschieht, stellt dies sicher, dass alle Ehre allein Gott zukommt. Sind wir nicht aufgrund eigener Werke, sondern alleine durch das rettende Werk Jesu gerechtfertigt, dann gebührt alles Lob für unser Heil alleine Ihm. Die Absicht Gottes mit der Rechtfertigung ist also – wie bei allen anderen Aspekten des Evangeliums auch – die Offenbarung und Verherrlichung Gottes: Soli Deo Gloria.

Die reformatorische Position zu Glauben und Werken

Dieses »allein durch Glauben« haben die Reformatoren in ihren grundlegenden vier Exklusivpartikeln mit sola fide bezeichnet: Allein durch den Glauben wird der Mensch gerechtfertigt, nicht durch gute Werke. Dies ist wegen der Altlasten der römisch-katholischen Theologie und der menschlichen Wesensneigung, sich durch eigene Anstrengungen den Weg in den Himmel zu bahnen und sich die Anerkennung seitens Gottes zumindest teilweise zu verdienen, nicht unwidersprochen geblieben.

Martin Luther erklärte 1531 in seiner Wittenbergschen Vorlesung über den Galaterbrief (1535 schriftlich gefasst von Georg Rörer aus seinen Mitschriften) folgendes über Glauben und Werke (zu Galater 2,19):

Daher sagen wir auch, daß der Glaube ohne Werke nichts und nichtig ist. Das verstehen die Papisten und Schwärmer so: der Glaube ohne Werke kann nicht rechtfertigen, oder der Glaube ohne Werke, wenn er noch so wahr ist, vermag nichts, wenn er nicht Werke hat. Das ist falsch. Aber ein Glaube ohne Werke, will sagen ein schwärmerischer Gedanke und ein leeres Geschwätz und ein Traum des Herzens, ein solcher Glaube ist falsch und rechtfertigt nicht.

Martin Luther, Der Galaterbrief. 2. Auflage. Göttingen: Vadenhoeck & Ruprecht, 1987. Textquelle digital.

Johannes Calvin war vielleicht der erste Reformator, der gegen die falsche römisch-katholische Lehre Stellung bezog, die das Konzil zu Trient (6. Sitzung Cum hoc tempore (1547) über die Rechtfertigung, 9. und 11. Kanon) wie folgt formuliert hatte:

9. Wenn jemand sagt, der Sündhafte werde allein durch den Glauben gerechtfertigt; so dass er damit versteht, es werde nichts anderes, das zur Erlangung der Rechtfertigungsgnade mitwirke, erfordert, und es sei keinen Teils notwendig, dass er sich aus Antrieb seines Willens dazu vorbereite, und bereitsam mache, der sei im Bann.
11. Wenn jemand sagt, die Menschen werden gerechtfertigt entweder allein durch die Zurechnung der Gerechtigkeit Christi, oder allein durch die Nachlassung der Sünden, mit Ausschluss der Gnade und der Liebe, welche durch den Heiligen Geist (Röm 5,5) in ihre Herzen ausgegossen wird, und ihnen innehaftet, oder auch, die Gnade, durch welche wir gerechtfertigt werden, sei nur eine Gunst Gottes, der sei im Bann.

Deutsche Textquelle: http://www.kathpedia.com/index.php?title=Cum_hoc_tempore [16.02.2021]

Calvin schrieb im gleichen Jahr (1547) eine Antwort auf die Konzilsbeschlüsse und formulierte zum biblischen Zusammenhang von Glauben und Werken u. a. folgendes:

Ich möchte, dass der Leser versteht, dass wir, wenn wir in dieser Frage vom Glauben allein reden, nicht an einen toten Glauben denken, welcher nicht durch die Liebe wirkt, sondern dass wir daran festhalten, dass der Glaube allein die Ursache der Rechtfertigung ist (Galater 5,6; Römer 3,22). Daher ist es allein der Glaube, welcher rechtfertigt, und trotzdem steht jener Glaube, welcher rechtfertigt, nicht alleine da: Genauso wie es allein die Hitze der Sonne ist, welche die Erde erwärmt, so ist doch die Hitze der Sonne nie alleine, weil sie beständig mit dem Licht verbunden ist.

Johannes Calvin, Antidote to the Canons of the Council of Trent, in: Henry Beveridge (Übs.). Tracts and Treatises in Defense of the Reformed Faith. 1851. Nachdruck (Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1958) Bd. 3. S. 152. Übers. des Verf.

Eine weitere Spur davon kann man in der Konkordienformel (Formula Concordia, 1580) nachvollziehen, welche einen Versuch darstellt, Zerwürfnisse beizulegen, die nach Luthers Tod zwischen der eher milden Melanchthonschen Richtung (Philippismus) und der eher streng lutherischen Richtung (Gnesiolutheraner) entstanden waren. Unter Artikel III. Von der Gerechtigkeit des Glaubens vor Gott wird Folgendes als rechtgläubig bestätigt:

8) Wir gläuben, lehren und bekennen, daß, obwol vorgehende Reu und nachfolgende gute Werk nicht in den Artikel der Rechtfertigung vor GOtt gehören, jedoch sol nicht ein solcher Glaube gedichtet werden, der bey und neben einem bösen Vorsatz zu sündigen, und wider das Gewissen zu handeln, seyn und bleiben könte; sondern nachdem der Mensch durch den Glauben gerechtfertiget worden, alsdann ist ein warhaftiger lebendiger Glaube durch die Liebe thätig, Galat. 5 [v. 6]. Also, daß die gute Werk dem gerechtmachenden Glauben allzeit folgen und bei demselben, da er rechtschaffen und lebendig, gewislich erfunden werden; wie er denn nimmer allein ist, sondern allzeit Liebe und Hoffnung bey sich hat.

Formula Concordiae Epitome. Summarischer Begrif der streitigen Artikel, zwischen (…), Artikel III. Von der Gerechtigkeit des Glaubens vor Gott, Punkt 8 (1577). Textquelle (Druck von Gebauer, Halle, 1747), S. 16 [850]. Betonung mit Unterstreichung ist im Original mit Sperrdruck geschehen. Fettdruck hinzugefügt.

Unter Artikel IV. Von guten Werken wird Folgendes hinzugefügt:

1) Daß gute Werke dem warhaftigen Glauben, wann derselbige nicht ein todter, sondern ein lebendiger Glaube ist, gewislich und ungezweifelt folgen als Früchte eines guten Baums.
2) Wir gläuben, lehren und bekennen auch, daß die guten Werke gleich so wol, wenn von der Seligkeit gefraget wird, als im Artikel der Rechtfertigung vor GOtt gänzlichen ausgeschlossen werden sollen, wie der Apostel mit klaren Worten bezeuget, da er also geschrieben: … Röm. 4. [v. 6.7.] Und abermals: … Ephes. 2. [v. 8. 9.] (…)
10) Wir gläuben, lehren und bekennen auch, daß den Glauben und die Seligkeit in uns nicht die Werke, sondern allein der Geist GOttes die Seligkeit durch den Glauben erhalte, des Gegenwärtigkeit und Inwonung die guten Werke Zeugen seyn.

Formula Concordiae Epitome. Summarischer Begrif der streitigen Artikel, zwischen (…), Artikel IV. Von guten Werken. Textquelle (Druck von Gebauer, Halle, 1747), S. 18–20 [852–854]. Betonung mit Unterstreichung ist im Original mit Sperrdruck geschehen. Fettdruck hinzugefügt.

Will man die biblische Lehre (wie sie im reformatorischen Glauben auch erfasst wurde) sehr vereinfacht mit prägnanten Formeln zusammenfassen, so mag dies so aussehen:

Zu verwerfen: Glaube + Werke = Rechtfertigung.
Festzuhalten: Glaube = Rechtfertigung + Werke

Der Glaube, mittels dessen Gott die Rechtfertigung ausspricht, ist stets ein Glaube, der als lebendiger Glaube auch entsprechende Glaubenswerke zeitigt. Fehlen solche Werke, obwohl Glaube behauptet wird, so lautet die biblische Diagnose: dieser Glaube ist tot, er rettet nicht.

Die Schrift lehrt einstimmig, dass rettender Glaube und Glaubenswerke wesensartig zusammen gehören

Man muss also klar zwischen Glauben und Werken unterscheiden, aber man darf und kann sie –wie die beiden Seiten derselben Münze– nicht voneinander trennen, ohne die ganze Sache zu verlieren.

Paulus wie Jakobus lehren, dass ein von jemand behaupteter Glaube ohne Werke tot und damit im Wesen (Jakobus: »in sich selbst«) nicht der rettende Glaube ist. Die Lebendigkeit (und damit Echtheit) des rettenden Glaubens wird sich stets beweisen in seiner von göttlicher Liebe motivierten Wirksamkeit:

So ist auch der Glaube, wenn er keine Werke hat, in sich selbst tot.

Jakobus 2,17 (ELBCSV 2003)

Denn wir erwarten durch den Geist aus Glauben die Hoffnung der Gerechtigkeit. Denn in Christus Jesus vermag weder Beschneidung noch Vorhaut etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe wirkt.

Galater 5,5-6 (ELBCSV 2003)

Wegen dieses wesensartigen Zusammenhangs kann der Apostel Johannes diesen in seinem Ersten Brief in die Reihe seiner Gotteskind-Prüfsteine mit aufnehmen. »Ihn kennen« markiert den Empfang des ewigen Lebens (Gotteskindschaft), »seine Gebote halten« das Kindeswesen der Liebe gegenüber Gott, das sich im Gehorsam äußert (vgl. 5. Mose 6,4ff).

Und hieran wissen wir, dass wir ihn kennen, wenn wir seine Gebote halten. Wer sagt: Ich kenne ihn, und hält seine Gebote nicht, ist ein Lügner, und in diesem ist die Wahrheit nicht. Wer aber irgend sein Wort hält, in diesem ist wahrhaftig die Liebe Gottes vollendet. Hieran wissen wir, dass wir in ihm sind. (…)
Hieran erkennen wir, dass wir die Kinder Gottes lieben, wenn wir Gott lieben und seine Gebote halten. Denn dies ist die Liebe Gottes, dass wir seine Gebote halten, und seine Gebote sind nicht schwer.

1. Brief des Johannes 2,3–5; 5,2–3 (ELBCSV 2003); vgl. 3,22.24

Weil die Lebensbekundungen des neuen Lebens in Christus kein Mechanismus ist, sondern nach Philipper 2,12–13 vielmehr ein wesenseigenes Wirken des glaubenden, gottesfürchtigen Menschen, zu dem er Dank Gottes Wirken in ihm sowohl motiviert als auch befähigt ist, sind diese Lebenserweise des Glaubenden wachstümlich und damit stets unvollkommen. (Ergänzend sei bemerkt, dass mit »euer eigenes Heil« nicht die ewige Errettung der Philipper gemeint ist, denn diese hatten sie offenbar: sie waren »Heilige in Christus Jesus« (1,1), es war ihnen von Gott geschenkt worden, »an ihn zu glauben« (1,29) und ihr »Bürgertum war in den Himmeln« (3,20). Paulus forderte sie angesichts ihrer großen internen Probleme als Gemeinde vielmehr dazu auf, diese in einer christusähnlichen Gesinnung von Demut und Liebe heilstiftend zu lösen.)

Daher, meine Geliebten, … bewirkt euer eigenes Heil mit Furcht und Zittern; denn Gott ist es, der in euch wirkt sowohl das Wollen als auch das Wirken, zu seinem Wohlgefallen.

Philipper 2,12-13 (ELBCSV 2003)

Der Herr Jesus Christus selbst hat den organischen (wesensartigen) Zusammenhang zwischen Glauben und neuem Leben und zwischen neuem Leben und Frucht vielfach in seinen Gleichnissen und Predigten gelehrt. Besonders eindrucksvoll ist dazu sein erstes Gleichnis vom Sämann und den vier Ackerböden (Matthäus 13,3–9; 18–23; vgl. Markus 4,1–12; 13–20; Lukas 8,4–15). Anhaltende Frucht ist Beweis dafür, dass der Same empfangen (aufgenommen) wurde und lebendig ist. Kurzfristiges Aufblühen kann diesen Beweis nicht liefern. Die Frage nach der Quantität (Menge) der Frucht wird nur insofern angesprochen, als dass sie größer Null sein muss; ob sie »30-, 60- oder 100fältig« ist, ist Sache des Wachstums und Wirkungsgrades, jedoch keine Anfrage an die Echtheit (Qualität) der Frucht. (Damit ist auch der Fall des gläubigen Verbrechers neben Christus am Kreuz geklärt.)

Auch bei der Beurteilung von Menschen, die sich als Diener Christi ausgeben (im Dienst als Christen ausgeben), verordnet Christus seinen Nachfolgern zur Urteilsfindung die Beurteilung der »Früchte« dieser Arbeiter. Sein Argument setzt voraus, dass das Wirken eines Menschen stets in Übereinstimmung mit seinem Wesen ist, die Frucht eines Baumes identifiziert eindeutig den Baum. Der Kontrast ist hier nicht wie beim Sämann-Gleichnis zwischen (bleibender) Frucht und Fruchtlosigkeit, sondern zwischen guter und schlechter Frucht.

An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Sammelt man etwa von Dornen Trauben oder von Disteln Feigen? So bringt jeder gute Baum gute Früchte, aber der faule Baum bringt schlechte Früchte. Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte bringen, noch kann ein fauler Baum gute Früchte bringen. Jeder Baum, der keine gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Deshalb, an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.

Matthäus 7,16-20 (ELBCSV 2003)

Christus sprach auch das altbekannte Problem an, dass die Rede und das Bekenntnis eines Menschen nicht unbedingt mit seinem Wesen und seiner Realität in Übereinstimmung sein müssen. Das Phänomen der Heuchelei, des guten Scheins und des buchstäblichen Pharisäertums ist ja seit dem Sündenfall ein allen Menschen anhaftendes Übel. In seiner Argumentation macht der Herr Jesus deutlich, dass wir die Werke eines Menschen genau ansehen müssen, um sein Bekenntnis zu prüfen, das Sagen eines Menschen muss vom Tun her beurteilt werden, und zwar danach, ob es Ausdruck des Gehorsams gegen Gottes Willen ist:

Nicht jeder, der zu mir sagt: „Herr, Herr!“, wird in das Reich der Himmel eingehen, sondern wer den Willen meines Vaters tut, der in den Himmeln ist.

Matthäus 7,21 (ELBCSV 2003)

Gegenüber den elf glaubenden Aposteln erklärt der Herr Jesus, dass das Geheimnis anhaltenden und sich steigernden Fruchtbringens die Lebensverbindung mit Ihm selbst ist (Johannes 15,1–8):

Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, dieser bringt viel Frucht, denn außer mir könnt ihr nichts tun.

Johannes 15,5 (ELBCSV 2003)

Neuzeitliche Debatte

Aus der Geschichte des Volkes Gottes wissen wir, dass der Feind Gottes, der Ur-Lügner Satan, die Wahrheit immer gleichzeitig in beide Richtungen verfälscht, um sicher von der Wahrheit wegzuführen, egal, wie die jeweilige Neigung des Opfers seiner Verführung ist. Am Beispiel der Gemeinde in Korinth ist besonders gut zu beobachten, dass der Teufel seinen Irrtum immer in Paaren der Extreme serviert. C. S. Lewis (1898-1963) schrieb in Mere Christianity (dt.: Pardon, ich bin Christ): »Der Teufel versucht, uns ein Schnippchen zu schlagen. Er schickt der Welt die Irrtümer immer paarweise auf den Hals, in Paaren von Gegensätzen. Und er stiftet uns ständig dazu an, viel Zeit dadurch zu vertrödeln, nachzugrübeln, welches der schlimmere Irrtum sei. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Er baut auf unseren tiefen Unwillen gegen den einen Irrtum, um uns Schritt für Schritt in den anderen hineinzuziehen.«

Die biblische Mitte, die göttlich geoffenbarte Wahrheit nach links und rechts zu bewahren, ist also keine Sache, bei der wir uns schräge oder einseitige Blicke und Vorlieben erlauben dürfen. Bei den Korinthern kann man beispielsweise beobachten: Das Gottesgeschenk der Sexualität darf weder in grenzenloser Ausschweifung missbraucht noch in asketisch-philosophischer Verweigerung verachtet werden. Abusus non tollit usum.

Auch in der Frage, wie rettender Glaube und gute Werke zusammengehören, kann man auf beiden Seiten vom Pferd fallen:

(1) Die Einen verbinden Glauben und Werke so sehr, dass Rechtfertigung und Heiligung zu einem nicht unterscheidbaren Gemisch und Komplex werden, das den biblischen Grundsatz der Rechtfertigung allein aus Glauben verleugnet und die Rechtfertigung zu einem Prozess macht, den unsere Werke maßgeblich beeinflussen. Die Folge ist meist irgendeine Form der Gesetzlichkeit, also jenem Verständnis, dass unsere Werke zu unserem ewigen Heil beitragen. Dass die Schrift dies kategorisch ausschließt, wurde oben schon belegt. Die römisch-katholische Lehre hält bis heute an diesem Irrtum fest.

(2) Die Anderen trennen Glauben und Werke kategorisch so sehr, dass der wesensartige Zusammenhang zwischen beiden verleugnet wird. In den gnostisch beeinflussten Strömungen in der Christenheit führt dies zu einer Trennung der Dinge des Geistes („oben“, geistlich) von den Dingen des Fleisches („unten“, irdisch), wobei das Geistliche das Wesentliche und Wertvolle, das Irdische aber das Unwesentliche und Wertlose sei. Von dort ausgehend irrt man dann auseinandergehend entweder zur Zügellosigkeit (Antinomismus), weil das Irdische, Leibliche nichts mit dem Glauben zu tun habe, oder zu einem alles Irdisch-leibliche entsagenden und verachtenden Asketismus (häufig in den geweihten Ständen anzutreffen). Es ist aber gleichartig falsch, einem Rasputin oder dem Trappistenorden zu folgen.

Die amerikanischen Evangelikalen haben sich in dieser Frage ebenfalls sehr grundlegend auseinander dividiert. Leider hat sich dieser Streit durch die Medien weltweit ausgebreitet.

(1) Die sog. Non-Lordship-Salvation-Richtung leugnet, dass der Erweis des rettenden Glaubens etwas mit einem Leben in Gottesfurcht und mit entsprechenden Glaubenswerken zu tun hat. Zu den Vertretern dieser falschen Richtung gehören bekannte Theologen wie Lewis Sperry Chafer (1871–1952), der Gründer und erste Präsident des renommierten Dallas Theological Seminary (DTS), und Charles C. Ryrie (1925–2016), Professor für Systematische Theologie dieser Hochburg des amerikanischen Dispensationalismus. Ryrie war auch Gastdozent an der Bibelschule Brake in Lemgo (1998–2004), seine Studienbibel (NT 1976, Gesamtbibel 1978, erweitert 1994, deutsch 2012) erfreute sich größter Auflagen und Verbreitung, besonders auch innerhalb der sog. Brüderbewegung (Plymouth Brethren, Elberfelder Brüder). Ryrie lehrte noch, dass die Echtheit des rettenden Glaubens in »gewissen Veränderungen« sichtbar wird: »Mit der Errettung gehen gewisse Veränderungen einher, und wenn ich einige dieser Veränderungen sehe, dann kann ich sicher sein, das neue Leben empfangen zu haben.« (Charles C. Ryrie: Hauptsache gerettet? Was Errettung bedeutet, Christliche Verlagsgesellschaft, Dillenburg 1998, S. 150).

Zane Clark Hodges (1932–2008), Professor am DTS, formulierte die wohl extremste Trennung von Glauben und Werken in seiner Free Grace Theology. In dieser Radical No-Lordship Theology genannten Ansicht reicht eine rein intellektuelle Zustimmung zu gewissen Heilstatsachen völlig aus, um das ewige Heil zu erhalten. Abwendung von der Sünde, Lebensübergabe an Christus und Gehorsam gegenüber den neutestamentlichen Geboten sind nicht Teil des rettenden Glaubens, sondern gehören zum Bereich der (evtl. später noch folgenden) Nachfolge bzw. christlichen Lebensführung. Gläubige können dauerhaft in die Sünde zurückfallen und den Glauben sogar ganz aufgeben, ohne dass man daraus den Schluss ziehen dürfe, dass diese Person nicht gerettet war und ist. Diese Free Grace Theology wendet sich zurecht gegen den „Arminianismus“, der lehrt, dass dauerhafte Sünde oder Abfall vom Glauben den Verlust des ewigen Heils nach sich ziehe, aber sie wendet sich auch gegen die biblische Lehre, dass der hohepriesterliche Dienst Christi alle wahren Gläubigen bis zum Ende im Glauben erhalten wird (Lukas 22,32; 1. Korinther 1,8; vgl. Punkt 5 der Lehrregeln von Dordrecht). Der Inhalt des rettenden Evangeliums wurde von Hodge so weit eingeschränkt, dass man weder an das Kreuz noch an die Auferstehung Jesu glauben müsse, sondern nur noch an die Verheißung des ewigen Lebens. Alle Arten von Werken, vor der Neugeburt (was biblisch richtig ist) und nach der Neugeburt (was falsch ist) hätten mit dem rettenden Glauben nichts zu tun. Die 1986 gegründete Grace Evangelical Society (GES) vertritt diese radikalen Ansichten heute am deutlichsten.

(2) Die sog. Lordship-Salvation-Richtung hingegen behauptet, dass der Erweis des rettenden Glaubens etwas mit einem Leben in Gottesfurcht und mit entsprechenden Glaubenswerken zu tun hat. Der bekannteste Vertreter dieser Richtung ist der kalifornische Pastor John F. MacArthur (*1939), ehemaliger Präsident von The Master’s University, The Master’s Seminary und des Missionswerks Grace to You sowie Herausgeber der weit verbreiteten MacArthur Studienbibel (über 2 Mio. Kopien). Seine Zentralposition ist, dass das Evangelium, das Jesus Christus predigte, ein Aufruf zur gehorsamen Nachfolge (Jüngerschaft) ist, nicht nur eine Bitte, eine einmalige Entscheidung zu treffen oder einmal ein „Übergabegebet“ zu sprechen. Mit außerordentlicher Klarheit vertritt MacArthur die in der Reformation wiederentdeckte biblische Lehre, dass die Rechtfertigung des Sünders und mithin sein ewiges Heil allein aus Gnade, allein aus Glauben und allein in Christus zu finden ist. Eigene Werke fügen dem nichts hinzu, weder solche vor der Neugeburt, noch solche nach der Neugeburt von oben. Die Entkopplung des ewigen Heils vom Ruf und den Kosten der Christus-Nachfolge hingegen wird als „easy believism“ bezeichnet und als unbiblisch abgewiesen. Die Befreiung von den Gebundenheiten der Sünde geschieht nach der Heiligen Schrift vielmehr durch existentielle Übergabe des Lebens an Christus, was Umkehr vom tödlichen Weg (Lebensstil) des Sünders und wirkliche Freiheit des so geretteten Menschen bedeutet. Das »Wort des Glaubens« und der darauf beruhende, rettende Glaube schließt den Glauben an Christus als Retter wie auch an Ihn als Herrn mit allen rettenden Konsequenzen ein.

Das ist das Wort des Glaubens, das wir predigen, dass, wenn du mit deinem Mund Jesus als Herrn bekennst und in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn aus den Toten auferweckt hat, du errettet werden wirst. Denn mit dem Herzen wird geglaubt zur Gerechtigkeit, mit dem Mund aber wird bekannt zum Heil.

Römer 10,8-10 (ELBCSV 2003)

Das Hören, Glauben und Gehorchen ist keine extern aufgepresste Haltung des Christen, sondern das innere Wesen des an Christus Glaubenden. Wer eines Seiner Schafe (geworden) ist, glaubt, hört und folgt dem Sohn Gottes:

…aber ihr glaubt nicht, denn ihr seid nicht von meinen Schafen, wie ich euch gesagt habe. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie gehen nicht verloren in Ewigkeit, und niemand wird sie aus meiner Hand rauben.

Johannes 10,26-28 (ELBCSV 2003)

Martin Luther hat es mit seinem ihm eigenen Duktus schön zusammengefasst:

Es reimen und schicken sich fein zusammen der Glaube und die guten Werke, […] aber der Glaube ist es allein, der den Segen ergreift, ohne die Werke, (der) doch nimmer und zu keiner Zeit allein ist.

Formula Concordia, Zweiter Teil, Solida Declaratio, Wiederholung und Erklärung etlicher Artikel Augsburgischer Konfession…, III. Von der Gerechtigkeit des Glaubens vor Gott, Nr. 41. (Orig. Luther: »Bene conveniunt et sunt connexa inseparabiliter fides et opera; sed sola fides est, quae apprehendit benedictionem sine operibus, et tamen nun quam est sola.«) Textquelle.

Weiterführende Literatur

John F. MacArthur hat die theologische Auseinandersetzung ausführlich in mehreren Büchern dargestellt. Am deutlichsten wird die „Lordship Salvation“-Debatte von ihm im Buch The Gospel According to the Apostles: The Role of Works in the Life of Faith niedergelegt (Thomas Nelson, 2005, 266 Seiten, ISBN 978-0785271802). Weitere Abhandlungen MacArthurs über das biblische Evangelium sind folgende: The Gospel According to Jesus: What Is Authentic Faith? (Zondervan, 2009; dt.: Lampen ohne Öl, 2. Aufl., CLV, 2012); The Gospel According to Paul: Embracing the Good News at the Heart of Paul’s Teachings (Thomas Nelson, 2018); The Gospel according to God: Rediscovering the Most Remarkable Chapter in the Old Testament (Crossway, 2018).

Der Verführung, das biblische Evangelium dem modernen Menschen zeitgeistmäßig schmackhaft(er) zu machen, trat MacArthur in seinem Buch Hard To Believe (Thomas Nelson, 2010) entgegen (dt.: Durch die enge Pforte: Wie moderne Evangelikale den schmalen Weg breit machen. 4. Aufl., Betanien, 2016).

Joel R. Beeke und Steven J. Lawson haben die Lehraussagen des Apostel Paulus (Röm 3,21–28) und des Jakobus (2,14–26) zur Rechtfertigung ebenfalls gründlich untersucht und in ihrem Buch Glaube und Werke sind kein Widerspruch – Paulus und Jakobus über die Lehre der Rechtfertigung dargelegt (Waldems-Esch: 3L-Verlag, 2021, ISBN 978-3-944799-18-6). Gliederung und Leseprobe auf der Verlagsseite. Original: Root & Fruit: Harmonizing Paul and James on Justification (Free Grace Press, 2020, ISBN 978-1952599019).


Bis der Morgenstern aufgeht in euren Herzen

Der Morgenstern in der Heiligen Schrift

Die Heilige Schrift verwendet das Metapher des „Morgensterns” in ihren prophetischen Texten, um auf die große und sichere Hoffnung zu deuten, dass es nach Zeiten größter Dunkelheit wieder Licht werden wird. Diese Hoffnung ist natürlich nicht auf die physikalisch-astronomische Ebene beschränkt und bezogen, sondern auf die geistliche, ewige Wirklichkeit der »Macht und Ankunft unseres Herrn Jesus Christus« (2. Petrus 1,16a).

Schon das wohl älteste Buch der Heiligen Schrift, Hiob, erwähnt namentlich einige Sternbilder. Wie andere Völker des Altertums waren auch die Hebräer Gelehrte der Wunder des Sternenhimmels und seiner Phänomene, denn der Schöpfungsbericht ordnet Sonne, Mond und Sternen wichtige Funktionen der Zeitbestimmung zu (Genesis 1,14–18). So lesen wir im Alten Testament u. a. vom Großen Bären (lat. Ursa Maior; auch: Großer Wagen), vom Orion und den »Kammern des Südens« (s. a. Hiob 9,9; Amos 5,8) sowie vom Siebengestirn (Amos 5,8), den Plejaden (Siebengestirn), dem Arktur (lat. Arcturus; griech. arktúros), der »flüchtigen Schlange« (Drache, lat. Draco) und summarisch vom »Heer des Himmels« (Jesaja 40,26; Jeremia 33,22) und speziell entlang der Ekliptik den »Bildern des Tierkreises« (Hiob 38,32; hebr. mazzaroth, „die zwölf Zeichen”; der „Tierkreis”, lat. zodiacus, griech. zodiakós). Luther (1912) verwendet in Hiob 38,32 auch den Namen des »Morgensterns«.

Kannst du das Gebinde des Siebengestirns knüpfen oder die Fesseln des Orion lösen? Kannst du die Bilder des Tierkreises hervortreten lassen zu ihrer Zeit und den Großen Bären leiten samt seinen Kindern? Kennst du die Gesetze des Himmels, oder bestimmst du seine Herrschaft über die Erde?

Hiob 38,31-33 (ELBCSV 2003)

Astronomisch bezeichnen wir als „Morgenstern” jenen leuchtenden Himmelskörper, der dem Sonnenaufgang und Tagesbeginn vorauseilt und diesen begleitet. Astronomisch handelt es sich meist um die Planeten Venus (6–7 Monate alle 19 Monate), Jupiter und Merkur (2 Monate pro Jahr), wobei die Venus auch während 6–7 Monaten des 19Monatezyklus‘ den Abendstern bildet. Im Metapher bezeichnet der „Morgenstern” die Offenbarung des Gottessohnes Jesus Christus gegenüber Seinem Volk, dem Er Rettung und geistliches Licht und Trost nach der Kälte und Finsternis der Nacht bringt.

In diesem Sinn redete um 1400 v. Chr. der mesopotamische Seher Bileam (hebr. Fremder), der Sohn Beors, in einem prophetischen Ausspruch vom kommenden Messias, dem König (»Zepter«) und Retter des Volkes Gottes, der alle Israel feindlich gesinnten Nationen besiegen wird:

Ich sehe ihn, aber nicht jetzt, ich schaue ihn, aber nicht nahe; ein Stern tritt hervor aus Jakob, und ein Zepter erhebt sich aus Israel …

4. Mose/Numeri 24,17 (ELBCSV 2003)

Im Buch des Propheten Jesaja ( um 700 v. Chr.) wird von einer gewaltigen bösen Figur berichtet, die vom Himmel fällt, die »zur Erde gefällt« wird, ja »in den Scheol [Totenreich] hinabgestürzt« wird, in die »tiefste Grube« (Jesaja 14,12–15):

Wie bist du vom Himmel gefallen, du Glanzstern, Sohn der Morgenröte; zur Erde gefällt, Überwältiger der Nationen!

Jesaja 14,12 (ELBCSV 2003)

Das Wort, das hier mit „Glanzstern” wiedergegeben wird, ist das hebr. helel, das „Leuchtender“ oder „Glänzender” (lat. Luzifer) bedeutet. Luther (1912) übersetzt hier »schöner Morgenstern«, daher sei es hier mit aufgeführt. Es handelt sich dabei um einen Bericht über Luzifer, den Satan, den Teufel. Er ist seit seiner maßlos stolzen Selbstüberhebung der Widersacher und die geschöpfliche Gegenfigur des menschengewordenen Gottessohnes und Messias Jesus Christus, der wahre Anti-Christ und Nachäffer des Sohnes Gottes.

Der Apostel Petrus schreibt hingegen im 1. Jhdt. n. Chr. in Verbindung mit dem prophetischen Wort des Alten Testaments in seinem Zweiten Brief vom wahren „Morgenstern”:

Und so besitzen wir das prophetische Wort umso fester, auf das zu achten ihr wohltut, als auf eine Lampe, die an einem dunklen Ort leuchtet, bis der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in euren Herzen.

2. Petrus 1,19 (ELBCSV 2003)

Damit bezieht sich Petrus auf das (Zweite) Kommen Jesu am »Tag des Herrn«, jenem Tag des endgültigen Gerichts, von dem schon das Alte Testament so oft vorausschauend geredet hatte (siehe u. a.: Jesaja 13,6.9; Hesekiel 13,5; Joel 1,15; Amos 5,18.20). Für die an Jesus Christus Glaubenden jener Tage wird dies der endgültige Tag der Rettung von ihren Feinden sein. Aber Petrus deutet dies nicht nur als objektives Ereignis der Geschichte, sondern auch als vorgezogenes, persönliches Ereignis für jeden Menschen, der aufgrund des festen Zeugnisses der Heiligen Schrift an Jesus Christus als seinen Herrn und Retter glaubt.

Auch der Apostel Johannes schreibt am Ende des 1. Jhdt. n. Chr. zweimal vom Morgenstern, das erste Mal im Sendschreiben des Sohnes Gottes an die Gemeinde in Thyatira:

Und wer überwindet und meine Werke bewahrt bis ans Ende, dem werde ich Gewalt über die Nationen geben; und er wird sie weiden mit eiserner Rute, wie Töpfergefäße zerschmettert werden, wie auch ich von meinem Vater empfangen habe; und ich werde ihm den Morgenstern geben.

Offenbarung 2,26-28 (ELBCSV 2003)

Am Ende desselben prophetischen Buches berichtet der Apostel Johannes eine weitere Selbstoffenbarung des Sohnes Gottes (Selbstoffenbarungsformel: »ICH BIN«):

Ich bin die Wurzel und das Geschlecht Davids, der Glänzende, der Morgenstern.

Offenbarung 22,16, wörtlich. nach Anm. (ELBCSV 2003)

Der »Morgenstern« ist also eine Bezeichnung Jesu Christi, des menschgewordenen Gottessohnes.

Der Morgenstern im Spiegel des christlichen Lieds

Die an Jesus Christus Glaubenden haben sich an diesen Hoffnungsworten der Heiligen Schrift oft erfreut und angesichts widriger Umstände an ihnen festgehalten. Dies lässt sich gut in den Liedern der Kirchen der Reformation nachvollziehen. Hier eine Auswahl von vier alten und neuen Liedern aus dem deutschsprachigen Schatz; sie werden im Kirchenjahr vor allem in der Zeit des Advents bis Epiphanias gesungen.

Herr Christ der eynig Gotts son (1524)

Herr Christ der eynig Gotts son / vaters yn ewigkeyt
Aus seym hertzen entsprossen / gleich wie geschryben steht.
Er ist der morgensterne /sein glenze streckt er ferne
fur andern sternen klar.

Fur uns ein mensch geboren / ym letzten teil der zeyt
Der mutter unverloren / yhr yungfrewlich keuscheyt.
Den tod fur uns zu brochen / den hymel auffgeschlossen
das leben wider bracht.

Lass uns yn deiner liebe / und kentnis neben zu
Das wir am glawben bleiben / und dienen ym geyst so.
Das wir hie mugen schmecken / deyn sussigkeyt ym herzen
und dursten stet nach dir.

Du Schepffer aller dinge / du vetterliche krafft.
Regirst von end zu ende / krefftig aus eigen macht.
Das herz uns zu dir wende / und ker ab unser synne
das sie nicht yrrn von dir.

Ertödt uns durch deyn gute / erweck uns durch deyn gnadt.
Den alten menschen krencke / das der new leben mag.
Wol hie auff dyser erden / den synn und all begerden
und dancken han zu dir.

Elisabeth von Meseritz (ca. 1500–1535) 1524

Dieses Lied entstand in der Anfangszeit der Reformation. Elisabeth von Meseritz, eine Frau aus märkisch-pommerschem Adelsgeschlecht (geb. um 1500 in Hinterpommern, gest. 2. Mai 1535 in Wittenberg), schrieb es 1524 in Wittenberg. Sie war als junge Frau in den Konvent der Prämonstratenserinnen im Kloster Marienbusch bei Treptow an der Rega eingetreten und hatte dort u. a. Unterricht in Latein und Bibelstudium erhalten. So mag sie auch die alte lateinische Weihnachtshymne Corde Natur ex parentis des Nordspaniens Aurelius Clemens Prudentius (348–ca. 413) gekannt haben, die ihr wohl Anregung lieferte (vgl. »Aus seym hertzen entsprossen«). 1521 folgte sie dem pommerschen Reformator Johannes Bugenhagen nach Wittenberg und heiratete dort Caspar Cruciger, einen Schüler Luthers und Melanchtons. Martin Luther, der Elisabeth in seinen Tischreden »als eine kluge Frau« bezeichnete, vollführte selbst die Trauung. Sie bekamen zwei Kinder: Caspar und Elisabeth. Ihr Ehemann Caspar wurde 1528 Theologieprofessor in Wittenberg und auch Prediger an der Schlosskirche in Wittenberg. Elisabeth Cruciger starb 1535 in Wittenberg.

In ihrem Gedicht und Lied „Herr Christ der einig Gotts son” bringt sie reformatorische Grundüberzeugungen zum Ausdruck. In der ersten Strophe beschreibt sie dem solus Christus Ausdruck gebend die Einzigartigkeit des Sohnes Gottes, der dem Herzen Gottes entsprungen ist und in der Zeit und seiner Menschwerdung als strahlender Morgenstern heller strahlt, als alle anderen Sterne: allein durch Christus wird dem Menschen die Gnade Gottes zuteil. Der Text spiegelt die Glaubenserfahrung der jungen Autorin in mittelalterlich-inniger Herzensfrömmigkeit sowie strahlender Glaubensgewissheit im wiederentdeckten Evangelium der Reformation wider. Martin Luther nimmt ihr Lied in das Erfurter Enchiridion von 1524 mit auf unter der Überschrift »Eyn Lobsanck von Christo«, damals noch anonym. Im Erfurter Gesangsbuch von 1531 wird die Dichterin dann mit »Elisabet. M.« angegeben. Seitdem gehört dieses Lied in der Abteilung »Epiphanias« zum Schatz der EKD (Nr. 67), wenngleich mit bemerkenswerter Textfälschung in Strophe 2.

Auch Philipp Nicolai (1556–1608) hat dieses Lied mehrfach als Gebet zitiert und für sein unten stehendes Lied Wie schön leuchtet der Morgenstern verwendet. Bemerkenswert ist die Wiederverwendung des Titels »Morgenstern« für Christus.
Johann Sebastian Bach verwendete das Gedicht von Elisabeth Cruciger für seine Kirchenkantate Herr Christ, der einge Gottessohn (BWV 96), die er am 8. Oktober 1724 in Leipzig uraufführte (18. Sonntag nach Trinitatis). Die Lesung an jenem Tag war 1.Korinther 1,4–8 und Matthäus 22,34–48. Bach stellt dabei mit einem ungewöhnlichen flauto piccolo (Sopraninoblockflöte) das Licht des Morgensterns dar. Viele Komponisten vor und nach Bach haben die Choralmelodie aufgegriffen, u. a. Hassler, Scheib, Buxtehude, Johann Michael Bach, Pachelbel, Telemann, Walther.

Wie schön leuchtet der Morgenstern (1599)

Wie schön leuchtet der Morgenstern, / voll Gnad und Wahrheit von dem Herrn,
die süße Wurzel Jesse.
Du Sohn Davids aus Jakobs Stamm, / mein König und mein Bräutigam,
hast mir mein Herz besessen.
Lieblich, | freundlich, / schön und herrlich, / groß und ehrlich, / reich an Gaben,
hoch und sehr prächtig erhaben.

Ei meine Perl, du werte Kron, / wahr‘ Gottes und Marien Sohn,
ein hochgeborner König!
Mein Herz heißt dich ein Himmelsblum‘, / dein süßes Evangelium,
ist lauter Milch und Honig.
Ei mein / Blümlein, / Hosianna! / Himmlisch Manna, / das wir essen,
deiner kann ich nicht vergessen.

Geuß sehr tief in das Herz hinein, / du leuchtend Kleinod, edler Stein,
mir deiner Liebe Flamme,
dass ich, o Herr, ein Gliedmaß bleib, / an deinem auserwählten Leib,
ein Zweig an deinem Stamme.
Nach dir / wallt mir / mein Gemüte, / ew’ge Güte, / bis es findet
dich, des Liebe mich entzündet.

Von Gott kommt mir ein Freudenschein, / wenn du mich mit den Augen dein
gar freundlich tust anblicken.
O Herr Jesu, mein trautes Gut, / dein Wort, dein Geist, dein Leib und Blut
mich innerlich erquicken.
Nimm mich / freundlich / in dein Arme, / Herr erbarme / dich in Gnaden;
auf dein Wort komm ich geladen.

Herr Gott Vater, mein starker Held, / du hast mich ewig vor der Welt
in deinem Sohn geliebet.
Dein Sohn hat mich ihm selbst vertraut, / er ist mein Schatz, ich seine Braut;
drum mich auch nichts betrübet.
Eia, / eia, / himmlisch Leben / wird er geben / mir dort oben;
ewig soll mein Herz ihn loben.

Zwingt die Saiten in Cythara / und lasst die süße Musika
ganz freudenreich erschallen,
dass ich möge mit Jesulein, / dem wunderschönen Bräutigam mein,
in steter Liebe wallen.
Singet, / springet, / jubilieret, / triumphieret, / dankt dem Herren;
groß ist der König der Ehren.

Wie bin ich doch so herzlich froh, / dass mein Schatz ist das A und O,
der Anfang und das Ende.
Er wird mich doch zu seinem Preis / aufnehmen in das Paradeis:
des klopf ich in die Hände.
Amen, / Amen, / komm, du schöne / Freudenkrone, / bleib nicht lange;
deiner wart ich mit Verlangen.

Philipp Nicolai (1556–1608) 1599, nach Psalm 45

Der lutherische Pastor Philipp Nicolai schrieb diese Hymne nach einer tragischen Pestepidemie, die 1597 sein Dorf traf. Er veröffentlichte sie 1599 zuerst in seinem Buch »Frewdenspiegel deß ewigen Lebens« in Frankfurt. In der Einleitung schreibt er: »Ein Geistlich Brautlied der Gläubigen Seelen / von Jesu Christo irem himlischen Bräutgam: Gestellt ober den 45. Psalm deß Propheten Dauids«. Die sieben Strophen der Hymne bilden das Akrostichon Wilhelm Ernst Graf Und Herr Zu Waldeck, einem früheren Studenten Nicolais, welcher 1598 verstorben war.

Johann Sebastian Bach verwendete Texte dieses Gedichtes für seine Choralkantate Wie schön leuchtet der Morgenstern (BWV 1) im 1. (Coro) und 6. (Choral) Satz. Diese Choralkantate wurde am 25. März 1725 in Leipzig uraufgeführt. Die Lesung an jenem Tag der Verkündigung des Herrn ( lat. Annuntiatio Domini, auch Mariä Verkündigung) war Jesaja 7,10–16 und Lukas 1,26–38. –

Textquelle des Liedtextes: Wochenlied zum Tag der Erscheinung des Herrn (Epiphanias); Liederbuch der Ev. Kirche in Hessen und Nassau, 13. Aufl. 1959.

Du Morgenstern, du Licht vom Licht (um 1800)

Du Morgenstern, du Licht vom Licht,
das durch die Finsternisse bricht,
du gingst vor aller Zeiten Lauf
in unerschaffner Klarheit auf.

Du Lebensquell, wir danken dir,
auf dich, Lebend’ger, hoffen wir;
denn du durchdrangst des Todes Nacht,
hast Sieg und Leben uns gebracht.

Du ew’ge Wahrheit, Gottes Bild,
der du den Vater uns enthüllt,
du kamst herab ins Erdental
mit deiner Gotterkenntnis Strahl.

Bleib bei uns, Herr, verlass uns nicht,
führ uns durch Finsternis zum Licht,
bleib auch am Abend dieser Welt
als Hilf und Hort uns zugesellt.

Johann Gottfried Herder (1744–1803)

Es wird ein Stern aufgehen (1996)

Die Dunkelheit verschlingt die Welt.
Die Finsternis und große Kält,
sie decken alles Leben zu.
O Gott im Himmel, hilf uns du!

(Ref.:) Es wird ein Stern aufgehen,
Immanuel mit Nam.
Ein Wunder wird geschehen,
Gott zündt ein Licht uns an.

Die Menschen sehnen sich nach Licht.
Und Gott, der Herr, verlässt sie nicht.
Viel tausend Jahr sie warten schon.
Propheten künden Hoffnung an: (Refrain)

Und Bileam war ein Prophet,
der Gottes Willen wohl versteht.
Er sieht den Stern aus Jakobs Haus,
von dem geht Heil und Segen aus. (Refrain)

Jesaia spricht vom hellen Licht,
das alle Finsternis durchbricht.
Es wird geboren uns ein Kind,
das allen große Freude bringt. (Refrain)

Dieses Adventlied wurde 1996 von Eva Bruckner und Ernst Schusser für ein gleichnamiges Adventspiel erstellt. Der Text bezieht sich auf die Propheten des Alten Testaments (vgl. Jesaja 9,1-6; Jesaja 7,14; Jeremia 23 und „Bileam“ 4. Mose 24,17 ff). Quelle: Volksmusikarchiv des Bezirks Oberbayern.

A Liacht is aufkemma

A Liacht is aufkemma, aufkemm‘ bei da Nacht
Und des hat den Bösn, den Finstern
Angst g’macht
Sie wollten’s auslöschn
Dastickn, zertretn
Sie wollten’s ausblasen
Die Finsternis retten
Vor dem winzign Liacht
da haben sie si g’fiacht.

A Hoffnung is‘ g’wesn des Liacht bei da Nacht
Und des hätt‘ den Bösn die G’walt kost‘,
die Macht
Sie wollten’s verbiatn
Verhassn, verneidn
Sie wollten’s verjagn
Und jedn verleidn
Vor der Hoffnung, dem Liacht,
da habn sie si g’fiacht.

A Frau tragt die Hoffnung als Kind
in ihrm Schoß
Soviel habn’s dafragt
und die Rachsucht war groß
Sie wollten’s ausmachn
Auffindn, hoamsuachn
Sie wollten’s verklagn
Verstoßn, verfluachn
Vor dem Kind und sein Liacht
da habn sie si g’fiacht.

Tobias Reiser d. J. (1946–1999)

Tobias Reiser, A Liacht Is Aufkemma; aus: A Liacht is aufkemma – Szenisches Oratorium, 5. Szene: Der Weg nach Bethlehem (Salzburger Adventsingen, 1986)