Heinrich Bullinger: Von der Obrigkeit

1568 veröffentlichte der Schweizer Reformator Heinrich Bullinger (1504–1575, Nachfolger Ulrich Zwinglis in Zürich) sein „Haußbuch“ mit einer Reihe von Predigten. Eine dieser Predigten, die sechzehnte, beschäftigte sich im Rahmen einer Betrachtung über die Zehn Gebote mit der Obrigkeit. Der folgende Text ist dem gedruckten Predigttext entnommen und sprachlich etwas unserer Schreibweise angepasst worden.

»Was die Obrigkeit sei.

Das Wörtlein Obrigkeit heißt im Lateinischen Magistratus, und hat seinen Ursprung vom Wörtlein Magister, das heißt Meister, mit welchem angezeigt wird, dass du, wenn du zur Obrigkeit gehörst, Meister, Führer von Oberen des Volkes bist. Diese werden auch die Gewalt von Gott genannt, wegen der Gewalt, die sie von Gott empfangen haben. Die Obrigkeit wird auch eine Herrschaft genannt, wegen der Herrschaft, die ihr Gott auf Erden gegeben und zugelassen hat. Und welche also herrschen, werden Fürsten genannt, von Vorstehen, denn sie sind die vordersten unter dem Volk. Also heißen sie auch Räte von raten, und Könige von regieren, Gebieter von gebieten. Darum ist die Obrigkeit an ihr selbst ein Amt und eine Verwaltung. Aristoteles beschreibt die Obrigkeit also, dass sie eine Hüterin und Erhalterin der Gesetze sei. Und Plutarchus spricht im Büchlein, in dem er lehrt, dass ein Oberer notwendiger Weise geschickt und gelehrt sein soll, spricht unter anderem so: Die Oberen sind Diener Gottes, zum Heil und zur Fürsorge der Menschen, zum Teil, dass sie ihnen austeilen, zum Teil auch bei dem erhalten, das Gott ihnen gegeben hat. Aus der heiligen Schrift aber mag die Obrigkeit also beschrieben werden, dass sie eine Ordnung Gottes sei, dass durch Hilfe und Rat der Vornehmsten die Frommen geschützt und geschirmt, die Bösen aber gestraft, und also wahre Gottesfurcht, Gerechtigkeit, Ehrbarkeit und Ruhe, auch allgemeiner und besonderer Friede, erhalten werden. Daraus folgt dann, dass im Regiment sein, und das Amt der Obrigkeit treulich auszurichten, ein Gottesdienst ist. Denn solches gefällt Gott, und dann ist Obrigkeit ein gutes Ding, aus dem trefflich viele gute Werke entspringen, wie ich in vorgehender Predigt bereits erklärt habe.

Dreierlei Obrigkeit.

[Monarchie.] Es gibt aber dreierlei Obrigkeiten, nämlich: die Monarchie, Aristokratie und Demokratie. Die Monarchie mögen wir ein Reich nennen, in dem einer die oberste Gewalt ausübt und alle Dinge verwaltet durch gerechte und angemessene [billige] Satzungen. Wenn aber ein solcher Regent die Gerechtigkeit und Angemessenheit [Billigkeit] hintanstellt und alle Dinge nach seinem Mutwillen wider Recht und Angemessenheit [Billigkeit] tut, ist er ein Tyrann und seine Gewalt eine Tyrannei, also eine grausame [grimmige] Überwältigung. Solches Laster hängt dem Reich und der Monarchie gerne an und ist dem zuwider. Aristokratie hingegen ist eine Regierung der Vornehmsten und Besten unter dem Volk, da man die allerbesten, frömmsten [frembsten] und redlichsten einer gewissen Zahl erwählt und aussucht, die dem Volk vorstehen. Diese Regierung ist erwachsen aus der Tyrannei. Denn da man anfing zu sehen, wie misslich es wäre, einem Mann alle Gewalt zu lassen, hat man angefangen, die höchste Gewalt vielen und den Besten anzubefehlen. Wenn aber solche vornehmsten Häupter unter dem Volk mit bösen Künsten und Sünden an das Regiment kommen und ihren eigenen Nutz und Frommen suchen, anstelle des allgemeinen Nutzens und des allgemeinen Wohlstand, so ist ihre Regierung damit nicht mehr eine Artistokratie, sondern eine Oligarchie zu nennen, das heißt: eine mutwillige Gewalt weniger Leute, nicht eine gerechtfertigte [billige] Regierung der Besten und Vornehmsten. Auf diese Weise werden die Oligarchen anstelle der Optimatibus, die die Besten und Vornehmsten sind, gesetzt. Demokratie ist eine solche Regierung, wo alle Gewalt beim gewöhnlichen Mann steht. Diese Regierungsform ist aus der Oligarchie erwachsen. Denn da der gewöhnliche Mann gesehen hat, dass auch die Vornehmsten und Auserwähltesten im Volk ihre Gewalt missbrauchen und zu Oligarchen wurden, hat er sie des Amtes enthoben [entsetzt] und die Gewalt behalten und mit mehreren Händen angefangen, alle Dinge zu verwalten und zu regieren. Diese Demokratie aber bricht manchmal auch aus und gerät zu einem Aufruhr und einer Zusammenrottung, wenn sich niemand regieren lassen will, und ein jeder tun will, was ihm gefällt, weil er ja genauso viel zählt, wie jeder andere gewöhnliche Mann, bei dem alle Gewalt steht.

Welche aber von diesen Regierungen die beste sei, will ich nicht urteilen. Viele sind es, die die Monarchie für die beste gehalten haben, unter der Bedingung [hinzu gesetzt], dass der Fürst gut sei, welches aber selten der Fall ist. Die aber dieser Meinung gewesen waren, haben gewöhnlich unter den Monarchen gelebt, wider die zu reden gefährlich war. Im Volk Juda und Israel findet man wenige gute – oder zumindest mittelmäßige – Könige. Darum hat Gott auch durch Samuel dem Volk nicht ohne Ursache geraten, dass sie die Aristokratie, die unter ihnen durch die allerweisesten und vortrefflichsten Männer, Mose und Jethro, aufgerichtet war, behalten sollten. Wiewohl niemand leugnen kann, dass auch bei der Aristokratie große Gefahr und Ungebührlichkeiten [Unkömmlichkeiten] mitlaufen. Viel mehr aber bei der Demokratie. Aber es steht um uns Menschen in diesem Leben ja so, dass es nichts gibt, das nicht irgend einen Mangel hätte. Darum wird das für das Beste gehalten, das obgleich nicht ohne Fehl seiend, doch im Vergleich zu den anderen am wenigsten davon hat.

Man soll aller Obrigkeit gehorsam sein.

Sei es, wie es wolle, jedenfalls heißen uns die Apostel unseres Herrn Jesus Christus, dass wir der Obrigkeit gehorsam sein sollen, sei sie nun ein König oder ein versammelter Rat der Besten unter dem Volk. Es gilt gleich. Denn Paulus spricht in der Epistel an Titus im dritten Kapitel: Erinnere sie, dass sie den Vorgesetzten und der Gewalt untertan seien, der Obrigkeit gehorsam seien. Und zu den Römern [Röm. 13.] : Jedermann sei der Obrigkeit und der Gewalt untertan, denn es ist keine Gewalt denn von Gott, alle Gewalt ist aber von Gott verordnet. Und zu Timotheus spricht er [1. Tim. 2.]: So ermahne ich nun vor allen Dingen, dass man bete und Fürbitte einlege für die Könige und für alle Obrigkeit (usw.). Darum: Ist jemand unter einem Monarchen und König, so sei demselben gehorsam. Ist er unter einer anderen Regierung, Bürgermeistern, Gemeindevorstehern [Schultheißen], Zunftmeistern, Ratsherren, so sei er ihnen desgleichen untertan. Denn es ist besser, man gehorche der Ordnung Gottes, als dass man spitzfindig viel diskutieren wolle über den Unterschied der Regierungsformen und welche von diesen die Beste sei. Dass es aber eine Obrigkeit gibt, ist uns Menschen höchst notwendig, allein schon deswegen vonnöten, weil unsere Sachen ohne eine Obrigkeit in keinem Wohlstand sein noch bleiben mögen.

Ursachen und Ursprung der Obrigkeit. Richter 19.

Denn im Volk Israel standen die Sachen nie übler, als wo sie nach dem Tode Simsons bis auf den Heli [?] keine rechte Obrigkeit hatten, sondern ein jeder tat, was ihm wohlgefiel. Denn allen Menschen ist die Eigenliebe und das eigene Wohlgefallen so angeboren, dass ein jeder allein auf das Seine sieht, dass er an allem, was er tut, Wohlgefallen hat, und das Wort und Werk anderer Leute verachtet. Ja, unsere böse Begierde und unablässliche Eigenliebe führt uns auch dahin, dass wir selbst böse Sachen verstehen als Recht zu beschirmen und sie für recht und gut ausgeben. Wer das nicht glaubt, der weiß nicht, was Menschen sind. Siehe, das Volk Israel war erst aus Ägypten erlöst und hatte erschreckende und große Wunder gesehen, und wurde in der Wüste vom Himmel herab wunderbarlich ernährt, und sah alle Tage neue Wunderzeichen. Doch höre, was Mose, der allermildeste und sanftmütigste unter allen Menschen von diesem heiligen Volk, von dem Volk Gottes, das Gott selbst ein Eigentum nennt, redet. Er spricht also zum Volk: Wie kann ich allein solche Mühe und Last und Hader von euch ertragen? Also tat sich des Fleisches Art auch in der heiligen Gesellschaft und aller herzlichsten Gemeinschaft der ersten Apostolischen Kirchen, ja in den Wiedergeborenen selbst, hervor. Denn es erhob sich ein Gemurmel unter den Griechen wider die Hebräer, weil ihre Witwen übersehen wurden in der täglichen Handreichung. Also zankten sich auch die Korinther vor den heidnischen Richtern, wofür sie vom heiligen Apostel Paulus gar heftig gescholten wurden, der sie anweist, aus den Gläubigen Schiedsleute zu erwählen, die ihre Sachen entscheiden sollen. Deshalb kann uns in dieser Sache niemand vorwerfen, das alte Volk Israel sei ein fleischliches Volk gewesen und noch nicht wiedergeboren, weil wir sehen, dass auch in denen, die wiedergeboren sind, noch des Fleisches verbliebene Schwachheit hängt, die sich immerdar, wo ihr Luft und Anlass gegeben wird, offenbaren wird, Zank und Unruhe hervorbringt, da sie wohl zufrieden sein möchte. Ganz zu schweigen davon, dass der Großteil der Welt nicht nach dem Geist fragt, sondern nur dem Fleisch nachlebt und nachhängt. Darum, weil Gott ein Liebhaber und Gönner der Menschen ist, und ein Erhalter des menschlichen Geschlechts, alles Friedens und aller Ruhe, so hat er die Obrigkeit eingesetzt, als eine Arznei und Hilfe, um den großen Übeln der Menschen zu wehren, dass sie sich mit Angemessenheit und Gerechtigkeit zwischen die lege, die miteinander zanken, sie voneinander trenne, der bösen und unangemessenen [unbillichen] Gewalt wehre, die Unschuldigen beschirme. Darum, wer diese göttliche Ordnung brechen oder aufheben wollte (wir Menschen würden dann allesamt zu Engeln), der würde nichts anderes, als eine Konfusion und Zerstörung aller Dinge, und bewirken, dass wer es am besten vermöchte, der die frömmsten und andere alle unterdrücke und ausrottete. [Die Obrigkeit ist von Gott eingesetzt den Menschen zum Guten] Darum sehen wir aus allem, was wir bisher erzählt haben, ganz klar, dass die Obrigkeit von Gott eingesetzt ist, den Guten zu schirmen und den Bösen zu bestrafen, das heißt, zum Guten und zum Wohlstand aller Menschen. Dies wird unterstützt davon, dass wir finden, dass von Anfang der Welt an stets Obrigkeiten gewesen sind. Des weiteren [item] befestigen solches die Zeugnisse der heiligen Schrift. Als dass Moses im Gesetz die Richter Götter nennt und spricht, dass das Gericht Gottes sei. Aus welchen Worten auch Josaphat genommen hat, dass er zu den Richtern spricht [2. Chr. 19]: Sehet zu, was ihr tut. Dass ihr übet das Gericht nicht für den Menschen, sondern für den Herrn. Und er ist mit euch im Gericht, darum lasst die Furcht des Herrn bei euch sein (usw.). Entsprechend heißt St. Petrus [1. Pet. 2.], der Obrigkeit gehorsam zu sein, um des Herrn willen, von welchem die selbige verordnet ist, zur Rache der Bösen und zum Lob der Frommen. So spricht auch Paulus, der Lehrer der Heiden [Röm. 13.]: Es ist keine Gewalt, als von Gott, und die Gewalt, die da ist, ist von Gott verordnet. Und wer der Gewalt widersteht, der widersteht der Ordnung Gottes. Wer aber dieser widersteht, der wird ein Urteil über sich empfangen. Denn die Gewaltigen sind nicht denen, die Gutes tun, sondern den Bösen zur Furcht. Denn sie sind Diener Gottes, dir zum Guten, und zur Strafe dessen, der Böses tut. Deshalb, wie gesagt, ist die Obrigkeit von Gott und ihr Amt gut, heilig, gottgefällig, recht, nützlich und notwendig allen Menschen, und die so von der Obrigkeit sind, und dies Amt wohl und recht verwalten, die sind Freund, Diener und auserwählte Werkzeuge Gottes, durch die Gott das Heil und den Wohlstand der Menschen wirkt und ausrichtet. Dessen wir Exempel haben an Adam, an allen Erzvätern, an unserem Vater Noah, an Josef, an Mose, an Josua, am Gideon, Samuel, David, Josaphat, Hesekiel, Josia, Daniel, und vielen anderen. Auch die nach den Zeiten unseres Herrn Jesus Christus das Amt der Obrigkeit verwaltet haben.

Gute und böse Obrigkeit.

Es gibt aber hauptsächlich zweierlei Obrigkeit: gute und böse. Eine gute Obrigkeit ist eine, die ordentlich gewählt wurde und auch ihr Amt recht verwaltet. Eine böse Obrigkeit ist eine, die nicht durch ordentliche Mittel in das Regiment gekommen ist, und die das selbige auch nicht recht, sondern nach ihrem Mutwillen verwaltet. [Ob auch die böse Obrigkeit von Gott sei] Hier aber entsteht eine Frage: Ob die böse und tyrannische Obrigkeit auch von Gott sei? Antwort: Gott ist nicht eine Ursache des Bösen, sondern des Guten. Denn Gott ist von Natur gut, und all sein Vornehmen ist gut und dient zum Guten und zum Heil, nicht zum Schaden und Verderben des Menschen. Also ist auch die Obrigkeit, als eine gute, nützliche Ordnung, ohne allen Zweifel von GOTT, der ein Ursprung und Brunnen alles Guten ist. Da muss man aber unterscheiden zwischen der Ordnung Gottes, das ist, dem Amt an sich, und der Person, die das Amt, das an sich selbst gut ist, nicht verrichtet, wie sie sollte. Wenn also in der Obrigkeit Böses gefunden wird, und nicht das Gute, weswegen sie eingesetzt ist, so entspringt dieses Böse aus anderen Ursachen und tragen andere Schuld daran, nämlich die Personen oder Menschen, die Gott nicht folgen, und die gute Ordnung missbrauchen. Und: An Gott, oder der Ordnung Gottes, ist an sich gar keine Schuld. Denn entweder ist da ein Oberster, der in sich selbst böse und von dem Teufel verführt ist, der die Wege Gottes verletzt und diese von sich aus mutwillig übertritt, so dass er besser ein teuflischer als denn ein göttlicher Herrscher [Gewalt] genannt wird. So wie wir dies sehen bei der Obrigkeit Jerusalems, welche wohl den Anfang und Ursprung ihrer Gewalt bis auf Mose, ja auf GOTT selbst hätte zurückführen [rechnen] können, welche aber den Herrn Christum in dem Garten verhaften und binden ließen, so dass der Herr zu ihren Dienern sagte [Luk. 22]: Ihr seid wie zu einem Mörder mit Schwertern und Stangen [Kolben] ausgegangen. Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen und ihr habt keine Hand an mich gelegt. Aber dies ist eure Stunde und die Gewalt der Finsternis. 

Siehe, da nennt er die ordentliche Obrigkeit, die aber ihre Gewalt missbrauchte, eine Gewalt des Teufels. Was könnte Klareres geredet werden? Solches redet der Herr aber nicht betreffs des Amtes, sondern betreffs ihrer Personen. Also war wohl das Römische Reich von Gott verordnet, wie wir das aus den Gesichten des Propheten Daniels ersehen. Doch so, wie Nero regierte, tat er dies nicht aus Gott, wenn auch nicht ohne Gottes Ordnung, sondern aus dem Teufel, obschon er ein König und ein Kaiser war, weil er nicht tat, was ein guter Herr und Oberer tun soll. Denn wie anders als aus dem Teufel war es, dass er die Apostel Christi kreuzigte und enthauptete und eine blutige Verfolgung der Kirchen Christi anfing. Also muss man aufpassen, dass man eine tyrannische Gewalt nicht als eine göttliche verteidige. Denn eine tyrannische Regierung ist aus dem Teufel und nicht aus Gott, und Tyrannen sind eigentlich nicht Gottes, sondern des Teufels Diener. Oder es begibt sich, dass ein Volk wegen seines ungöttlichen, lasterhaften Lebens es verdient, einen Tyrannen als König zu haben. Aber auch hier kommt Gott keine Schuld zu, sondern den sündigenden Menschen, derentwegen Gott solches verhängte, und einen Angeber [Gleißner] zu ihrem Regenten macht. Hier ist also die böse Obrigkeit von Gott, wie auch Aufruhr, Krieg, Pestilenzen, Hagel, Frost [reyffen?] und anderen Plagen und Unglück der Menschen von Gott sind: Als Strafen der Sünden und Laster, wie auch Gott selbst spricht [Jes. 3.]: Ich will ihnen Kinder zu Fürsten geben und junge Kinder werden über sie herrschen, darum, dass ihre Reden und Ratschläge wider den Herrn sind, um das Angesicht seiner Majestät zu erzürnen. Also hat Gott wider sein Volk und Stadt die grausamen Könige der Assyrer und Babylonier erweckt: Weil sie seinem Wort nicht folgten und nicht taten, was sie sollten.

Ein getreuer Rat für alle Unterdrückten

Wie aber nun die Untertanen gegenüber solchen schrecklichen [grimmigen]und rohen Fürsten und Tyrannen gesinnt sein sollen, lernen wir aus dem Exempel Davids, Jeremias und den heiligen Aposteln. David wusste wohl, wer Saul war, nämlich ein gottloser und grausamer Totschläger, vor dem er fliehen musste[?]. Und obwohl er ein- oder zweimal die Gelegenheit hatte, dass er ihn wohl hätte umbringen können, tat er es doch nicht, sondern verschonte ihn und ehrte ihn als seinen Vater. Genauso Jeremia, der für den Jojakim und den Zedekia betete, obwohl sie beide gottlose Könige waren, und ihnen gehorsam war, solange es nicht wider Gott war. Dann auch vorher, als ich von dem Gebot der Verehrung der Eltern geredet hatte, hatte ich aus der Schrift gezeigt, dass man den Geboten der Gottlosen, die wider Gott sind, nicht gehorchen solle. Denn es ziemt keiner Obrigkeit, dass sie etwas tue und vornehme, das wider das Gesetz Gottes und der Natur ist. Wie sich auch die heiligen Apostel gegen die tyrannischen Obrigkeiten gehalten haben, bezeugen ihre Geschichten. Welche durch Tyrannei gedrängt, ja von gottlosen, lasterhaften Obrigkeiten wider alle Angemessenheit und alles Recht unterdrückt werden, die fassen diesen Rat. 

Aufs Erste bedenken sie, welch große Sünden die Abgötterei und Schnödigkeit und Unzucht vor Gott sind, mit welchen sie den Zorn und die Strafe Gottes verdient und wohl verschuldet haben. 

Danach bedenken sie auch, dass GOTT mit solcher Geißel und Ruten nicht aufhören wird, wo sie den falschen Gottesdienst nicht von sich tun und ihr Leben bessern. Darum ist es notwendig, dass man vor allen Dingen die Religion recht anrichte und reformiere und das Leben ändere und bessere. 

Danach soll man auch ernstlich und emsig beten, dass Gott die Unterdrückten erretten und aus dem Übel erlösen wolle. Denn diesen Rat gibt auch der Herr selbst den Unterdrückten in Lukas im achtzehnten Kapitel und verheißt dabei eine sichere Hilfe und Erlösung [V. 7–8a]. Was aber und wie die Unterdrückten beten sollen, davon haben wir hübsche Beispiele und Formeln in Daniels neuntem und der Apostelgeschichte viertem Kapitel. Unterdessen sollten alle Herzen, die also beschwert sind, auch dessen eingedenk sein, dass die vornehmsten Apostel Christi, sowohl Petrus wie Paulus, gelehrt haben, da jener spricht [2. Pet. 2. | 1. Kor. 10.]: Gott kann die Seinen wohl aus Trübsalen erretten, wie er auch den Lot gerettet hat. Dieser aber spricht: Gott ist treu, der die Seinen nicht wird lassen versucht werden über das hinaus, was sie ertragen mögen, sondern wird neben der Versuchung einen glückseligen Ausgang geben, damit sie es ertragen mögen. Dabei sollen sie auch des Gefängnisses des Volkes Gottes gedenken, als sie siebzig ganze Jahre in Babylonien gefangen gewesen waren. Item der schönen Tröstungen, mit denen sie getröstet worden waren, welche Jesaja in seiner Prophetie vom vierzigsten an bis zum neunundvierzigsten Kapitel beschreibt. Wir sollen eingedenk sein, dass der Herr gut, gnädig und allmächtig ist, weshalb er uns wohl zu helfen vermag. Und er kennt auch viele Mittel, uns zu helfen. Sehen wir nur zu, dass wir die Tyrannen nicht mit unserem vermessenen [schnöden] und gottlosen Leben stärken. Es mag der Herr die Herzen und Gemüter der Regenten (weil die Herzen der Könige in seiner Hand wie Wasserbäche sind, die er leiten kann, wohin er will) bald ändern, so dass die, die bisher am grausamsten gegen uns gewesen waren, von Stund an gütig und freundlich werden. Und jene, die die wahre Religion aufs grausamste verfolgt haben, werden von nun an (die ehemals Verfolgten) aufs Allerinbrünstigste lieben und mit größtem Fleiß fördern. Davon haben wir sehr hübsche und klare Zeugnisse in den Geschichtsbüchern der Könige. Item in den Büchern Esra und Nehemia, auch in der Prophezeiung Daniels. Auch bei Nebukadnezar [Nabuchodonosor], der sich erdreistete, die getreuen und tapferen Märtyrer Gottes im feurigen Ofen zu braten und zu vertilgen wegen ihres wahren Glaubens. Aber bald ward er ein anderer und lobte Gott, dass er sie im Feuer erhalten hatte, und fachte selbst durch veröffentlichtes Edikt und Mandat an, den wahren Gott und die wahre Religion zu predigen und auszubreiten. Ebenso Darius, der Sohn Assyriens, der Daniel in die Löwengrube werfen ließ. Aber Gott ändert ihn gleich dermaßen, dass er ihn wieder herauszog und alle Feinde Daniels in die selbe Grube den Löwen zum Zerreißen vorwarf. Kyrus, der allergewaltigste König der Perser, förderte ebenso die wahre Religion. Item Darius Hystaspes, der mit Beinamen Artaxerxes genannt wird, der dem Volk Gottes vortrefflich half in ihrem Vorhaben, die Stadt und den Tempel zu Jerusalem wieder aufzubauen. Darum sollen wir an der Hilfe Gottes niemals zweifeln. So plagt auch etwa GOTT die Tyrannen oder nimmt sie gar hinweg durch schnelle und grausam schreckliche Krankheiten. [Tyrann: tödte.] Wir sehen das daran, wie es dem Antiochio, dem großen Herodes und seinem Enkel Herodes Agrippa, ebenfalls dem Marentio und anderen Gottes und der Welt Feinden ergangen ist. Manchmal erweckt Gott auch Helden und tapfere Männer, die solche Tyrannen töten und das Volk Gottes erlösen. Viele Beispiele davon stehen im Buch der Richter und der Könige. Damit aber diese Beispiele nicht missbraucht werden, muss man dabei auf die Berufung Gottes sehen. Denn welcher diese nicht hat, oder vor dieser Berufung etwas anfacht, der wird mit seinem Umbringen der Tyrannen nichts schaffen noch ausrichten; vielmehr ist zu befürchten, dass er es nur noch schlimmer macht. Soweit zu diesem Thema.

Von Erwählung der Obrigkeit.

Damit ich aber wieder auf mein vorgenommenes Thema komme, ist auch etwas zu sagen von der Erwählung der Obrigkeit und dabei zum Ersten, wem es zusteht und gebührt, die Obrigkeit zu setzen und zu erwählen. Danach: Wen und was für Leute man dazu erwählen solle. Und zum letzten: Vom Einsetzen und Vorstellen derer, die erwählt wurden.

Wem zusteht, die Obrigkeit zu erwählen.

Vom ersten Stück, wem es zustehe und gebühre, die Obrigkeit zu erwählen, da sollte [mag] kein festes Gesetz noch eine Regel gegeben oder vorgeschrieben werden. Denn an etlichen Orten erwählt die Allgemeinheit [ein gange gemein] die Obrigkeit. An etlichen wählen aber die Oberen einander selbst. An etlichen Orten werden die Fürsten aus Geburt zu Oberherren. Bei diesen Ordnungen soll man bleiben und diesbezüglich keine Unruhe oder Neuerung verursachen. Denn gewöhnlicher Weise werden einem jeglichen Reich und einer jeden Stadt ihre alten Bräuche und Gewohnheiten gelassen, es sei denn, dass solche Bräuche und Gewohnheiten gar unangemessen oder unerträglich sind. Wo aber Fürsten aus einem Stamme oder Geschlecht her geboren werden, da soll man Gott stets treulich anrufen und bitten, dass er gute Fürsten geben wolle.

Was für Leute zur Obrigkeit sollen erwählt werden. Exod. 18.

Zum anderen aber: Wen oder was für Leute man dazu erwählen soll, das stellt uns Gott selbst vor mit diesen Worten: Siehe dich um unter allem Volk nach redlichen Leuten, die gottesfürchtig, wahrhaftig und des Geizes Feind sind. Die setze über sie zu Oberen über Tausend, über Hundert, über Fünfzig und über Zehn, dass sie das Volk allezeit richten. Da fordert Gott vier Dinge an einem guten Ratsherren. 

Zum ersten, dass er ein beherzter, tapferer, redlicher Mann sei, das heißt, dass er dasjenige verrichten möge, wozu er erwählt wird. Das Vermögen steht aber mehr im Gemüt, als denn in Leibeskräften und Gütern. Denn es wird hierbei gefordert, dass er nicht ein Tor sei, sondern weise und erfahren. Gleich wie auch von einem Hauptmann oder Heerführer gefordert wird, dass er eine Ordnung machen könne, und an einen Fuhrmann, dass er den Wagen leiten könne. Also auch an einen Oberen, das er das Regiment verwalten könne. Dabei wird dann auch Tapferkeit gefordert, dass er sich auch dessen annehme [des dörffe unterstehen?], das er kann und versteht. Denn dieses Amt bedarf großer Tapferkeit und Geduld.

[Eine Obrigkeit soll rechtgläubig sein.] Zum anderen wird gesetzt, das anerkanntermaßen das vornehmste und größte ist, nämlich, dass er gottesfürchtig sei, rechtgläubig, nicht abergläubisch. Keiner, der mit Abgötterei umhergeht, wird das Regiment erhalten, sondern es vielmehr verderben. Und wie Gottlose eben sind: Sie werden die Wahrheit und die Religion nicht fördern, sondern verfolgen sie und reißen sie aus. Darum sollen wir die erwählen, die der wahren Lehre anhängen und gesunden Glaubens sind, die dem Wort Gottes glauben und wissen, dass Gott stets bei den Menschen zugegen ist und einem jeden vergilt nach seinem Verdienst. Darum bekennt auch der Kaiser Justinianus in seinen Nouellis Constitut. 109. öffentlich, dass sein ganzer Schirm von Gott sei, warum es auch angemessen sei, dass alle Gesetze und Ordnung auf ihn sehen. Und gleich darauf: Es weiß ein jeder, dass die, welche vor uns das Kaisertum verwaltet haben, wie Leo seligem Gedächtnis, und der teure Fürst Justinus unser Vater, in ihren Constitutionibus und Ordnungen überall verboten haben allen Ketzern, das diese zu keinem Heerzug angenommen noch Gemeinschaft haben sollen in der Verwaltung der allgemeinen Ämter, damit sie nicht durch Anlass des Mitreisens oder durch Verwaltung allgemeinen Handels und Geschäften den Glauben und die Einigkeit der heiligen Katholischen und Apostolischen Kirchen zertrennen und verderben. Und solches haben auch wir getan. Dies schreibt gedachter Kaiser. Und zwar: Wer gottesfürchtig ist, der ruft Gott an und empfängt auch Weisheit von Gott. Und wenn die Oberen Freunde Gottes sind, und sich oft mit Gott besprechen, so ist gute Hoffnung,  dass es ein seliges Regiment sein werde. Hingegen ist nichts anderes zu erwarten als alles Unglück, wenn Feinde Gottes im Regiment sind. 

Zum Dritten wird auch erfordert vom jemand, den man zur Obrigkeit berufen und erwählen soll, dass er wahrhaftig sei, nicht ein Blender/Großmaul [gleißner], nicht ein Lügner, Betrüger, arglistig, der aus einem Munde Kaltes und Warmes blasen könnte, sondern dass er treu, einfältig, offenbar und aufrichtig [auffrecht] sei. Dass er nicht mehr verspreche, als er halte. Dass er den Eid nicht gering achte oder eidbrüchig sei.

Zum Vierten: Dieweil viele in der Obrigkeit nichts anderes suchen als Reichtum und Mehrung ihres zeitlichen Guts, so heißt Gott, dass solche abbestellt werden sollen, und er verbietet allen guten Oberen den Geiz, ja, er fordert, dass sie den Geiz hassen. Gleich wie er auch an einem anderen Ort verbietet, Gaben zu nehmen, sondern auch gebietet, dass man solche ausschlagen soll. Denn Geiz und Gabensucht sind ein Verderbnis auch der guten Obrigkeit. Wer geizig ist und Geschenke liebt, der ist käuflich [dem ist es alles feyl], Gericht und Recht, Rechtssprüche, Freiheit, Gerechtigkeit, ja das Vaterland selbst. Und obwohl Gott hier nur das allerschädlichste Laster nennt, so ist doch kein Zweifel, dass er damit auch andere dergleichen Laster und Untugenden verbietet und will, dass dieselben weit von einer guten Obrigkeit entfernt seien, als da sind: Hoffart, Missgunst, Neid, Hass, Zorn, Spielsucht, Völlerei, Trunkenheit, Hurerei, Ehebruch, und was dergleichen mehr ist.

Diese jetzt herangezogene Stelle wird auch durch andere Stellen des Gesetzes erklärt, wenn man sie gegenüber stellt. So wie Mose in Deuteronomium [5. Buch Mose] im 1. Kapitel zum Volk spricht: Schaffet her weise und verständige Leute, die unter euren Stämmen bekannt sind. In welchen Worten Mose abermals drei Dinge erfordert an denen, die man zur Obrigkeit setzen will. Zum ersten, dass sie weise seien. Der Anfang aber der Weisheit ist die Furcht Gottes. Darum soll man solche Leute anstellen [ordnen], die Gottes und der wahren Religion Freund seien, die auch weise und witzig, nicht Toren und Narren sind. Zum anderen, dass sie verständig seien, das heißt vorsichtig, wohlgeübt durch lange Erfahrung in allerlei Belangen [händeln], dass sie jede zufallende Sache nach Vermögen der Satzungen richten. Zum Dritten, dass sie bekannt seien, das ist, dass deren Frömmigkeit und Redlichkeit jedermann offenbar sei, dass von ihrem so angetriebenen und geführtem Leben und ihren Sitten im Wesentlichen nichts als Gutes bekannt und bezeugt sei. Dass sie auch großen Ansehens seien, nicht verachtet als leichtfertige, unnütze Leute.

In Numeri im 27. Kapitel spricht Mose: Der Herr, der Gott der Geister allen Fleisches, wolle einen Mann setzen über die Gemeinde, der vor ihnen aus- und eingehe und sie aus- und einführe, dass die Gemeinde des Herrn nicht sei wie Schafe, die keinen Hirten haben [V. 15–17]. Aus diesen Worten des teuren Propheten Gottes wir auch lernen, wen man zur Obrigkeit erwählen, und wie auch dasselbige geschehen solle. Moses bittet zum Herrn um einen geschickten Mann. Also sollen auch wir Gott, den Erforscher aller Herzen, bitten und anrufen, dass er solche Leute gebe, an denen kein Mangel oder Fehl sei. Denn wir werden oft an der äußeren Gestalt eines Menschen betrogen, dass wir etwa einen für einen frommen, aufrichtigen, gottesfürchtigen Mann halten, der aber nichts als ein großer Scheinheiliger [gleißner] ist. Gott allein aber kennt die Herzen, den soll man bitten, dass er uns im Erwählen nicht irren oder fehlen lasse. Keiner wird aber besser sein, als einer, welcher den heiligen Geist Gottes hat, und derselbe soll dann auch in allen Dingen und Handlungen tun und lassen sein. Faulbäuche richten und treiben nur andere Leute an und sehen darauf, dass sie nie an die Spitze gestellt werden. Es ist auch sehr unrecht und unangemessen [unbillich], wenn einer anderen Leuten viel vorschreibt, er aber niemals etwas Rechtes oder Gutes tut. Einer, der zur Obrigkeit erwählt ist soll ein Hirte sein, der Tag und Nacht wache und hüte, dass die Herde Gottes nicht in Gefahr komme oder zerstreut oder verderbt werde. Aus diesem Grunde sind nur solche dem Volk Gottes als Oberste zu setzen.

Von der Vorstellung oder Einsetzung der Obrigkeit.

Zuletzt noch, was die Vorstellung oder Einweihung der Obrigkeit betrifft, gibt es unterschiedliche Gebräuche hin und her, sei es in Städten oder Ländern. Jedes Volk aber sei frei gelassen in seinen Gewohnheiten. Doch ist das der beste Brauch, wo man am allerwenigsten äußerliches Gepränge, aber am allermeisten das Gebet braucht. Es ist aber nicht ohne Frucht, sondern nützlich, dass man die, die zur Obrigkeit erwählt sind, mit einer gewissen und ziemlichen Zeremonie einsetze und vorstelle, und dies vor dem ganzen Volk, damit ein jeder wisse, welche Väter des Volkes seien, und welchen er die Ehre schuldig sei, welchen er gehorsam sein solle und für welche er beten solle. Also ist auch unter dem Volk Gottes eine bestimmte Zeremonie gewesen, die sie gebraucht haben, um ihre Könige und die Obrigkeiten einzuweihen. Welches gewisslich von Gott nicht vergeblich, sondern nützlich und von notwendigen Ursachen wegen befohlen und eingesetzt worden ist. Was aber weiter von der Obrigkeit zu reden ist, wollen wir uns aufsparen bis morgen, jetzt aber den Herrn loben und anrufen. Ihm sei Lob und Ehre in Ewigkeit. Amen.«

Textquelle: Heinrich Bullinger (1504–1575): Haußbuch. Die Sechzehende Predig (Heidelberg: Martinum Agricolam, 1568), Doppelseiten LXXIIII–LXXVIII. Diese Predigt ist auf Doppelseite LXXI überschrieben mit: »Von dem anderen Gebot der anderen Tafel, welches in der Ordnung der Zehn Gebote das Sechste ist, nämlich: Du sollst nicht töten. Item von der Obrigkeit.« Der Drucktext wurde 2021 behutsam in verständlichere Rechtschreibung und Formulierung übertragen. Überschriften und Fettdruck hinzugefügt, Kursivschrift im Original. Marginalien im Original stehen fettgedruckt in eckigen Klammern oder wurden als Überschriften verwendet. Alle sonstigen Ergänzungen in eckigen Klammern wurden hinzugefügt. Verbesserungs- und Korrekturhinweise willkommen.

Johann Neuton über die biblische Lehre der Gnadenwahl

Viele kennen den Engländer John Henry Newton (1725–1807) als jenen Sklavenhändler, der sich zum Christentum bekehrte, das weltbekannte Lied Amazing Grace (1772) dichtete und später entschieden für die Beendigung der Sklaverei eintrat. Er verfasste auch viele lehrreiche Briefe, die gesammelt zu Lebzeiten veröffentlicht wurden. Im November 1775 schrieb er im Rahmen eines längeren Schriftwechsel mit einem »lieben Freund« (dem »Hochehrwürdigen Herrn S.«) folgendes:

»Sie mögen bemerkt haben, daß ich verschiedenemalen von Prädestination oder Gnadenwahl zu reden, mit Fleiß vermieden habe, nicht als wenn ich mich der Lehre schämte, weil, wenn sie in der That dumm, schrecklich und ungerecht wäre, die Schuld davon mit Recht nicht auf mich, denn ich erfand sie ja nicht, sondern auf die h. Schrift fiele, worin sie, wie ich gewiß versichert bin, in eben so deutlichen Worten vorgetragen wird, als die Wahrheit, daß Gott Himmel und Erde schuff. Ich bekenne, daß ich nicht umhin kann, mich darüber zu verwundern, daß Leute, die Hochachtung gegen die Bibel vorgeben, so geradezu und stark ihren Abscheu an dem erklären sollten, was doch die Bibel so ausdrücklich lehret, nemlich: daß Gott nach seiner Gnade und Wohlgefallen einen Unterschied unter den Menschen macht, wenn auch gleich von Natur kein Unterschied unter ihnen Statt findet, und daß alle Dinge, die die Seligkeit solcher Menschen betreffen, durch eine göttliche Predestination oder Vorherbestimmung untrüglich gesichert sind.

Ich gebe dieses nicht für eine vernünftige Lehre aus, (wiewol sie mir im höchsten Grade vernünftig vorkommt) sondern sie ist eine Schriftlehre, oder wenn sie das nicht ist, ist die h. Schrift eine blosse wäckserne Nase, und hat keinen entschiedenen Sinn. Was für Geschicklichkeit wird doch dazu erfordert, um viele Stellen so auszulegen, und ihnen einen solchen Sinn zu geben, daß sie die Vorurtheile, die wir von Natur gegen Gottes unumschränkte Oberherrschaft hegen, besser begünstigen! Math. XI, 25. 26. und XIII, 10–17. Marc. XIII, 20. 22. Joh. XVII, hin und wieder in diesem Capitel. Joh. X, 26. Röm. VIII, 28–30. und IX, 13–24. und XI, 7. Ephes. I, 4. 5. 1Pet. I, 2. […]

Jedoch, wie gesagt, ich habe mir vorgenommen, diesen Punkt dahingestellt seyn zu lassen; weil, so wahr und nothwendig auch immer derselbige an sich selbst ist, die Erkenntniß und das Begreifen desselben nicht nothwendig erfordert wird, um ein wahrer Christ zu seyn, wiewol ich auch fast nicht glauben kann, daß Einer, dem es daran fehlt, ein ächter standhafter Gläubiger seyn kann. […]

Aber ich will es ganz kurz sagen. Ich glaube, daß alle Menschen, weil sie vor Gott verderbt und strafbar sind, von Gott, ohne daß es seiner Gerechtigkeit zum Vorwurf gereichen könnte, hätten mögen sich selbst überlassen werden, um verlohren zu gehen, so wie es gewiß ist, daß er es in Ansehung der gefallenen Engel gethan hat. Allein es gefiel ihm, Barmherzigkeit zu erzeigen, und Barmherzigkeit muss frey seyn. Wenn der Sünder irgendeinen Anspruch darauf hätte, in sofern wäre es Gerechtigkeit und nicht Barmherzigkeit. Er, der unser Richter einmal seyn wird, versichert uns, daß wenige die Pforte finden, die zum Leben führet, weil viele auf dem Wege, der zum Verderben führet, wandeln, und sich untereinander drängen. […] Der Richter der ganzen Erde will Recht thun. Er hat einen Tag vestgesetzt, an welchem er es auch offenbaren will, daß er Recht gethan habe, so daß alle davon überzeugt werden sollen. Bis dahin halte ich es für das Beste, die Sache auf sein Wort anzunehmen, und nicht zu streng dasjenige zu richten, welches dem Jehovah zu thun zukommt.«

Johann Neuton [John Newton]: Unterhaltungen über wichtige Herzensangelegenheiten in Briefen an vertraute Freunde. Aus dem Englischen übersetzt. Erster Band (Elberfeld: Chr. Wilh. Giesen, 1791), S. 345–347.362–363 (17. November 1775). Hervorhebungen hinzugefügt.

Concursus Dei – Die göttliche Mitwirkung in allen Dingen

Aufmerksamen Bibellesern entgeht nicht, dass bestimmte Taten und Vorkommnisse sowohl Menschen als auch Gott zugeschrieben werden. Dies zu verstehen ist nicht leicht. Wie kann es zum Beispiel sein, dass die Heilige Schrift einerseits Gott als souverän (ohne Anstoß oder Hilfe von außen, also monergistisch) Handelnden beschreibt, gleichzeitig aber die Schrift Menschen dieselbe Handlung gebietet oder gestattet und damit (moralisch) diese Tat voll in die menschliche Verantwortung legt? Wer ist dann letztlich der verantwortlich Handelnde? Der Mensch oder Gott? Wer ist der effektiv Handelnde? Der Mensch oder Gott?

Diese Sache wurde schon lange erkannt, beschrieben und erforscht. Die Theologen nennen es den Concursus Dei oder Concursus Divinus. Gemeint ist damit die Kongruenz (das Zusammenfallen) von göttlichem und menschlichem Handeln. Dabei geht es bei den unterschiedlichen Akteuren zwar um das selbe Geschehnis, aber nicht zwingend um die gleichen Motive der Handelnden.

Am Beispiel des Leidens des Hiob (Hiob/Job 1) ist dies gut zu erkennen. Drei Handelnde sind klar benannt: (1) Satan löste das Leiden Hiobs aus, weil er Gott herausfordern wollte mit der Behauptung, dass Hiob nur deswegen gottesfürchtig lebe, weil Gott ihn segne und Hiob um dieses Segens Gottes (Reichtums, Gesundheit usw.) willen –also rein opportunistisch– Frömmigkeit spiele. (2) Die Sabäer und die Chaldäer griffen aus reiner Beutelust die Herden Hiobs an und raubten die Tiere. (3) Gott erlaubte Satan durch vollmächtige Anweisung, dass er Hiob bis zur jeweils festgesetzten Grenze schaden dürfe. – Hinzu kommt ein Sturm, der „wie zufällig“ ein Haus zum Einstürzen und alle Kinder Hiobs zu Tode brachte. – Wer war nun jeweils der Handelnde, wer war der moralisch Verantwortliche: Gott, Satan, die Sabäer/Chaldäer, jemand anders – oder keiner der Genannten?

Festhalten kann man: Drei Parteien verursachten das Leiden des Hiob, aber ihre Absichten (Motive) waren sehr unterschiedlich: (1) Satan wollte Hiob –und damit dessen Gott– diskreditieren. (2) Die Sabäer/Chaldäer wollten sich am Gut anderer gewalttätig bereichern. (3) Gott wollte den Glauben des Hiob offenbaren und beweisen. – Jeder der Handelnden war am Leiden Hiobs aktiv beteiligt, aber jeder auf unterschiedlicher Ebene und mit unterschiedlichem Beweggrund. Der Beweggrund Gottes war absolut rein und gut, der Beweggrund der anderen zweifelsohne bösartig.

Diese Differenzierung ist notwendig für das Verstehen eines Concursus Dei in der Heiligen Schrift. Sie erklärt uns, wie Gott selbst Böses vorherbestimmen (ordinieren) kann, ohne selbst des Bösen schuldig zu werden. Böses ist stets böse (und Gott legt dafür den Maßstab fest). Gott hat aber niemals böse Absichten und er tut niemals Böses. Er erfährt noch nicht einmal ein Verlangen danach, hat vielmehr größte heilige Abscheu vor allem Bösen. Aber Gott kann durch die bösen Absichten und die daraus folgenden Handlungen anderer dergestalt wirken, dass seine guten Absichten zustande kommen.

Wer das nicht verstanden hat, geht leicht an zentraler Stelle (bezüglich des Wesens und Handelns Gottes, also in der Fundamentaltheologie) in die Irre. Dies wird sehr deutlich an der denkbar bösesten Tat aller Zeiten: an der Ermordung des menschgewordenen Sohnes Gottes durch gesetzlose, böse Menschen, die aber gleichzeitig nach dem festen Ratschluss und Vorsatz Gottes geschah:

Männer von Israel, hört diese Worte: Jesus, … hingegeben nach dem bestimmten Ratschluss und nach Vorkenntnis Gottes, habt ihr durch die Hand von Gesetzlosen an das Kreuz geschlagen und umgebracht.

Apostelgeschichte 2,22-23 (ELB03)

Denn in dieser Stadt versammelten sich in Wahrheit gegen deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, sowohl Herodes als auch Pontius Pilatus mit den Nationen und den Völkern Israels, um alles zu tun, was deine Hand und dein Ratschluss zuvor bestimmt hat, dass es geschehen sollte.

Apostelgeschichte 4,27-28 (ELB03)

Freiheit Gottes. Auch jenseits der oben gegebenen Einzelbeispiele lehrt die Heilige Schrift, dass alles in der Schöpfung Geschehende im Rahmen und gemäß der Zielsetzung der göttlichen Vorsehung und Zuvorbestimmung erfolgt. Auch im ewigen Heilswerk Gottes geht alles »nach dem Vorsatz dessen, der alles wirkt nach dem Rat seines Willens« (Epheser 1,11b). Kein geschaffenes Wesen wirkt mithin völlig autonom, denn dafür mangelt diesem die Macht (etwas zu tun), die Autorität (etwas zu veranlassen) und das Wesen (der autonomen Souveränität). Nur Gott ist und wirkt „aus sich selbst heraus“ (sog. Aseität Gottes), alle Geschöpfe hingegen existieren ursprünglich und beständig alleine durch den Willen und die Erhaltung seitens ihres Schöpfers (vgl. Hebräer 1,3). Mit einem technischen Metapher platt gesagt: Jedes Geschöpf hängt existenziell und lebensenergetisch an der Steckdose des Schöpfers. Gott hat das Wesen und den Lebenskontakt selbst hergestellt, niemand anderes. Zieht Gott den Stecker, fällt das Geschöpf ins Nichts (Tod), in die Wirkungslosigkeit; die menschliche Seele jedoch ist unsterblich. Jede Lebensäußerung, auch die böse Tat, ist nur möglich, solange Gott dem Geschöpf den Lebensodem erhält. Kein Geschöpf ist mit eigenem Batteriesatz oder Kraftwerk lebens-autonom, auch nicht eine Sekunde, nur der Schöpfergott lebt aus sich ewig. (Dies zu bedenken gehört u. a. zur Theodizee-Frage.)

Verantwortung von Mensch und Engeln. Die Heilige Schrift lehrt, dass Gott den von ihm geschaffenen Engeln und Menschen im Rahmen der göttlichen Schöpfungsordnung Aufgaben und die zu deren Erledigung notwendigen Fähigkeiten, Freiheiten, Kräfte und Autoritäten verliehen hat. Verantwortung als ethisches Prinzip ist ein Dreiklang von Subjekt, Objekt und Instanz: Gott macht seine Geschöpfe (Subjekt) Ihm gegenüber (Instanz) verantwortlich für alle ihre Taten und Absichten (Objekt). Versucht ein Geschöpf, seine von Gott gesetzten Grenzen zu überschreiten, ist es ohne Ausweg dem göttlichen Urteil unterworfen und – nach göttlichem Wort – dem Tod geweiht. Die Schrift lehrt deutlich die persönliche Verantwortung vor Gott, u. a. hier:

Denn es steht geschrieben: „So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir wird sich jedes Knie beugen, und jede Zunge wird Gott bekennen“ [Jesaja 45,23.]. So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.

Römerbrief 14,11-12 (ELB03) [Fettdruck hinzugefügt]

Weitere Beispiele zum Zusammenwirken menschlich verantwortlichen Tuns und göttlich souveränen Handelns im selben Geschehen:

(1) Wer bewirkt die geistliche Herzensbeschneidung (Bekehrung)?: Gott befiehlt seinem erwählten Volk Israel: »So beschneidet denn die Vorhaut eures Herzens!« (5. Mose 10,16a). Gleichzeitig gilt die göttliche Verheißung: »Und JHWH, dein Gott, wird dein Herz und das Herz deiner Nachkommen beschneiden, damit du JHWH, deinen Gott, liebst mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele, damit du am Leben bleibst.« (5. Mose 30,6). – Was menschliche Tat und Verantwortung ist, ist vorlaufend und begleitend ebenso Gottes souveräne Tat und gnädiges Geschenk. Der Apostel Paulus erklärt diesen Zusammenhang und die Priorität des göttlichen Wirkens im zeitlichen, praktischen Heil u. a. in Philipper 2,12–13 und betreffs des ewigen Heils u. a. in Epheser 2,1–10 (zusammengefasst in 2,8–10; vgl. Römer 2,29; Philipper 3,3). Schon Jeremia hatte diese Prioritäten und Zusammenhänge richtig erkannt: »Bekehre mich, dass ich mich bekehre, denn du bist JHWH, mein Gott« (Jeremia 31,18b).

(2) Was motiviert zum christlichen Dienst?: Paulus bezeugt: »Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin; und seine Gnade gegen mich ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe viel mehr gearbeitet als sie alle; nicht aber ich, sondern die Gnade Gottes, die mit mir war.« (1. Korintherbrief 15,10). Die Gnade Gottes ist nicht passiv bleibendes Geschenk, sondern aktive, lebensverändernde Kraft im Glaubenden. Der von der Gnade Veränderte offenbart diese Veränderung in fleißigem, Gott hingegebenem Dienst.

(3) Wer hat unsere Werke getan und vollendet?: »JHWH, du wirst uns Frieden geben, denn du hast ja alle unsere Werke für uns vollendet.« (Jesaja 26,12). Ein Mensch betreibt seine eigenen Werke, aber Gott vollendet sie für ihn.

Weitere Beispiele für Concursus Dei in der Schöpfung und im Heilswerk Gottes samt Erläuterungen sind hier aufgezählt.

Die Gnade Gottes ist erschienen … und unterweist uns, gottselig zu leben

Die 95 Reformationsthesen Martin Luthers (1483–1546) wurden durch die üble Lehre und Praxis der Römisch-katholischen Kirche provoziert, die er als Augustinermönch (1505–1521?) bestens kannte. Schon in These 1 formuliert er daher unter Verweis auf Matthäus 4,17, dass Gott gewollt habe, »dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll«. Wie aber gelingt dem ein für alle Mal Gerechtfertigten solch ein gottseliges Leben echter Umkehr? Wie ist es möglich, dass ein an Jesus Christus Glaubender praktisch lernt, »besonnen und gerecht und gottselig [zu] leben« (Titus 2,12)?

Auf diese Frage rechter Glaubenspraxis wurden und werden leider falsche Antworten gegeben und damit die Glaubenden irregeleitet. Anhand einiger Schlüsselstellen der Schrift soll daher die biblische Lehre der Heiligung, des Prozesses also, der den Glaubenden im Leben der Nachfolge praktisch in das Bild des Sohnes Gottes verwandelt, umrissen werden, um Irrwege zu erkennen, zu vermeiden und echtes Wachstum zu erleben.

Zum 500. Reformationsjubiläum 2017 veranstaltete das EBTC e. V. in Lutherstadt Wittenberg eine mehrtägige Reformationskonferenz. Am 20.05.2017 wurde ein Vortrag zum angegebenen Thema gehalten, dessen schriftliche (Lang-)Fassung hier zur Verfügung gestellt wird (PDF, 670 kB). Es ist nicht gestattet, diesen Beitrag kommerziell zu nutzen oder online im Internet zur Verfügung zu stellen.

Gliederung des Beitrags

1 Leben wir in „beständiger Reformation“?

2 Der Kontext der Heiligung

2.1 Rechtfertigung
2.2 Verherrlichung
2.3 Heiligsein und Heiligwerden (Heil und Heiligung)
2.4 Gnade
2.5 Zusammenfassung
2.6 Was ist Heiligung und wie geschieht sie?
2.6.1 Warum müssen Heilige heilig(er) werden?
2.6.2 Wie geschieht Heiligung?
2.6.3 Wie heilig müssen Heilige werden?
2.6.4 Wo geht Heiligung „schief“?

3 Die Lehre der biblischen Heiligung nach Titus 2,11–15
3.1 Biblische Heiligung ist ein Gnadenwerk des Heiland-Gottes
3.2 Biblische Heiligung hat Jesus Christus zum Vorbild
3.3 Biblische Heiligung geschieht in aktiver, dynamischer Unterweisung
3.3.1 Unterweisung im Lebensvollzug
3.3.2 Unterweisung zum Lassen (Gelassenhaben)
3.3.3 Unterweisung im Tun
3.3.4 Biblische Heiligung ist vom Zweiten Kommen Jesu motiviert
3.4 Biblische Heiligung erleben nur Erkaufte und Gereinigte
3.5 Biblische Heiligung findet Ausdruck und Lebensinhalt im Eifer für Gute Werke
3.6 Biblische Heiligung muss Gegenstand der biblischen Ermahnung sein

4 Erfolgt biblische Heiligung monergistisch oder synergistisch?
4.1 Biblische Heiligung ist keine rein passive Veranstaltung
4.2 Biblische Heiligung erfolgt in einer lebendigen Vater-Sohn-Beziehung
4.3 Biblische Heiligung ist keine rein menschlich-aktive Veranstaltung
4.4 Biblische Heiligung geschieht unter Anwendung geistlicher Mittel

5 Drei Schlussfolgerungen
5.1 Biblische Heiligung verlangt anwendungsorientierte Auslegungspredigt
5.2 Biblische Heiligung verlangt vom Glaubenden Aktivität und Eifer
5.3 Biblische Heiligung schenkt dem Glaubenden alles zum Heil Notwendige

Literaturverzeichnis

Auserwählung – Fragen über Fragen

Die Frage der Auserwählung (kurz: Erwählung) ist unter den Christen seit Jahrhunderten umstritten. Was bezeichnet die Bibel als „Auserwählung“, was lehrt sie darüber? Auserwählung bezeichnet mehrere Akte Gottes, darunter auch die Auserwählung zum Heil.

Die Auserwählung zum Heil betrifft den in der vorzeitlichen Ewigkeit in göttlicher Liebe und mit göttlich freiem Willen gefassten Plan Gottes, bestimmte Menschen aus der Menge der zurecht verdammten Sünder wirksam herauszurufen, sie zu retten und sie in die ewige Lebensgemeinschaft mit sich selbst zu holen. Da die Bibel mehrfach und klar bezeugt, dass Gott Menschen zum Heil auserwählt hat, bedeutet das Leugnen dieser Tatsache ein Verlassen der uns göttlich geoffenbarten Wahrheit in der Heiligen Schrift und einen schwerwiegenden Affront gegen das souveräne Gnadenwirken unseres Heiland-Gottes und seine damit verbundene exklusive Herrlichkeit und Ehre.

Der Apostel Paulus beschreibt die Auserwählung zum Heil in Epheser 1 näher:

  • Er sagt, dass Gott »vor Grundlegung der Welt« (unserer Welt) auserwählt hat. Kein Geschöpf war also anwesend, kein Mensch hatte Anteil an dieser Wahl, weder durch seine Worte, sein Wesen noch seine Taten. Aber Gott war da, der Schöpfer und souveräne Herr aller Dinge und Wesen. Als solcher hat Er vor aller Zeit auserwählt.
  • Er sagt, dass Gott auserwählt hat »in ihm«, das ist Christus. Es gibt also keine Auserwählung und damit keine Auserwählten außerhalb von Christus. Gott hat damit entschieden, dass alles Heil nur in Christus zu haben ist. Die Einsmachung mit Christus ist elementare Wahrheit des Heils in Christus (siehe: »in ihm«, »in dem«, »in Christus« u. ä. in Epheser 1).
  • Er sagt, dass Gott auserwählt hat, »dass wir heilig und untadelig seien vor ihm in Liebe«. Das ist das Ziel, das Wozu, der Telos, der Auserwählung Gottes. In solcher Weise vor Gott zu sein bedeutet das größte Glück eines Menschen. Die völlige Errettung ist selbstverständlich Teil dieses Glücks. Die Behauptung, bei Erwählung ginge es nicht (auch) um das Heil, müsste jedem Bibelleser mithin als Unsinn offenbar sein. Gleiches gilt für die Behauptung, bei der Erwählung gehe es (nur) um die Sohnschaft (Epheser 1,5), nicht um das Heil: Wer die Sohnschaft hat, mithin ein Sohn Gottes ist, ist auch absolut sicher gerettet.

Trotzdem umwabert viel trüber Nebel und beißender Rauch die Gedanken und Lehren von Christen und Predigern in Sachen „Auserwählung“. Diese selbstverschuldete Finsternis in den Gedanken und Lehren über das Heil Gottes ist teilweise Ergebnis mangelnden Fleißes, die Schrift unter Gebet gründlich zu studieren, teilweise Ergebnis eines nicht aus der Schrift entnommenen Gedankenrahmens (Paradigmas), in der die exklusiven Rechte Gottes als Gott nicht gebührend Platz gefunden haben. Anders gesagt: Man weiß und glaubt zu wenig von der Wahrheit und/oder klammert sich an zu viele nicht-biblische Presuppositionen. Paul K. Jewett schreibt:

»Die Frage der individuellen Auserwählung hat mehr Menschen dazu verführt, die Heilige Schrift so zu lesen, dass sie dort (nur) das finden, was sie finden wollen (anstelle auf die Heilige Schrift zu hören, auch auf das, wovor sie Angst haben zu hören), als praktisch jede andere theologische Streitfrage.«

Paul K. Jewett, Election and Predestination (Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1985), S. 67

Viele Fragen zur Auserwählung werden von Interessierten gestellt, wichtige, mitunter schwierige Fragen. Das ist ein guter Anfang und Motivation für demütige Selbstreflexion und fleißiges Bibelstudium unter Gebet. Bruce Demarest liefert dankenswerter Weise in seinem Werk The Cross and Salvation (Wheaton, IL: Crossway Books, 1997) eine gute Sammlung solcher wichtigen Fragen, die in folgender Liste mitverwendet wurden:

  • F1:    Geht es bei der Auserwählung Gottes um die Berufung einiger Menschen nur zum (zeitlichen) Dienst, nur zur (ewigen) Errettung oder zu beidem?
  • F2:    Ist die Auserwählung bedingt (also dadurch bedingt, dass Gott die positive Reaktion einer Person auf das Evangelium notwendigerweise vorhersehen muss), oder ist sie bedingungslos (also ausschließlich in Gottes souveränem Willen und seinem Wohlgefallen gegründet und durch ihn verursacht)? Anders gesagt: Folgt logischerweise (kausal) die göttliche Auserwählung dem menschlichen Glauben, oder folgt der menschliche Glaube (kausal) der göttlichen Auserwählung?
  • F3:    Wenn die Auserwählung bedingungslos ist, wie unterscheidet sich diese Lehre dann vom heidnischen Determinismus (z. B. der Stoiker) und vom islamischen Fatalismus?
  • F4:    Ist Auserwählung passiv, also nur Gottes Ratifizierung (nachfolgende Bestätigung) der menschlichen Entscheidung, Christus zu vertrauen, oder ist sie aktiv, also Gottes vorauslaufende, souveräne Festlegung, bestimmte Menschen sicher zu retten?
  • F5:    Ist Auserwählung zur Rettung korporativ (eine [anonyme] Gruppe betreffend) oder individuell (Einzelpersonen betreffend), oder beides?
  • F6:    Betrifft die Auserwählung zum ewigen Heil nur das Ziel und den Inhalt der Auserwählung (das Wozu der Erwählung), oder auch (ggf. sogar primär) die (Einzel-) Personen, die auserwählt wurden (das Wer der Erwählung)? Geht es primär um die Sache oder um die beteiligten Personen?
  • F7:    Betrifft Gottes auserwählender Beschluss die Klasse (Gruppe) jener, die glauben werden, oder betrifft er spezifische Einzelpersonen, die Gott zuvorerkannt und ausgewählt hat?
  • F8:    Ruht die Auserwählung auf Gottes »Zuvorwissen« (rein kognitiv) oder auf Gottes »Zuvorerkennen« (beziehungsmäßig)?
  • F9:    (F8 vertieft) Was meint die Heilige Schrift, wenn sie feststellt, dass Gott die Heiligen »zuvor erkannt« hat (Röm 8:29; 11:2)? Bedeutet es nur, dass Gott in seiner Allwissenheit die glaubensvollen Reaktionen von Menschen voraussieht? Oder sagt sie damit vor allem und tiefergehender, dass Gott seine Liebe auf gewisse Sünder gelegt, eine Lebensbeziehung zu ihnen aufgebaut und folglich sie auserwählt hat, gerettet und geliebt zu werden?
  • F10:  Ist die göttliche Auserwählung einfach, nämlich nur zu ewigem Leben, oder doppelt, nämlich sowohl (manche sagen: in gleicher Weise) zum ewigen Leben also auch zum ewigen Tod?
  • F11:  Fordert die Lehre der bedingungslosen Auserwählung zur Errettung notwendigerweise (»logischerweise«) auch eine bedingungslose Auserwählung zur Verdammnis (Lehre der Reprobation)?
  • F12:  Wie rechtfertigten große Heilige der Vergangenheit, wie z. B. Luther, Calvin, Owen und Bunyan, biblisch ihren Glauben an eine »doppelte Prädestination«?
  • F13:  Liefert das Alte Testament eine andere Sicht auf die Lehre der Auserwählung, als das Neue Testament? Wie unterscheiden sich ggf. diese Sichten?
  • F14:  Welche Rolle spielt Jesus Christus in Gottes »Auserwählungsprogramm«?
  • F15:  Was bedeutet der biblische Ausdruck der Auserwählung »in Christus«? Bedeutet er, dass Glaubende erwählt wurden, weil sie eines Tages begannen, an Christus zu glauben, sich mittels dieses Glaubens »in Christus« hineinbegeben haben und Gott dies in seiner Allwissenheit vorhergesehen hatte? Oder bezeichnet es Gottes Absicht, Errettung nur aufgrund des gehorsamen Lebens und sühnenden Todes Christi zu geben?
  • F16:  Wie können wir den Vorwurf biblisch beantworten, dass die Lehre der bedingungslosen Auserwählung unfair und letztlich Gottes unwürdig sei?
  • F17:  (F16 vertieft) Kollidiert die Lehre der bedingungslosen Auserwählung mit dem in der Bibel geoffenbarten „Charakter“ Gottes?
  • F18:  Wenn Gott souverän festgelegt hat, wer errettet werden wird, würde das die Mission, das Predigen (Evangelisieren) und Überreden von Sündern und das Gebet für die Verlorenen überflüssig (o. sinnlos) machen?
  • F19:  Erzeugt die bedingungslose Sicht auf die Auserwählung nicht ein selbstzufriedenes Leben und untergräbt das Streben nach einem heiligen Leben (wie es z. B. der Methodist Wesley behauptete)?
  • F20:  Bietet die Auserwählungslehre für die Glaubenden praktischen Wert und Trost? Nennt die Heilige Schrift positive Auswirkungen dieser Lehre im Leben der Heiligen?
  • F21:  Sollte die Lehre der Auserwählung in der ganzen Welt gepredigt werden, wie Spurgeon drängte, oder sollte sie nur dem Volk Gottes in der Gemeinde (sozusagen als »Familiengeheimnis«) gelehrt werden?

Diese Fragen rund um die Lehre der Auserwählung sind wichtige. Sie erfordern sorgfältige Untersuchung anhand der Heiligen Schrift, dem »Wort der Wahrheit« (Johannes 17,17; 2.Korinther 6,7; Epheser 1,13; Kolosse 1,5; 2.Timotheus 2,15; Jakobus 1,18).

Eine Einführung und einen Überblick sowohl über die biblische Lehre der Auserwählung als auch über die verschiedenen Lehren und Ansichten unterschiedlicher christlicher Lehrschulen und Gruppen vermittelt Bruce Demarest im erwähnten Buch. Er hat seine Ausarbeitung wie folgt gegliedert (eigene Übersetzung):

1 Warum ist die Lehre der Auserwählung so »schwierig«?
2 Historische Interpretationen der Erwählungslehre
(Übers. wird nachgeliefert)
3 Die biblische Lehre der Auserwählung
3.1   Auserwählung zum Dienst
3.2   Korporative Auserwählung eines Volkes
3.3   Persönliche Auserwählung im AT: Ein Nebenthema
3.4   Persönliche Auserwählung im NT: Ein Hauptthema
3.5   Lehrt die Heilige Schrift eine »Doppelte Prädestination«?
3.6   Zusammenfassung
4 Praktische Auswirkungen der Erwählungslehre
4.1   Große Freude und Gewissheit, erwählt zu sein
4.2   Ermutigung zu Predigt, zur Evangelisation und zum Gebet
4.3   Ein positiver Stimulus für die Heiligung
4.4   Verkünde zuversichtlich: »Wer immer da will«
4.5   »Will« Gott wirklich, dass alle Menschen errettet werden?

Eine Übersetzung ins Deutsche mit vielen Ergänzungen und Erweiterungen durch Grace@logikos.club gibt es hier zum Download (PDF).

Wir haben empfangen … Gnade um Gnade

Der Apostel Johannes schreibt als einer der letzten der Autoren des Neuen Testaments. Die drei synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus und Lukas) sind alle schon einige Jahrzehnte geschrieben und verbreitet worden. Sie portraitierten den Herrn Jesus Christus als den König und Messias Israels, den Knecht Gottes und den wahren Menschen. Aber Johannes hat einen besonderen Auftrag: Er soll von Jesus Christus als dem menschgewordenen ewigen Sohn Gottes schreiben, damit Menschen an Ihn glaubend das ewige Leben haben (Johannes 20,31).

Das erste Kapitel seines Evangeliums ist voll tiefgründiger Aussagen über Christi Gottsein, Menschsein und Sendung. Johannes vergleicht das Kommen Jesu Christi mit dem größten Führer des Volkes Gottes alttestamentlicher Zeit, mit Mose:

Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben;
die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.

Johannes 1,17 (ELBCSV 2003)

Offenbar ist in Jesus Christus ein unvergleichlich Größerer zu uns Menschen gekommen, als der große Mose: der große Gott selbst. Und offenbar hat Jesus Christus etwas unvergleichlich Größeres mitgebracht, als Mose damals übermittelnd liefern konnte, nämlich Gnade und Wahrheit. Er, der als Gott selbst Licht (1.Johannesbrief 1,5) und Liebe (1.Johannesbrief 4,8) ist, bringt „uns allen“ leuchtende Wahrheit und liebende Gnade. Und dies mitnichten spärlich, sondern im Überfließen, „aus seiner Fülle“ [πληρώματος αὐτοῦ]:

Denn aus seiner Fülle haben wir alle empfangen,
und zwar Gnade um Gnade [χάριν ἀντὶ χάριτος].

Johannes 1,16 (ELBCSV 2003)

So wundert es nicht, dass vor allem das Evangelium nach Johannes eine Fund- und Schatzgrube für Beispiele, Aussagen und Lehren über die Gnade Gottes ist. Im menschgewordenen Sohn Gottes ist die Gnade Gottes sichtbar und für den Glauben rettend und beglückend greifbar geworden. Während der Apostel Paulus besonders erklärt, dass in Jesus die Gnade Gottes allen Menschen heilbringend erschienen ist (Titus 2,11ff), lehrt der Apostel Johannes vor allem, wie Gott seine Familie aus der verdorbenen, rebellischen Welt durch die Hingabe Seines einzigen Sohnes ans Kreuz rettet, ja: herausliebt (Johannes 3,16). Nun gilt für jeden Glaubenden, dass er im Sohn Gottes ewiges Leben hat, und zwar als Geschenk, nicht als Lohn, sondern „aus Gnade“ (Johannes 20,31).

Der amerikanische Theologe, Autor und Prediger Dr. Steven J. Lawson (Gründer und Präsident von OnePassion Ministries) hat eine Lehrreihe zu The Doctrines of Grace in John zur Verfügung gestellt. Es handelt sich dabei um 12 Kurslektionen zu je ca. 25 Minuten. Ein Kursteilnehmer hat freundlicherweise seine deutschsprachigen Notizen online zur Verfügung gestellt. Alle Rechte für den originalen Kurs bleiben natürlich beim Autor und beim Veranstalter Ligonier Ministries (Sanford, FL, USA, www.ligonier.org). Die Kursteilnahme mit offener Bibel sei hiermit wärmstens empfohlen.

Quellenverweise

  • Den Kurs in englischer Sprache (Original) kann man hier in verschiedenen Medien und Gruppenlizenzen kaufen.
  • Eine kostenlose Probelektion (Einleitung) des Kurses in englischer Sprache gibt es hier.
  • Kursunterlagen (Study Guide) in englischer Sprache (PDF; backup);
  • Kursunterlagen in englischer Sprache als Taschenbuch, Hörbuch und Audio-CD.
  • Kursnotizen (Mitschrift) in deutscher Sprache (PDF; backup).
  • Eine kürzere Abhandlung gleichen Themas des Baptisten R. Bruce Steward (1936–2006) ist in der Chapel Library der Mount Zion Bible Church enthalten (PDF).
  • Eine grundlegende Abhandlung über die Lehren der Gnade aus reformierter Sicht: James Montgomery Boice und Philip Graham Ryken, The Doctrines of Grace, Wheaton, IL: Crossway, 2002. Deutsch: Die Lehren der Gnade, Oerlinghausen: Betanien, 2009.
  • Eine dogmengeschichtliche Darstellung der Lehren der Gnade in der Plymouth-Brüder-Bewegung: Mark R. Stevenson: The Doctrines of Grace in an Unexpected Place. Calvinistic Soteriology in Nineteenth-Century Brethren Thought. Eugene, OR: Wipf and Stock, 2007). Deutsch: Die Brüder und die Lehren der Gnade. Wie stand die Brüderbewegung des 19. Jahrhunderts zur calvinistischen Heilslehre? Bielefeld: CLV, 2019.
  • Der bekannte Baptist und „Fürst der Prediger“ Charles H. Spurgeon (1834–1892) lehrte ebenfalls die Lehren der Gnade, siehe: Charles H. Spurgeon – Prediger der biblischen »Lehren der Gnade« (auf diesem BLOG).

»Es ist vollbracht!« – Was denn?

Als der Herr Jesus Christus am Karfreitag am Kreuz hängend sieben bedeutsame Worte aussprach, lautete das vorletzte: »Es ist vollbracht!« (Johannes 19,30 ELBCSV; vgl. Mt 27,50; Mk 15,37; Lk 23,46). Nur der Apostel Johannes berichtet es uns im Wortlaut. Danach neigte Christus sein Haupt und übergab mit dem siebten Ausruf seinen Geist Gott: Das Lamm Gottes, »das die Sünde der Welt wegnimmt« (Joh 1,29), starb in aktiver, völliger Hingabe an Gott. Der Mensch gewordene Sohn Gottes neigte sein Haupt, nicht in Resignation oder Schwäche, sondern wie zum Schlummer[1], um es am dritten Tag in eigener Autorität wieder zu erheben (Joh 10,18).

Was heißt »vollbracht«?

Jesus sprach tatsächlich nur ein Wort: » tetélestai «[2]. Schon zwei Verse vorher gebrauchte Johannes dieses Wort in identischer Form: »Danach, da Jesus wusste, dass alles schon vollbracht war[2], spricht er, damit die Schrift erfüllt würde[3]: Mich dürstet!« (Joh 19,28). Das Wort und seine Zeitform hier bedeuten, dass eine Tat oder ein Werk zum erfolgreichen Ziel gebracht wurde und nun bleibende Auswirkungen hat. Man schrieb tetélestai auf eine bezahlte Rechnung, auf eine abgesessene Gefängnisstrafe usw., also: „Bezahlt!“, „Abgeleistet!“, „Fertig!“: Nichts ist mehr zu bezahlen, keine Forderung besteht mehr, alles ist erledigt. – Hier wurde nicht nur „eine Tür zum Heil aufgestoßen“ oder „dem Sünder eine Chance geboten“ oder „dem Menschen ein großes Vorbild gegeben“ –alles Vorstellungen des bloß Potentiellen, im Prinzip also Unvollkommenen– , sondern etwas komplett fertiggestellt! »Welches Wort enthielt jemals so viel?« (William Kelly, An Exposition of the Gospel of John ).

»Es« – Was wurde vollbracht?

Auch hier gibt uns Johannes den Schlüssel zum Verständnis in die Hand. (1) Christi Gehorsam. Er berichtet, dass die Werke, die Christus tat, seine Sendung bezeugten: »die Werke, die der Vater mir gegeben hat, dass ich sie vollbringe, die Werke selbst, die ich tue, zeugen von mir, dass der Vater mich gesandt hat« (Joh 5,36). Christi Gehorsam und Widmung wurden auf dem Kreuzesaltar völlig offenbar. (2) Offenbarung des Vaters. Der Apostel Johannes berichtet ferner, dass Christus kurz vor seiner Passion rückblickend zum Vater sagte: »Ich habe dich verherrlicht[4] auf der Erde; das Werk habe ich vollbracht[5], das du mir gegeben hast, dass ich es tun sollte.« (Joh 17,4). Als Jesus ausrief: »Es ist vollbracht!«, war jenes Werk, das ihm der Vater aufgetragen hatte, erfolgreich fertiggestellt. Bei diesem Werk des Sohnes Gottes ging es letztlich darum, den Vater auf der Erde zu verherrlichen, also die Herrlichkeit Seines wunderbaren Wesens und einzigartigen Heilswerks bekannt zu machen, denn: »Niemand hat Gott jemals gesehen; der eingeborene Sohn, der im Schoß des Vaters ist, der hat ihn kundgemacht[6]« (Joh 1,18). (3) Vollkommene Sühnung. Und letztlich sagt uns der Apostel Johannes, dass Christus »das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt«, ist (Joh 1,29.36; vgl. Offb 5,6ff; 21,22–27). Der Apostel Petrus äußert sich in ähnlicher Weise, fokussiert sich jedoch auf das Volk Gottes. Er verbindet die vollkommene Erlösung der »Kinder des Gehorsams« mit ihrem vollkommenen Erlöser: »[Ihr seid] erlöst worden … mit dem kostbaren Blut Christi, als eines Lammes ohne Fehl und ohne Flecken« (1Pet 1,18–19). In Summa: »Denn mit einem Opfer hat er auf immerdar die vollkommen gemacht[7], die geheiligt werden.« (Hebr 10,14).

Ad (2): Am deutlichsten wurde das Kundtun (Darlegen, Erklären) des Vaters durch den Sohn im Sterben Jesu am Kreuz: Jeder kann am Kreuz Jesu nun sehen, dass Gott Liebe ist (1Joh 4,7–12) und dass Gott Licht ist (1Joh 1,5), gerecht und heilig:

  • Liebe: »Denn so hat Gott die Welt geliebt«
  • Licht: »dass er seinen eingeborenen Sohn [als Opfer] gab«
  • Liebe: »damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe.« (Joh 3,16).

Wer auf Christus im Glauben schaut, wer Sein Opfer am Kreuz für sich persönlich in Anspruch nimmt, sich für seine ewige Erlösung und Rettung alleine auf Jesu Person und Werk verlässt, der ist für immer gerettet, ist ein Kind Gottes, das zeitlebens Grund zum Jubeln hat, denn: »Es ist vollbracht!«

»Es ist vollbracht!« – Das muss man besingen!

Jacques Erné (1825–1883) hat den Siegesruf des Sohnes Gottes im 19. Jhdt. (1883?) in ein schönes Loblied gefasst:

Es ist vollbracht,
das große Werk, das schwere.
Gott ist gerecht, Ihm ward nun Seine Ehre
durch Seinen Sohn, der laut verkündet hat;
„Es ist vollbracht!“, „Es ist vollbracht!“

Es ist vollbracht!
Was Gottes Liebe wollte,
was für den Sünder, den verlornen, sollte
zur Rettung und zum ew’gen Heile sein,
das ist vollbracht, das ist vollbracht.

„Es ist vollbracht!“,
durchtönt’s die Ewigkeiten
zu Gottes Lob, zu der Erlösten Freuden;
sie danken Gott, sie beten Jesus an,
dass Er’s vollbracht, dass Er’s vollbracht.

Sprachliche Notizen

[1] κλίνας – Aorist Partizip Aktiv von κλίνω = neigen, beugen. »What is indicated in the statement “He bowed His head,” is not the helpless dropping of the head after death, but the deliberate putting of His head into a position of rest, John 19:30. The verb is deeply significant here. The Lord reversed the natural order. The same verb is used in His statement in Matt. 8:20 and Luke 9:58, “the Son of Man hath not where to lay His head.”« (Vine, W. E. ; Unger, Merrill F. ; White, William, Jr.: Vine’s Complete Expository Dictionary of Old and New Testament Words, 2, s. v. »bow, bowed (Verb)«. Vgl.: Walter Bauer, Das Johannes-Evangelium, 3. Aufl. (Tübingen, 1933), S. 218.
[2] τετέλεσται – Perfekt Passiv Indikativ 3.Pers. Sing. von τελέω = vollenden (nicht nur zum Ende, sondern zur Vollendung führen). Das Verb kommt im NT 28mal vor, in dieser Form nur 2mal im Johannesevangelium (Joh 19,28.30). Die ELBCSV gibt es wieder als: vollenden, zu Ende sein, bezahlen/entrichten (!), vollbringen, erfüllen.
[3] τελειωθῇ – Aorist Passiv Konjunktiv 3.Pers.Sing. von τελειόω = vollkommen machen; »bedeutet die abschließende Erfüllung des gesamten Schriftinhaltes« (Rienecker, Sprachlicher Schlüssel, S. 246). Das Verb kommt im NT 23mal vor, und wird in der ELBCSV auch mit vollenden, vollbringen, vollkommen machen wiedergegeben. Im Vergleich zum verwandten Verb τελέω (s. o.) betont es über die Vollendung hinaus den Aspekt der erzielten Perfektion (Vollkommenheit). Das Verb ist Kennzeichenverb des Hebräerbriefes (9mal: 2,10; 5,9; 7,19.28; 9,9; 10,1.14; 11,40; 12,23). Vgl. die Verwendung bei Johannes in Joh 4,34; 5,36; 17,4.23; 19,28; 1Joh 2,5; 4,12.17.18, sowie in Apg 20,24; Php 3,12; Jak 2,22.
[4] ἐδόξασα – Aorist Aktiv Indikativ von δοξάζω = verherrlichen, erheben, preisen, Ehre geben. Es ist also Feststellung einer bestehenden Tatsache. In dieser Form nur in Joh 12,28 »Ich habe ihn verherrlicht« und hier in 17,4 »Ich habe dich verherrlicht auf der Erde«.
[5] τελειώσας – Aorist Partizip Aktiv von τελειόω = ans Ziel bringen, vollenden. Versteht man dieses Partizip periphrastisch, dann war das Vollenden der Werke (punktueller Aspekt) der Begleitumstand oder die Art und Weise, mit dem bzw. der der Sohn Gottes seinen Vater verherrlichte (= Haupthandlung). Die ESV hat: »having accomplished the work that you gave me«. Das Vollenden war jedenfalls der Zielpunkt der Sendung des Sohnes, vgl. Johannes 5,36: »die Werke, die der Vater mir gegeben hat, damit ich sie vollbringe [τελειώσω – Aorist Konjunktiv Aktiv von τελειόω; Aspekt: punktuell, also feststellend, zusammenfassend betreffs der Absicht des Handelns]«.
[6] ἐξηγήσατο – Aorist Medium Indikativ 3.Pers Sing. von ἐξηγέομαι = darlegen, auseinandersetzen, auslegen, berichten; »etwas völlig bekannt machen durch sorgfältige Erklärung oder durch klare Offenbarung« (Louw, Johannes P., Nida, Eugene Albert: Greek-English Lexicon of the New Testament: Based on Semantic Domains (New York: United Bible Societies, 1996), 28.41; Üb.d.A.).
[7] τετελείωκεν – Perfekt Aktiv Indikativ von τελειόω = ans Ziel bringen, vollenden; mit expliziter Anfügung von εἰς τὸ διηνεκὲς = »auf immerdar«, »ununterbrochen«. Die von Gott Geheiligten sind durch Christi Opfer in einen Zustand versetzt worden, in dem sie ein für allemal und ohne jegliche Unterbrechung vollkommen sind (was Auswirkungen bis heute hat). Da das Opfer Christi für immer und stets vollwirksam gilt, besteht dieser vollkommene Zustand der »Geheiligten« in gleicher Weise immer und stets vollwirksam.


Wir stehen an der Seite von Pastor James Coates

Am 15. Februar 2021 stellte sich Pastor James Coates der GraceLife Church of Edmonton in der kanadischen Provinz Alberta der Polizei. Er wurde verhaftet wegen zweier Vorwürfe: einerseits habe er sich dem Public Health Act, einem provinziellen Gesetz, widersetzt und zweitens habe er die Straftat begangen, sich (oder seine Kirchgemeinde) einer Anordnung über Maskentragen, Distanzierung und Teilnehmerbeschränkung auf 15% der Kapazität nicht untergeordnet zu haben.

Die Inspektorin für Public Health, Janine Hanrahan, hatte am 14.02.2021 einen entsprechenden Bericht verfasst; sie klassifizierte die Sache als »Public Nuisance«, also als Handlung, die die Rechte der Öffentlichkeit verletze (ungefähr: „öffentliches Ärgernis“). Die Alberta Health Services forderten im Januar 2021 ein Gericht auf, ihre Gesundheitsanordnungen gegen die Gemeinde von Pastor Coates durchzusetzen. Dies richtete sich dann in persona gegen den Pastor der Gemeinde, dem am 7. Februar eine entsprechende Unterlassungserklärung zur Unterschrift vorgelegt wurde. Pastor Coates unterschrieb nicht, und so klagte ihn die Krone nun unter section 145(4) (a) (Failure to comply with undertaking) des Strafgesetzbuches an. Dort steht: »Every person is guilty of an indictable offence and liable to imprisonment for a term of not more than two years or an offence punishable on summary conviction who, (a) is at large on an undertaking and who fails, without lawful excuse, to comply with a condition of that undertaking;«

Pastor Coates folgte bewusst nicht der gerichtlichen Anordnung, die Gemeindeversammlungen auf unbestimmte Zeit auf 15% der Kapazität zu beschränken (usw.), war sich aber von den Androhungen der Unterlassungserklärung her im Klaren darüber, dass diese Verweigerung zu seiner Verhaftung führen würde. So erschien er, nachdem er am 14. Februar noch den Gottesdienst geleitet hatte, am Montag drauf freiwillig bei der Polizei. Eine Entlassung gegen Kaution, welche selbst Schwerverbrechern in der Regel gewährt wird, wurde ihm nach der Anhörung verwehrt. Er wurde im Provinzgefängnis Edmonton Remand Centre in Einzelhaft gehalten, anfänglich unter Quarantäne entsprechend den offiziellen COVID-19-Vorschriften (er hat aber keine Infektion). Die Bedingungen für eine Freilassung gegen Kaution waren, dass er die Einhaltung aller Gesundheitsverordnungen unterschrieb, ansonsten er weder als Teilnehmer noch als Pastor die Versammlungen besuchen dürfe, mithin alle seine Verpflichtungen als Pastor, inklusive Predigen, Abendmahl, Taufen sowie weitere Aktivitäten einzustellen hätte. Dies war Pastor Coates aus Gewissensgründen und aufgrund seiner biblisch begründeten und im Gewissen festen Glaubensüberzeugungen nicht bereit zu tun.

Die Gemeinde handelte offenbar vorbildlich verantwortungsvoll und stets im Wort Gottes gegründet. Als COVID-19 Anfang 2020 vermehrt auftrat und Hochrechnungen exorbitant hohe Todeszahlen prognostizierten (berühmt-berüchtigt die Simulationen von Neil Ferguson vom Imperial College), hatte die Gemeinde von Präsenzveranstaltungen komplett auf Livestream umgestellt. Als die erste Notsituation auch offiziell für beendet erklärt wurde, öffnete die Gemeinde wieder ihre Türen und hatte normale Gottesdienste (ab 21. Juni 2020). Anfang Juli wurde der Gemeindeleitung bekannt, dass sich zwei Personen, die zur Gemeinde gehören, sich irgendwo mit COVID-19 angesteckt hatten. Sofort wurden für 14 Tage alle Veranstaltungen wieder auf Online umgestellt, sozusagen als Quarantäne-Maßnahme. Als klar wurde, dass keine weiteren Ansteckungen unter den Gemeindegliedern und Besuchern erfolgt waren, wurde wieder auf normalen Präsenzbetrieb umstellt und dies bis heute beibehalten. Ein Todesfall ist trotzdem zu beklagen: ein Mitglied der Gemeinde bekam wegen des angeordneten COVID-Lockdowns nicht die nächste notwendige Krebsbehandlung und verstarb. Der Bericht und die Stellungnahme der Gemeinde ist hier zu lesen.

Dieser Fall ist nur einer von vielen, wo sich Regierungen oder nachgeordnete Stellen anmaßen, von Gott direkt und unveräußerlich dem Menschen gegebene Rechte wegzunehmen oder einzuschränken. (Diese Rechte ergeben sich aus dem Mandat, das Gott dem Menschen allgemein geben hat. Dies kann hier nicht vertieft werden.) Dies ist keine triviale Angelegenheit, sondern berührt die Verfassung und die Werte einer freiheitlichen Verfassungsgemeinschaft im Kern. Die medial massiv verbreiteten Angstszenarien (engl. narratives) rund um COVID-19 scheinen ein geeignetes Begründungsvehikel für übergriffige Verordnungen bis hin zu neuen Ermächtigungsgesetzen zu sein. Es ist auch ein Test dafür, ob die Strukturen der Gewaltentrennung im Staat wirksam sind. Hier soll es aber nicht um diese zivilbürgerlichen Herausforderungen gehen, sondern darum, ob und wie Himmelsbürger, bekennende Christen, die Christus ausdrücklich als den Obersten Herrn bekennen, der über jeder weltlichen Gewalt steht und dieser ein klar bestimmtes Mandat (Aufgabe, Verantwortung, Grenzen) mit entsprechender Autorität verliehen hat, zur verfolgten Gemeinde stehen sollten.

Dazu anregen soll die folgende Stellungnahme »We Stand with Pastor James Coates« der Ausbildungsstätte von Pastor Coates, dem The Master’s Seminary in Sun Valley, CA (USA). Sie stammt von Nathan Busenitz, dem Executive Vice President und Dean of Faculty am The Master’s Seminary. Er ist als Hirte von Cornerstone, einer Gemeinschaftsgruppe der Grace Community Church (23.02.2021), Glaubensbruder und Dienstkollege von James Coates. Die folgende Übertragung ins Deutsche nimmt keine Perfektion für sich in Anspruch; es gilt das veröffentlichte Original. Ein beeindruckendes Interview mit Erin Coates, der Ehefrau des Pastors, ist hier zu anzuhören. Ihre eidesstattliche Erklärung gegenüber dem Gericht in Edmonton (26. Februar 2021) ist hier zu lesen.
Update 05.07.2021: Ein Interview von Pastor Tobias Riemenschneider (ERB Frankfurt) mit Pastor James Coates ist auf YouTube zu sehen: James Coates: Im Gefängnis für Christus – ein Interview (Deutsch); englischsprachige Version: James Coates: In Jail For Christ – An Interview (English).

»Wir stehen an der Seite von Pastor James Coates«

Die Seiten der Geschichtsbücher sind voller Beispiele von treuen Gläubigen, die mit Entschiedenheit Gott gehorchten, selbst wenn dies bedeutete, dem harten Widerstand von Mitmenschen ins Auge zu sehen. Als Daniel sich weigerte, mit seinem täglichen Gebet aufzuhören, wurde er in die Löwengrube geworfen. Als die Apostel sich weigerten, die öffentliche Verkündigung des Namens Jesu einzustellen, wurden sie verhaftet und ausgepeitscht. Als der Kirchenvater Polycarp sich weigerte, Christus zu verleugnen, wurde er auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Als der Puritaner John Bunyan sich weigerte, mit dem Predigen aufzuhören, wurde er 12 Jahre ins Gefängnis geworfen. Viele weitere Beispiele könnten noch angeführt werden, aber der springende Punkt ist klar: Gott zu gehorchen ist nicht immer einfach. Aber dies war das Lebenszeichen aller Glaubenden zu allen Zeiten.

James Coates ist eine lebendige Illustration dieser Art von Entschlossenheit. Als Abgeordnete der Regierung sich einmischten in die Fähigkeit der Gemeinde, sich frei zu versammeln und Gottesdienst zu halten, entschieden James und seine Mitältesten, dass sie Gott Priorität vor der Regierung einzuräumen hatten. Diese mutige Stellungnahme hatte ihren Preis. James wurde verhaftet und angeklagt. Als er vor dem Richter erschien, wurde ihm mitgeteilt, dass man ihn freilasse, wenn er aufhören würde, Gottesdienste in seiner Gemeinde abzuhalten. Wie Luther einst auf dem Wormser Reichstag, antwortete er respektvoll, dass er dies niemals tun könne. Sein Gewissen sei gebunden an Gott und die Heilige Schrift. Das hatte zur Folge, dass James ins Gefängnis geworfen und wie ein gewöhnlicher Krimineller behandelt wurde.

Es ist klar, dass die Regierung in Edmonton an James ein Exempel statuieren will. Auch wir wollen James als Exempel [Vorbild] hinstellen, denn sein Verhalten war in der Tat vorbildlich. Die Fakultät, die Mitarbeiter und die Studierenden von The Master’s Seminary stehen solidarisch zu James und seiner Gemeinde. Er erfüllt uns mit rechtem Stolz. Unser Wunsch ist es nämlich, Männer auszubilden, die nicht nur den Inhalt der Heiligen Schrift kennen, sondern ihre biblischen Überzeugungen auch ausleben. James ist so ein Mann – ein Mann des Meisters [Wortspiel mit: a Master’s man]. Wir stehen zu seinem Mut. Vielmehr jedoch geben wir unseren Beifall jenen unverhandelbaren Überzeugungen, welche die Begründung für solchen Mut bilden. Wir vertrauen dem Herrn in allem diesem und werden weiter für unseren geschätzten Bruder, seine Ehefrau, seine Söhne, seine Mitältesten und seine Gemeinde beten. Unser Gebet ist nicht nur, dass James bald aus der Haft entlassen und seiner Familie wiedergegeben werde, sondern dass als Ergebnis des Ganzen das Evangelium weit hinaus scheine zur Verherrlichung und Ehre Christi.

Soli Deo Gloria!

Update 23.03.2021: Die Strafverfolger der Krone haben den wesentlichen Teil ihrer Anklagen gegen Pastor James Coates zurückgezogen und wollen ihn –entgegen dem bisher gefolgten Antrag der Staatsanwältin, Frau Karen Thorsrud– eventuell in Kürze auf freien Fuß setzen. Das Hearing dazu vor dem Stony Plain Provinzialgericht fand am 22. März statt, Coates war virtuell zugeschaltet. Der Provinzialrichter Jeffrey Champion erhöhte die von Staatsanwaltschaft (Krone) und Verteidiger einmütig vorgeschlagene Strafe für die Missachtung der gerichtlichen Unterlassungsanweisung von 100 Can$ auf 1.500 Can$. Coates willigte trotzdem in die Strafe ein. Da durch die Haftzeit eine größere Entschädigung ansteht, ist der Betrag mit einem Teil der Haft beglichen und Coates wurde ohne weitere gerichtliche Auflagen entlassen. Ein Prozess am 3.–5. Mai 2021 soll klären, ob die Anordnungen des Gesundheitsamtes (Alberta Health Services), ausgegeben von Frau Deena Hinshaw, Chief Medical Officer of Health der Provinz Alberta, die zur Verletzung von »Fundamental freedoms« gemäß der Canadian Charter of Rights and Freedoms (Teil der Kanadischen Verfassung) führten und vom Parlament oder gewählten Angehörigen des Parlaments (Legislative Assembly) nicht abgesegnet sind, gerechtfertigt waren und sind. Die Beweispflicht liegt auf Seiten des Staates, es wird also höchstwahrscheinlich politisch entschieden. (Bericht des Justice Centers hier.)
Update 01.07.2021: Die Provinz Alberta lässt am 01. Juli 2021 alle Restriktionen wegen COVID-19 fallen. Entsprechend muss sie auch alle physischen Hindernisse vom kircheneigenen Grundstück entfernen und darf freien Gottesdiensten nicht länger im Wege stehen. Damit dürfte das Intermezzo als „Erste Untergrundkirche Canadas“ an geheimen Orten vorerst zu Ende gehen.

Du, Herr, erhörest, wenn wir beten
und glaubend schaun zu Dir hinauf;
wir sind allzeit durch Dich vertreten,
durch Dich bewacht im Pilgerlauf.
Wir können frei und sicher gehn,
wenn wir, o Herr, auf Dich nur sehn.

Carl Brockhaus (1822–1899)

Textquelle: Siehe Uwe Seidel (EBTC), Wir stehen an der Seite von Pastor James Coates, hier.

Vor 500 Jahren: Luther auf dem Reichstag zu Worms

Am 18. April 1521 stand der Wittenberger Professor und Reformator Dr. Martin Luther vor dem jungen römisch-deutschen König und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Karl V. (1500–1558), der ihn zum Reichstag nach Worms eingeladen hatte. Dieser Reichstag ist einer der großen Wendepunkte der deutschen Geschichte. Er steht am Ende der verfassungsgebenden Reichsversammlungen, auf denen seit dem Wormser Tag von 1495 die zerrütteten Ordnungen des Reiches im Sinne der ständischen Gewalten neu verhandelt wurde (Paul Kalkoff, S. 6). Der Reichstag verhandelte also bedeutsame Sachen und tagte daher recht lange (27.01.–26.05.1521). Auch Vertreter des römischen Papstes waren anwesend, unter anderem Hieronymus Alexander, seit 1520 außerordentlicher Nuntius bei Karl V. Die römische Kirche wollte Karl V. bewegen, sich der Causa Luther anzunehmen und die Bannandrohungsbulle Exsurge Domino des Papstes gegen Martin Luther in Deutschland zu publizieren. Am 6. März 1521 lud Karl V. Luther mit Dreiwochenfrist ab Kenntnisnahme vor und sicherte ihm das freie kaiserliche Geleit zu. Reichsherold Kaspar Sturm übergab Luther die Vorladung am 29. März 1521. Die Zusicherung freien Geleits war natürlich in Erinnerung an das Schicksal des böhmischen Reformators Jan Hus einhundert Jahre vorher nicht überzeugend: Dieser wurde trotz entsprechender Zusicherung des deutschen Königs Sigismund nach dem Konzil zu Konstanz am 6. Juli 1415 nach langer Inhaftierung als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Trotz ähnlicher Gefahrenlage machte sich Luther mit Begleitern am 2. April 1521 auf den langen Weg von Wittenberg nach Worms.

Der Kaiser sprach nicht selbst mit dem vor ihm stehenden Luther. Soweit die gewählte Sprache Deutsch war, konnte er sowieso nur mittels Dolmetscher folgen. Er bediente sich eines Redners („Orator“), Johann von Eck, Offizial des Erzbischofs von Trier, also einem Vertreter der Gegenpartei Luthers. Überhaupt war der Kaiser derart entschieden gegen Luther voreingenommen, dass er bereits vor der Anhörung und ohne die Einwilligung der Stände ein „Sequestrationsmandat“ erlassen hatte (26/27. März 1521), das die Vernichtung der Schriften Luthers befahl und damit Luther schon im Voraus verurteilte. Johann von Eck stellte Luther am ersten Verhörtag 17. April 1521 (eine Disputation war von Luthers Gegenseite gar nicht vorgesehen) im Wesentlichen zwei Fragen: Ob die ausgelegten Schriften und Bücher die seinen wären und ob er diese widerrufe. Luther bejahte das Erste und verneinte das Zweite. Er verlangte und bekam daraufhin einen Tag Bedenkfrist.

Am 18. April 1521 wurden von Johann von Eck die Fragen des Vortags wiederholt. Luther antwortete nochmals ausführlich. Nach einer längeren Gegenrede von Ecks befragte dieser Luther abschließend nochmals, ob er seine Schriften widerrufe. Luther antwortete (auf Lateinisch) mit:

»… wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, daß sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!«

Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe, Band II: Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. [Der Reichstag zu Worms 1521]. Bearbeitet von Adolf Wrede. Gotha 1896.], Rede Luthers ab S. 551; siehe auch Nr. 80, S. 569–582. [Link digitale Kopie: https://archive.org/details/deutschereichst07kommgoog/page/n8/mode/2up]

Am 19. April 1521 gab Karl V. nach Verhandlungen mit den Reichsständen eine Erklärung ab, in der er sich zur tausendjährigen christlichen Tradition, zur Treue gegenüber Rom und zum Schutz der römischen Kirche bekannte. In Luther sah er nur einen Häretiker, gegen den vorzugehen sei. Dass sich jemand nur auf das Wort Gottes als letzter Instanz berief, war trotz Hus (u. a. Vorreformatoren) noch ungewohnt und aus Sicht der Herrschenden unakzeptabel und provokativ. Auf den Inhalt der Lehre Luthers ging der Kaiser nicht ein. Er war in den machtpolitischen Umwälzungen seiner Zeit zwischen den Reichsständen, dem Papst (Römisch-katholische Kirche, Kurie) und der um sich greifenden Reformation und deren Vertretern in Politik und Kirche stark gefordert und auch gefährdet. Der Reichstag hatte diese machtpolitischen Fragen bezüglich der Reichsreform als Hauptgegensstand, aber im Rückblick war die Causa Luther die alles überragende Frage des Reichstags zu Worms.

Es dauerte nur acht Jahre, bis auf dem Reichstag zu Speyer (19. April 1529) sechs Fürsten und die Bevollmächtigten von 14 Reichsstädten gegen die Reichsacht über Martin Luther und die Ächtung seiner Schriften und Lehre offiziell protestierten. Sie überreichten eine Protestationsschrift, aber der Leiter des Reichstags, Ferdinand I. (ab 1558 Kaiser des HRR), der seinen Bruder Kaiser Karl V. auf dem Reichstag vertrat, verweigerte die Annahme. Vielmehr wurde in der Schlusssitzung am 24. April 1529 nochmals die alte Reichsacht als geltendes Recht verlesen, die Protestation wurde mit keinem Wort erwähnt. Die „Protestanten“ nahmen dies so nicht hin, sondern verfassten am nächsten Tag das sog. Instrumentum Appellationis, in dem sie ihre Beschwerde gegen diesen Endbescheid des Reichstag (den sog. Reichsabschied) nochmals zusammenfassten.

Seitdem tragen die Anhänger der reformatorischen Bewegung die Bezeichnung „Protestanten“. Die grundlegende Argumentation Luthers begründet die Bezeichnung „Evangelische“, denn er beruft sich zuoberst und alleine auf das Evangelium, die Lehre Christi, die Heilige Schrift, welche Gottes Wort und damit –nach Aussage des Sohnes Gottes (Johannes 17,17)– die Wahrheit ist.

Luthers Verteidigungsrede auf dem Reichstag zu Worms (18. April 1521)

»Allergnädigster Herr und Kaiser!

Durchlauchtigste Fürsten! Gnädigste Herrn!

Ich erscheine gehorsam zu dem Zeitpunkt, der mir gestern abend bestimmt worden ist, und bitte die allergnädigste Majestät und die durchlauchtigsten Fürsten und Herren um Gottes Barmherzigkeit wollen, sie möchten meine Sache, die hoffe ich, gerecht und wahrhaftig ist, in Gnaden anhören. Und wenn ich aus Unkenntnis irgend jemand nicht in der richtigen Form anreden oder sonst in irgendeiner Weise gegen höfischen Brauch und Benehmen verstoßen sollte, so bitte ich, mir dies freundlich zu verzeihen; denn ich bin nicht bei Hofe, sondern im engen mönchischen Winkel aufgewachsen und kann von mir nur dies sagen, daß ich bis auf diesen Tag mit meinen Lehren und Schriften einzig Gottes Ruhm und die redliche Unterweisung der Christen einfältigen Herzens erstrebt habe.

Allergnädigster Kaiser, durchlauchtigste Fürsten! Mir waren gestern durch Eure allergnädigste Majestät zwei Fragen vorgelegt worden, nämlich ob ich die genannten, unter meinem Namen veröffentlichten Bücher als meine Bücher anerkennen wollte, und ob ich dabei bleiben wollte, sie zu verteidigen, oder bereit sei, sie zu widerrufen. Zu dem ersten Punkt habe ich sofort eine unverhohlene Antwort gegeben, zu der ich noch stehe und in Ewigkeit stehen werde: Es sind meine Bücher, die ich selbst unter meinem Namen veröffentlicht habe, vorausgesetzt, daß die Tücke meiner Feinde oder eine unzeitige Klugheit darin nicht etwa nachträglich etwas geändert oder fälschlich gestrichen hat. Denn ich erkenne schlechterdings nur das an, was allein mein eigen und von mir allein geschrieben ist, aber keine weisen Auslegungen von anderer Seite.

Hinsichtlich der zweiten Frage bitte ich aber Euer allergnädigste Majestät und fürstliche Gnaden dies beachten zu wollen, daß meine Bücher nicht alle den gleichen Charakter tragen.

Die erste Gruppe umfaßt die Schriften, in denen ich über den rechten Glauben und rechtes Leben so schlicht und evangelisch gehandelt habe, daß sogar meine Gegner zugeben müssen, sie seien nützlich, ungefährlich und durchaus lesenswert für einen Christen. Ja, auch die Bulle erklärt ihrer wilden Gegnerschaft zum Trotz einige meiner Bücher für unschädlich, obschon sie sie dann in einem abenteuerlichen Urteil dennoch verdammt. Wollte ich also anfangen, diese Bücher zu widerrufen – wohin, frag ich, sollte das führen? Ich wäre dann der einzige Sterbliche, der eine Wahrheit verdammte, die Freund und Feind gleichermaßen bekennen, der einzige, der sich gegen das einmütige Bekenntnis aller Welt stellen würde!

Die zweite Gruppe greift das Papsttum und die Taten seiner Anhänger an, weil ihre Lehren und ihr schlechtes Beispiel die ganze Christenheit sowohl geistlich wie leiblich verstört hat. Das kann niemand leugnen oder übersehen wollen. Denn jedermann macht die Erfahrung, und die allgemeine Unzufriedenheit kann es bezeugen, daß päpstliche Gesetze und Menschenlehren die Gewissen der Gläubigen aufs jämmerlichste verstrickt, beschwert und gequält haben, daß aber die unglaubliche Tyrannei auch Hab und Gut verschlungen hat und fort und fort auf empörende Weise weiter verschlingt, ganz besonders in unserer hochberühmten deutschen Nation. Und doch sehen sie in ihren Dekreten selbst vor, wie Distinctio 9 und 25, quaestio 1 und 9, zu lesen steht: Päpstliche Gesetze, die der Lehre des Evangeliums und den Sätzen des Evangeliums und den Sätzen der Kirchenväter widersprächen, seien für irrig und ungültig anzusehen. Wollte ich also diese Bücher widerrufen, so würde ich die Tyrannei damit geradezu kräftigen und stützen, ich würde dieser Gottlosigkeit für ihr Zerstörungswerk nicht mehr ein kleines Fenster, sondern Tür und Tor auftun, weiter und bequemer, als sie es bisher je vermocht hat. So würde mein Widerruf ihrer grenzenlosen, schamlosen Bosheit zugute kommen, und ihre Herrschaft würde das arme Volk noch unerträglicher bedrücken, und nun erst recht gesichert und gegründet sein, und das um so mehr, als man prahlen wird, ich hätte das auf Wunsch Eurer allergnädigsten Majestät getan und des ganzen Römischen Reiches. Guter Gott, wie würde ich da aller Bosheit und Tyrannei zur Deckung dienen!

Die dritte Gruppe sind die Bücher, die ich gegen einige sozusagen für sich stehende Einzelpersonen geschrieben habe, die den Versuch machten, die römische Tyrannei zu schützen und das Christentum, wie ich es lehre, zu erschüttern. Ich bekenne, daß ich gegen diese Leute heftiger vorgegangen bin, als in Sachen des Glaubens und bei meinem Stande schicklich war. Denn ich mache mich nicht zu einem Heiligen und trete hier nicht für meinen Lebenswandel ein, sondern für die Lehre Christi. Trotzdem wäre mein Widerruf auch für diese Bücher nicht statthaft; denn er würde wieder die Folge haben, daß sich die gottlose Tyrannei auf mich berufen könnte und das Volk so grausamer beherrschen und mißhandeln würde denn je zuvor.

Aber ich bin ein Mensch und nicht Gott. So kann ich meinen Schriften auch nicht anders beistehen, als wie mein Herr Christus selbst seiner Lehre beigestanden hat. Als ihn Hannas nach seiner Lehre fragte und der Diener ihm einen Backenstreich gegeben hatte, sprach er: «Habe ich übel geredet, so beweise, daß es böse gewesen sei.» Der Herr selbst, der doch wußte, daß er nicht irren könnte, hat also nicht verschmäht, einen Beweis wider seine Lehre anzuhören, dazu noch von einem elenden Knecht. Wieviel mehr muß ich erbärmlicher Mensch, der nur irren kann, da bereit sein, jedes Zeugnis wider meine Lehre, das sich vorbringen läßt, zu erbitten und zu erwarten. Darum bitte ich um der göttlichen Barmherzigkeit willen, Eure allergnädigste Majestät, durchlauchtigste fürstliche Gnaden oder wer es sonst vermag, er sei höchsten oder niedersten Standes, möchte mir Beweise vorlegen, mich des Irrtums überführen und mich durch das Zeugnis der prophetischen oder evangelischen Schriften überwinden. Ich werde völlig bereit sein, jeden Irrtum, den man mir nachweisen wird, zu widerrufen, ja, werde der erste sein, der meine Schriften ins Feuer wirft.

Es wird hiernach klar sein, daß ich die Nöte und Gefahren, die Unruhe und Zwietracht, die sich um meiner Lehre willen in aller Welt erhoben haben, und die man mir gestern hier mit Ernst und Nachdruck vorgehalten hat, sorgsam genug bedacht und erwogen habe. Für mich ist es ein denkbar erfreulicher Anblick, zu sehen, wie um Gottes Wort Unruhe und Zwietracht entsteht. Denn das ist der Lauf, Weg und Erfolg, den Gottes Wort zu nehmen pflegt, wie Christus spricht: «Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert; denn ich bin gekommen, den Menschen zu erregen wider seinen Vater usw.» Darum müssen wir bedenken, wie Gott wunderbar und schrecklich ist in seinen Ratschlüssen, daß nicht am Ende das, was wir ins Werk setzen, um der Unruhe zu steuern, damit anfängt, daß wir Gottes Wort verdammen, und so viel mehr einer neuen Sintflut ganz unerträgliche Leiden zustrebt. Wir müssen sagen, daß die Regierung unseres jungen, vortrefflichen Kaisers Karl, auf dem nächst Gott die meisten Hoffnungen ruhen, nicht eine unselige, verhängnisvolle Wendung nehme. Ich könnte es hier mit vielen Beispielen aus der Schrift vom Pharao, vom König Babylons und den Königen Israels veranschaulichen, wie sich gerade dann am sichersten zugrunde richteten, wenn sie mit besonders klugen Plänen darauf ausgingen, Ruhe und Ordnung in ihren Reichen zu behaupten. Denn er, Gott, fängt die Schlauen in ihrer Schlauheit und kehret die Berge um, ehe sie es inne waren. Darum ist’s die Furcht Gottes, deren wir bedürfen. Ich sage das nicht in der Meinung, so hohe Häupter hätten meine Belehrung oder Ermahnung nötig, sondern weil ich meinem lieben Deutschland den Dienst nicht versagen wollte, den ich ihm schuldig bin. Hiermit will ich mich Euer allergnädigsten kaiserlichen Majestät und fürstlichen Gnaden demütig befohlen und gebeten haben, sie wollten sich von meinen eifrigen Widersachern nicht ohne Grund gegen mich einnehmen lassen. Ich bin zu Ende …

Weil denn Eure allergnädigste Majestät und fürstlichen Gnaden eine einfache Antwort verlangen, will ich sie ohne Spitzfindigkeiten und unverfänglich erteilen, nämlich so: Wenn ich nicht mit Zeugnissen der Schrift oder mit offenbaren Vernunftgründen besiegt werde, so bleibe ich von den Schriftstellen besiegt, die ich angeführt habe, und mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort. Denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, weil es offenkundig ist, daß sie öfters geirrt und sich selbst widersprochen haben. Widerrufen kann und will ich nichts, weil es weder sicher noch geraten ist, etwas gegen sein Gewissen zu tun.

Gott helfe mir, Amen.«

Textquelle: https://www.projekt-gutenberg.org/luther/misc/chap008.html [Farb- und Fettdruck hinzugefügt]
Bildquelle: Anton Werner (1843–1915), Luther at the Diet of Worms (1877), im Auftrag des Königreiches Preußen für die Aula der Kieler Gelehrtenschule. Erworben 1883, wegen Zerstörung eigenhändige Replik (1944), Staatsgalerie Stuttgart (Öl auf Leinwand, 66 cm x 125 cm, Inv. Nr. 876). (Digitalbild: wikipedia.de; gemeinfrei)

Literatur

  • Paul Kalkoff, Der Wormser Reichstag von 1521 – Biographische und quellenkritische Studien zur Reformationsgeschichte. München und Berlin: R. Oldenburg, 1922.
  • Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe, Band II [Der Reichstag zu Worms 1521]. Bearbeitet von Adolf Wrede. Gotha, 1896.

Zwei Reiche auf Kollisionskurs: Das gemeinsame Singen der Gemeinde angesichts übergriffiger Verbote des Staates

Zu den Auflagen von Regierungen und nachgeordneten Stellen wegen der sog. „COVID-19-Krise“ gehör(t)en auch Verbote oder Einschränkungen bzgl. der Gemeindeversammlung und speziell des Gemeindegesangs. Während einschränkende Gesetze bzgl. der Religionsausübung in den USA verfassungswidrig sind (First Amendment: »Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof«), ist die Gesetzeslage und Rechtsprechung in den Staaten der EU und der Schweiz weniger übersichtlich. Die Situation und die vielen Auflagen werden inzwischen –wie auch in den Parlamenten beklagt– als widersprüchlich und volatil wahrgenommen, was den Verordnungen und Gesetzen teilweise jene Überzeugungskraft raubt, die aus Sachlichkeit, Faktengebundenheit und Angemessenheit erwächst.

Auch in der Gemeinde Gottes lös(t)en die Verordnungen und Verbote des Staates aufgrund dieser (keineswegs neuen) Infektionskrankheit Diskussionen aus. Leider sind auch innerkirchlich nicht alle Diskussionen und Stellungnahmen von Sachlichkeit, Sachkenntnis oder Brüderlichkeit gekennzeichnet. Bei aller Wertschätzung der Beteiligten sind die vorgebrachten Argumente und Aussagen wegen ihrer weitreichenden Wirkungen und Potentiale genau zu untersuchen.

Eine öffentliche Position vertritt der Schweizer Roger Liebi (s. z.B. auf der deutschen Website soundwords.de). Er vertritt seine Meinung mit der Ansicht, dass das gemeinsame laute Singen im Gottesdienst nicht biblisch geboten und daher nicht notwendig sei, und versucht dies aus einer Reihe von Bibelstellen sowie rabbinischen Überlegungen zu begründen. Praktisch gibt Liebi für die COVID-Zeiten –mit entsprechenden obrigkeitlichen Einschränkungen des Grundrechtes auf freie Religionsausübung– den Rat, dass es reiche, wenn jemand die erste Strophe eines Liedes vorliest und dann ein Instrument ohne weitere Textlesung und ohne Mitsingen der Gemeinde noch so oft die Liedmelodie spielt, wie Strophen übrig bleiben. Die Gottesdienstmitglieder werden angehalten, währenddessen den Text für sich im Liederbuch synchron stumm mitzulesen.

Zur Begründung behauptet Liebi eine Hierarchie der Gebote Gottes dergestalt, dass das Leben und die Gesundheit/Genesung eines Menschen höher zu werten seien, als ein ihr entgegenstehendes Zeremonial- oder Ritualgebot, wie beispielsweise das Sabbatruhegebot. Dem ist mit Blick auf die entsprechenden Ausführungen Jesu Christi anlässlich akuter oder chronischer menschlicher Not durch Hunger, Krankheit und Unfall (u. ä.) soweit zu folgen (s. z. B. Matthäus 12,1–14; Markus 2,23–28; 3,4; Lukas 6,1–11; 13,14–17). Schon seit der Gesetzgebung am Sinai galt nach Christi autoritativer Interpretation des Gesetzes, dass der Sabbath um des Menschen willen gegeben war, und nicht umgekehrt (Markus 2,27). Diese Einsicht war offenbar bei den „Hütern des Sabbaths“ verloren gegangen. Eine fast unüberschaubare Diskussionsgeschichte und Regelungsdichte umwob zu Jesu Zeiten das Sabbathgebot und führte zu etlichen Konflikten der „Hüter des Sabbaths“ mit Dem, der sowohl „Herr des Sabbaths“ als auch Geber jenes Gebotes ist. In seinen Weherufen gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer, den Deutungs- und Frömmigkeitsexperten jener Tage, lehrte der Sohn Gottes, dass es im Gesetz Gottes (zwar nichts Unwichtiges (Lukas 16,17), aber durchaus) »wichtigere Dinge« gibt, nämlich »das Gericht und die Barmherzigkeit und den Glauben« (Matthäus 23,23). Diese Lehre Jesu steht fest.

(1) Liebi bringt als Beleg seiner Ansicht leider auch Außerbiblisches aus der Zeit des Makkabäeraufstandes (1. Makkabäer 2:31ff): Als die Staatsexekutive des heidnischen Seleukiden Antiochus IV. Epiphanes aufständische religiöse Juden in ihren Fluchtorten aufsuchten und aufforderten, den götzendienerischen Forderungen des Königs Folge zu leisten, was diese aber als Abfall vom Gesetz Gottes verstanden (2,15), beschlossen diese: »Wir alle wollen lieber schuldlos sterben… So wurden sie am Sabbath überfallen und sie und ihre Frauen und Kinder samt dem Vieh umgebracht, an die tausend Personen.« (1.Makkabäer 2,37–38 LUT1984). Der jüdische Priester Mattatias und seine Freunde beschlossen nach diesem staatlichen Massenmord: »Wenn man uns am Sabbath angreift, so wollen wir uns wehren, damit wir nicht alle umkommen, wie unsere Brüder in den Höhlen ermordet worden sind.« (2,41). Die Verabsolutierung des Sabbathgebots in der damaligen Tradition hatte sich für die aufständischen Juden also als tödlich erwiesen. Die nun erfolgte Aufhebung des Sabbathgebotes im Verteidigungsfall erwuchs mithin nicht aus rein theologischen Überlegungen zum Sabbath oder gar einer plötzlich entdeckten Hierarchie im Dekalog, sondern offenbar aus existenzieller Not, die nicht nur zum Verlust ihrer Identität als Gottesvolk JHWHs, sondern auch zum Holocaust hätte führen können. – Auch in der Damaskusschrift, einer Schriftrolle vom Toten Meer (Qumran) aus dem 1.–2. Jhdt. v. Chr., wird festgehalten, dass das Retten von Menschenleben Vorrang hat vor der Einhaltung des Sabbaths (CD 11,16–17). Diese Regelung war ausdrücklich auf Notfälle eines Menschen begrenzt. Einem Tier beim Wurf oder aus einer Grube heraus zu helfen, war hingegen verboten (11,13ff). – Wie diese außerbiblische, wenngleich wohl geschichtliche, Begebenheit der jüdischen Aufständischen um Mattatias zur biblischen Begründung der Existenz einer Hierarchie in den Geboten Gottes beitragen soll, ist nicht nachvollziehbar. Wie Liebi dann von dort ohne weiteres den Sprung zur Frage der Rechtmäßigkeit des Verbotes des gemeinsamen Singens der neutestamentlichen Gemeinde seitens der „Obrigkeit“ schafft, ist erstaunlich – aber keinesfalls überzeugend. Jemand anders könnte anhand der Geschichte um Mattatias mit genau so viel oder wenig Recht argumentieren, dass es recht sei, dass man den Anordnungen der heidnischen Obrigkeit nicht Folge leistet, sondern entschieden Widerstand leistet, um seine Identität als Gottesvolk, das Gottes Willen tut, nicht zu verlieren. Dazu müsste man aber den gemeinsamen Gesang der Gemeinde Gottes zum Lob Gottes als unverzichtbares Element des Gottesdienstes in der Schrift erkennen, und darin nicht nur verzichtbares Beiwerk sehen. Eine solche Untersuchung fehlt erstaunlicher Weise in den o. g. Ausführungen des Theologen und Musikers Liebi.

(2) Diesem anschließend muss ein Zweites untersucht werden. Wenn es denn eine Hierarchie in den Geboten Gottes gibt (so verstanden, wie Christus darüber lehrt): Ist Liebis Argumentation trefflich und richtig, wenn er das Lob und die Erhebung Gottes im gemeinsamen Lied der Gemeinde einer angeblichen Gesundheitssicherung der Gemeindeglieder unterordnet? Hinkt hier der Vergleich? Oder sind die Gewichte zur Abwägung der Alternativen biblisch anders verteilt? Liebi scheint dies keine Frage zu sein. Die Schrift sagt: »Doch du bist heilig, der du wohnst bei den Lobgesängen Israels.« (Psalm 22,4 ELBCSV 2003). Sie sagt vom Haupt der Gemeinde, dem Sohn Gottes: »Inmitten der Versammlung will ich dir lobsingen« (Hebräer 2,12b; vgl. Psalm 22,23 ELBCSV 2003). Dürfen wir den Lobgesang des Hauptes der Gemeinde, Christi, in und durch seine Gemeinde behindern mit Blick auf mögliche (und äußerst geringe) Gesundheitsgefahren? Galt dieses Prinzip des Primats der Gesundheit auch für die geheimen Versammlungen der verfolgten christlichen Gemeinden unter kommunistischen Regierungen, die stets konkrete Gefahr für Leib und Leben darstell(t)en? Man darf und muss sich an dieser Stelle doch einmal die Frage stellen, um Wen es in der Gemeinde Gottes geht, Wer im Mittelpunkt steht und unter Wessen Leitung der Gottesdienst steht. Viele Christen beantworten diese Frage anders als Liebi, siehe dazu z. B. hier. »Hauptsache gesund!« ist eine Prämisse, die man schwerlich in der Bibel als Leitprinzip der Gemeinde Jesu ausmachen kann.

(3) In Verbindung damit löst sich der Musiker Liebi (Studium von Klavier und Violine) leider auch vom biblisch begründeten, reformatorischen Verständnis des Gemeindegesangs und der Funktion der Gottesdienstmusik. Der Reformator Martin Luther betrachtete Musik als eine Gabe Gottes, die –gleich nach der Theologie eingeordnet– zum Nutzen der Gemeinde gegeben wurde. Musik war für ihn ein wichtiges Mittel, um den persönlichen und gemeinsamen Glauben miteinander öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Daher bediente sich Luther eingängiger Melodien und einfacher, allgemein verständlicher (also deutscher, nicht lateinischer) Texte. Gemeinsame Lieder sollten zuerst Gottes Lob und Anbetung dienen und ebenso gemeinsame Gebete der Gemeinde zu Gott sein. Mit dieser Motivation schrieb Luther metrische Versionen verdeutschter Psalmen, übersetzte Lieder der lateinischen Messe und darüber hinaus über drei Dutzend freie, biblisch fundierte Lieder. „Ein feste Burg ist unser Gott“ (1529; Anspielungen an Psalm 46), „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ (Psalm 130) sind bis heute Schatz der bibelgläubigen Gemeinden (vgl. auch seine Lieder zu Psalmen 12, 14, 67 und 124). Die Hymne „Ein feste Burg“  bezeugt das Vertrauen in Gott in Zeiten von Gefahr und Widerstreit gegen die Wahrheit Gottes. Man kann diese Hymne fast als gesungene Predigt über Psalm 46 auffassen. Christuszentrierte Predigt war stets das Anliegen Luthers, und er zeigt dies im Hymnus mit der berühmten Frage der zweiten Strophe: „Fragst du, wer der ist? Er heisst Jesus Christ“. So redet die Gemeinde in öffentlicher, hörbarer Weise glaubensstärkend mit Gott und zueinander. Die von Liebi angeführte klassische Stelle in Kolosser 3,16: »Lasst das Wort des Christus reichlich in euch wohnen, indem ihr in aller Weisheit euch gegenseitig lehrt und ermahnt mit Psalmen, Lobliedern und geistlichen Liedern, Gott singend in euren Herzen in Gnade« enthält ja nicht nur die vielleicht auf Sprach- und Musiklosigkeit deutende Passage „in euren Herzen“, sondern auch das öffentliche, laute gegenseitige Lehren und Ermahnen „mit Psalmen, Lobliedern und geistlichen Liedern“, welches nur als wahrnehmbar laute Veranstaltung gedacht sein kann.

Luther verstand, dass Text und Melodie/Musik zusammen gehören und daher gut gepaart im öffentlichen Gottesdienst einzusetzen sind. Seiner Meinung nach gilt als Grundsatz guter Komposition: „Die Noten machen den Text lebendig“, aber niemals können die Noten die Botschaft des Texts ersetzen. Bei der Kirchenmusik Johann Sebastian Bachs ist es vornehmste Aufgabe des Komponisten, das von der Kanzel gepredigte Wort im Kantatentext und durch die Mittel der Musikkomposition darzustellen und auszudeuten, und so das gesprochene Wort der Verkündigung zu begleiten und durch Präsentation und gemeinsames Bekenntnis (Choräle, meist Kirchenlieder) und Reflexion (Arien, Rezitative) zu verstärken. Bekannt ist die Übertreibung: »Bach ist der 5. Evangelist.« Leider ist heute diese integrative „Kirchenmusik“ zur alleinigen Anbetung Gottes (und Erquickung der Seele) aufgeteilt in eher spärlich-ärmlichen Gesang im Gottesdienst, dies zur Verehrung Gottes, und exzellente Kirchenkonzerte mit stark säkularer Prägung und anhaltender Verehrung der Darbietenden. Nehmen wir uns lieber ein Vorbild an solchen Gemeinden, die mit Herzblut Gemeindegesangspflege als Mittel zur Förderung des gemeinsamen Glaubenszeugnisses und zur gemeinsamen Verehrung Gottes im Sinne eines Soli Deo Gloria betreiben (Kolosser 3,16–17).

Die Predigt und Wortverkündigung (samt Lesung) durch Personen mit entsprechenden Geistesgaben und Ämtern war nach Luther also nicht die einzige Weise, mit der das Evangelium in der Gemeinde verkündet wird. Er sah vielmehr die Gemeinde einbezogen in die Bezeugung und Verkündigung der Wahrheit des Evangeliums. Die Versammelten sind nach seinem Verständnis nicht rein passive Zuhörer, Beobachter und Empfänger des Gottesdienstes, sondern miteinander auch aktive Teilnehmer, insbesondere im gemeinsamen Lied und Gebet. Für Luther war dies ein unverzichtbarer Teil des Gottesdienstablaufs. Im Gegensatz zur römisch-katholischen Tradition kümmerte sich Luther darum, dass auch „einfache Leute“ und junge Menschen aktiv in den gemeinsamen Gottesdienst in Familie und Kirche eingebunden wurden. Daher förderte er die Polyphonie, bei der sich jeder entsprechend seiner/ihrer Stimmlage einbringen konnte, zudem auch choralähnliche Kompositionen, die einstimmig und im Stil der Volksmusik didaktisch komponiert waren. Der mehrstimmige gemeinsame Gesang im Gottesdienst kann biblisch bis in die Zeit Asaphs unter König David rückverfolgt werden (z. B. 1. Chronik 15,17–22; 2. Chronik 5,11–14): »Als die Leviten, die Sänger, sie alle, … mit Zimbeln und mit Harfen und Lauten auf der Ostseite des Altars standen, und mit ihnen 120 Priester, die mit Trompeten schmetterten – es geschah, als die Trompeter und die Sänger wie ein Mann waren, um eine Stimme ertönen zu lassen, den HERRN zu loben und zu preisen, und als sie die Stimme erhoben mit Trompeten und mit Zimbeln und mit Musikinstrumenten und mit dem Lob des Ewigen, weil er gut ist, weil seine Güte ewig währt: da wurde das Haus, das Haus des Ewigen, mit einer Wolke erfüllt.« (2. Chronik 5:12-13). Das gemeinsame Lied war für Gottes gerettetes Volk Ausdruck ihres gemeinsamen Glaubens und dankbaren Gotteslobes: »Er … erlöste sie aus der Hand des Feindes. … Da glaubten sie seinen Worten, sie sangen sein Lob.« (Psalm 106, 10–12). »Damals sangen Mose und die Kinder Israel dem HERRN dieses Lied und sprachen so: Singen will ich dem JHWH, denn hoch erhaben ist er; … Meine Stärke und mein Gesang ist Jah, denn er ist mir zur Rettung geworden; dieser ist mein Gott, und ich will ihn verherrlichen, meines Vaters Gott, und ich will ihn erheben.« (Das Lied des Mose, 2.Mose 15,1–2).

Die Entartung des Gottesdienstes zu reinen Musikveranstaltungen und Theateraufführungen unter der römisch-katholischen Kirchenkultur (und deren Rückschnitt gemäß den Forderungen des gegenreformatorischen Konzils von Trient 1562) zeigt auf, dass man immer von beiden Seiten vom Pferd fallen kann. Der italienische Komponist der Renaissance Giovanni Pierluigi da Palestrina (ca. 1525–1594) rettete den polyphonen Gesang in der röm.-kath. Kirche. Der Schweizer Reformator Huldrych Zwingli (1484–1531) hingegen widerstand unter dem Eindruck des Missbrauchs zeitlebens dem Gebrauch von Musikinstrumenten im Gottesdienst, obwohl er persönlich und zuhause ein großer Freund und Förderer der gemeinsamen Musik war. Zum Glück und Segen der Nachgeborenen konnte sich seine Ablehnung der Musik zur Verehrung Gottes im Gottesdienst nicht dauerhaft durchsetzen. Abusus non tollit usum.

(4) Der Beitrag Luthers zur Förderung des gemeinsamen Liedes der Gemeinde im Gottesdienst als freudige Glaubensbezeugung und ausdrucksstarkes Gebet war einer der bedeutendsten Beiträge der Reformation. Es ist schade und traurig, wenn dies aktuell nach wenigen Monaten der Oppression seitens bestimmter staatlicher Stellen kampflos aufgegeben wird. Viele Gerichtsurteile bis auf die Ebene der Verfassungsgerichte haben inzwischen solche Oppressionen mangels Verhältnismäßigkeit, Begründung, Wirksamkeit o. a. zurückgewiesen oder eingeschränkt. Wir dürfen für die Gewaltenteilung an dieser Stelle also dankbar sein. Liebis Argument, dass Gesundheit und Leben eines Menschen vor (allen?) anderen Geboten der Schrift Vorrang habe, muss jedoch nach biblischer Überprüfung auch mit Maß und Zahl bewertet werden. Ansteckung ist niemals auszuschließen, wenn sich Menschen real treffen und nicht-virtuell und ohne seuchenhygienische Distanzierung Gemeinschaft pflegen. Also ist es eine Frage der Risikoabwägung, des praktischen Glaubens und der Wahl angemessener Verhaltensregeln. Vor diesem Hintergrund ist es bedenklich, wenn man bei Liebi hören muss, dass er sich der maßlosen Übertreibung bedient, indem er die Maßnahmen wegen COVID-19 (Sterberate weltweit zur Zeit 0,031%; Feb. 2021) mit Maßnahmen gegen das Ebolavirus (initiale Sterberate am Fluss Ebola 88%; im Kongo bis Juni 2020 66%; Varianz lt. WHO 25%–90%; Liebi spricht von »7 aus 10«) vergleicht. Da werden also Dinge verglichen, die mindestens drei Größenordnungen auseinander liegen. Dieser Mangel an Wahrheit und Verhältnismäßigkeit hilft sicher nicht dabei, seine Schlussfolgerungen und Handlungsvorschläge dem Mitdenkenden einsichtig zu machen.

Das vernachlässigte Auslegungsproblem zum biblischen Mandat des modernen Verfassungsstaates

Die Interpretation und Anwendung der Lehrtexte des Neuen Testaments zum Mandat (Beauftragung/Weisung von höherer Stelle mit vorgegebener Rolle und Autorität) der »obrigkeitlichen Gewalten« nach Römer 13,1–7, der »Obrigkeiten und Gewalten« nach Titus 3,1 und der »menschlichen Einrichtungen« nach 1. Petrus 2,13–17 für die heute gegebene Situation von demokratischen Verfassungsstaaten bedarf dringend sorgfältiger Exegese- und Transferarbeit. In unseren demokratischen Staaten wird die Staatsgewalt meist dem Volk zugeordnet. Liebi ist wohl Schweizer, aber der oben angeführte Beitrag von ihm wird auf einer deutschen Website ohne weiteren Kommentar zum Ursprungsort dargestellt und vom Veröffentlicher für die deutsche Situation verwendet. Tippen wir nur ein paar Dinge für den Bereich der BRD an, die in den Ausführungen Liebis völlig übersehen oder übergangen werden. (Überlegungen zur speziellen Rechtslage in der Schweiz oder den Vereinigten Staaten von Amerika wären an anderer Stelle anzustellen.)

Zuerst einmal haben wir es bei der BRD mit einem modernen demokratischen Staatswesen zu tun, nicht mit dem römischen Nero-Kaiserreich vor 2.000 Jahren: »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.« (GG Art 20 (1)). Hier gilt: »Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus.« (GG Art 20, (2)). Der Souverän (Unumschränkte) in der BRD ist also nicht der Kaiser, sondern das Volk. Die hier als Grundgesetz verankerte Volkssouveränität bedeutet: »Jede staatliche Machtausübung muss durch das Volk legitimiert sein. … Die Amtsinhaber sind dem Volk bzw. seinen Repräsentanten verantwortlich und können aus ihrem Amt entfernt werden.« (DDD, S. 7). Das Volk übt seine Staatsgewalt »in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung aus« (Art 20 (2)). In diesem Satz ist die geltende Gewaltenteilung bereits enthalten. Dieses alles ist wesensmäßig anders, als es im römischen Reich des 1. Jhdt. nach Christus war. Auch so zu reden, als sei die amtierende Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel gleichzusetzen mit Kaiser Friedrich I Barbarossa oder Kaiser Wilhelm I. Friedrich Ludwig von Preußen, ist weder überzeugend noch für unsere Situation heute hilfreich.

»Grundrechte schützen den Freiheitsraum des Einzelnen vor Übergriffen der öffentlichen Gewalt, es sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Zugleich sind sie Grundlage der Wertordnung der Bundesrepublik Deutschland, sie gehören zum Kern der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes.Menschenrechte sind überstaatliche Rechte, sie gehören zur Natur des Menschen, es sind natürliche, angeborene Rechte. Dazu gehören die meisten Freiheitsrechte oder Grundfreiheiten, wie Freiheit der Person, Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit.« (DDD, S. 15). Kommt es zu Verletzungen der Grundrechte eines Bürgers der BRD, so gilt: »Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.« (Art 19 (4)). Auch dies war im Römischen Reich  so allgemein nicht gegeben, Privilegierte konnten sich hingegen auf Sonderrechte berufen. Für einen Deutschen gilt also, dass die Beschreitung des Klageweges keine „Auflehnung“ oder mangelnde Unterordnung gegenüber »Denen in Hoheit« ist, sondern vielmehr sein Recht und ggf. seine moralische Pflicht als Bürger. »Jeder Bürger hat das Recht, bei einer Verwaltungsbehörde einen förmlichen Widerspruch einzureichen, wenn er sich durch deren Maßnahmen zu Unrecht belastet bzw. in seinen Rechten unmittelbar und persönlich verletzt sieht. Führt der Widerspruch nicht zum Erfolg, hat der Bürger das Recht, die Gerichte anzurufen. Diese Rechtsweggarantie beseitigt die „Selbstherrlichkeit der vollziehenden Gewalt im Verhältnis zum Bürger“ (Bundesverfassungsgericht), der Einzelne steht nicht als „Untertan“ einer nach Belieben handelnden „Obrigkeit“ gegenüber« (DDD, S. 28).

Jeder Bürger ist den für ihn geltenden Gesetzen unterworfen, hingegen nicht per se bestimmten Einzelpersonen (für Soldaten, Arbeitnehmer u.a. gelten (auch) andere Normen). In der BRD gilt: »die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet« (Art 4, (2)). »Die Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.« (Art 8, (1)). Solange dies nicht unter freiem Himmel erfolgt, vermerkt das GG keine Möglichkeit, dies durch Gesetz einzuschränken, außer man missbraucht dieses Recht zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, was wohl bei einer Gemeinde des Christus nicht gegeben ist. Art. 19 nennt weiteres. 

Der Begriff der „Obrigkeit“ ist dem Text des GG fremd (und nicht enthalten), ebenso die Begriffe „Autorität“, „Untertan“ oder „Gehorsam“. Der Begriff „hoheitlich/Hoheit“ taucht vielfach auf und bezeichnet Aufgaben und Rechte des Staates als solchem, die aber auch zwischenstaatlichen Institutionen oder Einzelnen, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis zum Staat stehen, übertragen werden können. Das wirtschaftlich aufstrebende Bürgertum hat im GG die Prinzipien des liberalen Rechtsstaats »im Kampf gegen den monarchischen Obrigkeitsstaat, der die Bürger als Untertanen bevormundete, durchgesetzt« (DDD, S. 26). Mit Verwendung des biblischen Ausdrucks der „Obrigkeit“ bei der Diskussion der Grundordnung und Grundrechte der Bürger der BRD besteht also zumindest gründlicher Erklärungs- und Definitionsbedarf, der von Liebi (und Ähnlichdenkenden) nicht geliefert wird.

Der zivilreligiöse Aspekt des heute meist säkular interpretierten Grundgesetzes kommt vor allem in seiner Präambel zum Ausdruck. Dort wurde von den Verfassern angesichts der grausamen Ursachen, Taten und Folgen des 2. Weltkrieges formuliert, dass sich das Deutsche Volk »Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen« dieses GG gegeben habe. Welcher Gott gemeint ist, und wie der Atheist damit umzugehen hat, wird heute offen gelassen. Wie soll aber eine Verantwortung real und greifbar sein, wenn die Instanz nicht geklärt ist? Weiter steht, dass das GG »für das gesamte Deutsche Volk« gelte. Die Deutschen in der sowjetischen Besatzungszone, späterer DDR, waren mitgemeint, aber nicht miteingebunden, vielmehr wurden sie ca. 40 Jahre später bloßes Beitrittsgebiet (Anhang EV von 1990). Das GG funktioniert mangels Verfassung, wie freie Völker sie sich selbst geben (vgl. Art. 146), praktisch wie eine solche und verwendet den Begriff im Text auch vielfach. Die Präambel des GG ist also als Versuch zu werten, das aufzurufen, was Grundlage zum Funktionieren jeder Demokratie ist, was aber die Demokratie selbst weder liefern noch sichern kann. Ob die Regierung der BRD sich heute im Mandat seitens Gottes und in konkreter Verantwortung vor Gott (dem Gott, den die Grundgesetzschreiber 1949 meinten!) sieht, muss mangels Bekenntnis und Evidenz wohl verneint werden. Wenigstens hier ist eine Parallele zum alten römischen Reich zur Zeitenwende.

Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass die Situation und Rechtsstruktur im demokratischen Staatswesen der BRD eine völlig andere ist, als zur Zeit des Paulus im Römischen Reich, und dass dies in den Ausführungen von Liebi leider überhaupt nicht bedacht wird. Er nennt zwar den historischen Kontext zu Paulus Zeiten unter Nero (was für das Verstehen der damaligen Ermahnungen des Paulus unverzichtbar wichtig ist), aber bleibt nach dieser Betrachtung in der Luft hängen. Er schafft es nicht, biblische Vorgaben korrekt in die tatsächliche, aktuelle Situation seiner Zuhörer, die so sehr unähnlich zu der des Ursprungstextes ist, hinein zu denken. So zu tun, als sei unsere Rechtssituation vergleichbar mit der Zeit des Römischen Reiches unter Kaiser Nero Claudius Caesar Augustus Germanicus, muss als falsch und irreführend beklagt werden. Das selbe gilt, wenn wir die politischen Veränderungen ignorieren oder als irrelevant beurteilen. Dieses staatswissenschaftliche wie pastorale Zukurzspringen schreit nach sorgfältiger Grundlagenarbeit: Wie sind die Bibeltexte aus einer Kaiserreichskultur in unser demokratisches Staatswesen zu übertragen, wo es nicht länger „Untertane“ gibt, sondern wahlberechtigte, mündige und verantwortliche Bürger, denen als Volk grundgesetzlich die Staatsgewalt und Souveränität im Staat zugeordnet ist?

Die besondere deutsche Situation

Es mag sein, dass Christen in Deutschland mit größerer Sorgfalt als andere Nationen bedenken sollten, dass es in ihrem Land vor nicht allzu langer Zeit „deutsche Christen“ gab, die dem braunen Regime mit seiner brutal-heidnischen Religion mit feigem Schweigen, stiller Duldung bis hin zu enthusiastischer Führertreue begegneten. Die damaligen Argumente der Kirche zur Vertretung von „Staatstreue“ und „Führergehorsam“ sollten in unseren Gewissen brennend beständiges Mahnmal sein. Der evangelische Theologe (!) Emanuel Hirsch schrieb z. B. nach der Machtergreifung Hitlers: »Kein einziges Volk der Welt hat so wie das unsere einen Staatsmann, dem es so ernst um das Christliche ist; als Adolf Hitler am 1. Mai seine große Rede mit einem Gebet schloß, hat die ganze Welt die wunderbare Aufrichtigkeit darin gespürt.« (Emanuel Hirsch, Das kirchliche Wollen der Deutschen Christen (Berlin-Charlottenburg, 1933), S. 24. Lt. de.wikipedia.org trat Hirsch 1937 in die NSDAP ein, wurde förderndes Mitglied der SS und denunzierte Kollegen und Studenten.). Besser kann man die Verführtheit und Perversion der Christen in ihrem Verhältnis zu Gott und Staat nicht dokumentieren. Müssen wir heute wieder die Notwendigkeit für eine „Bekennende Kirche“ konstatieren?

Zur Veranschaulichung der „deutschen Erblast“ sei anekdotisch ein Blick auf Wilhelm Stücher (1898–1969) aus Eiserfeld (Siegen) eingefügt, der im Gegensatz zu vielen anderen deutschen Christen in Kirchen und Freikirchen den antichristlichen Charakter des Nationalsozialismus schon früh durchschaute, entsprechend redete, lehrte und handelte und folglich zahlreiche Oppressionen und Strafen seitens der „Obrigkeit“ erduldete: Die Propaganda der Parteileute stellte ihn als »Volksverräter« dar, die Gestapo spionierte ihn aus, bedrohte ihn und beschlagnahmte alle seine Schriften. Kirchenintern verwies ihn ein führender Mann auf »die Pflicht des Christen zum Gehorsam gegenüber der Obrigkeit« hin. Eine angemessene Berücksichtigung der clausula Petri (Apostelgeschichte 4,19; 5,29) vermisste man leider auch damals schon, entsprechenden Mangel muss man auch bzgl. einer trefflichen Auslegung und Anwendung von Römer 13 beklagen. In seinen Erinnerungen (nach Tonbandaufzeichnungen, Eiserfeld, 1972) liest man, dass Stücher z. B. eine Beteiligung an den Reichstagswahlen 1933 kategorisch ablehnte: Die Schrift spreche nicht davon, »die Obrigkeit tatkräftig zu unterstützen«, sondern ihr unterworfen zu sein, was einen beträchtlichen Unterschied darstelle.

Stüchers Ausführungen zum Widerstandsrecht gehören zum Besten, was je von Mitgliedern der sog. „Brüderbewegung“ in Deutschland verfasst wurde: Die Autorität und Macht der „Obrigkeit“ sei ihr von Gott gegeben, wobei nicht gesagt sei, dass jede obrigkeitliche Institution von Gott eingesetzt sei. Das haben heute offenbar einige wieder vergessen. Stücher meinte, der Christ solle die obrigkeitliche Gewalt allgemein anerkennen, so wie er Gottes Autorität anerkenne. Gott habe jedoch der Obrigkeit Grenzen zugeordnet, wie sie in Römer 13,7 zu lesen sind: »Gebt allen, was ihnen gebührt: die Steuer, dem die Steuer, den Zoll, dem der Zoll, die Furcht, dem die Furcht, die Ehre, dem die Ehre [gebührt].« »Wenn sie diese Grenzen überschreite und in einen Bereich vordringe, den Gott, der allein Autorität über die Gewissen habe, sich selbst vorbehalten habe, heiße es zu widerstehen, was die Heiligen zu allen Zeiten getan hätten.« Er warnte die „Brüder“ seiner Glaubensgemeinschaft, nicht zur Hure des Staates zu werden, wie es die Bekennende Kirche in Deutschland bereits mutig formuliert hatte. Dergestalt klar biblisch positioniert erklärte er einmal einem Vernehmungsbeamten, der ihn mit Gefängnisandrohung einschüchtern wollte: »Ich möchte lieber mit gutem Gewissen im Gefängnis sein als mit schlechtem Gewissen in Freiheit.« Er erläuterte später in seinen Erinnerungen: »„Staatsbejahung“ [die der Staat und Bundesleiter Dr. Becker forderte] … war nicht das, was nach Römer 13 jedem Christen oblag, sondern bedeutete eine Bejahung des Nazi-Regimes! – und das war gottlos, antichristlich.« (Quelle: Volker Jordan, Die »Christliche Versammlung« in Deutschland von den Anfängen bis 1945, 3. Auflage, 2006; zit. n. PDF-Ausgabe, S. 64ff.) Einigen Pastoren und Missionaren ergeht es in der Welt des Jahres 2021 bereits ähnlich, nicht nur im Morgen-, sondern auch im Abendland. Antichristliche Oppression kennzeichnet sowohl braune wie rote, sozialistische wie kapitalistische Ideologien.

Widerstand gegen Übergriffe des Staates in die Meinungs-, Religions- und Versammlungsfreiheit des Menschen wird auf beiden Seiten schnell missverstanden: die einen wollen den politischen oder weltanschaulichen Gegner dämonisieren, die anderen die Beweggründe des andersdenkenden „Glaubensbruders“ diskreditieren. Verweigerung gegenüber übergriffigen Anordnungen eines säkularen oder andersgläubigen Staates bedeutet für den Christen aber nie die Flucht in die Anarchie, sondern Anerkennung, dass da Ein Höchster ist, der auch Oberstes Haupt seiner Gemeinde wie auch Mandatsgeber aller staatlichen Autorität und Gewalt ist. Der Gehorsam gegenüber Jesus Christus, dem Sohn Gottes, zwingt den Christen vielleicht ins Gefängnis oder in die Hand staatlich sanktionierter oder eigenmächtiger Mörder (wie die Inquisitionsgeschichte und noch heute manche muslimischen Länder zeigen), jedenfalls aber auf die Knie vor dem Allmächtigen, der in Seiner Autorität alles regiert und erhält und in Seiner Vorsehung alles lenkt und leitet. Die Psalmen geben uns hier gute Ausdrucksmittel des Glaubens, der Prophet Daniel beeindruckendes Anschauungsmaterial, der Apostel Petrus praktischen Lehrunterricht. Die Hoffnung auf eine vollkommene Regierung und ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit bleibt dem Glaubenden für Christi Reich reserviert und fixiert.

Eine Vordenker-Stimme der Kirche der Reformation

Johannes Calvin hatte sich angesichts der Verweigerung der Religionsfreiheit durch den Staat intensiv mit den biblischen Texten und damaligen Gegebenheiten beschäftigt. Er lebte ja selbst noch in einer Zeit der Könige und Kaiser und lehrte dementsprechend: »Die Schrift … betont … ausdrücklich, es sei die Vorsehung göttlicher Weisheit, daß die Könige herrschen, und gebietet uns besonders, den König zu ehren (Sprüche 8,35; 1. Petrus 2,17).« (Institutio, IV, 20, 7). Calvin war jedoch auch bei den besten Lehrern und Vordenkern Frankreichs in die Lehre gegangen: Erasmus, Le Fevre, Wolmar, Rabelais und Peter de L’Etoile, seinem Lehrer in Orleans. Schon zwei Jahrhunderte vor Montesquieus Idee der Gewaltenteilung führte er in der Stadt Genf den republikanischen Grundsatz ein, dass mehrere Ratsversammlungen sich gegenseitig kontrollierten, damit niemals Macht zentralisiert und damit unausweichlich Tyrannei gefördert würde (1543). Die Räte wurden von den Bürgern für eine begrenzte Amtszeit gewählt, wobei die Liste der wählbaren Kandidaten vom Rat vorbereitet wurde. Die Gewählten mussten sich regelmäßig vor dem Volk verantworten. Dies alles sind wichtige Grundelemente der Demokratie. Calvin verband so Ideale der Aristokratie (Herrschaft aufgrund charakterlicher Exzellenz) mit Idealen der Demokratie (Herrschaft aufgrund der Freiheitsidee). Während seiner Zeit in Basel musste er erfahren, dass etliche französische Protestanten von ihrem Staat (!) lebendig verbrannt worden waren. Calvin lag es daher sehr am Herzen, jede Form der Tyrannei zu verhindern. Seine Regelungen in Genf erwuchsen unmittelbar aus dem biblisch-realistischen Menschenbild, dass der Mensch in seiner Gefallenheit zu übelstem Machtmissbrauch fähig ist, und aus dem biblischen Mandat des Staates nach Calvins Verständnis. Viele seiner späteren Ideen wurden auch politisch in der Schweiz und später in der Republik der USA umgesetzt. (John T. McNeill: Calvin’s Ideas Still Politically Relevant Today. In: Robert M. Kingdom, Robert D. Linder: Calvin and Calvinism: Sources of Democracy? (Lexington, MA: D. C. Heath and Company, 1970), S. 72–76.)

Zur Frage der geeignetsten Staatsform hatte sich Calvin also gründliche Gedanken gemacht und diese in seiner Institutio (Buch IV, Kap. 20 Vom bürgerlichen Regiment, 8) niedergelegt. Die Frage nach der besten Staatsform ist außerhalb der Überlegungen an dieser Stelle. Seine klaren Aussagen dazu (unten meist mit Fettdruck markiert) sind jedoch für die heute wieder notwendige Diskussion der Rolle und des Mandates des Staates nach Römer 13 fruchtbar. »Freilich, wenn man jene drei Regierungsformen, die die Philosophen aufstellen (Monarchie, Aristokratie, Demokratie) an und für sich betrachtet, so würde ich durchaus nicht leugnen, daß die Aristokratie oder ein aus ihr und der bürgerlichen Gewalt gemischter Zustand weit über allen anderen steht, zwar nicht aus sich heraus, sondern weil es sehr selten vorkommt, daß die Könige sich so viel Maß auferlegen, daß ihr Wille niemals von Recht und Gerechtigkeit abweicht, und weil sie ferner auch sehr selten mit solchem Scharfsinn und solcher Vorsicht begabt sind, daß jeder einzelne König soviel sieht, wie es zureichend ist. So bringt es also die Gebrechlichkeit und Mangelhaftigkeit der Menschen mit sich, daß es sicherer und erträglicher ist, wenn mehrere das Steuerruder halten, so daß sie also einander gegenseitig beistehen, sich gegenseitig belehren und ermahnen, und wenn sich einer mehr als billig erhebt, mehrere Aufseher und Meister da sind, um seine Willkür im Zaume zu halten. Das hat einerseits die Erfahrung selbst allezeit bewiesen, andererseits hat es auch der Herr mit seiner Autorität bekräftigt, indem er bei den Israeliten, als er sie, bis er in David das Ebenbild Christi hervortreten ließ, in dem bestmöglichen Zustande halten wollte, eine Aristokratie einrichtete, die an die bürgerliche Regierungsform angrenzte. Und wie ich gerne zugebe, daß es keine glücklichere Art der Regierung gibt als die, wo die Freiheit die gebührende Mäßigung erfährt und in rechter Weise auf beständige Dauer eingerichtet ist, so halte ich auch die für die glücklichsten, denen es erlaubt ist, diesen Zustand zu genießen, und gebe zu, daß sie nichts tun, was ihrer Pflicht nicht entspräche, wenn sie sich wacker und beständig bemühen, ihn zu bewahren und aufrechtzuerhalten. Ja, die Obrigkeiten müssen mit höchster Anstrengung danach streben, daß sie es nicht zulassen, daß die Freiheit, zu deren Beschützern sie eingesetzt sind, in irgendeinem Stück gemindert, geschweige denn verletzt wird; wenn sie dabei zu nachlässig sind oder zu wenig Sorgfalt walten lassen, dann sind sie treulos in ihrem Amte und Verräter an ihrem Vaterlande.«

Calvin fährt fort (IV, 20, 9): »Nun haben wir an dieser Stelle noch kurz darzulegen, was für eine Amtspflicht die Obrigkeit nach der Beschreibung des Wortes Gottes hat und in welchen Dingen diese besteht. Daß sich diese Amtspflicht auf beide Tafeln des Gesetzes erstreckt, das könnte man, wenn es die Schrift nicht lehrte, bei den weltlichen Schriftstellern erfahren. Denn keiner hat über die Amtspflicht der Obrigkeiten, über die Gesetzgebung und die öffentliche Ordnung Erörterungen angestellt, der nicht mit der Religion und der Gottesverehrung den Anfang machte. Und so haben sie alle bekannt, daß keine bürgerliche Ordnung glücklich eingerichtet werden kann, wenn nicht an erster Stelle die Sorge für die Frömmigkeit steht, und daß alle Gesetze verkehrt sind, die Gottes Recht beiseite lassen und allein für die Menschen sorgen. Da also bei allen Philosophen die Religion auf der höchsten Stufe steht und man das auch allezeit bei allen Völkern in allgemeiner Übereinstimmung so gehalten hat, so sollten sich christliche Fürsten und Obrigkeiten ihrer Trägheit schämen, wenn sie sich dieser Fürsorge nicht mit Eifer widmen wollten. Auch haben wir bereits gezeigt, daß ihnen diese Aufgabe von Gott in besonderer Weise auferlegt wird, wie es ja auch billig ist, daß sie ihre Mühe daran wenden, die Ehre dessen zu schützen und zu verteidigen, dessen Statthalter sie sind und durch dessen Wohltat sie ihre Herrschaft innehaben. Deshalb werden auch die heiligen Könige in der Schrift ausdrücklich deshalb aufs höchste gepriesen, weil sie die verderbte oder hinfällig gewordene Verehrung Gottes wiederhergestellt oder für die Religion Sorge getragen haben, damit sie unter ihnen rein und unbeeinträchtigt blühte.«

Und letztlich noch hier (IV, 20, 31): »Aber wie man auch die Taten der Menschen selbst beurteilen mag, so führte der Herr doch durch diese Taten gleichermaßen sein Werk aus, indem er das blutige Zepter schamloser Könige zerbrach und manch unerträgliche Herrschaft stürzte. Das sollen die Fürsten hören – und darob erschrecken!

Wir aber sollen uns unterdessen nachdrücklichst hüten, diese Autorität der Obrigkeit, die mit verehrungswürdiger Majestät erfüllt ist und die Gott durch die ernstesten Gebote bekräftigt hat, zu verachten oder zu schänden – selbst wenn sie bei ganz unwürdigen Menschen liegt und bei solchen, die sie durch ihre Bosheit, soviel an ihnen ist, mit Schmutz bewerfen! Denn wenn auch die Züchtigung einer zügellosen Herrschaft Gottes Rache ist, so sollen wir deshalb doch nicht gleich meinen, solche göttliche Rache sei uns aufgetragen – denn wir haben keine andere Weisung, als zu gehorchen und zu leiden.

Dabei rede ich aber stets von amtlosen Leuten. Anders steht nun die Sache, wo Volksbehörden eingesetzt sind, um die Willkür der Könige zu mäßigen; von dieser Art waren z.B. vorzeiten die „Ephoren“ [fünf Aufsichtsbeamte im antiken Sparta, die jedes Jahr neu gewählt wurden], die den lakedämonischen Königen, oder die Volkstribunen, die den römischen Konsuln, oder auch die „Demarchen“, die dem Senat der Athener gegenübergestellt waren; diese Gewalt besitzen, wie die Dinge heute liegen, vielleicht auch die drei Stände in den einzelnen Königreichen, wenn sie ihre wichtigsten Versammlungen halten. Wo das also so ist, da verbiete ich diesen Männern nicht etwa, der wilden Ungebundenheit der Könige pflichtgemäß entgegenzutreten, nein, ich behaupte geradezu: wenn sie Königen, die maßlos wüten und das niedrige Volk quälen, durch die Finger sehen, so ist solch ihr absichtliches Übersehen immerhin nicht frei von schändlicher Treulosigkeit; denn sie verraten ja in schnödem Betrug die Freiheit des Volkes, zu deren Hütern sie, wie sie wohl wissen, durch Gottes Anordnung eingesetzt sind!«

Weiter betonte Calvin die stete Oberherrschaft Christi, die nicht nur über Seiner Kirche, sondern auch über alle säkularen Staaten und „Obrigkeiten“ besteht. Die „Obrigkeit“ muss, wenn sie im Rahmen ihres göttlichen Mandats bleiben will, den Willen Gottes als höchsten beachten, wenngleich in der Amtsausführung keine Perfektion verlangt werden kann (IV, 20, 32): »Aber bei diesem Gehorsam, der, wie wir festgestellt haben, den Weisungen der Oberen zukommt, ist stets eine Ausnahme zu machen, ja, es ist vor allem anderen auf eines zu achten, nämlich daß er uns nicht von dem Gehorsam gegen den wegführt, dessen Willen billigerweise aller Könige Begehren untertan sein muß, dessen Ratschlüssen ihre Befehle weichen und vor dessen Majestät ihre Zepter niedergelegt werden müssen. Und wahrlich, was wäre das für eine Torheit, wenn man, um den Menschen Genüge zu tun, den zu beleidigen unternähme, um des willen man eben den Menschen gehorcht? Der Herr also ist der König der Könige, und wo er seinen heiligen Mund aufgetan hat, da muß er allein vor allen und über alle gehört werden; dann sind wir auch den Menschen unterstellt, die uns vorgesetzt sind, aber allein in ihm. Wenn sie etwas gegen ihn befehlen, so ist dem kein Raum zu gönnen und zählt es nicht.«

Zum guten Schluss

Es mag sein, dass eine anti-calvinistische Einstellung selbst einem Bürger eines Landes der Reformation den Blick auf jene großartigen und seiner Zeit weit vorauseilenden Ideen des Schweizer Reformators Calvin zur Rolle und zum Mandat des Staates verhüllt.

Halten wir es doch mit dem alten Reformator Luther, der uns den Herzenskompass und die Blicke wieder auf das Zentrum alles Seins und aller wahren Freude richtet, und uns den Mund zum gemeinsamen, öffentlichen Singen zur Ehre Gottes öffnet:

Nun frewdt euch lieben Christen gemayn
Und laßt uns fröhlich spryngen
Das wir getröst unnd all in eyn
Mit lust unn lyebe singen

Was Gott an unns gewendet hatt
Und seyn syesse wunder thatt
Gar theuwr hatt ers erworben.

Martin Luther (1483–1546) 1523. Text nach dem Wittenberger Achtliederbuch (1524). Hauptlied am Reformationstag.

Einige Quellen zum Weiterlesen und Anhören

Grundlagen. Nachdem einige Schreiber und Redner deutliche Kenntnismängel über das Grundgesetz der BRD, wie es „funktioniert“ und wie es zu verstehen ist, haben, sei das Grundgesetz selbst und folgendes Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung als Erstlektüre empfohlen:

  • [DDD] Dossier Deutsche Demokratie der Bundeszentrale für politische Bildung, 2010 (www.bpb.de; PDF). Die Texte stammen von Pötzsch, Horst: Die Deutsche Demokratie. 5. überarb. u. akt. Aufl., Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2009.
  • Die Bundeszentrale hat eine Reihe von Lernmaterialien für den Unterricht über das Grundgesetz auf ihrer Website. Es wäre empfehlenswert und respektfördernd, sich mit den Grundlagen der Materie vertraut zu machen, bevor man darüber redet oder schreibt.

Die auf allerlei Ebenen der „Obrigkeit“ veranlassten Beschränkungen betreffs der Gottesdienste (Religions- und Versammlungsfreiheit) hat die berechtigte Sorge ausgelöst, ob durch die unterschiedlichen Beurteilungen der Situation innerhalb der Gemeinden nicht eine Gefährdung der inner- und intergemeindlichen Einheit der Christen darstellt. Dies ist wohl leider zu bejahen. Auch hier sollte man sich die alte Gerichtsfrage stellen: Cui bonoWem nützt es?

Folgende zwei Stellungnahmen aus Deutschland sind lesenswert, weil sie die unterschiedlichen Sichtweisen und Einstellungen im Freikirchenbereich deutlich zu erkennen geben. Die besseren Argumente hat wohl das Papier der ERB Frankfurt, das lehrhafte Fundament dazu liefert die ebenfalls angegebene Predigt von T. Riemenschneider:

  • Jesus im Mittelpunkt behalten – trotz Corona (backup PDF) von Michael Kotsch u.a. vom 04.01.2021, der auch in der Zeitschrift der KfG veröffentlicht wurde.
  • Jesus im Mittelpunkt behalten – trotz Corona. Biblische Widerlegung des Thesenpapiers „Jesus im Mittelpunkt behalten – trotz Corona“ (PDF) der ERB Frankfurt vom 09.03.2021.
  • Unterordnung und Widerstand (Römer 13, 1–7) (Video auf YouTube) – Eine sehr empfehlenswerte Predigt von Tobias Riemenschneider zu einem der am häufigsten missbrauchten Texte zum Thema „Christ und Staat“

Nach Erscheinen dieses BLOGS hat sich ein sehr guter, anonymer Diskussionsbeitrag in der Zeitschrift „fest und treu“ (No. 173, 01/2021) mit dem beängstigend geschichtsblinden vorlaufenden Gehorsam in allerlei Gemeindekreisen gegenüber „obrigkeitlichen“ Anordnungen unserer Zeit beschäftigt.

Die verfassungsmäßige Fehlbehandlung durch Angehörige des Bundestags wird in folgendem Beitrag von Professor Lepsius deutlich:

  • Das verfassungsrechtliche Argument hat es schwer von Prof. Dr. Oliver Lepsius, LL.M. (Chicago), Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verfassungstheorie an der WWU Münster, als Gastbeitrag für die Legal Tribune Online (LTO) vom 05.02.2021.

Die Diskussion von »Kirche und Staat in Deutschland« ist u. a. seit vielen Jahren Gegenstand der sog. Essener Gespräche (s. insbes. Essener Gespräche 39 (2005)). Es muss daran erinnert werden, dass die Situation in Deutschland bezüglich des Kirchenrechts eine besondere ist, und dass die Vorgaben der Weimarer Verfassung (WRV) bezüglich der gleichzeitigen Trennung und Kooperation von Kirche und Staat in einem säkularen freiheitlichen Staat ohne Staatskirche(n) explizit in das Grundgesetz übernommen wurden (Art. 140 GG: »Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.«). Das GG schließt mit der Neutralität des Staates einerseits eine Staatskirche für die BRD aus, andererseits realisiert es keinen laizistischen Staat (wie z. B. Frankreich). Religion darf auch im öffentlichen Raum sichtbar sein (und die Prägung der Rechtskultur der BRD durch das Christentum ist immer noch wahrnehmbar), aber der deutsche Staat legitimiert sich und sein Recht nicht mehr unter Bezugnahme auf die christliche (oder eine andere) Religion. Das aus der Wahrheit der Heiligen Schrift entnommene Mandat des Staates („Obrigkeit“) seitens Gottes wird im Prinzip vom Staat geleugnet, die »Verantwortung vor Gott« (Präambel des GG) ist damit eine leere Formel.

Gottesanmaßung #1. Insofern der Staat sich für das „irdische Heil“ seiner Bürger zuständig erklärt (die Kirchen wirken arbeitsteilig für das „himmlische Heil“, dürfen sich aber auch in Diakonie/Caritas und Ausbildung engagieren), und den Wohlfahrtsstaat als säkularisierte Heilsveranstaltung anstrebt, haben wir es mit einer Form der Zivilreligion zu tun. Böckenförde schreibt dazu: »Der Staat, auf die inneren Bindungskräfte nicht mehr vertrauend oder ihrer beraubt, wird dann auf den Weg gedrängt, die Verwirklichung der sozialen Utopie zu seinem Programm zu erheben. … Man darf bezweifeln, ob das prinzipielle Problem, dem er auf diese Weise entgehen will, dadurch gelöst wird.« (Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: Isensee, Josef/ Kirchhof, Paul (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts. Band III: Demokratie und Bundesorgane, 3. Aufl. (Heidelberg, 2005), S. 31-53 (§ 34)). Erwartet der Christ Wohlstand und Gesundheit vom Staat, hat er seinen Gott vergessen.

Gottesanmaßung #2. Dem Bürger des Wohlfahrtsstaates wird zunehmend (und entgegen dem Sinn und der Aussage des GG, s. o.) vermittelt, dass der Staat ihm Freiheiten und Menschenrechte gebe und daher das Recht habe, diese auch wieder zu nehmen. Der biblische Grundgedanke der Menschenrechte ist jedoch, dass diese dem Menschen bereits vor Einrichtung jeglicher Staatsform in den göttlichen Mandaten mitgegeben wurden, es also legitime Aufgabe des nachgeordneten Staates nur sein kann, diese als höheres Recht anzuerkennen und im Rahmen des göttlichen Mandats zu schützen und zu bewahren (Römer 13,3–4).

Gottesanmaßung #3. Da die Herrschaft Christi sich nach der Heiligen Schrift nicht auf seine (christliche) Kirche beschränkt, sondern alles umfasst und über allem steht, ist das Verständnis eines (von Gott) emanzipierten Staates zwingend stets auch ein Gegenentwurf zum biblischen Gottesverständnis und entsprechend verankerten Christentum, d. h. Götzendienst. Die Prioritätsfrage lautet für den Christen nicht: „Christ oder Staat?“, sondern schon immer: „Christus oder Cäsar?“. Siehe einführend dazu:

Speziell zu staatlichen Übergriffen mit Begründungsfiguren, die sich der COVID-19-Pandemie bedienen, hat Dr. Wolfgang Nestvogel, Pastor der Bekennenden Evangelischen Gemeinde Hannover (BEG), auf seiner persönlichen Website eine Materialsammlung zu Corona bereitgestellt. Sie umfasst medizinische, juristische, wissenschaftliche und andere Stellungnahmen. Die Gemeinde BEG wehrt(e) sich auch juristisch gegen übergriffige Grundrechtsbeschneidungen durch die „Obrigkeit“, und versucht so, die im GG verankerte Gewaltenteilung in der BRD fruchtbar zum Wohl der Bürger und Christen einzusetzen.

Parallelen in den USA und Canada. Ein aktueller Beispielsfall staatlicher Oppression gegen einen Pastor in Kanada und seine Gemeinde wird hier angesprochen. Eine Vielzahl von Fällen ist auch in den USA, vor allem in von Angehörigen der Democratic Party regierten Staaten –wie Kalifornien und New York–, bekannt geworden. Zu beachten ist hier, dass in Kanada die Canadian Charta of Rights and Freedoms gilt, in den USA die Constitution und The Bill of Rights mit ihren Amendments. Etliche Autoren in DACH realisieren diese unterschiedliche Rechtslage nicht, sondern scheren alles undifferenziert über einen Kamm. Man sollte nicht vergessen, dass die „Pilgerväter“ einst Europa verlassen haben, weil sie mit Gefängnisstrafen und Exekutionstod durch die „Obrigkeit“ (!) bedacht wurden, wenn sie sich frei versammeln und dabei die Bibel lesen oder predigen wollten. Schon damals gab es eine „Anti-Kirche“, die die Verfolgung Andersdenkender und Andersgläubiger massiv und vor keinen Maßnahmen sich scheuend vorantrieb (z. B. Inquisition).

Ein Nachtrag zu Roger Liebi

Der Schweizer Theologe Dr. Roger Liebi, dessen Ausführungen zum gemeinsamen Singen in der christlichen Gemeinde oben untersucht wurden, lieferte in seinem „News-Letter“ vom 10. Juli 2021 folgenden persönlichen Hintergrund bzgl. Covid19:

»Anfangs Dezember wurde ich jedoch von Covid19 sehr stark betroffen. Der HERR nahm mich damit einige Wochen aus allem Betrieb heraus. Nach längerer Krankheitszeit, verbunden mit einer sehr schweren Lungenentzündung inkl. Erstickungshusten, einem massiven Angriff der Corona-Viren auf die Leber (Hepatitis) und Schwindel, durfte ich weitestgehend wieder genesen. Es hat aber mehr als 6 Monate gebraucht, um zumindest fast wieder zur selben Kraft zu kommen wie davor.«

Seine oben zitierten Ausführungen mögen daher auch vom persönlichen Erleben der Krankheit beeinflusst worden sein. (Seine Frau »hatte sich nach einer Woche Krankheit (wie eine schwere Grippe) relativ schnell von Covid19 erholt«.) Mit seinem internationalen Reisedienst gehört Roger Liebi leider zu der Gruppe von Menschen, die es erst möglich gemacht haben, dass Seuchen und „Pandemien“ sich so rasend schnell auf dem Erdkreis verbreiten können. Auch sein aktueller Kalender ist mit internationalen Reisen und Einladungen Anderer zu solchen Reisen bestückt, auch in Länder hoher Inzidenzwerte trotz hoher Impfquote.