Ad impossibilia nemo obligatur – Zu Unmöglichem ist niemand verpflichtet (?)

Beim Studium der Heiligen Schrift biegt man immer wieder einmal quietschend in Sackgassen falscher Vorannahmen und Denkvoraussetzungen (Presuppositionen), Interpretationsgrundsätzen (Hermeneutik) und Denkweisen (Logik) ab. Dies gilt besonders betreffs der Lehren der Schrift, die uns im Wort beschrieben, aber unserer normalen Erfahrung und „Logik  nicht vertraut, rätselhaft oder unserem menschlich-fleischlichen Denken und Empfinden sogar zuwider sind.

Heilslehre (Soteriologie) – „Logisch“ und/oder biblisch?

Dazu ein fast „klassisches  Beispiel aus der Heilslehre (Soteriologie). Peter Streitenberger schreibt –wie einige lange vor ihm– in seinem Buch Die Fünf Punkte des Calvinismus – Eine Antwort (CMD, 2007) Folgendes: »Es ist ein Fehlschluss menschlicher Logik und in sich widersprüchlich, zu unterstellen, dass das, was Gott dem sündigen Menschen eindeutig und immer wieder befiehlt, eigentlich unmöglich wäre.« (S. 26). Er kritisiert damit Theologen, die er wohl im Widerspruch zu seiner eigenen arminianischen Heilsauffassung sieht. Dank der Vernetztheit der Heilslehre mit anderen Wahrheiten der Schrift verursacht er damit allerdings auch Kollateralschäden an anderer Stelle.

Streitenberger wendet sich in der Vorrede seines Buchs noch gegen die „menschliche Logik, was ihn jedoch im Hauptteil nicht davon abhält, selbst Argumente der Logik anstelle von Aussagen der Heiligen Schrift einzusetzen, siehe Zitat. Dies ist klassische Selbstzerstörung eines vermeintlichen Arguments. Der Irrtum hier ist sogar doppelt, denn (1) beurteilt Streitenberger hier etwas als »Fehlschluss menschlicher Logik und in sich widersprüchlich«, was (2) in der Heiligen Schrift schon an anderer Stelle eindeutig und affirmativ vorkommt. Zum Ersten: Wenn es logisch (richtig) wäre, dann wäre es nicht widersprüchlich und wenn es widersprüchlich wäre, dann wäre es logisch nicht richtig. Was also meint er konkret? Kann man das auch klar sagen?

Streitenbergers Argument lautet: Wenn Gott dem Menschen etwas gebietet, dann bedeute dies, dass der Mensch auch in der Lage sei, dieses Gebot(ene) zu halten. Ein göttlich verordnetes Sollen sei mithin unmoralisch, wenn es das Können/Vermögen des Menschen überschreite. Daher beurteilt er die Aussage als falsch, dass der Mensch etwas, was ihm göttlich geboten ist (z. B. die Buße oder der rettende Glaube; Mk 1,15; Apg 17,30), nicht aus sich selbst heraus tun bzw. erbringen könne. Hier irrt Streitenberger, denn Römer 8,6-7 bezeugt diese Unfähigkeit und Unwilligkeit ausdrücklich: »Denn die Gesinnung des Fleisches ist der Tod, die Gesinnung des Geistes aber Leben und Frieden, weil die Gesinnung des Fleisches Feindschaft ist gegen Gott, denn sie ist dem Gesetz Gottes nicht untertan, denn sie vermag es auch nicht«. Noch klarer kann man wesenhaftes Unvermögen bei gleichzeitigem Verpflichtetsein kaum ausdrücken. Andere Stellen wären dem hinzuzufügen.

Streitenbergers Argument kann auch daran als fehlerhaft erkannt werden, dass uns in der Schrift anhand des Gesetzes das Gegenteil gelehrt wird. Gott hatte eindeutig und unter klarer, scharfer Androhung der ewigen Todesstrafe geboten, dass das Gebot Gottes zu halten sei (z. B. 5. Mose 28,15ff). Er meint es also absolut ernst. Aber er lässt ebenfalls als Wahrheit aufschreiben, dass (außer Jesus Christus) kein Mensch das Gesetz gehalten hat noch je hätte halten können (z. B. Apg 15,10; Römer 3,20–23; 5,20–21). Damit ist gezeigt, dass Gott sehr wohl vom Menschen etwas absolut verlangt (nämlich die Perfektion; z. B. Matthäus 5,48; Jakobus 2,10–11; Römer 3,10), was kein Mensch aus sich heraus zu erbringen vermag. Dieses Beispiel zeigt schon, dass das Argument Streitenbergers (das er mit manchem vor und mit ihm teilt) nicht aus dem Wort der Wahrheit stammen kann, denn dieses Wort ist durchgehend widerspruchsfrei.

Das falsche Argument ist ein alter Hut – aus falschen Quellen gefischt

Dem Kenner der Kirchengeschichte ist nicht verborgen, dass diese Art der Argumentation schon in der Denktradition der „Arminianer” (frühes 16 Jhdt.) oder auch später in der amerikanischen „New Haven-Theology” nach Nathaniel W. Taylor (frühes 19. Jhdt.) auftaucht. Berüchtigt ist auch der angebliche „Erweckungsprediger“ Charles Grandison Finney (1792–1875) und das Bibelseminar in Oberlin (OH, USA, gegr. 1833), dessen zweiter Präsident er war, die die selben falschen Behauptungen vertraten und verbreiteten (jeder könne völlig frei und aus eigenen Kräften das Heil erwerben und absolute Heiligung erreichen).

Die Behauptung »Sollen impliziert Können« ist jedoch als weltlich-heidnisches Rechtsprinzip um einiges älter. Als Grundsatz taucht sie schon in den Digesten (lat. digesta = Geordnetes; didaktische Zusammenstellung von Rechtssätzen) des römischen Rechts auf. Sinnverwandte Prinzipien und Rechtsgrundsätze lauten: »Ad impossibilia nemo obligatur/tenetur« (»Zu Unmöglichem ist niemand verpflichtet«; vgl. BGB § 275 Abs. 2-3); »Lex cogit neminem ad impossibilia« (»Das Gesetz zwingt niemand zu Unmöglichem«); »Ultra posse nemo obligatur« (»Über sein Können hinaus wird niemand verpflichtet«).

Der ungläubige Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) schreibt Ähnliches in seiner Critik der praktischen Vernunft (1788): »Denn, da sie [die reine Vernunft] gebietet, dass solche [Handlungen nach sittlicher Vorschrift] geschehen sollen, so müssen sie auch geschehen können.« (A807, B835). Autonomie ist damit bei Kant Bedingung dafür, dass Moral möglich ist. Autonomie in diesem Sinne ist die Freiheit, nach einem selbst bestimmten Willen zu handeln. Die Absolutsetzung der Autonomie müssen wir aber als Vergottung des Menschen als ethischem Wesen sehen. Kant selbst sagte: »Gott ist also keine ausser mir befindliche Substanz sondern blos ein moralisch Verhältnis in Mir.« ([sic!] Akademie-Ausgabe XXI, S. 149). Damit wird aber die widergöttliche Denkbasis und Denkrichtung schon bloßgelegt. Wo ist Kantsche Philosophie, wo biblische Wahrheit im Argument von Streitenberger?

Dieses im menschlichen Recht gerechterweise oft anzuwendende Prinzip ist aber weder kausale noch logische Implikation: Das Sollen garantiert niemals das Können. Und der Bibelleser weiß zudem sicher: Wenn Gott etwas als Sollen (oder Sein) fordert, ist es stets »heilig, gerecht und gut« (Römer 7,12)!

Es gibt bessere Erklärungen, biblische nämlich

Einige Bibellehrer haben den biblischen Sachverhalt besser ergriffen und mit Begriffen und Metaphern der Bibel erklärt (Schuld, Erlösung, Zurechnung usw.): Nehmen wir an, ein Mensch bekäme für eine gewisse Zeit eine größere Geldsumme anvertraut. Er nimmt hocherfreut die große Summe an, verprasst aber das ganze Geld in Saus und Braus. Zur vereinbarten Zeit kommt der Geber wieder zu ihm und fordert sein Geld zurück. Der Mensch kann aber nichts zurückgeben, ganz einfach deswegen, weil er nichts mehr hat. Außerdem will er gar nichts zurückgeben und streitet jede Forderung ab. Es ist aber völlig klar, dass er die geliehene Summe zurückzahlen muss, denn es war geliehenes Vermögen, es gehört einem anderen. Das faktische Unvermögen liefert hier nicht die Freistellung aus der moralischen Schuld, sondern begründet und vertieft diese zusätzlich. Anders gesagt: Die Forderung des Gläubigers besteht weiter und ist völlig rechtens, auch wenn dem Schuldner die Erfüllung der Forderung faktisch unmöglich ist.

To the Point: Die Forderung nach Rückzahlung der Schuld bedeutet eben nicht, dass diese dem Schuldner faktisch möglich sei. Trotz der Unfähigkeit des Schuldners ist die Forderung des Eigentümers juristisch unanfechtbar und gerecht. – Nun, dies gilt übertragen auch im diskutierten Kontext der biblischen Heilslehre mit Blick auf das menschliche Elend, die Gerechtigkeit Gottes und die Notwendigkeit eines freien Gnadengeschenks vonseiten des Heiland-Gottes. (Das Metapher der Schuld und des Schuldners ist direkt biblisch.)

Ein wesentlicher Denkfehler scheint mir zu sein, dass man die Situation des Sünders, die zu seiner faktischen Unfähigkeit und Unwilligkeit zur Umkehr geführt hat, moralfrei beurteilt, während doch die Heilige Schrift lehrt, dass die Unfähigkeit und Unwilligkeit des in Sünde gefallenen Menschen eine selbstverschuldete ist. Buße und Glauben oder anderen Aktivitäten des Herzens (Willen, Entscheidungen) oder der Hand (Werke) sind nach göttlichem Zeugnis einem Menschen innerlich erst möglich, wenn er diese vorher von außen her empfangen hat. Münchhausen funktioniert auch hier nicht.

Mit Empfang der göttlichen Rettungsgaben ändert sich alles: Es ist alles »aus Gott«, aber durch die freie Gabe Gottes sind im beschenkten Menschen nun Fähigkeit, Wille und gute Tat vorhanden und sein eigen: Es ist dann seine Fähigkeit (Vermögen), sein Wille (Motivation) und seine Tat (Vollbringen). Solange aber das Herz geistlich tot und in der Sklaverei der Sünde verkettet ist, gilt ohne göttliche „Operation am Herzen” (Hesekiel 11,19; 36,26) weiter: »Ihr wollt nicht zu mir kommen, damit ihr Leben habt«, und: »Ihr seid aus dem Vater, dem Teufel, und die Begierden eures Vaters wollt ihr tun« (Johannes 5,40; 8,44). Der ganze Vorgang wird in den Texten von den Segnungen des Neuen Bundes beeindruckend für Israel vorschattend beschrieben (s. z.B. Hesekiel 36,25–36) und im Johannesevangelium vom Sohn Gottes ausgelegt und auf den Glaubenden des NT angewandt. Im Heil kommt es danach nicht zuerst auf die Fähigkeit des Sünders an, sondern auf die Fähigkeit des rettenden Gottes. Er fordert – aber er gibt auch das, was er fordert. Glauben wir das? Dann werden und können wir zugreifen und dann sind wir ewig gerettet.

Gott aber sei Dank, dass ihr Sklaven der Sünde wart, aber von Herzen gehorsam geworden seid dem Bild der Lehre, dem ihr übergeben worden seid! Freigemacht aber von der Sünde, seid ihr Sklaven der Gerechtigkeit geworden.

Römer 6,17-18 (ELB03)


Bekehre mich, damit ich mich bekehre, denn du bist der Jahwe, mein Gott.

Jeremia 31,18b

TULIP – Wer hat’s erfunden?

Es ist üblich geworden, „den Calvinismus” anhand des Akronyms „TULIP” zu beschreiben und zu beurteilen. Von „TULIP” wussten jedoch weder der angebliche Urheber des „Calvinismus“, Johannes Calvin (1509–1564), etwas, noch die reformierten Verfasser der „Lehrregel von Dordrecht“ (1619) in den Niederlanden, noch die reformierten Verfasser der berühmten „Westminster Confession of Faith“ (1647/1648), noch andere dem reformatorischen Glaubensgut folgende Bekenntnisse, wie z. B. die „London Baptist Confession” (1677). Kein Reformator hat „TULIP“ je verwendet. Woher stammt also diese (anachronistische) Idee, „TULIP“ zur Beschreibung des „calvinistischen“ (reformierten) Glaubens heranzuziehen?

Nach einem Beitrag von William H. Vail im New Yorker Wochenmagazin The Outlook aus dem Jahr 1913 gebrauchte ein gewisser Dr. McAfee aus Brooklyn das Akronym „TULIP“ 1905 als erster, um „Die fünf Punkte des Calvinismus” in einem öffentlichen Vortrag in der Presbyterian Union of Newark darzustellen (William H. Vail, The Five Points of Calvinism Historically Considered, in: The Outlook, Vol. CIV (May-August 1913), (New York: The Outlook Company), S. 394–395 (21.06.1913)). – Bei diesem „Dr. McAfee“ handelt es sich wohl um Cleland Boyd McAfee, einem Pastor der Lafayette Avenue Presbyterian Church und späteren Professor für didaktische und polemische Theologie am McCormick Theological Seminary in Chicago. Er war auch Direktor des Presbyterian Board of Foreign Missions. Soweit wir wissen, war dies (1905) der erste Gebrauch des Akronyms „TULIP” als mnemotechnische Hilfe für die Darstellung der reformierten Heilslehre, wie sie in der „Dordrechter Lehrregel” 1619 als Antwort auf fünf Infragestellungen der Heilslehre durch die arminianischen „Remonstranten“ aus dem Jahr 1610 formuliert wurde. McAfee erfand und verwendete das Akronym „TULIP“ 1905 wie folgt (nach W.H. Vail, a. a. O., S. 394):

  • TTotal Depravity
  • UUniversal Sovereignty
  • LLimited Atonement
  • IIrresistible Grace
  • PPerseverance of the Saints.

William H. Vail liefert im o. g. Artikel von 1913 eine Übersicht über fünf damalige Vertreter der reformierten Heilslehre (A bis E, s. Tabelle unten), die er befragt hatte, welches denn ihrer Meinung nach die „Fünf Punkte” seien (1 bis 5, s. Tabelle unten). Bis auf den 5. Punkt (P) ergaben sich bemerkenswerter Weise recht unterschiedliche Bezeichnungen und Reihenfolgen, die in keinem Fall das Akronym „TULIP” ergeben.

Autoren: A = Abbott’s „Dictionary of Religious Knowledge“ | B = Dr. Francis L. Patton, Präsident des Princeton Theological Seminary | C = Dr. Hugh Black, Union Theological Seminary | D = Rev. George B. Stewart, D.D., Präsident des Auburn Theological Seminary | E = Rev. Isaac N. Rendall, D.D., Präsident em. der Lincoln University in Pennsylvania.

Der amerikanische reformierte Theologe Loraine Boettner (1901–1990) wird als nächster angesehen, der das Akronym „TULIP” 1932 für die Darstellung der „Dordrechter Lehrregel” im Speziellen –und der reformatorischen Heilslehre im Allgemeinen– verwendete: »The Five Points may be more easily remembered if they are associated with the word T-U-L-I-P; T, Total Inability; U, Unconditional Election; L, Limited Atonement; I, Irresistible (Efficacious) Grace; and P, Perseverance of the Saints.« (Loraine Boettner: The Reformed Doctrine of Predestination, 1. Auflage, Januar 1932).

Wenn man sich mit der Lehrentwicklung der 500 Jahre seit der Reformation beschäftigt, fällt auf, dass die Darstellung der reformierten Heilslehre mithilfe von „TULIP” weder die Bezeichnungen der fünf „Lehrstücke” in der „Dordrechter Lehrregel” (1619) übernimmt, noch ihrer Aufbaureihenfolge folgt. (Das 5. und letzte Stück macht dabei eine gewisse Ausnahme.) William H. Vail schreibt dazu: »Selbstverständlich zwingt die Übernahme des Kunstwortes [„TULIP”] die fünf Punkte in eine gewisse Reihenfolge und wirft sie damit möglicherweise aus ihrer angemessenen Ordnung und ihrer logischen Reihenfolge (»Of course the adoption of this word [„TULIP”] restricts the order of the five points, and perhaps throws them out of their proper order and logical sequence.«; a.a.O.).

Auch inhaltlich sind die „Fünf Punkte” nicht mit dem reformierten Glauben oder dem sog. „Calvinismus” gleichzusetzen. Der reformierte Theologe Dr. Hugh Black schrieb Anfang des 20. Jahrhunderts: »Ich glaube nicht, dass Calvin sein System in diesen [fünf] Punkten zusammengefasst hätte.« (a.a.O., S. 395). Loraine Boettner schrieb 1932: »Möge der Leser sich gegen eine zu enge Gleichsetzung der Fünf Punkte mit dem calvinistischen Lehrsystem wappnen. Während diese [Fünf Punkte] wesentliche Bestandteile sind, schließt das System doch viel mehr ein. … das Westminster Bekenntnis ist eine recht ausgewogene Darstellung des reformierten Glaubens (oder des Calvinismus) und es gibt auch den anderen christlichen Lehren den ihnen angemessenen Raum.« (a.a.O.). Leonard J. Coppes schrieb 1980 eine Zusammenfassung des reformierten Glaubens mit dem Titel: »Are five points enough? The ten points of Calvinism«. Joel R. Beeke schrieb 2008: »Seine [Calvins] Absicht war es, jeden Bereich der Existenz unter die Herrschaft Christi zu bringen, so dass das gesamte Leben zur Verherrlichung Gottes gelebt werden könne. Darum kann der Calvinismus nicht einfach durch eine Hauptlehre oder mit fünf Punkten oder –wenn wir sie denn hätten!– mit zehn Punkten erklärt werden. Calvinismus ist so komplex wie das Leben selbst.« (Living for God’s Glory: An Introduction to Calvinism, S. XII). Sinclair Ferguson schreibt 2008 in einem Beitrag über das Gotteslob (Doxology): »…die sogenannten fünf Punkte des Calvinismus … [sind] mit Blick auf ihre Entstehung zutreffender als „Die fünf Korrekturen für den Arminianismus” zu bezeichnen« (in: Living for God’s Glory: An Introduction to Calvinism, S. 388).

Auch in unserer Zeit verwenden reformierte Theologen für die Darstellung der reformierten Heilslehre andere Punkte und Bezeichnungen als das verkürzte McAfeesche „TULIP”. Bei Kritikern des sog. „Calvinismus” ist diese anachronistische und verfälschend verkürzte Darstellung allerdings recht beliebt und liefert Material für manchen „Strohmann”. Gehen wir daher besser zurück zum Ursprung der theologischen Auseinandersetzung.

Lehrregel statt TULIP

Weder die Synode in Dordrecht 1619 noch die reformierten Theologen der folgenden Jahrhunderte haben einstimmig „TULIP” gelehrt. „TULIP” ist erstens eine klare Fehlübersetzung, zweitens inhaltlich eine starke Verkürzung und drittens –historisch und dogmengechichtlich gesehen– ein Anachronismus, wenn jemand damit die „Dordrechter Lehrregel” von 1619 oder die calvinistische (Heils-)Lehre beschreibt. Hier eine tabellarische Gegenüberstellung der Lehrstücke von 1619 und der TULIP-Verkürzung durch McAfee 1905:

Die „Dordrechter Lehrregel” (1619)TULIP (nach McAfee, 1905)
Erstes Lehrstück:
Von der göttlichen Vorherbestimmung
1. Total Depravity
(Völlige Verderbtheit)
Zweites Lehrstück:
Vom Tode Christi und der Erlösung
der Menschen durch denselben
2. Universal Sovereignty
(Allumfassende Souveränität)
Heute auch:
Unconditional Election
(Unbedingte Erwählung)
Drittes und viertes Lehrstück:
Von der Verderbnis des Menschen und
seiner Bekehrung zu Gott und
der Art und Weise derselben
3. Limited Atonement
(Begrenzte Sühnung)

4. Irresistible Grace
(Unwiderstehliche Gnade)
Fünftes Lehrstück:
Vom Beharren der Heiligen
5. Perseverance of the Saints
(Ausharren der Heiligen)

Es wäre der Sache angemessener und einer fruchtbaren Diskussion dienlicher, wenn man sich direkt mit dem offiziellen Lehrdokument der Synode in Dordrecht beschäftigen würde, anstatt irgendwelchen „Fünf Punkten” –Jahrhunderte nach Calvin entstanden!– zu folgen, insbesondere, wenn diese aus Darstellungen von Anti-Calvinisten stammen. Was gewinnt man dabei?

Der Student der „Dordrechter Lehrregel” hat in Lehrstück 2, Artikel 1 bereits vom Wesen und Charakter Gottes, von der Allgenugsamkeit Christi, von der weltweiten Verkündigung des Evangeliums (Mission) und der Notwendigkeit des Glaubens gelesen, bevor er in Artikel 2 zur Frage der Zielsetzung und beabsichtigten Reichweite der Sühnung gelangt. Didaktisch richtig wird ihm in der „Dordrechter Lehrregel” zuerst das Wesen der Sühnung erklärt, bevor die Reichweite der Sühnung besprochen wird. Die Zielgerichtetheit und Bestimmtheit der Sühnung wird direkt aus der Gerechtigkeit Gottes und dem völlig genügsamen, zielgerichteten Opfer Christi (Artikel 3-4) abgeleitet. Gleichzeitig wird die Notwendigkeit, allen Menschen ohne Unterschied das Evangelium zu predigen, betont (Artikel 5). Artikel 6 bestätigt, dass Gott gerecht ist, wenn er den Ungläubigen verdammt, und Artikel 7 lehrt, dass die Quelle des rettenden Glaubens die Gnade Gottes ist, »die uns in Christus Jesus vor ewigen Zeiten gegeben« worden ist (2. Timotheus 1,9). – Dieser biblisch richtige und didaktisch kluge Aufbau sollte genutzt und nicht ohne guten Grund aufgegeben werden.

Was macht das „L” in „TULIP”?

Viele evangelikale (früher: dem sola scriptura verpflichtete) Glaubende streiten sich heute anhand von „TULIP”-Darstellungen um die rechte Heilslehre. Etliche Lager haben sich in den letzten Jahrhunderten gebildet, geradezu einander bekämpfende Sekten innerhalb des christlichen Zeugnisses geformt. Ein besonders umstrittener Aspekt von „TULIP” ist das „L”, das für limited atonement, also begrenzte Sühne/Sühnung, stehen soll. Allein dieser Begriff ist ein bitteres, missverständliches Etikett, welches keiner der Reformatoren ohne weiteres so verwendet hätte. Zudem ist weder der (engl.) Begriff „limited” noch der Begriff „atonement” klar und definitiv genug, um die Lehre der Heiligen Schrift eindeutig und klar darzustellen. William D. Barrick urteilt, dass „begrenzt” bzw. „unbegrenzt” vielleicht jene Begriffe sind, welche in der Heilslehre am häufigsten missbraucht werden („The Extent…“, S. 4–5). Und der biblische Begriff „Sühnung” (engl. atonement) wird ebenfalls nicht klar und biblisch verwendet (oft mit der falschen Deutung eines „at-one-ment”, einer Einsmachung oder Zusammenführung), zudem oft als Sammelbezeichnung für alles, was Jesus Christus am Kreuz bewirkt hat. Man muss fragen: Gibt es denn überhaupt eine Begrenzung der Sühnung Jesu Christi? Und wenn ja: Wo wird diese in der Schrift gezogen? Beim Wert oder bei der Reichweite der „Sühnung” (wenn überhaupt die biblische Sühnung gemeint ist)? Die Zentralität und Wichtigkeit des Werkes Christi verlangt nach biblischen, klaren Antworten. Das kann hier nur angerissen werden.

Bibelstudenten aller Zeiten sollte klar sein, dass das Sühnopfer des menschgewordenen Gottessohnes entscheidender Mittelpunkt eines ewigen Planes der Gottheit ist, und dass Gott im Opfer Jesu ein klares Ziel verfolgte (s.z.B. 1Petrus 1,18–21: »zuvorerkannt [proginōskō] ist vor Grundlegung der Welt«). Das Ziel war weder, dass alle Sünder im Feuersee für ihre Schuld ewig von Gott getrennt und gestraft werden (was absolut gerecht wäre), noch dass alle Sünder letztlich errettet und in Gottes herrlicher Ewigkeit leben werden (sog. Universalismus). Das Heilswerk Gottes (im Zusammenwirken des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes) richtet sich vielmehr in ewiger, erwählender Liebe auf »die Seinen« (s. Johannes 17,2.6.9.24.26).

Die gesamte Schrift gibt vom planmäßigen und zielorientierten Handeln Gottes in der Menschheits- und Heilsgeschichte beredt Zeugnis. Also sollte man sich tiefgehende Fragen stellen: (1) Welches Ziel verfolgt Gott mit dem Opfer Jesu? (2) Was bezeichnete Jesus Christus mit dem »Es«, als Er am Kreuz ausrief: »Es ist vollbracht!« (Johannes 19,30)? (3) Wie ergänzen sich das Werk des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes im trinitarischen Heilswerk (sog. opera ad extra)? (4) Haben die drei Personen der Gottheit eine identische Zielsetzung im Heilswerk? (5) Haben die drei Personen der Gottheit im Erlösungswerk den selben Personenkreis im Blick? (usw.)

Wer diese Fragen anhand der Heiligen Schrift beantwortet, muss von einer Begrenzung der Sühnung ausgehen, da der Universalismus keine Lehre der Schrift ist, das Heil aller Glaubenden jedoch fest bezeugt ist. Nachdem der Glaube faktisch und biblisch nicht aller Teil ist (2. Thessalonicher 3,2b), ist die Menge der durch Jesu Opfer Erretteten jedenfalls begrenzt. Das Sühnungswerk Jesu Christi sah auch nicht vor, dass Er hypothetisch für alle Menschen aller Zeiten stellvertretend im Gericht Gottes war, also effektiv deren persönliche Schuld bezahlt und Gottes Zorn für sie getragen habe, und es nun alleine am jeweiligen Menschen läge, diesen unterschiedslos allen Menschen im Evangelium ausgehändigten „Blankoscheck” (=Scheck ohne Namen des Empfängers) auch persönlich einzulösen. – Gott verwendet in der Heiligen Schrift Alten wie Neuen Testaments vielmehr ein anderes Bild, um sein Rettungswerk als Liebeswerk darzustellen: das von Bräutigam und Braut (z. B. Jesaja 61,10; 62,1–5; Jeremia 31; Epheser 5,23–32; Offenbarung 21,2.9; 22,17). Wie die erwählende Liebe eines Bräutigams selektiv und exklusiv ist –und sein muss– ist Gottes ewige Retterliebe selektiv und exklusiv. Dies bedeutet keine Ungerechtigkeit oder einen Mangel an „Fairness“. (Von „Fairness“ zu reden ist begrifflich ein Fehlgriff, der einen Mangel an biblisch geprägtem Denken offenbart. Wir dürfen sicher sein, dass alles, was Gott tut, absolute –ja, normative– Gerechtigkeit ist.)

Die o. g. Fragen können also anhand der Heiligen Schrift noch tiefer ins Verständnis des Heilswerks Gottes führen. Dabei wird man die biblischen Lehren des ewigen Vorsatzes Gottes, der persönlichen (namentlichen) Erwählung und Berufung durch Gott, der persönlichen(!) Stellvertretung im Gericht, der Sohnschaft, der Adoption, der monergistischen Wiedergeburt, des Einsgemachtseins mit Christus, der Innewohnung und der Versiegelung mit dem Heiligen Geist (usw.) kennenlernen. Sie bezeugen harmonisch und vielfältig, dass der dreieinige Gott von Ewigkeit her das ewige Heil „der Seinen” zu Seiner Verherrlichung gewollt und geplant hat und in der Zeit mit exakt festgelegtem Ziel ausführt. Auch kann wohltuende Klarheit entstehen, wenn man den biblisch gelehrten Unterschied zwischen Sühnung und persönlicher Stellvertretung zu beachten lernt. Weil das Heilswerk Gottes ein göttlich großes Werk ist, wundert es uns nicht, dass wir es nicht gänzlich umfassen können. Aber wir können und müssen es auf der Grundlage der Heiligen Schrift erforschen und glauben und bezeugen. Die Heilige Schrift, die Wahrheit (Johannes 17,17), liefert auch die Wahrheit über das Heil.

Am Buchstaben „L” kann man u. E. gut beobachten, wie mangelhaft übermäßig vereinfachte Darstellungen der biblischen Lehre (hier: à la „TULIP”) sind, und wie mangels Klarheit und Präzision mancher Anlass zu Streitigkeiten und Aneinandervorbeireden fast zwangsweise geliefert wird.

Fazit

Mit diesen kurzen Überlegungen und Hinweisen soll zweierlei nachdrücklich gesagt sein:

  • fundamental: Die Frage nach der Reichweite und Zielsetzung des (Sühnungs-) Werkes Jesu Christi sollte eben NICHT anhand von „TULIP”-Darstellungen beantwortet werden, sondern anhand der Heiligen Schrift selbst, welche alleine die Wahrheit ist (Johannes 17,17b). Unbiblische Darstellungen gibt es leider schon genug.
  • sachlich: Wir sollten auch über „Dordrecht” und „Die 5 Punkte des Calvinismus” nicht schreiben und reden, ohne die Ergebnisse jener Synode studiert zu haben und sie in der jeweiligen Darstellung wahrheitsgetreu zu verwenden. Anders gesagt: Primärquellen vor Sekundär- und Tertiärquellen! Unsachliche, verfälschte und falsche Darstellungen gibt es leider schon genug.

Die Synode in Dordrecht hat einen biblisch gesättigten und seelsorgerlich hilfreichen Text geliefert, der über vielem steht, das in den vergangenen vier Jahrhunderten über die angesprochenen Fragen des Heils geschrieben wurde. Und anstelle zu betonen, was Christus am Kreuz nicht zustande gebracht habe, lehrt das zweite Lehrstück von Dordrecht, was Vater, Sohn und Heiliger Geist miteinander vollbracht haben, um sich ein „Volk des Eigentums/zum Besitztum” zu erwählen, es in Jesu Opfer zu erlösen und es ewig zu erwerben (s. 5. Mose 7,6 mit 1. Petrus 2,9). Mit solcher Theologie wird Gottes Volk eher auferbaut, als mit Streitigkeiten über den „freien Willen“ des Menschen und der Souveränität Gottes im Heil. Denn im einzigartigen Heilswerk Gottes geht es um eine großartige Liebesbeziehung:

»Dieser Entschluss, der aus der ewigen Liebe zu den Erwählten hervorgegangen ist, ist von Anfang der Welt bis auf die gegenwärtige Zeit, indem die Pforten der Hölle sich vergeblich widersetzten, mächtig erfüllt und wird auch noch fortlaufend erfüllt, und zwar so, dass die Erwählten zu seiner Zeit zu einer Vereinigung versammelt werden sollen und dass immer eine Kirche der Gläubigen auf das Blut Christi gegründet ist, welche jenen ihren Heiland, der für sie, gleich wie ein Bräutigam für die Braut, sein Leben am Kreuz hingab, beständig liebt, fortwährend verehrt und hier und in alle Ewigkeit preist

„Dordrechter Lehrregel” (1619), Erstes Lehrstück, Artikel 9. Zitiert nach der übersetzten Ausgabe der Selbständigen Evangelisch-Reformierten Kirche: Bekenntnisbuch (Heidelberg, 2010), S. 229. Farbmarkierung hinzugefügt.

Der Apostel Paulus liefert am Ende seiner sorgfältigen Darlegung des Evangeliums Gottes im Römerbrief einen wunderbaren Lobpreis (Doxologie) Gottes. Wir sehen daran, dass wahre Anbetung auf wahrer Heilslehre basiert. Hier wären also größte bibelgebundene Anstrengungen im Ergreifen, Verstehen und Verkündigen des Heils Vorbedingung und Basis wahrer Anbetung. Das sollte alle Erlösten des Herrn beständig motivieren, wahre „Theologie“ zu betreiben, die nicht Traditionen repliziert und verteidigt, sondern die Wahrheit des Wortes reden lässt.

O Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich sind seine Gerichte und unergründlich seine Wege! Denn wer hat den Sinn des Herrn erkannt, oder wer ist sein Mitberater gewesen? Oder wer hat ihm zuvor gegeben, und es wird ihm vergolten werden? Denn von ihm und durch ihn und für ihn sind alle Dinge; ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen.

Römer 11,33-36

Literaturhinweise

William H. Vail, The Five Points of Calvinism Historically Considered, (21. Juni 1913). In: The Outlook, Vol. CIV (May-August 1913), (New York: The Outlook Company), S. 394–395. [Quelle: babel.hathitrust.org; Backup]

Daniel Montgomery und Timothy Paul Jones: PROOF, (Zondervan, 2014, Kindle-Version), S. 210, Fn 22.

David Schrock: Definite Atonement at Dort and the Unity of the Trinity – Put Down TULIP and Pick Up the Canons of Dort, in: CREDO Magazine Vol. 9 (Sept. 2019), Issue 3 [https://credomag.com/article/definite-atonement-at-dort-and-the-unity-of-the-trinity/].

Ed Sanders: The Origin Of The Acronym TULIP – The Five Points Of Calvinism [https://theologue.files.wordpress.com/2014/08/originoftheacronym-tulip.pdf].

Peter Benyola: 400 years after Dort: Why does the human-centric view of salvation persist?Segment 3 | The Canons of Dort (08.09.2018) Copyright 2018, Benyola.net. All rights reserved. Used by permission [http://benyola.net/400-years-after-dort/4/].

Bekenntnisbuch – bestehend aus dem Heidelberger Katechismus, dem Niederländischen Glaubensbekenntnis sowie der Lehrregel von Dordrecht, Übersetzte Ausgabe der Selbständigen Evangelisch-Reformierten Kirche (Heidelberg, 2010) [http://www.serk-heidelberg.de/wp-content/uploads/2010/08/Bekenntnisbuch.pdf].

Loraine Boettner: The Five Points of Calvinism, in: The Reformed Doctrine of Predestination (1932, 13th Printing, Phillipsburg, NJ: Presbyterian and Reformed Publishing Company, 1989), S. 59–201. (eBook: Grand Rapids, MI: Christian Classics Ethereal Library).

James Montgomery Boice und Philip Graham Ryken, The Doctrines of Grace. Wheaton, IL: Crossway, 2002. Deutsch: James Montgomery Boice und Philip Graham Ryken, Die Lehren der Gnade. Oerlinghausen: Betanien, 2009. – Die Autoren beschreiben kurz „Die fünf Punkte des Arminianismus” (a.a.O., 2009, S. 24ff) sowie ebenso kurz (a.a.O., 2009, S. 30ff) und dann ausführlich „Die fünf Punkte des Calvinismus” (a.a.O., 2002, S.67–176 ; a.a.O., 2009, S. 71–197).

William D. Barrick, The Extent of the Perfect Sacrifice of Christ. Sun Valley, CA: GBI Publishing, 2002.

Joel R. Beeke: Living for God’s Glory: An Introduction to Calvinism. Lake Mary, FL: Ligonier Ministries (Reformation Trust), 2008.

»Seid nicht viele Lehrer« – Ein mahnender Brief an einen jungen Heißsporn

Jemand schrieb: »Es gibt leider sehr scharfe Prediger und Autoren, die diesen Begriff [Irrlehrer] geradezu inflationär verwenden. Kaum weicht jemand von der eigenen, einzig richtigen Meinung ab, bekommt er das Etikett „Irrlehrer” umgehängt. So etwas ist unbiblisch.« (Wilfried Plock, Warum ich weder Calvinist noch Arminianer bin (Hünfeld: CMD, 2017), S. 173).

In einer deutschen Gemeinde war genau das Gegenteil zu erleben: von einem Predigthörer. Der Anlass war eine Predigt über folgenden Text im ersten Brief des Apostels Johannes:

Seht, welch eine Liebe uns der Vater gegeben hat, dass wir Kinder Gottes heißen sollen! Und wir sind es. Deswegen erkennt uns die Welt nicht, weil sie ihn nicht erkannt hat.
Geliebte, jetzt sind wir Kinder Gottes, und es ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden; wir wissen, dass wir, wenn es offenbar werden wird, ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist. Und jeder, der diese Hoffnung zu ihm hat, reinigt sich selbst, wie er rein ist.

1. Johannes 3,1–3 (ELBCSV)

Der Prediger hatte das Ziel, die Anbetung des Vaters durch die Gemeinde zu fördern, indem er die wunderbare Liebe des Vaters zu seinen Kindern vor die Herzen stellte. Der Vater sucht ja solche als Anbeter, die in Geist und Wahrheit anbeten (Johannes 4,23)! Er wurde von einem (dem Glauben und den Lebensjahren nach viel jüngeren) Predigthörer angegriffen und als Irrlehrer bezeichnet. Leider zeichneten Unwissenheit, Wortwahl und Respektlosigkeit des Predigthörers ein trauriges Gegenbild dessen ab, was ein gottseliges Lebens kennzeichnet.
Der angegriffene Prediger schrieb dann eine Ausarbeitung, die Korrektur, Überführung, Ermahnung und Belehrung einschließt, mithin das Wort in seiner gedachten Wirkung zur Entfaltung bringen wollte: »Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werk völlig geschickt.« (1. Timotheus 3,16-17). Diese Handreichung offenbart eine geduldige und lehrreiche Behandlung der Vorwürfe und hat den Autor sicher viel Zeit und Mühe gekostet. Die Wiedergabe hier im Blog mag daher auch anderen nützlich sein, wo immer sie in der Sache und Erkenntnis stehen. Alle Namen sind erfunden bzw. anonymisiert, um die Beteiligten zu schützen. Natürlich muss im konkreten Fall die seelsorgerische Dimension von Bruder zu Bruder angesprochen werden.

Lieber Adelphos,

ich schreibe Dir heute mal einen Brief. So ein Brief gibt mir Gelegenheit, in Ruhe etwas zu formulieren, und Dir, dem Empfänger, dies ebenfalls in Ruhe zu lesen und darüber nachzudenken. Und das tut not, denke ich. Ich habe einige Punkte aufgeschrieben, die mir auf dem Herzen liegen:

(1) Ich bedaure sehr, dass wir nicht in Ruhe miteinander reden konnten, eine Bibelstelle nach der anderen. Das Gespräch in der gehabten Form war dazu nicht geeignet. Es braucht Nachforschen und Nachdenken. Es braucht manchmal auch die harte Arbeit des Schuttwegräumens, bevor Neues erbaut werden kann. Das heißt, es braucht Geduld. Und keine Bibelstellen-Gefechte. Bei mir erzeugt das nur Unwohlsein, da ich lieber in Ruhe etwas entfalte und darstelle. Gerne antworte ich auch auf Fragen, die das Ziel haben, etwas besser verstehen zu wollen. So etwas schwebt mir vor für einen brüderlichen Dialog. Sollten wir den nicht anstreben?

(2) Das Ziel der Predigt am Sonntag war, allen Geschwistern die ewige Liebe des Vaters für Seine Kinder vor die Herzen zu stellen und sie damit zu Dank und Anbetung ihres Vaters zu motivieren. Dass es daran mangelt, haben wir nun einige Jahre erlebt: es gibt wenig Anbetung des Vaters. Dabei sagt doch Jesus in Johannes 4, dass der Vater Anbeter in Geist und Wahrheit sucht. (Das solltest Du anders erlebt haben in Deiner früheren Gemeinde in Irgendwo.) Wenn jemand nach einer Predigt mit dieser Zielsetzung es als wichtigstes Anliegen sieht zu behaupten, dass die persönliche „Wahl für Jesus“ zentral und der „freie Wille“ des (zumal völlig sündigen!) Menschen entscheidend für den Empfang jener ewigen (!) Liebe des Vaters ist, dann konnte der Geist Gottes mit der Wahrheit des Wortes Gottes offenbar in dieser Person nicht wirken. Das ist schade und wirft Fragen auf. Wo Menschen behaupten, dass es ihre kluge, richtige Wahl gemäß ihres „freien Willens“ gewesen sei, die sie letztlich ewig von den Ungläubigen positiv unterscheidet, dann weiß ich, dass hier der Geist Gottes nicht wirken konnte, denn der wirkt nie Seinem Wort entgegen, sondern stellt stets die Gnade und Herrlichkeit Gottes in den Mittelpunkt und führt so zur Anbetung Gottes. Die Reformatoren haben aus dem Wort heraus und gegen die röm.-kath. Kirche festgehalten, dass die Errettung allein aus Gnaden ist. Sola gratia nannten sie das. Gnade heißt, dass alles von Gott kommt, alles von Gott bewirkt wird und dass letztlich alles zu Gottes Verherrlichung dienen muss. Das ist die Quintessenz des Evangeliums, siehe Römer 11,33–36. Wer hingegen sich selbst (als Sünder!) zum entscheidenden Mittelpunkt des Heils macht, dessen aus einem sündigen Herzen kommende Entscheidungen Gott „voraussehend“ nur noch sklavisch folgen kann (also keine eigene Wahl mehr hat), der hat Christus und den Vater aus diesem Mittelpunkt alles Heils verdrängt. Da klingeln bei mir einige Seelsorger-Alarmglocken. Das ist Re-katholisierung des Evangeliums.

(3) Ich habe verstanden, dass Du die Auserwählung der Heiligen (Kinder Gottes) durch Gott, den Vater, nicht wirklich leugnen willst, aber Du tust es doch, siehe Pkt. (4) unten. Das tun ja manche ausdrücklich. Manche verbieten sogar das Predigen über die entsprechenden Texte. Nachdem Epheser 1,4 aber aufzeigt, dass die Auserwählung eines der besonderen Werke ist, über die wir den Vater lobpreisen dürfen und sollen, kann man hier das ehrabschneidende Wirken des Teufels gut erkennen. Ich kann mich nicht erinnern, dass in unserer Gemeinde der Vater für seine Erwählung regelmäßig gepriesen wird. Diesem Mangel will der Geist Gottes abhelfen, denn er fördert die Verherrlichung Gottes. Dass dann diesem Wirken des Geistes Gottes gleich eine Stellungnahme und ein Streit über die Auserwählung entgegengesetzt wird, ist traurig. Wo die Wahrheit unterdrückt wird, wird der Geist Gottes gedämpft. Und was das bedeutet, steht auch klar in der Schrift.

(4) Du verstehst die Auserwählung/Erwählung seitens Gottes, des Vaters, so, dass Gott „nach Vorkenntnis“ (Deine Wortwahl war „Vorsehung“) der freien Wahl einzelner Menschen entsprechend gewählt habe. Denke darüber mal in Ruhe nach. Wenn Gott nur das „wählen“ kann, was andere in ihrem freien Willen vorher exklusiv und souverän gewählt und entschieden haben, dann ist das für Gott keine freie Wahl mehr, ist überhaupt keine Wahl im Sinne des Wortes mehr, sondern nur ein unfreies, mechanisches Nachvollziehen. Ich versuche ein Beispiel: Freie Wahl habe ich in einem Restaurant, wenn alles, was auf der Karte ist, ob es mir schmeckt oder nicht, vorhanden ist und ich daraus frei wählen kann und ich es dann auch genau so und genau das von mir Ausgewählte bekomme. Wenn aber der Wirt zu mir sagt: „Da ist die Karte, Du kannst alles wählen, was Du willst, solange es die Schweinswürstl für 6,98 € sind, denn dafür habe ICH mich entschieden!“, dann ist Deine „Wahl“ keine Wahl mehr. Du bist dann der Sklave/Abhängige der Vorwahl/Entscheidung des Wirtes. „So ein Unsinn, so eine Frechheit!“, wirst Du denken, und vielleicht entrüstet aus dem Lokal stürmen. Warum? Weil Du überhaupt keine Wahl (im Sinne des Wortes) mehr hattest. Warum dann eine Speisekarte zur Auswahl der Speisen? Nein, diese falsche Vorstellung führt dazu, dass es auf Seiten Gottes gar keine Wahl mehr gibt. Das ist schon sprachlich klar. [1] – Im Bilde erklärst Du aber die Auserwählung seitens Gottes im Prinzip genau so: Gott „kann“ (darf?, muss?) nur das „erwählen“, was der Mensch gewählt hat. Das Problem mit dem „ewig“ soll dann über die Allwissenheit und Ewigkeit Gottes gelöst werden, aber da taucht das zweite Missverständnis auf, denn der Begriff der Vorkenntnis/ Vorsehung liefert eben nicht das, was man diesem fälschlicherweise zuschreibt. Den Endeffekt dieser falschen Idee kann man schnell erkennen: Wer entscheidet hier über das Heil, das ewige Leben, die Gotteskindschaft: es ist der nicht neugeborene, unter die Sünde verkaufte/versklavte Sünder, Gott vollzieht im Heilserwählen nur exakt nach, was ein Sünder vorentschieden hat. Gott hat keine Wahl mehr, Er ist mechanisch daran gebunden, was schon von anderer Seite her entschieden ist. Und das soll dann das (Aus-) „Erwählen“ durch Gott sein. Wirklich? 
Die Realität ist anders, sie ist so, wie es die Bibel beschreibt: der Mensch ist unter die Sünde versklavt, steht unter dem Zorn Gottes, ist geistlich von Geburt an tot, aber sehr „lebendig“ im Sündigen und Rebellieren gegen Gott (Römer 3,9–19). Mit einem Wort: Sie sind „alle unter der Sünde“ (Römer 3,9), sie sind „fleischlich, unter die Sünde verkauft“ (Römer 7,14), denn „Jeder, der die Sünde tut, ist der Sünde Knecht (Sklave)“ (Joh 8,34). Wenn ich diese Worte Gottes lese, dann lese ich über das Verhältnis eines Sünders zur Sünde ein „unter“, ein „verkauft“ und „Knecht/Sklave“. Das ist das Gegenteil davon, „über“ der Sünde zu stehen, „frei“ und unabhängig von ihr zu denken und zu handeln. Der Sünder sei von der Versklavung an die Sünde „frei“, um geistlich gesehen vor Gott das Richtige und das Beste zu tun? Wirklich? Damit leugnest Du diese Bibelstellen, die Aussprüche des Sohnes Gottes. Das fände ich ungeheuerlich.
Frage Dich: Wie frei ist ein Toter? Das ist im Geistlichen nicht anders wie im Physischen, daher gebrauchen der Herr und die Apostel genau dieses Bild vom Totsein. Gott allein lebt und ist absolut freier Herr. Sein Wille ist alleine wirklich frei, ist dabei aber immer seinem ganzen Wesen entsprechend: immer gerecht, heilig und vollkommen. Es ist sicher das absolut Beste, wenn dieser Wille unumschränkt wirksam wird! Denn der Wille des nicht von Gott erneuerten Sünders ist immer böse und bewegt sich nur im Rahmen seines sündigen Wesens, ist nur in der Reichweite seiner Sündenketten frei. Der Wille Gottes hingegen ist stets gut, ein vollkommener Ausdruck Seiner Souveränität, Liebe und Heiligkeit. Das ist es, was es bedeutet, Gott zu sein. Das zumindest lehrt die Schrift durchgehend. Lassen wir doch Gott Gott sein. Uns gebührt die Haltung eines Geschöpfes.

(5) Der Vorwurf kam von Dir, das alles sei „calvinistisch“. Nun, dieser Begriff ist kein Begriff, weil er nichts mehr greifen lässt. Er ist reines Schimpfwort geworden, ein Etikett, das man Leuten aufdrückt, deren biblische Heilslehre man nicht liebt. (Da gibt es noch mehr „Etiketten“, auf allen Seiten!). Ich lege diese unqualifizierte Bezeichnung also auf die Seite, zumal wenn sie von jemand kommt, der wohl noch nicht einmal das Zentralwerk Calvins, die Institutio, geschweige denn Seine Auslegungen, gelesen hat. Es würde mir zwar Vergnügen bereiten, Dir hier abzudrucken, was er über Johannes 3,16 und über den freien Willen des Menschen geschrieben hat, denn das würde bestimmt ungläubiges Staunen erzeugen. 
Ich gebe Dir wenigstens eine Kostprobe zu Johannes 3,16, wo Calvin schreibt: »„Auf dass jeder, die an ihn glaubt“. Und er [Johannes] hat den universalen Begriff „jeder“ verwendet, um sowohl alle ohne Unterschied einzuladen, ihren Anteil am Leben sich zu sichern, also auch, um jede Entschuldigung der Ungläubigen abzuschneiden. Denselben Zweck hatte auch schon der Begriff „Welt“, den er vorher verwendet hatte. Gott vermag zwar in der Welt nichts zu finden, was ihm seine Huld abnötigte; dennoch zeigt er sich gütig gegen die ganze Welt. Alle ohne Ausnahme beruft er zum Glauben an Christum und eben damit zum Eingang ins Leben.« (Johannes Calvin, Kommentar zum Evangelium nach Johannes, Bd. 1, in loci; Fettdruck hinzugefügt). Wer also behauptet, ein „Calvinist“ sei jemand, der abstreitet, dass Gott alle Menschen ohne Unterschied zur Rettung einlädt, erweist sich entweder als Lügner oder als Unwissender; solche Leute sollten jedenfalls besser schweigen.

Und wer behauptet, dass Calvin oder ein „Calvinist“ leugnen, dass der Mensch einen Willen habe, dem sei aus vielen Zitaten dieses vorgelegt: »Denn es bleibt zwar ein Rest (residuum) Verstand und Urteilskraft (iudicium) samt dem Willen bestehen; aber wir können doch nicht sagen, das Gemüt (der Verstand) sei unversehrt und gesund, denn es ist schwächlich und mit viel Finsternis umhüllt; außerdem ist die Verkehrtheit des Willens mehr als genugsam bekannt. … So ist auch der Wille nicht verloren gegangen, weil er von der Natur des Menschen nicht zu trennen ist; aber er ist in die Gefangenschaft böser Begierden geraten, so dass er nichts Rechtes mehr begehren kann.« (Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion = Institutio Christianae religionis. Nach der letzten Ausg. übers. und bearb. von Otto Weber, Bd. 2, 2, 12). Calvin sagt also: Der Wille ist da, aber er ist verkehrt und versklavt. Genau das sagt auch die Heilige Schrift.

(6) Wo wir nachdenken und präziser werden müssten, ist bei den Begriffen „Wille“ und „frei“. Nein, das ist nicht einfach. Wikipedia schreibt: „es gibt keine allgemein anerkannte Definition“ für „freier Wille, Willensfreiheit“. Die Philosophen und Theologen haben sich dazu widersprüchlich geäußert. Also sollte man klären, was man mit beiden Begriffen meint, sonst redet man aneinander vorbei. Das Aneinandervorbeireden war von meiner Seite aus gut zu erkennen. Bedenke einmal: Ein „Calvinist“ (Luther) schrieb wider den Humanisten Erasmus vom „unfreien Willen“ des Menschen; dies war eine seiner bedeutsamsten Arbeiten, wie er selbst auf dem Sterbebett sagte. Ein anderer „Calvinist“ (J. Edwards) hingegen schrieb über „Die Freiheit des Willens“. Das klingt widersprüchlich, ist es aber nicht. Man muss eben wissen, von was man redet, und klären, was man mit den Begriffen jeweils meint und bezeichnet. Für den biblisch Glaubenden muss das, was er behauptet und annimmt, aus Gottes Wort stammen bzw. nicht im Widerspruch dazu stehen, sonst ist es Phantasiegebilde, nicht Realität. – Ganz praktisch: Schreibe aus Gottes Wort einmal auf, was es über „Wille“ (Gottes und des Menschen, erlöst und unerlöst) und „frei“/„Freiheit“ bzgl. dieser Personen sagt. Damit wäre viel geleistet, was heute noch für eine fruchtbare Diskussion fehlt. Denn: Wo die Begriffe nicht geklärt sind, ist das Gesagte nicht das Gemeinte. So entstehen Missverständnisse, Misstrauen und Missliebe.

(7) Du hast behauptet, dass „die Calvinisten“ stets leugnen würden, dass die Auserwählung seitens Gottes „nach Vorkenntnis Gottes, des Vaters“ erfolge. Diese „Vorsehung“ (das war wohl der Ausdruck, auf den Du bestandest?!) würde alles erklären, und die Wahl (und damit ewiges Heil) letztlich in die Hände eines jeden Sünders legen, denn Gott entscheide nicht frei, sondern nur entsprechend dessen, was Er „voraussehend“ beim Menschen sehe.
Damit hat Gott aber kein freies Wissen mehr, sondern Er muss selbst „mit Blick in dieZukunft“ erlernen, was dort geschieht, und sich entsprechend in seinen ewigen (?) Plänen und Seinem Wählen unterordnend anpassen und (sklavisch!) folgen. Das steht aber im Widerspruch zum Begriff der Freiheit als auch zum Begriff der Wahl. Was Gott „in der Zukunft“ sieht, ist nichts anderes, als das, was ER höchstpersönlich für diese Zukunft (und überhaupt) ewig verordnet hat. Alles was geschieht, geschieht, weil Er es genau so weiß und verordnet hat. Sein Wissen ist absolute Wahrheit, sein Wille schafft Realität. Es gibt keine von Gott unabhängige Energie oder Existenz, die einen „Gegenplan“ realisieren könnte. Nur Gott lebt aus sich selbst heraus und regiert über alles. Alle anderen Wesen sind Geschöpfe und hängen als solche „am Stecker“ und „dem Kraftwerk“ Seiner Energie, Seines Willens. Nur ER gibt allem Leben und Existenz. Das ist bedeutsam für die Frage nach der Ur-Sache, nach Souveränität und Abhängigkeit.

Ich kann viel besser nachvollziehen, dass es einem „Calvinisten“ (also jemandem, der nicht mehr wie die röm.-kath. Kirche, sondern biblisch wie die Reformatoren im Heil denkt) sehr zuwider ist, den Menschen in den Mittelpunkt des Heils zu stellen, wenn er doch in der Schrift gesehen hat, dass die ganze Heilsgeschichte einen Hauptzweck hat: Gott zu verherrlichen, IHN in den Mittelpunkt zu stellen, damit ER gelobt und gepriesen wird für Seine Heiligkeit, Liebe und Treue (usw.). Das versteht die Schrift (und normalerweise der Christ) darunter: Dass das Heil allein aus Gnaden ist (mit allem Drum und Dran), also freies Geschenk, nicht bedingtes Geschenk (denke an das Metapher mit dem Wirt oben!). 

Vorkenntnis (prógnōsis)

Die Stelle, die Du mir zeigtest, war 1. Petrus 1,2: „die auserwählt sind nach Vorkenntnis Gottes, des Vaters, in der Heiligung des Geistes zum Gehorsam und zur Besprengung mit dem Blut Jesu Christi…“– Schauen wir uns das näher an: Petrus kündigt hier nach seinem Briefbeginn die grundlegenden Themen seines Briefes an: Vorkenntnis Gottes, Heiligung durch den Geist Gottes, Gehorsam gegenüber Jesu und Blutbesprengung, die er später im Brief weiter ausdehnen und entwickeln wird (also kann man nicht bei 1,2 anfangen oder stehen bleiben, um 1,2 zu verstehen!). Er erinnert seine Leser daran, dass sie an einen dreieinigen Gott und an Dessen dreieiniges Werk glauben. Man kann dies schön in der Wortwahl und dem Aufbau von Vers 2 erkennen: Vater, Geist, Jesu Christi.

Die „Vorkenntnis (Gr. prógnōsis) Gottes“ ist mehr als nur das bloße Wissen, was in der Zukunft passieren wird, denn es schließt Gottes spezielle Beziehungen (!) mit der Menschheit, selbst bevor diese Menschen bestanden, mit ein (vgl. Römer 1,20; Amos 3,2; Apg 2,23; Römer 8,29–30; 11,2). Diese „speziellen Beziehungen“ schließen Gottes Erwählung und seinen besonderen Plan für Sein Volk mit ein. Die „Heiligung“ des Geistes ist das Wirken des Geistes Gottes, in dem Er das Erlösungswerk Christi einem Menschen zueignet, diesen reinigt und ihn in den Dienst stellt. (Das Blutbesprengen spielt auf den Bundesschluss in 2. Mose 24,3–8 an, aber hier ist der Neue Bund –im Blut Jesu– gemeint.) Das Ziel der Erwählung und der Erlösung ist also der Gehorsam Gott gegenüber, der aus dem Glauben herauswächst (vgl. den Begriff des „Glaubensgehorsams“, der am Anfang und am Ende des Evangeliums im Römerbrief steht: Römer 1,5; 16,26 und Apg 6,7 als Beispiel). 

Der Grußabschnitt des Briefes schließt mit dem Segenswunsch, dass die Gnade und der Friede Gottes den Glaubenden vermehrt werde. Der nächste Briefabschnitt beschäftigt sich dann mit den Vorrechten und den Verantwortungen, die sich aus dem Heil/Gerettetsein ergeben (1,3–2,10).

Der Begriff prógnōsis (Vorkenntnis, Vorherkenntnis) taucht nicht nur hier im Wort Gottes auf, das war eine Falschinformation von Dir (s. auch Apg 2,23, dort gerichtet auf Gottes vorzeitlichen(!), festen(!) Plan Gottes, Jesus durch die Hand von Gesetzlosen in den Tod zu geben). Diese Vorher-Kenntnis Gottes ist ein Teilaspekt seiner Allwissenheit, aber es ist mehr als das bloße Wissen einer Information. (Gott ist immer allwissend, es ist eine Seiner Wesenszüge, das müsste nicht extra gesagt werden, und umfasst alles und jeden.) Wie das Wörterbuch von Vine erklärt, spricht der Begriff von erwählender Gnade, schließt aber den Willen des Menschen nicht aus (die Stelle in Apg 2,23 stellt ja „beide Seiten“ trefflich Seite an Seite!).
Das Verb dazu, proginṓskō, taucht auch in Apg 26,5; Römer 8,29; 1. Petrus 1,20 (!) und 2. Petrus 3,17 auf, was uns die Bedeutung weiter aufschlüsselt. Wenn ein Mensch etwas vorher weiß, ist dies allerdings etwas anderes, als wenn Gott etwas vorher weiß, denn das Wissen des Menschen ist fehlerhaft und unvollständig, das Wissen Gottes aber richtig, ewig und allumfassend. Da Gott nichts dazulernt, ist sein Wissen vor aller Zeit nichts anderes als das in der Zeit oder das in der Ewigkeit nach der Zeit. Gott ist nicht „hinterher schlauer als vorher“, wie wir Menschen. Das Wissen und das Wollen Gottes schafft vielmehr unmittelbare Realität. Wenn Gott dann spricht, steht es da. Aus dem Nichts. Gott kann Tote durch Sein Wort lebend vor sich stellen (Lazarus), Welten aus dem Nichts ins Dasein rufen (Schöpfung). Das kann kein Geschöpf. Beim Menschen schafft das Vorherwissen oder das Wollen ohne weiteres erst einmal gar nichts. Diesen Unterschied kennen leider manche Christen nicht. Der alte Fehler, dass der Mensch aus seiner menschlichen Erfahrung (oft unbewusst und unreflektiert) auf Gott schließt, kommt wieder tragisch zu Tage. Ich füge den Eintrag im anerkannten Wörterbuch von Kittel, Gerhard ; Friedrich, Gerhard ; Bromiley, Geoffrey William: Theological Dictionary of the New Testament noch hinzu (auf Englisch, ich habe nur die englische Ausgabe):

»proginskō, prógnōsis. The verb means “to know in advance,” and in the NT it refers to God’s foreknowledge as election of his people (Rom. 8:29; 11:2) or of Christ (1 Pet. 1:20), or to the advance knowledge that believers have by prophecy (2 Pet. 3:17). Another possible meaning is “to know before the time of speaking,” as in Acts 26:5. The noun is used by the LXX in Jdt. 9:6 for God’s predeterminative foreknowledge and in Jdt. 11:19 for prophetic foreknowledge; Justin uses it similarly in Dialogue with Trypho 92.5; 39.2.«

Der von Dir gewählte Begriff „Vorsehung“ (für prógnōsis in 1. Petrus 1,2) wird im Wörterbuch Wiktionary.org so erklärt: »Religion: höhere Macht, die die einzelnen Ereignisse, die einem Menschen widerfahren, anordnet (meist letztlich zum Guten hin)«. Vorsehung bedeutet demnach Anordnung, nicht nur passives „Vorhersehen“. Ich denke, das ist etwas ganz anderes, als wie Du den Begriff verwendest. So entstehen Missverständnisse: wenn man Begriffen andere Inhalte gibt, als sie gewöhnlich haben, weil man eine eigene Vorstellung hineininterpretieren will. Daher: miteinander reden, erklären, Geduld haben.

(8) Dann versuchte ich Dich noch dafür zu sensibilisieren, dass Begriffe in der Schrift (wie immer in jeder Sprache) ihren Sinn aus dem Kontext erhalten. Es ging um den Begriff „Welt“ und um Dein Verständnis von Johannes 3,16: „Denn auf solche Art und Weise hat Gott die Welt geliebt, dass…“. Meine Erfahrung ist, dass dieser „am besten bekannte Vers der Bibel“ sehr missverstanden wird, weil viele sich nicht die Mühe machen zu verstehen, was der Herr in den Versen 1 bis 15 gelehrt und klar gemacht hat. Allein zur zentralen Frage der Neugeburt gebraucht der Sohn Gottes zwei Bilder: die Geburt eines Menschen und den Wind. Der Sohn Gottes versucht mit beiden Metaphern/Bildern dem Obertheologen Nikodemus klarzumachen, wie die geistliche Neugeburt, von der die Rede ist, geschieht. (Wie Fruchtenbaum ausführt, hatten die Rabbis damals viele Ideen, durch welche Entscheidungen oder Taten (Eheschluss, Priester werden usw.) man sich die Wiedergeburt sichern könne. Das war aber genau der falsche Ansatz: dass man es selbst durch eine Entscheidung oder Tat bewirken könne! Das ist der Grundirrtum aller falschen Religionen und steht im Gegensatz zum biblischen Evangelium der Gnade. Bei der menschlichen Geburt ist völlig klar, dass das Gezeugte und dann Geborene absolut keinen Beitrag zu seiner Entstehung hatte (Wie kann man das übersehen oder missverstehen?). Im zweiten Bild (des Windes) sagt der Herr: „Der Wind weht, wo ER will“ (3,8). Der Wind ist hier im Bild der Heilige Geist. Dieser bewirkt die Wiedergeburt, und zwar dort, „wo ER will“. Damit ist die Frage, auf welchen Willen es bei der Wiedergeburt ankommt, ein für allemal geklärt. Der Herr konnte es nicht deutlicher ausdrücken, wie mit diesen beiden Bildern. Wenn Du nun sagst: Dann war Jesus auch ein „Calvinist“, dann kann ich Dir nicht helfen. Wenn man Eins und Eins zusammenzählen kann, erkennt man doch deutlich, was der Sohn Gottes hier dem Nikodemus klarmachen will: Es kommt bei der „Geburt von oben“ nicht auf die Taten, die Entscheidung, den Status oder den Willen des Wiedergeborenen an, sondern alleine auf den souveränen Willen Gottes, des Heiligen Geistes. Wenn man das nicht sieht, wie soll dann Johannes 3,16 klar werden? Wer das Irdische nicht versteht, wie will er dann das Himmlische verstehen? (3,12) – Johannes zeigt in weiteren Aussagen auf, dass solch ein wiedergeborener Mensch dann immer auch ein glaubender Mensch ist: das ewige Leben und den rettenden Glauben gibt es niemals getrennt voneinander, Beides gehört stets und gleichzeitig zusammen. (Die Zeitformen der betreffenden Verben sind höchst aufschlussreich!)

Was den Begriff „Welt“ angeht: Schreibe einmal alle Stellen mit „Welt“ bei Johannes auf ein Stück Papier (oder in eine Tabelle im Rechner). Versuche dann herauszubekommen, ob es stimmt, dass „Welt“ (κόσμος kosmos) immer „alle Menschen (ohne Ausnahme)“  (oder was immer Du meinst) bedeutet. Meine Dir gegebenen Beispiele: 1. „Gott liebt die Welt“, 2. „Liebet nicht die Welt“, 3. „Ich habe die Welt überwunden“ oder auch 4. „dass er aus dieser Welt zu dem Vater gehen sollte“, 5. „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ usw. sollten auf einen Blick deutlich machen, dass die Bedeutung des selben Wortes je nach Kontext unterschiedlich sein kann und sein muss. Es ist also nicht einfach und sofort zu sehen, was in Johannes 3,16 gemeint ist, wie Du meinst. Insbesondere ist die Auslegung falsch, dass dieser Vers von der Menge, dem Umfang der Liebe (und Rettung) Gottes rede. Das Wort „also“ ist wieder jenes griech. Wort, das eher auf eine Qualität und nicht auf eine Quantität hindeutet, also: Von welcher besonderen Art ist doch die Liebe Gottes, dass sie sogar für solche finsteren Rebellen und bösesten Feinde, wie sie in der Welt sind, den einzigen, vielgeliebten Sohn hingibt.“ Es geht nicht um die Breite und Ausdehnung jener Liebe, sondern um ihre Tiefe und Qualität: Von wie weit „oben“ sie sich bis so weit „unten“ ausgestreckt hat. – Das soll hier erstmal genügen.

Wie versteht unser Verband die Erwählung? Anders, wird gesagt. Aber wie?

Ich habe interessehalber mal wieder das Glaubensbekenntnis des Verbandes daraufhin durchgesehen, was es über die „Erwählung“ aussagt. Das Ergebnis:

  1. Es steht überhaupt nichts über Erwählung in diesem Bekenntnis. Also kann man nicht behaupten: Der und die sieht es anders, als „wir“ (eine Gemeinde des Verbandes) es sehen/lehren. Dafür ist offiziell nichts zu finden. Höchstens als eine Geheimlehre, die man nicht veröffentlicht hat. Warum dies so ist, weiß ich nicht, aber ich schließe daraus zumindest, dass es keine so wichtige Frage ist, als dass man sie im Bekenntnis erwähnen wollte.
  2. Unter „Erlösung“ hingegen steht:
    »Allein durch das eine in Ewigkeit gültige Sühnopfer Jesu Christi kann der Mensch erlöst werden. Wenn er nun sein Herz der Wirkung der göttlichen Gnade öffnet, empfängt er Buße (Umkehr) zum Leben, so dass er seine Sünden erkennt, bereut, bekennt und lässt.(Apg. 2, 37, Jes. 55, 10-11, Apg. 11, 18; 26, 18, Lk. 15, 17-21, 1. Joh. 1, 9, Jak 5, 16)«

Schauen wir uns das einmal genauer an: Der Mensch muss also „sein Herz der Wirkung der göttlichen Gnade öffnen“, dann empfängt er das Heil. Checkt man die angegebenen Stellen der Schrift, dann steht es aber anders da. Gehen wir die genannten Bibelstellen einmal durch: 

  • »Als sie aber das hörten, drang es ihnen durchs Herz, und sie sprachen zu Petrus und den übrigen Aposteln: Was sollen wir tun, Brüder?«
    Man erkennt die Passiv-Form des Verbes „(durch)dringen“. Es ist nicht von einem aktiven Öffnen des Herzens die Rede, sondern davon, dass diese Botschaft ihnen durchs Herz drang. Das war äußere Macht, die ins Innere vorstieß. Und das hatte dann geistliche Auswirkungen, hier zum rechten Fragen. Die betreffenden Menschen erlebten das Durchdringen ihrer Herzen an sich, das ist der Sinn des Gebrauchs der Passiv-Form. Sie durchdrangen es nicht selbst, sie „öffneten ihr Herz auch nicht der göttlichen Gnade“. Die Rede ist nicht von „Öffnen“, sondern dass da etwas durchdrungen wurde. Sie wurden überwältigt durch den Geist Gottes, der in der Predigt des von Ihm gegebenen Wortes mächtig (und hier heilsstiftend) wirksam wurde. Römer 10 erklärt das genauer.
  • »Denn wie der Regen und der Schnee vom Himmel herabfällt und nicht dahin zurückkehrt, wenn er nicht die Erde getränkt und befruchtet und sie hat sprossen lassen und dem Sämann Samen gegeben hat und Brot dem Essenden, so wird mein Wort sein, das aus meinem Mund hervorgeht: Es wird nicht leer zu mir zurückkehren, sondern es wird ausrichten, was mir gefällt, und durchführen, wozu ich es gesandt habe.«
    Auch hier wird nicht gesagt, dass jemand sein Herz öffnet, sondern dass Gottes Wort wie ein Same ist, und dass es ausrichten wird, was Gott gefällt, und durchführen, wozu Gott es gesandt hat. Die Regie und das Handeln liegt bei Dem, der das Wort gegeben hat, Er hat die Wirkungen offenbar voll im Griff.
  • »Als sie aber dies gehört hatten, beruhigten sie sich und verherrlichten Gott und sagten: Also hat Gott auch den Nationen die Buße gegeben zum Leben.«
    Noch klarer kann Gott nicht sagen, dass die Buße eine Gabe Gottes ist. Auch hier ist nicht die Rede von einem „Herzauftun“ als einer rettenden Handlung des Sünders. Nein, Gott gibt die Buße einem Menschen, daraufhin tut dieser Mensch selbst Buße und das ist eines der sicheren Kennzeichen, dass neues Leben in jenem Menschen schon da ist.
  • »… um ihre Augen aufzutun, damit sie sich bekehren von der Finsternis zum Licht und von der Gewalt des Satans zu Gott, damit sie Vergebung der Sünden empfangen und ein Erbe unter denen, die durch den Glauben an mich geheiligt sind.«
    Auch hier ist nicht vom Auftun des Herzen die Rede, sondern davon, dass Gott die Augen des Sünders auftut (durch die Predigt des Evangeliums durch Paulus), damit sie sich bekehren (aha, das ist also der Zweck, das angestrebte Ziel), und damit sie das Heil empfangen (Vergebung, Erbe usw.). Auch hier handelt Gott aktiv im Auftun der Augen, Er „verleiht das Gesicht“. Im selben Moment sieht der neugeborene (ehemals blinde) Mensch erstmals die Dinge, wie sie wirklich sind und kehrt um, glaubt, lebt im Glauben ein Heiligungsleben. Um es ganz klar zu sagen: Das Augenauftun durch Gott und das Sehen durch den Menschen ist gleichzeitig, aber das Sehen verursacht nicht das Augenauftun, sondern das Augenauftun verursacht das Sehen.
  • Lukas 15 überspringe ich, da es wohl nicht von Ungläubigen redet, immerhin ist der „verlorene Sohn“ (Welcher von beiden? Gar beide?!) immer ein Sohn des Vaters gewesen. Jesus hat aber gesagt, dass Ungläubige nicht Söhne Gottes des Vaters sind, sondern Söhne des Teufels, ihres Vaters (Johannes 8,44). Aber man kann behaupten, dass man dieses Gleichnis, das ja im Blick auf die herzensbösen Pharisäer vom Herrn gesprochen wurde, zumindest evangelistisch „angewendet“ werden kann. Die Botschaft ist sicher eine mehrfache. Jedenfalls darf ich als völlig irregegangenes Kind Gottes wissen, dass mein himmlischer Vater mich immer noch liebend erwartet und zu vollkommener Vergebung und Aufnahme in seine Gegenwart bereit ist. Ich darf also jederzeit in Reue und Buße zu Ihm zurückkehren.
  • 1. Johannes 1,9 überspringe ich auch, weil es dort um Kinder Gottes geht, die richtig mit ihren Sünden umgehen sollen, indem sie diese ihrem himmlischen Vater bekennen. Es geht hier nicht um den Richter-Gott, vor Dem ich als Sünder stehe, sondern um Gott, meinen Vater, dem ich bekenne, was ich als Sein Kind (!) wieder falsch gemacht habe. Beachtlich ist, dass hier die (väterliche) Vergebung begründet wird mit „so ist er treu und gerecht“, und nicht mit „gnädig und barmherzig“, was für die Vergebung für bußbereite Sünder gilt. Das „wir“, das der Kontext hier einige Verse lang schon gebraucht, macht ganz klar, dass es um Kinder Gottes geht, nicht um Heilssuchende oder Außenstehende (oder wie man Sünder auch bezeichnen mag).
  • »Bekennt nun einander die Sünden und betet füreinander, damit ihr geheilt werdet; das inbrünstige Gebet eines Gerechten vermag viel.«
    Offensichtlich wird auch hier nichts davon gesagt, dass ein Mensch sein Herz öffne. Es geht auch nicht um das Bekenntnis vor Gott, sondern „einander“. Es geht um Seelsorge in kritischer Situation. Das ist jedenfalls nicht die Situation eines Ungläubigen, da die Bekennenden auch die Betenden sind und als „Gerechte“ bezeichnet werden, deren Gebet viel vermag, denn Gott hört auf den, der zerbrochenen Herzens ist.

Ich fasse zusammen: 

  • Die angegebenen Stellen reden nicht von Erwählung oder Auserwählung.
  • Die angegebenen Stellen reden nicht von einem, der „nun sein Herz der Wirkung der göttlichen Gnade öffnet“.
  • Die Stellen sagen etwas anderes.

Es gibt andere Stellen, die eher etwas über das „Öffnen des Herzens“ reden, sie werden aber nicht aufgeführt. Zum Beispiel  Apg 16,14:  »Und eine gewisse Frau, mit Namen Lydia, eine Purpurhändlerin aus der Stadt Thyatira, die Gott anbetete, hörte zu, deren Herz der Herr auftat, dass sie Acht gab auf das, was von Paulus geredet wurde.«

  • Ja, es ist der HERR, der das Herz auftut. Und dann tun wir das auch. Ohne Widerspruch, ohne Fehl. Kurze Zeit danach war sie getauft in die Nachfolge Jesu Christi… – Ich frage mich, ich frage Dich: Warum reden wir nicht so, wie das Wort der Wahrheit redet?
  • Was ein Mensch jedoch sehr gut kann, ist, das Herz zu verschließen (1. Johannes 3,17), aber in 1. Johannes 3,17 geht es nicht um das Heil und die Erlösung, sondern um ein Erbarmen in praktischer Mildtätigkeit, von Gottes Liebe (die im Herzen schon ausgegossen ist, Römer 5,5) getrieben.

Es gibt noch mehr Punkte, die ich ansprechen wollte, z. B. Epheser 2,8–10 (das grammatische „Problem“ mit der Gabe des Glaubens; als Gabe Gottes ist dort aber unschwer das gesamte Heil zu sehen, damit natürlich inklusive des Glaubens), aber das ist schon unheimlich viel, ich befürchte viel zu viel. Die Wahrheit erfassen ist eine langwierige Angelegenheit, die viel Arbeit im Studium der Schrift und auch einige Geduld von uns fordert: „Befleißige dich, dich selbst Gott als bewährt darzustellen, als einen Arbeiter, der sich nicht zu schämen hat, der das Wort der Wahrheit recht teilt“ (2. Timotheus 2,15). Wir lernen langsam, wachstümlich. Es gibt Fragen im Leben, die kann man mit einem Kind nicht besprechen, aber später kann und sollte man es tun. Voraussetzung ist Wachstum und ein Leben, das das Wirken des Heiligen Geistes nicht dämpft, sondern fördert. Denn Er ist unsere Salbung von Gott (1. Johannes 2,20.27), der uns im Wort alles klar macht, so dass wir es sehen können: „Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, gekommen ist, wird er euch in die ganze Wahrheit leiten“ (Johannes 16:13). Also sind wir ganz von Gott abhängig, gerade auch im Erkennen der Wahrheit! 

Wenn wir also am Sonntag in der Heiligen Schrift lesen, dass der Vater seine Kinder mit einer besonderen, ewigen Liebe liebt, sich zum Eigentum nimmt, dann dem Sohn gibt, damit dieser für genau diese als Liebesgeschenk „Gegebenen“ stirbt und ihnen ewiges Leben gibt (Johannes 17), und danach behauptet jemand, dass Gott alle Menschen völlig gleich liebt, dann könnte man verzweifeln, denn die Sprache der Schrift ist klar und die Sache ist klar. Der Bibelstudent lernt, dass es verschiedene Arten und Weisen der Liebe Gottes gibt. Und genau dies festzustellen und dem nachzuforschen, rief der Apostel Johannes ja auf: „Sehet, WELCH eine Liebe…“! Nein, Gott macht einen Unterschied: Manche stehen unter Seinem Zorn und Seinem Gericht, andere hingegen in Seiner Liebe und Gerechtigkeit (Johannes 3,18; 3, 36; Römer 5,1; 8,1 u.a.). Manche erfahren zeitlich und begrenzt Gottes Liebe, andere erfahren darüber hinaus eine ewige, besondere, rettende Liebe (vgl. dazu 1. Timotheus 4,10).

Nach Gottes Willen braucht es in der Gemeinde das Lehramt (die lehrbegabten Glieder des Leibes), denn nicht alle haben diese Gabe erhalten, das macht 1. Korinther 12, Epheser 4 usw. deutlich. Lehren sollen die Lehrer, nicht die anderen. Jeder nach seiner Begabtheit. Eine der notwendigen Kriterien für das Ältestenamt ist, dass diese „lehrfähig“ sein müssen (Titus 1,9; 1. Timotheus 3,2). Es ist mein Gebet für unsere Gemeinde, dass diese Forderung Gottes erkannt und ihr nachstrebend entsprochen wird. Ist das auch Dein Gebet? Wer sind Deine Lehrer? Bist Du selbst ein Lehrer?

Ganz ernst: Was sind Deine geistlichen Gaben, die Du gebrauchst und fleißig weiter ausbildest? Und zwar zur Verherrlichung Gottes: »Je nachdem jeder eine Gnadengabe empfangen hat, dient einander damit als gute Verwalter der mannigfaltigen Gnade Gottes. Wenn jemand redet, so rede er als Aussprüche Gottes; wenn jemand dient, so sei es als aus der Kraft, die Gott darreicht, damit in allem Gott verherrlicht werde durch Jesus Christus, dem die Herrlichkeit ist und die Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.« (1. Petrus 4,10–11)

Lass Dich ermutigen! Wenn Du das Herz und die Begabung eines Lehrers hast, wirst Du diesen Brief mit Interesse lesen und Dich mit geöffneter Bibel darauf stürzen, diese Dinge anhand der Schrift zu untersuchen. Wenn das nicht der Fall ist, wirst Du das alles nicht wirklich verstehen (wollen) oder es eher nervig finden, evtl. als unnütz, unklar, seltsam, und wahrscheinlich nur ablehnend oder anders emotional und streitend reagieren. Zu jeder Begabung des Geistes gehört nämlich auch das entsprechende Herz, das demgemäß empfindet, passende Interessen hat und entsprechend dem Herrn und der Gemeinde dienen will. Dieses Herz gilt es rein zu erhalten, denn geduldete Sünde (z. B. üble Nachrede) führt dazu, dass der Geist Gottes im Leben dieses Menschen gedämpft oder gar ausgelöscht wird. Entsprechend schwindet aber auch die Erkenntnisfähigkeit in geistlichen Dingen, denn »es ist ihm Torheit, und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich beurteilt wird« (1. Korinther 2,14b). Der Apostel Paulus stellt uns zur ernsten Erwägung und Selbstprüfung diese Wahrheit vor die Herzen: »Und ich , Brüder, konnte nicht zu euch reden als zu Geistlichen, sondern als zu Fleischlichen, als zu Unmündigen in Christus.« (1. Korinther 3,1). Daher ist diese Diskussion nicht nur eine des Verstandes, sondern des Gewissens, sie spricht uns nicht nur intellektuell, sondern auch moralisch an.

Herzliche Grüße

Dein
Gottlieb


[1]      Der Begriff der Auserwählung, des Wählens bedeutet nach den griech. Wörterbüchern heraus-wählen, aus-wählen, bestimmen (für ein Amt), eine Wahl treffen (z. B. Strong #g1536„to pick out, choose, to pick or choose out for one’s self“).

Die angebliche Sensation des Ken Wilson

Eine Rezension von: War Augustinus der erste Calvinist?

Vor einiger Zeit wurden Nachrichten und Vorträge verbreitet, dass ein gewisser Ken Wilson eine Sensation entdeckt hätte, nämlich dass der Kirchenvater Augustinus der erste „Calvinist“ gewesen sei. Eine deutsche Kurzfassung der „bahnbrechenden Dissertation“ von Wilson (2012 in Oxford), die im Jahr 2018 veröffentlich wurde, trägt tatsächlich den Titel: „War Augustinus der erste Calvinist?“ (CMV-Hagedorn, Pb., ca. 156 Seiten, ISBN: 978-3-96190-062-6). Die Doktorarbeit lautet hingegen inhaltlich anders: „Augustine’s Conversion from Traditional Free Choice to “Non-free Free Will“: A Comprehensive Methodology“ (Tübingen: Mohr Siebeck, 2018, 388 Seiten, ISBN 978-3-16-155753-8). Es ist also zu vermuten, dass mit der deutschen Ausgabe tatsächlich eher reißerische Zwecke verfolgt werden, als denn seriöse und aufklärende.

Leider hat der Schweizer Bibellehrer Roger Liebi das Vorwort der CMV-Ausgabe geschrieben und aktiv Werbung für dieses Buch gemacht (Liebi leugnet auch die Erwählungslehre der Bibel).

Autor: Kenneth M. Wilson wurde 1956 geboren. 1981 wurde er Doktor der Medizin (!) an The University of Texas Medical School. 1989–95 war er Assistant Professor of Orthopaedic Surgery an der Oregon Health Sciences University. 2003 errang er den Titel Master of Divinity, 2006 den Titel Master of Theology und 2012 den Titel D. Phil. in Theologie von der University of Oxford. Gegenwärtig ist er ein zertifizierter Orthopaedic Hand Surgeon in Salem, Oregon und zugleich Professor für Kirchengeschichte und Systematische Theologie an der Grace School of Theology in The Woodlands, Texas, der Ausbildungsstätte einer christlichen Sondergruppe (Glaubensbekenntnis; bemerkenswert ist folgende schriftwidrige Behauptung dieser Bibelschule in ihrem Doctrinal Statement: »Initial faith resulting in justification and regeneration is not a gift of God.«).

Inhalt: Diskussion und Beurteilung der Behauptungen der Doktorarbeit von Ken Wilson findet sich an mancher Stelle. Eine davon fertigt(e) Mario Tafferner an (Abdruck auf Evangelium 21), eine tiefergehendere Chris Whisonant (hier veröffentlicht). Beide sind sehr lesenswert. Die Inhaltsangabe der Analyse von Whisonant mit kurzen Zusammenfassungen wird unten abgedruckt. Die Überschriften enthalten Links zu den vollen Artikeln. Vorsicht: das zugrundeliegende Studium ist nichts für Anfänger.

Allerdings könnte selbst ein Laie mit etwas Bildung erkennen, dass Augustinus (354–430) rein zeitlich niemals ein „Anhänger Calvins“ (1509–1564) oder dessen Lehren gewesen sein konnte. Ob diese Behauptung Geschichtsklitterung, Dummheit oder Effekthascherei ist, mag jeder selbst beurteilen. Man beachte auch folgende zwei Tatsachen:

(1) Gegen eine Erstentdeckung mit entsprechender Sensation seitens Ken Wilson (wie es die reisserische Bewerbung des Buches erwarten lässt) spricht jedenfalls, dass schon vor Kenneth Wilsons Veröffentlichung (2018) wissenschaftlich und ausführlich nachgewiesen worden war, dass Augustinus die „Lehren der Gnade“ vertrat, z. B. im Rahmen der Doktorarbeit von C. Matthew McMahon, Augustine’s Calvinism: The Doctrines of Grace in Augustine’s Writings, die bereits 2012 veröffentlicht wurde.

(2) Dass Augustinus der erste „Calvinist“ gewesen sei, die Kirchenväter vor ihm die Inhalte und Lehren der „Fünf Punkte des Calvinismus“ also noch nicht gelehrt hätten, muss anhand der Quellenlage zurückgewiesen werden (s. z. B. Artikel: Calvinism in the Early Church. The Doctrines of Grace Taught by the Early Church Fathers). Eine umfassende Arbeit mit Originalzitaten von den älteren Kirchenvätern hat bereits der Theologe und Sprachgelehrte John Gill vorgelegt (The Cause of God and Truth, 4. Band, 1738).

Man sollte sich aufgrund der Tatsachen wohl eher zu folgender Aussage reduzieren, wie sie McMahon in der Einleitung seiner Ausarbeitung trifft (op cit): „Der heilige Augustinus war ein Calvinist und Johannes Calvin war ein Augustiner. Das heißt, sowohl Augustinus als auch Calvin hielten sich an das Evangelium von Jesus Christus, das in der Bibel zu finden ist, obwohl sie über ein Jahrtausend auseinander lebten“ (weiter erhellende Fortsetzung des Zitats s. unten).

Fazit: Nach Einschätzung von Kennern der Materie ist zu befürchten, dass sich am Ende der 388 Seiten (des Originals) die Sensation des Ken Wilson als lahme Ente erweist, oder – wie der alte Goethe es sagen würde–: „Getretener Quark wird breit, nicht stark.(Westöstlicher Divan, 1819/1827).

Chris Whisonant: Discussing Ken Wilson’s Work – A Table of Contents

»Below you will find a Table of Contents with all of my posts in this current series. I will link to each post and provide a brief synopsis of its argument, typically a summary of each post’s conclusion.

Part 1 – Clement and Free Will

Dr. Wilson argues that when Clement stirred up the believers in Corinth to good works that the implicit logical consequence must only be libertarian free will. If this is clear through implication, what of  the explicit statements relating God’s will to our calling, justification, and opening of the eyes of our hearts that Clement understood believers are predestined and elected by God? By simply looking at the actual writing of Clement, there would be more data demonstrating that he was on the “traditional” belief in election as it relates to God’s purpose of salvation.

Part 2 – Augustine, 412, and Original Sin

Upon hearing that infants should be baptized not to remit original sin but simply to sanctify them, Augustine realized that this was not part of what he understood as the Christian faith handed down through the ages. He understood that the Church “guarded with utmost constancy” the doctrine that children were sinners due to their inheriting original sin from Adam. Therefore, his immediate argument was that the Church was against this novel doctrine of Pelagius and that infants should have always been baptized to cleanse them of their sin. If there was a side that Augustine would have understood as “traditional”, it was that side guarded by the Church that believed the transmission of original sin from Adam needed to be washed away in infants so that they could be clean and free from sin until such a time as they committed their own personal sin.

Part 3 – Some Earlier Comments from Augustine on Original Sin

Augustine spoke about the inherited sin nature by the sin of the first man very early in his Christian life in the year 393. And then in 401 we could see Augustine discussing the need for remission of sins by baptism in infants. The remission of sins was to renovate them from the sins of the old man. Augustine was saying something that the “traditional” advocate would not be able to say while being consistent with their own writings. Could a Provisionist say that “the custom of sinning has been turned into a nature of sinning according to mortal generation, by the sin of Adam”? That’s the language of Augustine before he explicitly wrote lengthy treatises on Original Sin.

Part 4 – Athanasius and Original Sin

Athanasius spoke of an origin of death from Adam, a curse of sin, and death being removed through regeneration from above and a quickening in Christ. At the very least, Athanasius shows that the church before Augustine was talking in ways that sound less “traditional” than the Provisionist would like.

Part 5 – Using Equal Scales in the Discussion

Wilson has also asserted that Biblical calls to repent or wake up must mean that man has that capability within himself to fulfill that call. In this post we see a similar statement by Mani where one is told to awaken. The “traditionalist” would read these statements in Scripture as meaning that man has moral ability to heed the call himself and wake up, but the same person will read some type of determinism into a statement by Mani. I would urge that we try to be consistent with regards to how we interpret passages based off of our presuppositions. I am in no way trying to defend the statement by Mani – he was, as we have seen, not even talking about the Christ of the Bible as the Redeemer but rather was talking about Zoroaster! What I am trying to do is to urge you to consider whether you are using the same criteria when you read traditional libertarian free will into early church fathers but not into what Mani was saying.

[Part 6 –] The Depths of Augustine’s Manichaeism

This foundational part of “faith” (a “Redeemer” known as Zoroaster,who Wilson equated with Christ, commanding one to awake from their slumber and that Redeemer gave the grace for someone to even be able to awaken) that Augustine supposedly snuck into Christianity was approved by Augustine, per Wilson. Yet it does not take into account that Augustine was quite explicit that the “faith” he had as a Manichaean was disapproved of by him. Certainly this “faith” would include such non-catholic beliefs in astrology and the false god along with Zoroaster the Redeemer in Manichaeism.

Part 7 – What If We Rewrite the Stars?

After reading this post, does it sound to you like Augustine was still under the influence of Stoic Providence guided by the stars in 388 and 398 (as well as from 393 and 397 in quotes below) when he explicitly denied the influence of stars over the birth of any man? As Augustine stated in Confessions, he had abandoned any type of atrological determinism by 386 – even before he was converted! When you have direct and explicit denials by Augustine of the assertions that Wilson is making, you have to ask yourself why Dr. Wilson is treating Augustine the way that he is. Augustine, in writings from 388-401 categorically denied any assertion that he continued to worship the heavenly bodies.

Part 8 – Council of Carthage

As this post demonstrates, the statements that Dr. Wilson made regarding the Council of Carthage do not hold water when we look at the actual document. They did believe that the church universal was baptizing infants and that it was to remit the sin that was in them as a result of generation from Adam.

Part 9 – Breaking The Silence of Augustine

Even excluding Ad Simplicianum we can see that Augustine spoke with similar language in the 10 years surrounding that letter. We see that what Dr. Wilson has conceded as non-traditional language in Ad Simplicianum is echoed by further non-traditional language in other works around that time (and the quotes that I have posted above are not exhaustive). If Augustine believed in 396 what he wrote in Ad Simplicianum, then Wilson’s entire thesis is a house of cards. But Dr. Wilson has stacked this house of cards on a single card at the bottom in order to serve as the firm foundation for this flimsy house. That single card is the fact that the word “reatus” is never found to be used prior to 412. This means that nobody believed that there was damnable guilt associated with original sin. But I have clearly just shown that Augustine, at least in 401, did believe in the inherited guilt of original sin such that he would recommend that children must be baptized to cleanse and regenerate them.

Part 10 – On The Magnitude of The Soul

When Augustine’s own words are read he appears to have spoken in a “non-traditional” way. I simply ask, yet again, if the things that Augustine wrote in this work are statements that the provisionists could agree with. Can they say that man cannot even begin or complete the renovation of spirit without God helping him to do that? Can they say that our use of free will “does not disturb any portion of the divine order and law”? These are serious questions that undermine much of Dr. Wilson’s thesis.

Part 11 – On Psalm 51 and Original Sin

After reading through some of Augustine yourself, it should be clear that it is anything but Wilsonian “Traditionalism”. As I have shown, Augustine not only says that children are born guilty (with a lack of innocence) but that they are further born with punishment upon them which makes them need the washing of regeneration in baptism. Guilty persons (infants) in need of regeneration, according to Augustine’s understanding of the catholic faith, would face the punishment of damnation.

Part 12 – On Psalm 51 and Concupiscence

This post is yet another that demonstrates the extreme prejudice employed by Wilson in his reading and assessment of Augustine. As a committed Protestant Baptist in the 21st Century, when I began reading Augustine in 2017 I approached it with no agenda. I knew that there would be many things that Augustine wrote with which I would agree and many with which I would disagree. But I have not approached my reading looking for a way to either assimilate Augustine into my tradition or accuse him of heresy from the start. My reading has been fruitful and a blessing. Dr. Wilson’s approach to Augustine appears to have been started with a bias and an effort to make Augustine someone that he was not.

Stay tuned for further posts…«

McMahon über „Calvinismus“ und „Augustinismus“ (2012)

„Der Inhalt ihrer [Calvin, Augustinus] Gedankensysteme über Rechtfertigung, Sühne, Souveränität, Gnade, Ausharren der Heiligen und dergleichen war derselbe. Sie lehrten dieselben Lehren von der Souveränität Gottes und der freien Gnade, die der „Calvinismus“ seit Hunderten von Jahren, nein, Tausenden von Jahren gelehrt hat. Und warum? Die Begriffe „augustinisch“ oder „calvinistisch“ beziehen sich einfach auf ein Denksystem, in dessen Mittelpunkt die vollständige und uneingeschränkte Souveränität Gottes in der Errettung steht. Das bedeutet, dass die Erlösung monergistisch ist. Sie wird von Gott im Namen des Menschen vollzogen. Wie der Psalmist so wortreich sagt: „Aber unser Gott ist in den Himmeln; alles, was ihm wohlgefällt, tut er“ (Psalm 115,3). Gott ist der Urheber und Vollender des Glaubens für diejenigen, für die Christus gestorben ist und sein Leben als Lösegeld gegeben hat. Gott initiiert das Heil, gibt die Gabe des Heils und bewahrt den Christen in der Erlösung. Er ist das Alles in Allem.

Dies ist kein neues Konzept oder eine neumodische Idee. Es ist die alte Religion des Evangeliums Jesu Christi, die seit dem Garten Eden in Genesis 3,15 gelehrt wird, durch die ganze Geschichte von Gottes auserwähltem Volk, durch das Wirken des menschgewordenen Wortes Jesus Christus, das Wirken der Apostel, das Wirken der frühen Kirchenväter und ja, das Wirken und die umfangreichen Lehren von St. Augustin.

Das augustinische oder calvinistische System bezieht sich nicht nur auf das, was gemeinhin als „Die Lehren der Gnade“ bekannt geworden ist. Diese biblischen Systeme des theologischen Denkens erstrecken sich auf alle Facetten der biblischen und systematischen Theologie. Wer nur an den „Lehren der Gnade“ festhält, kann nicht mit Fug und Recht behaupten, ein „Calvinist“ sein. […]

Die überarbeitete Systematisierung der fünf Punkte des Calvinismus, die als als „Die Lehren der Gnade“ in die moderne Kirche Eingang gefunden haben, wurde ursprünglich nicht von Calvin, sondern von Augustinus systematisiert und ausführlich beschrieben. Aus diesem Grund zitiert Johannes Calvin alle vier Seiten in seiner Institutio Christianae Religionis (deutsch: Unterricht/Unterweisung in der christlichen Religion) Augustinus. Aus diesem Grund würde sich Calvin nicht als Calvinist, sondern als Augustiner bezeichnen. Und sowohl Augustinus als auch Calvin würden sich wirklich als Kinder zu Füßen Jesu Christi und der Lehren der Bibel betrachten, vor allem, wenn sie ihre Lieblingspassagen des Apostels Paulus immer wieder zitieren. Sie sind paulinisch und bibeltreu, zur Ehre Jesu Christi.

C. Matthew McMahon, Augustine’s Calvinism: The Doctrines of Grace in Augustine’s Writings. (Coconut Creek, FL: Puritanischer Publications, 2012), Introduction. (eigene Übersetzung; typograf. Betonungen durch Übersetzer)

Sonnenfinsternis – Wo Phantasie die Wahrheit verdunkelt

Eine Rezension und biblische Kurzbeurteilung von:

Thomas Jettel, Herbert Jantzen
Kann ein Christ zu einem Nichtchristen werden?
CMV – Christlicher Missions-Verlag Bielefeld, 2010. Brosch., 109 Seiten | ISBN 978-3867015028

Der Herausgeber ist ein kleiner Verlag (e. V.), der von Mitgliedern der Mennoniten-Gemeinde Bielefeld ins Leben gerufen wurde (Webseite). Diese christliche Gruppe pflegt traditionell ein arminianisches Verständnis der Heilslehre und geht von der Unsicherheit und Verlierbarkeit des Heils in Christus aus. Das besprochene Werk ist Teil der CMV-Aufklärungsreihe. In dieser Reihe werden aus Sicht der Mennoniten wichtige Themen aufgegriffen, wie Gender, Erwählung, Heilssicherheit oder „das Äußere” (Kleidung).

Die beiden Autoren kommen aus unterschiedlichen Hintergründen, arbeiten jedoch seit einigen Jahrzehnten zusammen. Der Kanadier Herbert Jantzen (1922–2022) studierte am Canadian Mennonite Bible College in Winnipeg Theologie und Erziehungswissenschaften und war 1971–1981 Professor für Dogmatik an der FETA Gießen. 1999 kehrte er nach Kanada zurück. Der Österreicher Thomas Jettel (*1959) studierte an der STH Basel und wurde nach einer vorübergehenden Mitarbeit in Gemeinden im Salzburger Land (A) in den 80er und 90er Jahren und einer Umkehr zu einer anderen Heilslehre freier Prediger, dann Ältester einer Gemeinde in Hohentengen. Er arbeitete seit 1997 mit Herbert Jantzen zusammen.

Zum Inhalt. Die Autoren gehen davon aus, dass jemand, der an Jesus Christus glaubt, das Ewige Leben hat. Soweit biblisch richtig. Dann stellen sie die unbelegte und recht steile These auf, dass ein solcher mit Ewigem Leben beschenkte und „von-oben-geborene” Mensch seinen Glauben wieder restlos aufgeben könne, so dass alle Verheißungen und Folgen der Wiedergeburt von oben wieder genommen würden und so dieser Mensch auf dem Weg ins sichere Verderben der Hölle sei. Die biblische Lehre von der ewigen Heilssicherheit der Glaubenden schließe die Möglichkeit des Abfalls Wiedergeborener nicht aus. Die Heilssicherheit des Gläubigen einerseits, und die Möglichkeit, aufzuhören zu glauben, andererseits, seien biblische Lehren, die nicht im Widerspruch zu einander lägen. Platt gesagt wird hier die Meinung vertreten, dass der Mensch mittels des (eigenständigen) An- und Ausschaltens seines Glaubens sein ewiges Heil (eigenständig) an- bzw. ausschalte, der Heilsprozess mithin voll umkehrbar und voll in exklusiver Verfügung des betreffenden Menschen sei.

Beurteilung. Erstens werden in dieser Sicht der ewige Wille Gottes und seine ewigen und festen Besitzansprüche an die durch das Blut Jesu Erworbenen völlig außer (biblischer) Acht gelassen. Die Heilige Schrift lehrt als Wahrheit vielmehr, dass mit der Verleihung des Ewigen Lebens durch Gott unumkehrbare Dinge bei einem Menschen geschehen, denn Gott verändert ihn und Seine Beziehung zu ihm radikal (bis ins Zentrum des Wesens) und pervasiv (alles umfassend und durchdringend), sowohl initial (Stellung) als auch beständig (Glaubensleben). Die entsprechenden Gnadenhandlungen Gottes (d. h. einseitige Geschenke Gottes, beachte das betonte »ICH werde«) werden z. B. in Hesekiel 36 prophetisch vorausschauend bzgl. Israel und dem Neuen Bund im Alten Testament aufgezählt. Diese Segnungen des Neuen Bundes gehören zum Hintergrund des Gespräches Jesu Christi mit dem jüdischen Obertheologen Nikodemus (Johannes 3) zur Erklärung der Möglichkeit und Weise der geistlichen Neugeburt (Wiedergeburt, Geburt-von-oben-her):

»Und ich werde reines Wasser auf euch sprengen, und ihr werdet rein sein; von allen euren Unreinheiten und von allen euren Götzen werde ich euch reinigen. Und ich werde euch ein neues Herz geben und einen neuen Geist in euer Inneres geben; und ich werde das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben. Und ich werde meinen Geist in euer Inneres geben; und ich werde bewirken, dass ihr in meinen Satzungen wandelt und meine Rechte bewahrt und tut.«

Hesekiel 36,25-27 (ELBCSV)

Beachtenswert ist, dass auch das Bleiben eines Wiedergeborenen in einem Gott wohlgefälligen Leben in praktischer Heiligung zu diesen gnädigen Wirkungen gehört und mithin sicheres und bleibendes Gottesgeschenk und nicht fragwürdige menschlich-volatile Entscheidung ist. Es geht um Segnung und nicht um Verdienst. Dass dies so göttlich-sicher geschieht und bleibt, ist verbunden mit dem bleibend hochgelobten Namen und der Ehre Gottes (Hesekiel 36,32; vgl. Römer 3,21–28; Epheser 2,4–10).

Zweitens stellen die Autoren mit ihrer Lehre den Dienst Jesu Christi als Hoherpriester als fehlbar hin. Dieser ist jedoch vollkommen und wirksam: »Ich habe gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre« sagt Jesus zu Petrus nach dessen größter Sünde in dreimal wiederholter Leugnung Jesu (Lukas 22,31f). Jesu Blick (Lukas 22, 61–62) und seine Wiederherstellung und Indienststellung des Petrus (Johannes 21,15–19) reden, vor allem im Vergleich zum lange vorher in der Schrift angekündigten Verräter Judas Iskariot, Bände. Petrus gehörte zu denen, die durch Jesu Wort rein waren (Johannes 15,3), Judas hingegen war nie etwas anderes als ein Verräter und Teufel (vgl. Johannes 6,70; 13,2): »Als ich bei ihnen war, bewahrte ich sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast; und ich habe sie behütet, und keiner von ihnen ist verloren gegangen – als nur der Sohn des Verderbens, damit die Schrift erfüllt würde.« (Johannes 17,12).

Drittens wird der Dienst Jesu als Großer Hirte Seiner Schafe als unvollkommen verleumdet. Johannes 10 und 17 (u. a.) machen sehr klar, dass Jesus keinen der „Seinen” verliert, die Ihm der Vater anvertraut hat, sondern allen ewiges Leben gibt: »Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie gehen nicht verloren in Ewigkeit, und niemand wird sie aus meiner Hand rauben.« (Johannes 10,27-28). Wer wie die Autoren das Gegenteil einräumt, verleumdet Jesu Hirtentreue und Seine Macht als Gott, der Sohn.

Viertens: Bei der Rettung bekommt der Glaubende unwiderrufliche Rechtstitel zuerkannt. Dazu gehören: das Recht, Kind Gottes zu heißen; die Adoptionsurkunde als „an Sohnes statt Angenommener”; die Rechtfertigungsurkunde des Obersten Weltenrichters, ohne Revisionsmöglichkeit; den Erbschein als Miterbe Christi, (usw.). Dies ist alles im NT klar bezeugt. Keiner dieser Titel wird als „Leihtitel” oder „Bewährungstitel” ausgeteilt, sondern als göttlich feste Zusage im Indikativ des unwiderruflich Faktischen.

Der Beweis, dass kein Mensch sich durch Treue, Werke, Entschiedenheit (o. ä.) den Weg in den Himmel selbstständig bahnen oder erhalten kann, ist längst erbracht. Daher baut Gott Sein Heil auch nicht auf den Willen und die Tat eines sündigen oder „bekehrten” Menschen, sondern auf den Willen, die Tat und das Sterben und Auferstehen Jesu Christi, Seines Sohnes, auf: »Aus ihm aber seid ihr in Christus Jesus, der uns geworden ist Weisheit von Gott und Gerechtigkeit und Heiligkeit und Erlösung; damit, wie geschrieben steht: „Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn.”« (1. Korinther 1,30-31).

Fünftens: Es wäre ein Anfängerfehler, davon auszugehen, dass jede Art des Glaubens (als Tugend verstanden) rettend sei, dass es keine kategorisch unterschiedlichen Glaubensarten gäbe. Auch Dämonen glauben (Jakobus 2,19) –und zwar beständig–, aber sie waren und sind nie gerettet. Menschen glauben, solange sie spektakuläre Wunder sehen, die ihnen nützen (Brotglaube, Zeichenglaube). Weiterhin ist biblisch belegt, vorausgesagt und evident, dass Menschen biblische Glaubensinhalte mit falschen Inhalten und Lehren vertauschen (z. B. dem religiösen Asketismus, 1. Timotheus 4,1–3). Der rettende Glaube hingegen (manchmal als echter oder lebendiger Glauben bezeichnet) rettet, und zwar 100 Prozent sicher. Der Apostel Johannes lehrt unmissverständlich: Wer „den Glauben aufgibt” und die Gemeinde dauerhaft verlässt, fällt nicht vom sicheren Heil ab, verliert nicht das ewige Leben (usw.), sondern war nie gerettet, war nie „von uns” (1. Johannes 2,19).

Die Autoren gehen von einem in der Schrift nie vorkommenden, konstruierten Fall aus und bauen davon ausgehend Schlussfolgerungen auf. Wenn aber Prämissen falsch sind, werden die Schlussfolgerungen notwendigerweise auch falsch. Die Autoren verletzen das Auslegungsprinzip, dass sog. „schwierige Stellen” stets anhand klarer Stellen (s. z. T. o.) zu beleuchten sind. Durch Missverständnisse über die Treue und Macht Gottes und dem Werk Jesu besteht die Gefahr, dass sie Gott klein machen und zu einem ohnmächtig vor dem autonomen Menschen stehenden Retter degradieren. Die Ermahnungen und Drohungen Gottes sind trotzdem ernst zu nehmen, da die Heiligung das Mitwirken des Glaubenden einbezieht (Philipper 2,12–13). Für die Schar der nichtglaubenden Bekenner und der Mitläufer (vgl. Hebräer 6: »diejenigen« versus »euch, Geliebte«) haben alle mahnenden Stellen eine unsagbar wichtige Funktion: aufzurütteln, zu prüfen, ob man wirklich im Glauben steht (wie Paulus den Korinthern schreibt; 2. Korinther 13,5).

Fazit: Wer durch die Brille des Jettel-Jantzenschen Buches und damit durch die Brille der mennonitischen Sonderlehren auf die Lehre des Wortes Gottes über das Heil Gottes schaut, bekommt leider eine verzerrte und verfinsterte Sicht auf Gottes strahlende Größe und Herrlichkeit im Rettungswerk. Hier offenbart sich letztlich das Unheil schräger Theologie und „heiliger Lehrtraditionen”. Eine angemessene biblische Widerlegung der falschen und der lückenhaft einseitigen Aussagen der Autoren würde wieder ein Buch noch größeren Umfangs fordern. Dann lese man besser gleich ein gutes, biblisch richtiges Werk über die Heilslehre der Schrift und lasse die Sonne und das Licht der Wahrheit in die Seele und den Verstand leuchten. Denn diesseits der Ewigkeit sind wir alle noch Unvollkommene und Lernende und Erkennende. Das Sonnenlicht des Wortes der Wahrheit ist in diesem Wachstumsprozess hilfreicher als die Dunkelheit menschlicher Sonderlehren.

»Die Vorschriften des HERRN sind richtig und erfreuen das Herz; das Gebot des HERRN ist lauter und erleuchtet die Augen.« (Psalm 19,9)

Dünnes Brett: Streitenberger gegen Strohmänner (Rezension)

Peter Streitenberger
Die fünf Punkte des Calvinismus aus biblischer Perspektive
VTR, 2012, Pb., 67 Seiten | ISBN: 978-3941750425

Der Herausgeber, der Nürnberger Verlag für Theologie und Religionswissenschaft (VTR) veröffentlichte 2012 dieses 67-seitige Büchlein Streitenbergers in der Reihe „Zur Diskussion gestellt”. Beworben wird es hingegen nicht als Diskussionsbeitrag, sondern als Buch, das den Leser von der Bibel her überzeugen will: »Die vorliegende Abhandlung befasst sich mit dem unter Christen durchaus umstrittenen Thema der Erwählungslehre, insbesondere mit den so genannten fünf Punkten des Calvinismus und versucht, den interessierten Leser zu einer eigenen, von der Bibel her begründeten Überzeugung zu verhelfen.« (Buchrückseite).

Das Vorwort wurde von Franz Graf-Stuhlhofer, einem Historiker aus Wien, verfasst. Stuhlhofer studierte in Wien Geschichte und Naturwissenschaften und promovierte 1980 dort zum Dr. phil. mit einer Untersuchung zu Astronomie und Humanismus nach 1500. Er versucht in seinem über 6-seitigen Vorwort Gründe zu finden, warum Christen in manchen Fragen des Heils unterschiedliche Antworten vertreten. Überdies deutet er auch eigene Positionen an, die meist dem arminianischen Theologiesystem entsprechen (z. B. anonym-kollektive Erwählung) und daher gut zu der Position des Autors passen. Stuhlhofer karikiert abschließend in herabwürdigender Weise Gottes Heilswirken zusammenfassend so: »Alle jene Menschen, die sich von Gott ein JA abringen lassen, gehören zu diesem Überrest – damals wie heute.« (S. 11).

Der Autor, Peter Streitenberger (*1979), ist Diplom-Sozialpädagoge (FH). Er hat im Zweitstudium Germanistik und Philosophie studiert. Dieses kleine Buch gründet sich auf die Magisterarbeit des Verfassers, die 2010 von der Universität Eichstätt-Ingolstadt angenommen wurde. Er „recycelte” und verkürzte dabei eine längere Ausarbeitung, die schon etliche Jahre vorher in PDF-Form oder als E-Book im Internet herumgeisterte und 2007 im Christlichen Mediendienst Hünfeld (CMD) von Wilfried Plock unter dem Titel Die Fünf [sic!] Punkte des Calvinismus – Eine Antwort– 2007 herausgebracht wurde (159 Seiten, ISBN 978-3-939833-08-6; Rezension hier). Ein dort ca. 60-seitiger bibelorientierter Abschnitt zu „Umkämpfte Schriftstellen“ fehlt indessen in dem hier besprochenen, wesentlich kürzeren Werk; umso mehr befremdet der Titel dieser Magisterarbeit. Streitenberger ist auch wegen seiner anti-calvinistischen Beiträge (und deren Stil) auf der Webseite bibelkreis.ch bekannt geworden.

Zum Inhalt: Die Heilige Schrift stellt das Heilsangebot Gottes an uns Menschen in Jesus Christus überzeugend, klar und einladend vor. Streitenberger bezieht in dem Spannungsfeld zwischen der Souveränität Gottes und der Verantwortung des Menschen in der Frage der Heilsaneignung Stellung. Er geht dieser Frage indes nicht „evangelikal” nur aufgrund der Offenbarung Gottes –der Heiligen Schrift– nach (wie es der Titel vermuten lässt), sondern liefert seine persönliche Meinung, gezielt auf einen einige Jahrhunderte alten Lehrstreit zwischen sog. „Calvinisten” und „Arminianern”. Er nimmt dabei im Wesentlichen gegen die calvinistische (und hyper-calvinistische) Sicht Partei und greift „Die Fünf Punkte” eines größeren Kirchenkonzils gegen einige Protestler („Remonstranten”) in den Niederlanden an. Das ist an und für sich schon nicht sehr originell; viele haben dazu Lesbareres, Systematischeres, Biblischeres und Überzeugenderes geschrieben. Zudem besteht „der Calvinismus” nicht und bestand niemals aus nur und genau diesen fünf Punkten. Diesen historischen und dogmengeschichtlichen Irrtum sollten Vorwortschreiber und Herausgeber VTR eigentlich erkannt haben. Dem Versprechen im Titel „aus biblischer Perspektive” wird der Autor mangels sorgfältiger exegetischer Arbeit am Text der Heiligen Schrift leider nicht gerecht. Warum solches „Noch-einmal-bekannte-Argumente-aufzählen”, verkürzt entnommen aus schon längst Veröffentlichtem, die Anerkennung einer Magisterarbeit bekommen konnte, entzieht sich meiner Kenntnis.

Zum Stil: Eine Magisterarbeit muss auch in einem (zugegeben) kontroversen Thema beide Seiten sachlich richtig zitieren und ausgewogen darstellen. Sie entspricht heute einer Master-Arbeit, soll also gehobenen Ansprüchen an Form und Inhalt genügen. Wissenschaftliche Sachlichkeit und Korrektheit ist akademisches Muss. Wohltuend ist, dass Streitenberger seine öffentlichen Formulierungen, wie »das calvinistische Übergehungs- und Vergewaltigungsevangelium«, »die Sekte der Calvinisten« u. ä., in diesem Büchlein nicht wiederholt. Einige Rezensenten haben öffentlich kritisch angemerkt, dass Streitenberger unversöhnlich, reißerisch und unsachlich gegen Calvin und die reformatorische Heilslehre schreibt. Der Stil der Jesuiten der Gegenreformation findet heute wieder ein Echo in den Romanisierungsbestrebungen innerhalb des (ehemaligen ) Protestantismus. Das Werk des Autors Streitenberger hätte mit Wahl eines sachlicheren Stils und gründlicherer Erarbeitung sicher leicht Respekt gewinnen können.

Calvinismus”: Damit wird dehnbar alles das bezeichnet, was nicht in das Theologiesystem des „Arminianismus” passt und/oder in dieser Theologie verachtet wird. Leider liefert die Lektüre des Büchleins von Streitenberger keine Klärungen, die für die Diskussion fruchtbar oder für die Interessierten und die Gemeinde Gottes sachlich oder geistlich hilfreich wären. Die Bibel hat offenbar für uns auch einige unbequeme Aussagen, „links” wie „rechts”. Sie klärt auch nicht alle Spannungen, die sich dem menschlichen Intellekt und der menschlichen Erwartungshaltung angesichts des göttlichen Wesens, Entscheidens und Handelns stellen. Erschreckend ist der Mangel, Gott Gott sein zu lassen, IHN anstelle dessen lieber in die Schublade (Super-) Mensch eigener Vorstellungen zu pressen: „er” muss so klein sein, dass er in unsere Vorstellungen vom lieben Gott passt und so uns gefällt. Psalm 135,6 sagt: »Alles, was dem HERRN gefällt, tut er in den Himmeln und auf der Erde…« (ELBCSV). Ergo: Sein Wille und Sein Wohlgefallen (inkl. Vorsehung) sind der Urgrund alles Seienden und Geschehenden.

FAZIT: Ein Sozialpädagoge wünscht sich vielleicht lieber einen „menschlicheren” Gott, einen Partner auf Augenhöhe, oder –wie Stuhlhofer– einen Sanitäter, der fast verzweifelt um die Aufmerksamkeit und das zustimmende Kopfnicken des Sünders ringt, weil Ihm sonst etwas fehle. Aber Gott ist schon so, wie ER ist, absolut perfekt. Schon immer. Auch für Sein im Wort und in Christus geoffenbartes Heilshandeln gilt unumschränkt: »Denn von ihm und durch ihn und für ihn sind alle Dinge; ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen.« (Römer 11,36 ELBCSV). Wer das verstanden hat, hat angefangen zu verstehen, was es bedeutet, „durch die Gnade”, also als reine Gottesgabe, errettet zu sein (vgl. Epheser 2,8–9). Gott ist –nach der Heiligen Schrift– dann Gott und nicht Ab-Gott, wenn gilt: Soli Deo Gloria.

Es gibt schon lange viel Besseres, und –leider– auch noch viel Schlechteres, als diese Magisterarbeit von Streitenberger. Das Büchlein ist die Mühe des Lesens nicht wert.

Wir müssen den Zirkel bei der Liebe Gottes einstechen! – Wirklich?

Ein Redner und Autor der evangelikalen Szene in Deutschland behauptete in einer Diskussion, dass die Calvinisten“ ihren Zirkel fälschlicher Weise immer bei der Souveränität Gottes einstechen würden. Dies sei das Kernproblem der „Calvinisten“ und mache deren Theologie falsch. Richtig sei hingegen, dass man den Zirkel bei der Liebe Gottes einsteche – und dann erst wäre die Theologie (und insbesondere die Heilslehre) richtig.

Bevor wir uns in eine Diskussion Liebe“ versus Souveränität“ Gottes hineinziehen lassen (welche der bibellesende Gläubige überhaupt nicht verstehen kann, da er hier keinen Gegensatz, sondern vollkommene Harmonie sieht), sollten wir einen Schritt zurücktreten und uns ernsthaft einmal fragen: Dürfen wir überhaupt den Zirkel irgendwo, das heißt, in einem Einzelaspekt, in das Wesen Gottes stechen und die so gewählte Wesensart (Vollkommenheit) Gottes zum Zentralen oder Wichtigsten erklären? Ist uns solches eklektisches Denken, Priorisieren und Wählen (samt dem damit einhergehenden Ab-Wählen!) überhaupt erlaubt? Tiefer gefragt: Zeigt sich hier nicht einmal mehr, dass der gefallene Mensch zwar unheilbar religiös“ (Nikolai Berdjajew, 1874-1948), aber zugleich ein unermüdlicher Fabrikant von Götzen“ (Johannes Calvin) ist, von selbstgestalteten Gottesbildern, die der menschlichen Phantasie, den menschlichen Wünschen, Gefühlen und den menschlichen Vorlieben entsprechen? Menschliche Vorstellungen des Guten werden übersteigert an den Himmel geworfen (Ludwig A. Feuerbach: »Gott ist der Spiegel des Menschen.«). Das Ergebnis davon wird aber stets kategorisch (und nicht nur graduell) die in der Heiligen Schrift selbstgeoffenbarte Realität des Ewigen, Der da ist, verfehlen. Das ist tragisch.

Aber noch schlimmer ist: Das Ergebnis wird zum Gegenentwurf. Wenn ER sich uns nicht offenbart, wissen wir nicht, wer ER ist. Nun aber hat ER sich uns geoffenbart in der Summe Seines Wortes, der Heiligen Schrift. Dieser Offenbarung Gottes im Wort darf man weder mit Zirkel noch mit Schere zu Leibe rücken, sonst ist das Ergebnis ein Ab-Gott, ein Götze, ein Idol, ein Nichts (Psalm 96,5). Zirkelstecher“ produzieren unausweichlich Nichtse.

D. A. Carson schrieb allen Zirkelstechern“ folgende Warnung ins Stammbuch:

…um Zerrbilder zu vermeiden, sollten wir über die Liebe Gottes nur in Verbindung mit der Betrachtung aller anderen Vollkommenheiten Gottes nachdenken. Andernfalls besteht die Tendenz, ein Attribut Gottes gegen andere Attribute Gottes auszuspielen, eine oder mehrere Eigenschaften Gottes zu entschärfen, indem man sich auf die Überlegenheit einer anderen beruft. Wenn wir uns an Gottes Liebe erfreuen, dann sollten wir uns gleichzeitig nicht weniger an Gottes Heiligkeit, an Gottes Souveränität, an Gottes Allwissenheit (usw.) erfreuen, und wir werden sicher sein, dass alle Vollkommenheiten Gottes zusammenwirken.

D. A. Carson, Love in Hard Places (Crossway, 2002), S. 17 [1]

Carson liefert auch noch eine zweite, sehr notwendige Warnung vor selbstgebastelten Vorstellungen und Klischees über die Liebe Gottes, von denen es nicht wenige gibt, zum Beispiel Gottes Liebe kennt keine Bedingungen“. Er zeigt, dass diese Aussage in ihrer –angesichts des biblischen Zeugnisses unzulässigen– Undiffenziertheit falsch ist:

Gottes Liebe ist bedingungslos.“ Ist das wahr? Zunächst einmal trifft dies offensichtlich auf einige der Weisen zu, in denen die Bibel von der Liebe Gottes spricht. Gottes versorgende Liebe [Vorsehungsliebe] zum Beispiel ist bedingungslos, denn dieses Liebe wird über Gerechte und Ungerechte gleichermaßen ausgegossen. Gottes erwählende Liebe ist bedingungslos, denn nichts kann uns von ihr trennen (Römer 8,31-39). Aber die Liebe Gottes, von der im Dekalog [Zehn Gebote] und in Johannes 15 und Judas 21 die Rede ist (d. h. die fünfte in der obigen Liste), ist ausdrücklich an Bedingungen geknüpft. Auch hier sagen Christen oft: „Gott liebt jeden Menschen auf die gleiche Weise und in gleichem Maße.“ Stimmt das denn? Bei den Bibelstellen, in denen von Gottes Liebe zu den Gerechten und den Ungerechten die Rede ist, scheint es sicherlich wahr zu sein. In den Bibelstellen, die von Gottes auserwählter Liebe sprechen, scheint es sicher falsch zu sein. Und in den Bibelstellen, die davon sprechen, dass Gottes Liebe vom Gehorsam abhängt, wird seine Liebe zu verschiedenen Menschen je nach deren Gehorsam unterschiedlich sein.“

D. A. Carson, Love in Hard Places (Crossway, 2002), S. 17 [2]

An dieser Stelle können dem an Wahrheit und Erkenntnis interessierten Christen (2. Korinther 8,7; Epheser 3,19; 2. Petrus 3,18; Hebräer 5,14) die beiden Leseempfehlungen zu D. A. Carson unten zur Lektüre mit geöffneter und beständig konsultierter Bibel wärmstens empfohlen werden. Offensichtlich betreten wir (auch) hier das Gelände der geistlichen Auseinandersetzung mit den Mächten der(/s) Wahrheitsverdreher(s), für den wir unbedingt alle Unterstützung „von oben“ nötig haben. Zudem ist die Liebe Gottes etwas, was erfassbar und erkennbar und gleichzeitig unsere Erkenntnis übersteigend ist. Daher müssen wir beständig wie Paulus um Wachstum in der Erkenntnis der Liebe Gottes flehen:

Deshalb beuge ich meine Knie vor dem Vater unseres Herrn Jesus Christus, von dem jede Familie in den Himmeln und auf der Erde benannt wird, damit er euch gebe, nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit mit Kraft gestärkt zu werden durch seinen Geist an dem inneren Menschen; dass der Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne, indem ihr in Liebe gewurzelt und gegründet seid, damit ihr völlig zu erfassen vermögt mit allen Heiligen, welches die Breite und Länge und Höhe und Tiefe sei, und zu erkennen die die Erkenntnis übersteigende Liebe des Christus, damit ihr erfüllt sein mögt zu der ganzen Fülle Gottes.

Epheser 3,14–19 (ELB2003)

Endnoten

[1] Original: »…to avoid distortion we should reflect on the love of God only in conjunction with reflection on all of God’s other perfections. Otherwise there will be a tendency to pit one attribute of God against other attributes of God, to domesticate one or more of God’s characteristics by appealing to the supremacy of another. If we rejoice in God’s love, we shall rejoice no less in God’s holiness, in God’s sovereignty, in God’s omniscience, and so forth, and we shall be certain that all of God’s perfections work together.«

[2] Original: »God’s love is unconditional. Is this true? Transparently, it is true of some of the ways the Bible speaks of the love of God. For instance, God’s providential love is unconditional, for it is poured out on the just and the unjust alike. God’s elective love is unconditional, for absolutely nothing can separate us from it (Rom. 8:31-39). But the love of God spoken of in the Decalogue and in John 15 and Jude 21 (i.e., the fifth in the list above) is explicitly conditional. Again, Christians often say, God loves everyone exactly the same way and to the same extent.” Is this true? In passages that speak of God’s love for the just and the unjust, it certainly appears to be true. In passages that speak of God’s elective love, it certainly appears to be false. And in passages that speak of God’s love being conditioned by obedience, then his love for different individuals will vary with their obedience.«

Leseempfehlungen

  • D. A. Carson, Love in Hard Places. Wheaton, IL: Crossway, 2002.
  • D. A. Carson, The Difficult Doctrine of The Love of God. Wheaton, IL: Crossway, 2000.
  • J. MacArthur, R. Mayhue, Hrsg., Biblische Lehre: Eine systematische Zusammenfassung biblischer Wahrheit, (Berlin: EBTC, 2020), S. 217–254.
  • A. Tozer, Das Wesen Gottes: Eigenschaften Gottes und ihre Bedeutung für das Glaubensleben. 3. Aufl., Berlin: EBTC, 2019. [Zitat: „Solange unsere Vorstellungen von Gott falsch oder unangemessen sind, ist es unmöglich, unser Verhalten und unsere innere Einstellung gesund zu erhalten. Wenn unser Leben wieder geistliche Kraft bekommen soll, müssen wir damit beginnen, so über Gott zu denken, wie er in Wirklichkeit ist.“]

John N. Darby über die „Arminianer“

Der anglo-irische Bibellehrer John N. Darby (1800–1882), einer der einflussreichsten Theologen der frühen „Brüderbewegung“ (sog. „Plymouth Brethren“), hatte in seiner Zeit wiederholt mit Vertretern der Denkschule der „Arminianer“ zu tun. Vor allem in der uralten Diskussion über den „freien Willen“ und der Zu- und Aneignung des ewigen Heils gab es zahlreiche Auseinandersetzungen, die größtenteils in seinen Collected Writings und seinen Letters erhalten geblieben sind.

Am 9. Mai 1879 schrieb Darby aus Pau einen Brief in italienischer Sprache an G. Biava, der einen Artikel über den „freien Willen“ verfasst und wohl Darby zur Beurteilung vorgelegt hatte. Darbys Antwort ist in den Letters erhalten geblieben (Übersetzung ins Deutsche hier). Hier einige Auszüge:

»DEAR BROTHER, – I am much pleased with the article on free will; I do not find that there is much to add to it. All depends on the depth of the conviction that we have of our sinful condition; and security and joy depend on it likewise. Lost and saved answer the one to the other: our condition in the old man, and our condition in Christ. But in the reasoning of Arminians there is a totally false principle, namely that our responsibility depends on our power. If I have lent £100,000 to any one, and he has squandered it all, certainly he is not able to pay, but has his responsibility come to an end with his ability? Certainly not. Responsibility depends on the right of the person who has lent it to him, not on the ability of the one who has wrongfully wasted the money.

All men have a conscience, the knowledge of good and evil, since the fall; they know how to distinguish, but that says nothing as to the will; so that since the law demands obedience, and the flesh cannot be subject, to receive the law is in fact an impossibility – not that God hinders him, as I have already said, but because man does not wish it. Further, the law forbids lust, but fallen man has lust in his flesh; and it is in this way that the apostle knew sin. Man must lose his nature before being disposed to obey the law: it is therefore necessary to be born again. Now man cannot give himself divine and eternal life. Why then the law? In order that the offence might abound; by the law sin becomes „exceeding sinful“; „the law works“ the righteous „wrath“ of God against us – not the fear of God in us; it does not give a new life, and that which we have is enmity against God. Man in the flesh cannot receive the law into his heart. …

Can the flesh receive Christ – find its pleasure in the Son of God? Then it is no longer the flesh; it has the mind of the Father Himself. If there is anything there but the flesh, then the man is already born of God, since that which is born of the flesh is flesh. If the flesh can find its pleasure in Christ, the flesh possesses the most excellent thing that is to be found, not only upon earth, but in heaven itself; it finds its pleasure where the Father finds His: it would not be necessary to be born of God; the most excellent thing that he possesses now, through grace, as a Christian, he possessed already before receiving life, in receiving Christ. The certainty of salvation is gone at the same time: if salvation is the fruit of my own will, it depends upon it; if it can be thus easily produced, it cannot be said, „Because I live, ye shall live also.“ …

It is said that faith is but the hand that receives salvation, but what disposes us to offer the hand? It is the grace that works in us.«

John N. Darby, Letters, Vol. 2 (1868–1879), Nachdr., Kingston-on-Thames: Stow Hill Bible and Tract Depot, o. J., S. 501–503. Fett- und Farbdruck hinzugefügt. 
Textquelle online auch hier: https://www.stempublishing.com/authors/darby/letters/52346I.html

Wenn Wörter ihren Sinn verlieren – Der Erwählungsbegriff der „Arminianer“

Ein alter Trick, um bei feststehenden Begriffen oder Konzepten neue Inhalte oder Deutungen einzuführen, ohne sich einer Konfrontation zu stellen oder eine Begründung zu liefern, ist die Äquivokation.

Äquivokation ist das Substantiv zum Adjektiv äquivok. Die etymologische Abstammung liefert: spätlateinisch aequivocus gleichlautend, mehrdeutig“, aus aequus „gleich“ und vocare „nennen, lauten“.

Wikipedia und Wiktionary (https://de.wiktionary.org/wiki/äquivok [28.07.2020])

Bei der Äquivokation behält man das (vertraute und akzeptierte) Wort bei, ordnet ihm aber abweichende neue Inhalte und Bedeutungen zu. Man bezeichnet also letztlich zwei unterschiedliche, oft sogar widersprüchliche, Inhalte mit dem selben Begriff. Dass dies zum Missverständnis führen muss, leuchtet ein: Wo die Begriffe nicht geklärt sind, ist das Gesagte nicht das Gemeinte. Dies geschieht manchmal unbewusst, manchmal absichtlich, meistens jedoch schleichend langsam und sprachlich verdeckt. So können entgegenstehende Parteien dasselbe Wort verwenden und damit den Eindruck von Übereinstimmung erzeugen, aber trotzdem unterschiedliche Inhalte meinen und festhalten. Ursachen oder Beweggründe für solches Reden können beispielsweise sein: Irrtum (Unwissenheit über den Begriff), Irreführungsabsicht (Täuschung über das Gemeinte), Vermeidung von Konfrontation (Scheinbare Übereinstimmung), Wunsch nach Umdeutung von stehenden Begriffen (Aussagenveränderung). Die Sprache der Diplomatie, die Sprachvorschriften der Political Correctness, viele Euphemismen und die Erzeuger von Fake News bedienen sich immer wieder der Äquivokation.

Aber leider zeigt auch die Kirchen- und Dogmengeschichte der Christenheit, dass sich „innovative Lehrer“ und Falschlehrer gerne des Tricks der Äquivokation bedienen, um falsche Ideen in der Kirche verbreiten zu können, ohne sofort erkannt und bekämpft zu werden ( »Täuschen und Tarnen«). Sie verwenden einen bekannten und anerkannten Begriff der Bibel und füllen ihn schleichend mit neuen Inhalten. So gebrauchen römisch-katholische Lehrer wie protestantische Lehrer den Begriff der Gnade“ (Gottes), aber verbinden damit spätestens seit dem Gegenreformations-Konzil zu Trient (1545) einander unverträgliche, widersprüchliche Inhalte. Trotzdem sagen manche, dass Übereinstimmung dieser Konfessionen darin bestünde, dass doch beide lehrten, dass es ohne Gnade“ kein Heil gebe, man also eigentlich einer Meinung sei (»Gemeinsam bekennen wir: allein aus Gnade im Glauben an die Heilstat Christi, nicht auf Grund unseres Verdienstes, werden wir von Gott angenommen und empfangen den Heiligen Geist, der unsere Herzen erneuert und uns befähigt und aufruft zu guten Werken.« Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, 15). Das trifft aber nicht zu (hilfreich hierzu: Wolfgang Nestvogel, Wann ist ein Christ ein Christ?)

Ähnliches geschieht bei den Romanisierungsansätzen der arminianisch denkenden Protestanten (sog. Remonstranten“, vulgo „Anti-Calvinisten“). Wenn sie beispielsweise von Gnade“ oder (Aus-) Erwählung“ reden, muss man genau aufpassen, was sie damit meinen. Dies ist nämlich klassisch meist etwas anderes, als das, was die Heilige Schrift mit diesen Begriffen fest verbindet. Gehen wir in diesem Beitrag also einmal kurz dem Begriff der Auserwählung/Erwählung/Wahl“ im Heil nach.

Bei der arminianischen Vorstellung der Auserwählung“ von Menschen durch Gott trifft Gott überhaupt keine Auswahl von Menschen, weder individuell noch kollektiv.
(1) Bei einer häufig anzutreffenden Variante dieser Vorstellungen sieht Gott in Seiner Allwissenheit „im Korridor der Zeit nach vorne“ (was per se eine absurde Vorstellung von der Erkenntnis des Ewigen ist!) und stellt dabei fest, was Menschen denken, entscheiden, sagen und tun (werden) und sich damit selbst erwählen bzw. einer heilsrelevanten Gruppe oder Kategorie von Menschen selbst zuordnen. Diesem allwissenden Beobachten“ entsprechend ist Gott dann verpflichtet/gebunden, einem Menschen das Heil in Christus zu geben oder aber ihm dieses Heil vorzuenthalten.

(2) Nach einer anderen Variante legt Gott allen Menschen ohne Ausnahme das Heil zum Ergreifen vor. Wer es ergreift, hat es dann (zumindest bis auf weiteres) erst einmal im Besitz; die Wahl liegt also alleine auf Seiten des Menschen, nicht bei Gott. Die notwendigen Qualifikationen und Bedingungen, die das Heil ermöglichen (!), wurden nach diesen Ansichten von Gott „(aus)gewählt“. Sie sind von Ihm im Evangelium benannt worden, z. B.: »Kehret um, glaubt dem Evangelium!« (Markus 1,15) oder »Nachdem nun Gott die Zeiten der Unwissenheit übersehen hat, gebietet er jetzt den Menschen, dass sie alle überall Buße tun sollen« (Apostelgeschichte 17,30). Gott darf auch noch auserwählen“, wer der Retter der Welt“ ist, nämlich Christus, der menschgewordene Sohn Gottes. Aber dann ist auch schon Schluss mit seinem Wählen“. Ihm bleibt der Zwang zur göttlich-ewigen Ratifizierung des zeitlichen Entschlusses völlig autonomer Menschen.

Wann diese Ratifizierung stattfindet, wird unterschiedlich gesehen: Authentische Nachfolger der arminianischen Lehre sehen dies erst bei Eintritt in die Ewigkeit (Tod des hoffenden, aber ungewissen, Glaubenden) als gesichert an. Andere wollen diese göttliche Bestätigung vorziehen in die Lebenszeit nach der Bekehrung (sog. „Ein-Punkt-Calvinisten“), oder zumindest (temporär) in jene Lebensphasen eines beständigen Bewährungslebens, in denen keine (anhaltend) ungebeichteten (groben) Sünden vorliegen (so oft in der sog. „Heiligungsbewegung“). Gemeinsam ist diesen Ansichten, dass es keine absolute Sicherheit des Heils (mithin keine Gewissheit des Heils) während der Lebenszeit gibt: Es kann immer noch jederzeit „schief gehen“, denn alles hängt am zur Sünde noch fähigen Menschen. (Dass dies contra Scriptura ist, kann jeder Leser der Schriften des Apostels Johannes wissen.)

Gottes „Entscheidung“ oder Wahl“ wird hier also völlig bestimmt (determiniert) von der „rettenden Tat“, dem „Bekenntnis“, dem „Glauben“, der „treuen Nachfolge“ des oder der betreffenden Menschen. Gott vollzieht in seinem Wollen, Wählen und Entscheiden nur noch das Wollen, Wählen und Entscheiden des/der Betreffenden nach. Er bringt keine eigene, unabhängige oder vorzeitliche Wahl mit ein oder setzt diese gar ursächlich und/oder monergistisch-souverän ein. Eine Freiheit, anders zu handeln, gibt es für Gott nicht, sonst wäre die Bedeutsamkeit der Entscheidung des Menschen prinzipiell untergraben und der Mensch nicht »der Herr seines Schicksals, der Kapitän seiner Seele« (Henley, Invictus). Und das ist natürlich für den sich autonom dünkenden Menschen eine Horrorvorstellung.

Alles, wozu Gott noch frei ist, ist das Liefern von allgemeiner (also allen Menschen gleich gegebener, mithin nicht-diskriminierender, nicht-erwählender) Gnade, evtl. in Form der allgemeinen Evangeliumspredigt (welche in der Menschheitsgeschichte aber nie oder seltenst real allgemein gegeben war) oder im nicht-diskriminierenden Ziehen aller Menschen zu Christus durch den Vater (Johannes 6,44) oder im nicht-diskriminierenden Wirken des Heiligen Geistes (Johannes 16,8–10; diese Stelle redet allerdings nur von der Zeit ab und nach Pfingsten, erklärt also zu wenig). Das Entscheidende tut hier der Mensch, es ist eine „mensch-zentrierte Heilslehre“, die Heilsaneignung und Heilsbewahrung hängt zentral und alleine am Menschen. Mit dieser Ausrichtung soll dann auch die Erwählung des Menschen seitens Gottes gedeutet werden.

Wie kann man dieses mechanische Nachvollziehen der Entscheidung einzelner Menschen (Sünder!) durch Gott eine Erwählung/Auserwählung/Wahl seitens Gottes nennen? Sklavisch-mechanisches Nachvollziehen ist keine (Aus-)Wahl. Hier wird etwas Wahl genannt, das keine Wahl ist. Der Trick der Äquivokation besteht darin, dass man noch den gleichen Begriff verwendet, ihn aber heimlich und schleichend mit anderen Inhalten gefüllt hat. Das hat die Röm.-kath. Kirche wie oben gesagt recht erfolgreich mit dem Begriff der Gnade gemacht (nebenbei: auch der Gnadenbegriff der Arminianer ist ein anderer, als der der Bibel). Arminianisch denkende Menschen verwenden den Begriff der Wahl für das strikte, unfreie Nachvollziehen der Entscheidung eines anderen (also einer extern vorgegebenen Entscheidung). Sie unterwerfen Gott damit einem menschlich gesteuerten Determinismus und nennen ihre Erfindung dann dreist Erwählung. Das ist ein Widerspruch in den Begriffen, eine contradictio in adiecto. Sie  liefert nichts Besseres als z. B. der Begriff „rundes Quadrat“. Die damit verbundenen Behauptungen sind also zwingend analytisch falsch. Es ist erstaunlich, dass Christen auf so etwas hereinfallen. Haben Sie nicht das Wort der Wahrheit?! Kann es sein, dass es dem Mahlwerk des Denkens nicht gut tut, wenn man es mit Kieselsteinen des Irrtums füttert?

Eine einfache Veranschaulichung, für Leute, die gerne mal à la carte Essen gehen. Nehmen wir also an, ich gehe in ein Restaurant, weil ich Appetit auf ein gutes Essen habe. Ich lasse mir die Speisekarte geben, auf der alle Wahlmöglichkeiten vermerkt sind. Das Schöne als Gast ist üblicher Weise, dass ich völlig frei aus der aktuellen Speisekarte wählen und bestellen kann und dann nach einer Zubereitungszeit genau das Gewählte erhalten werde. Das ist meine Freiheit als König Gast“: Der Wirt wird mir das zubereiten lassen, was ich will, wozu ich mich entschieden habe, was ich bestelle. Ich entscheide mich für Cordon Bleu. So weit, so gut. Nun kommt der Wirt zu mir an den Tisch und sagt: „Schön, dass sie heute da sind. Ich habe für sie entschieden: Sie bekommen Bockwurst mit Senf und Brot, die Küche ist schon beauftragt. Im übrigen: Ich bin hier der Chef, tun Sie mir den Gefallen, die Bockwurst zu nehmen. Wenn ihnen das nicht gefällt, können sie ja gehen!“ Und genau das tun sie dann auch, denn so eine Behandlung lässt sich kein Gast gefallen. Immerhin ist der Kunde König und der Wirt ist Dienstleister. – Wenden wir das auf die arminianische Verwendung des Begriffs „Auserwählung/Erwählung/Wahl“  an. Und zwar so verkehrt herum, wie es dieses Konzept offenbar haben will: Gott ist hier der Gast und der Mensch spielt sich als Wirt auf. Gott als Gast/Kunde wird im arminianischen Denken keine Wahl gelassen (sie wird ihm nur vorgegaukelt), obwohl er der König ist, der gemäß seines freien Willens und seiner eigenen Wahl zu bedienen wäre. Der Sünder aber tritt als Wirt auf, der seinem Gast vorschreibt, was dieser bekommt, und ihm damit alle Wahlfreiheit nimmt. Am Ende behauptet der Wirt sogar noch frech, dass es der Wille und die Auswahl des Gastes/Kunden  gewesen wäre: dieser habe ja Bockwurst mit Senf und Brot „ausgewählt“.

Eine zweite Veranschaulichung, eine etwas kürzere, für technisch Denkende: Wenn ich im Stromlaufpfad zwischen Sicherung und Lampe einen Ein/Aus-Schalter anbringe, dann wird (ohne weiteres) die Betätigung des Schalters dazu führen, dass  die Lampe entweder aufleuchtet oder ausgeht. Welche „Freiheit“ und „Wahl“ hat nun die Lampe? Sie kann naturgesetzlich nur das tun, was der Schalter vorgibt. Die Lampe folgt rein „mechanisch“ (natürlich: elektrisch!) den elektrischen Gegebenheiten der Schalterstellung bzw. der Schalterbetätigung. Im arminianischen Denken agiert der Sünder frei durch Betätigung des Schalters, Gott reagiert sklavisch mit erleuchtender oder verdunkelnder Lampe. Der arminianisch Denkende behauptet aber, dass die Lampe „gewählt“ habe, ob sie brenne oder nicht, und zwar im Vorausblick auf die Betätigung des Schalters durch den Sünder – und dass die Lampe stets so „wähle“, dass Schalterbetätigung und Lampenzustand zusammenpassen. 

Wenn jetzt jemand bemerkt, dass hier Ursache und Wirkung vertauscht wurden, dann wird er wohl nicht sehr daneben liegen. Im biblischen Denken ist eben die Auserwählung die UR-Sache (die erste Sache), gewollt und gesetzt von einem mit Willen, Liebe und Weisheit ausgestatteten, vollkommenen Wesen, deren Wirkungen in der Zeit einseitige (sog. monergistische) Wirkungen und souveräne Gaben Gottes (wie Geburt-von-oben, Augen-Öffnung, Glaube, Buße usw.) sind, aber auch zweiseitige, die den erneuerten Menschen ganz in die Verantwortung und Reaktion auf das göttliche Neumachen und beständige göttliche Wirken am Menschen hereinnehmen. Von „Heil“ (!) (von der prozesshaften Heiligung, also nicht dem monergistischen, ewigen Erwählen und Heil) redet folgende Stelle:

»Daher, meine Geliebten, wie ihr allezeit gehorsam gewesen seid, nicht allein als in meiner Anwesenheit, sondern jetzt viel mehr in meiner Abwesenheit, bewirkt euer eigenes Heil mit Furcht und Zittern; denn Gott ist es, der in euch wirkt sowohl das Wollen als auch das Wirken, zu seinem Wohlgefallen

Philipper 2:12-13 (ELBCSV)

Fazit

Der biblische Begriff der (Aus-) Erwählung hat bei (wie oben dargestellt) arminianisch (meist anti-calvinistisch) Redenden den biblischen, mithin wahren, Sinn verloren. Iam pridem equidem nos vera vocabula rerum amisimus (Sallus, De Coniuratio Catilinae, Kap. 52 aus Catos Rede: „Schon längst haben wir doch die rechten Bezeichnungen für die Dinge verloren.“). Sprache ist aber (mit Humboldt) „das bildende Organ des Gedankens“. Wenn die Wörter nicht stimmen, nicht mehr den biblischen Inhalt transportieren, dann ist nicht nur das menschlich Gesagte nicht mehr das göttlich Gemeinte, sondern damit grundlegend die Kommunikation der Wahrheit verunmöglicht.

Um einem vermeintlichen, göttlich vorgegebenen Determinismus des Menschen in der Heilserlangung zu entgehen, weil dies ihrer Vorstellung von der Freiheit des Menschen widerspricht, unterwerfen arminianisch denkende Menschen Gott einem menschlich induzierten Determinismus. Gott wird entpersonalisiert und zum himmlischen Heilsautomaten degradiert, der mechanisch auf das Betätigen der Stellhebel durch Menschen reagiert. Der Mensch macht sich zur Schaltzentrale des Heilsgeschehens. Das ist Anmaßung und Perversion des Geschöpfes gegenüber seinem Schöpfer und HERRN. Noch immer geistert die verführerischste aller Lügen und Illusionen durch die Philosophien der Menschen: »Ihr werdet sein wie Gott!« (1.Mose 3,5).

Der Glaubende jedoch erkennt aus der Heiligen Schrift, dass Gott das freieste Wesen ist, und dass Sein Wille stets gut, wohlgefällig und vollkommen ist. Gott handelt stets mit Vorsatz und wirkt alles nach dem Rat seines Willens (Epheser 1,11), sei es im Schöpfungswerk oder im Heilswerk. Die Schrift bezeugt, dass die Summe und der Gipfel des Evangeliums Gottes mit Recht lautet:

»O Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich sind seine Gerichte und unergründlich seine Wege! Denn wer hat den Sinn des Herrn erkannt, oder wer ist sein Mitberater gewesen? Oder wer hat ihm zuvor gegeben, und es wird ihm vergolten werden?
Denn von ihm und durch ihn und für ihn sind ALLE Dinge.
Ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen.«

Römer 11:33-36 (ELBCSV)

Weiterführende Hinweise

Folgende Hinweise sind geeignet, das Nachdenken der Gedanken Gottes bezüglich der (Aus-) Erwählung anhand des „Wortes der Wahrheit“ (Bibel) zu fördern:

  • Sowohl beim Heil (Errettung) als auch beim Unheil (Gericht) geht es zuallererst nicht um den Menschen, sondern um Gottes Verherrlichung. Es geht Gott stets darum, dass sein Name (seine Person und seine Herrlichkeit) vor allen Geschöpfen aufstrahle und verehrt werde. – Dies ist z. B. im Drama der Zehn Plagen im Buch Exodus gut zu verfolgen (s. z. B. 2Mose 7,3–5.16; 9,16; 10,1–2 usw.), aber auch explizite Lehre im Neuen Testament (z. B. Philipper 2,9–11; Römer 11,33–36; Offb 15,3–4; 19,1–5; 22,13).
  • Die (Aus-) Erwählung durch Gott zum Heil ist als Liebeshandeln Gottes zu verstehen. Die von Gott selbst gegebene Begründung für die Sonderbehandlung einiger, dass sie eben nicht gerechterweise verdammt, sondern gnädig gerettet und als Kinder angenommen werden, lautet: »ICH habe … geliebt«. – Das ist im AT bzgl. Israel zu beobachten (z. B. 5Mose 4,37; 7,8; 10,15 usw.), und im NT für jeden Glaubenden (Galater 2,20b) und die Gesamtgemeinde (Epheser 1,4 »auserwählt … in Liebe«; 5,2.25–32).
  • Siehe auch Beitrag »Auserwählung – Fragen über Fragen«
  • Siehe auch Beitrag »Eine schwierige Lehre – Erwählung und Vorherbestimmung«

Gott liebt alle Menschen gleich – Wirklich?

Verwirrung über die Art und den Wirkungskreis der Liebe Gottes

Ein Prediger malte seiner Gemeinde vor Augen, welche besondere Liebe ihr himmlischer Vater gegenüber seinen Kindern hat. Der Predigttext war 1. Johannes 3,1:

Seht, welch eine Liebe uns der Vater gegeben hat, dass wir Kinder Gottes heißen sollen! Und wir sind es. Deswegen erkennt uns die Welt nicht, weil sie ihn nicht erkannt hat.

1. Johannes 3,1 (ELBCSV) Fettdruck hinzugefügt.

Es ging also nicht um die allgemeine Liebe Gottes zu allen seinen Geschöpfen und auch nicht um die Unparteilichkeit Gottes im Gericht, sondern um die besondere Liebe des Vaters, die Er zu seinen eigenen Kindern, den „Kindern Gottes“ hat. 

Das ist unschwer zu erkennen. Im ersten Satz in Vers 1 lenkt der „Apostel der Liebe“, Johannes, die Aufmerksamkeit seiner Leser auf jene besondere Liebe des Vaters, die Gott der Vater nur „uns“, also seinen Kindern, gegeben hat. Sie wird insbesondere darin deutlich, dass „wir“ „Kinder Gottes heißen sollen“. „Kind Gottes heißen zu sollen“ ist aber nach der Belehrung des Apostels Johannes und dem Gesamtzeugnis der Schrift weder Vorrecht noch Tatsache aller Menschen. Mithin ist hier die Rede von einer besonderen Liebe, die auf eine spezifizierte Teilmenge der Menschen exklusiv gerichtet ist. Gott liebt nach dieser Stelle mit einer besonderen Liebe, die nur seinen Kindern gilt. Das ist kein fremder Gedanke. Dass es eine spezielle Liebe auch zwischen den Gliedern einer irdischen Familie gibt, sollten Väter, Mütter und Kinder aus eigener Erfahrung kennen.

Nach der Predigt steht der Gemeindeleiter auf und sagt der Gemeinde, dass dies nicht stimmen würde. Eine Begründung wurde nicht gegeben, später aber wurde konkretisiert, dass es falsch sei, etwas zu sagen, das im Widerspruch zur Aussage „Gott liebt alle Menschen gleich.“ stehe. Hier ist also das Problem. Es dürfte eigentlich nicht bestehen, wenn man Gottes Wort kennt und insbesondere den Bibeltext der Predigt aufmerksam studiert. Beides wollen wir hier ansatzweise tun.

Ein kurzer Streifzug durch die Bibel

Fragen wir uns mit der offenen Bibel: Liebt Gott alle Menschen gleich? Ist dies eine biblisch richtige Behauptung? Schauen wir uns eine Reihe von Stellen quer durch die Bibel an, die von der Liebe Gottes, oder vom Gegenteil, dem Hass Gottes, reden:

  1. »Nicht werden die Toren bestehen vor deinen Augen; du hasst alle, die Frevel tun. Du wirst die Lügenredner vertilgen; den Mann des Blutes und des Truges verabscheut der Herr.« (Psalm 5,6-7; vgl. Psalm 11,5 u.a.)
    Gott hasst alle Menschen, die Frevel tun. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“. (Die Stellen vom Hass und Zorn Gottes zeigen auch auf, dass der Slogan: „Gott hasst die Sünde, aber Er liebt den Sünder“ wesentliche Aussagen der Schrift unterdrückt und daher falsch ist.)
  2. »Der Herr liebt die Tore Zions mehr als alle Wohnungen Jakobs.« (Psalmen 87,2)
    Gott liebt die Tore Zions (Jerusalems) mehr, als alle Wohnungen Jakobs (in ganz Israel). Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  3. »Nicht weil ihr mehr wäret als alle Völker, hat der Herr sich euch zugeneigt und euch erwählt; denn ihr seid das geringste unter allen Völkern; sondern wegen der Liebe des Herrn zu euch und weil er den Eid hielt, den er euren Vätern geschworen hat, hat der Herr euch mit starker Hand herausgeführt und dich erlöst aus dem Haus der Knechtschaft, aus der Hand des Pharaos, des Königs von Ägypten.« (5. Mose 7,7-8)
    Gott liebt das Volk Israel mehr, als alle anderen Völker. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  4. »So spricht der Herr: Das Volk der dem Schwert Entronnenen hat Gnade gefunden in der Wüste. Ich will gehen, um Israel zur Ruhe zu bringen. Der Herr ist mir von fern erschienen: Ja, mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt; darum habe ich dir fortdauern lassen [meine] Güte.« (Jeremia 31,2-3)
    Gott liebt Israel mit ewiger Liebe, was von den anderen Völkern nicht gesagt wird. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  5. »Sechs sind es, die der Herr hasst, und sieben sind seiner Seele ein Gräuel, hohe Augen, eine Lügenzunge, und Hände, die unschuldiges Blut vergießen; ein Herz, das böse Pläne schmiedet, Füße, die schnell zum Bösen hinlaufen; wer Lügen ausspricht als falscher Zeuge, und wer Zwietracht ausstreut zwischen Brüdern.« (Sprichwörter 6,16-19)
    Gott hasst Menschen, die bestimmte Gräuelsünden tun. Aber man behauptet, „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  6. »Ich habe euch geliebt, spricht der Herr; … Und ich habe Jakob geliebt, Esau aber habe ich gehasst…« (Maleachi 1,2-3; vgl. Römer 9,13)
    Gott liebt Jakob, aber Er hasst Esau. Egal, ob man in der Auslegung hier Individualpersonen und/oder die daraus entstandenen Völker sehen will, egal, ob man das als Hebraismus sehen will, der in „hassen“ nur eine Liebe geringerer Klasse sehen will, jedenfalls wird hier ein deutlicher Unterschied in der Liebe Gottes markiert. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  7. »An jenem Tag wird zu Jerusalem gesagt werden: Fürchte dich nicht! Zion, lass deine Hände nicht erschlaffen! Der Herr, dein Gott, ist in deiner Mitte, ein rettender Held. Er freut sich über dich mit Wonne, er schweigt in seiner Liebe, frohlockt über dich mit Jubel.« (Zefanja 3,16-17)
    Gott liebt Jerusalem/Zion, also sein Volk Israel. Er ist in ihrer Mitte. Für sie ist Er Retter. Sie liebt er. Über sie frohlockt Er. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  8. [Jesus Christus spricht:] »Wie der Vater mich geliebt hat, habe auch ich euch geliebt; bleibt in meiner Liebe.« (Johannes 15,9)
    Der Sohn Gottes sagt, dass er seine Jünger mit jener besonderen Liebe liebt, mit der Gott Vater den Sohn liebt. Das ist eine spezielle Liebe. Christus liebt damit ausdrücklich seine Jünger, also nicht jedermann. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  9. »Wenn ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner Liebe bleiben, wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe.« (Johannes 15,10)
    Christus sagt hier zu jenen, die seine Gebote halten, dass sie in Christi Liebe bleiben. Er ist das große Vorbild, denn der Sohn hat ebenfalls die Gebote des Vaters gehalten. Es ist also eine bedingte, eine spezielle Liebe. Von Menschen, die die Gebote Christi nicht halten, wird dies nicht gesagt. Es aus dem Schweigen der Stelle zu behaupten, raubte der Stelle ihren ganzen Sinn. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  10. [Jesus Christus spricht:] »Größere Liebe hat niemand als diese, dass jemand sein Leben lässt für seine FreundeIhr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch gebiete.« (Johannes 15,13–14)
    Christus sagt hier ausdrücklich, dass seine „allergrößte Liebe“ jenen gilt, für die er sein Leben lässt. Sind das alle Menschen? Nein, es sind speziell „seine Freunde“. Wer sind diese? Es sind jene Jünger, die Christus nachfolgten. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  11. »Und ich habe ihnen deinen Namen kundgetan und werde ihn kundtun, damit die Liebe, mit der du mich geliebt hast, in ihnen sei und ich in ihnen.« (Johannes 17,26)
    Christus hat „ihnen“ den Namen Gottes kundgetan. Das bedeutet in der Sprache der Schrift, dass sie durch das Wort Christi eine (ewige) Lebensbeziehung zu Gott Vater bekommen haben. Als Folge dieser Lebensbeziehung (Neugeburt) wohnt auch die Liebe Gottes in den Neugeborenen, nur in ihnen, also nicht in jedermann. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  12. »…die Hoffnung aber beschämt nicht, denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben worden ist.« (Römer 5,5)
    Die Liebe Gottes ist nur in jenen, denen der Heilige Geist gegeben wurde, in denen also der Heilige Geist Wohnung gemacht hat. Dies sind nicht alle Menschen. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  13. »Gott aber erweist seine Liebe zu uns [darin], dass Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist.« (Römer 5,8)
    Gott erweist jenen seine Liebe, für die sein Sohn stellvertretend gestorben ist, die also genauso sicher gerettet sind, wie Christus „gerettet“ zur Rechten Gottes auf dem Thron sitzt. Das sind aber nicht alle Menschen, denn nicht alle werden –nach Christi eigener Aussage!– gerettet werden. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  14. »Denn ich bin überzeugt, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, noch Gewalten, weder Höhe noch Tiefe, noch irgendein anderes Geschöpf uns zu scheiden vermögen wird von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.« (Römer 8,38-39)
    Die von Gott kommende Liebe, von der hier zum Trost der Glaubenden die Rede ist, gilt nur „uns“, die Christus Jesus als Herrn bekennen. Das „uns“ des Apostels Paulus im Brief an die Glaubenden in Rom also sind nicht alle Menschen. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  15. »Gott aber, der reich ist an Barmherzigkeit, wegen seiner vielen Liebe, womit er uns geliebt hat, hat auch uns, als wir in den Vergehungen tot waren, mit dem Christus lebendig gemacht – durch Gnade seid ihr errettet –,und hat [uns] mitauferweckt und mitsitzen lassen in den himmlischen [Örtern] in Christus Jesus, damit er in den kommenden Zeitaltern den überragenden Reichtum seiner Gnade in Güte an uns erwiese in Christus Jesus.« (Epheser 2,4-7)
    Gott liebt mit vieler Liebe (also: sehr) „uns“, die neugeborenen Menschen, die einst in Sünden tot waren, aber lebendig gemacht wurden und schon im Geiste in den himmlischen Örtern ihren sicheren Platz haben. Dies sind aber klar nicht alle Menschen. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  16. »Seid nun Nachahmer Gottes, als geliebte Kinder, und wandelt in Liebe, wie auch der Christus uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat als Darbringung und Schlachtopfer, Gott zu einem duftenden Wohlgeruch. (Epheser 5,1-2)«
    Christus hat die Kinder Gottes geliebt und zwar so, dass Er sich sogar für sie in den stellvertretenden Opfertod hingegeben hat. Das „uns“ des Apostels beschreibt aber nicht alle Menschen, sondern nur die Glaubenden. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  17. »Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie auch der Christus die Versammlung geliebt und sich selbst für sie hingegebenhat…« (Epheser 5,25)
    Christus liebt die Gemeinde, die Schar der tatsächlich Geretteten. Nur für sie hat er sich selbst hingegeben. Wie ein Ehemann exklusiv seine erwählte und mit Bundesschluss verbundene Ehefrau aufopfernd lieben soll, und nicht alle anderen Frauen auf diese Art und Weise lieben soll, so ist auch die Liebe Christi gegenüber den von Gott zur Braut Christi Erwählten. Das sind nicht alle Menschen. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  18. »Ein jeder, wie er [es] sich im Herzen vorgenommen hat: nicht mit Verdruss oder aus Zwang, denn einen fröhlichen Geber liebt Gott.« (2. Korinther 9,7)
    Gott liebt Geber, die „fröhlich“ Gaben (Opfer für andere) geben. Das bedeutet, dass dies für jene, die „mit Verdruss oder aus Zwang“ geben, nicht gilt, sonst wäre die Stelle sinnlos. Den fröhlichen Gebenden gilt diese hier gemeinte, besondere Liebe Gottes. Nur ihnen. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  19. »Wer aber irgend sein Wort hält, in diesem ist wahrhaftig die Liebe Gottes vollendet. Hieran wissen wir, dass wir in ihm sind.« (1. Johannes 2,5)
    Gott liebt in vollkommener Weise jene, die Gottes Wort halten (indem sie es tun). Wer sein Wort nicht hält, dem gilt diese Liebe Gottes nicht, sonst macht diese Stelle keinen Sinn. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  20. »Wer aber irgend irdischen Besitz hat und sieht seinen Bruder Mangel leiden und verschließt sein Herz vor ihm, wie bleibt die Liebe Gottes in ihm?« (1. Johannes 3,17)
    Gott liebt in vollkommener Weise jene, die dem Mangel leidenden Glaubensbruder aus ihrem irdischen Besitz Hilfe leisten. Wer dies nicht tut, sondern sein Herz verschließt, dem gilt diese Liebe Gottes nicht, sonst macht diese Stelle keinen Sinn. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  21. »Hierin ist die Liebe Gottes zu uns offenbart worden, dass Gott seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben möchten. Hierin ist die Liebe: nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er unsgeliebt und seinen Sohn gesandt hat als Sühnung für unsere Sünden.« (1. Johannes 4,9-10)
    Gottes Liebe wird „uns“ geoffenbart, jenen also, die Kinder Gottes werden sollten. Diese liebt Er so, dass er sogar seinen Sohn für sie als Sühnung für ihre Sünden gesandt hat, so dass sie nun durch Ihn leben. Dies gilt aber nicht für unbekehrte Sünder, denn sie leben nicht, deren Sünde wurde nicht gesühnt. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  22. »Niemand hat Gott jemals gesehen. Wenn wir einander lieben, [so] bleibt Gott in uns, und seine Liebe ist in uns vollendet.« (1. Johannes 4,12)
    Auch hier: Gottes Liebe ist nur in „uns“ vollendet, nicht in jedermann. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“
  23. »Hierin ist die Liebe mit uns vollendet worden, damit wir Freimütigkeit haben an dem Tag des Gerichts, dass, wie er ist, auch wir sind in dieser Welt. Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus, denn die Furcht hat Pein. Wer sich aber fürchtet, ist nicht vollendet in der Liebe. Wir lieben, weil er uns zuerst geliebt hat.« (1. Johannes 4,17-19)
    Auch hier: Gottes Liebe ist nur mit „uns“ vollendet worden, nicht mit jedermann. Die Liebe der Kinder Gottes ist eine Liebe, die ihren Grund und Ursprung in der ewigen Liebe Gottes ihnen gegenüber hat. Dies gilt also nicht für alle Menschen, sondern nur für die Kinder Gottes. Aber man behauptet: „Gott liebt alle Menschen gleich!“

Ein erstes Resümee

Die Behauptung: „Gott liebt alle Menschen gleich!“ muss an mindestens drei Stellen hinterfragt werden:

  • „liebt“: Ist mit dem „Lieben“ Gottes immer genau dasselbe und das Gleiche gemeint? 
  • „alle Menschen“: Sind immer alle Menschen aller Zeiten und Gegenden gemeint, oder beschränkt sich die Liebe Gottes bei einigen biblischen Aussagen auch auf eine Untermenge? 
  • „gleich“: Gibt es in der Liebe Gottes unterschiedliche Qualitäten und Intensitäten, oder ist sie immer gleich stark und gleichartig? Anders gefragt: Gibt es qualitative und/oder quantitative Unterschiede in der Liebe Gottes?

So wie die Bibel redet, macht sie deutlich, dass z. B. die innertrinitarische Liebe (zwischen Vater, Sohn und Heiligen Geist) eine besondere Liebe ist: sie ist ewig und vollkommen und hat nie etwas mit der Bedürftigkeit oder dem Mangel des anderen zu tun; sie ist also nie barmherzig oder gnädig oder zeitlich (usw.). Diese Liebe Gottes richtet sich erst einmal nicht an Menschen.

Die Liebe des Vaters zum Sohn und die Liebe des Sohns zum Vater werden ganz besonders herausgehoben als etwas Besonderes (s. insbes. die Schriften des Apostels Johannes). Auch diese Liebe richtet sich erst einmal nicht an Menschen.

Die Liebe des Vaters zu seinen Kindern, den Kindern Gottes, die Gott durch den Heiligen Geist und Sein Wort gezeugt hat, ist besonders herausgehoben. Sie richtet sich auf erlöste Menschen, auf die Kinder Gottes. Christus sagt, dass diese Liebe mit der Liebe zu vergleichen ist, mit der Er, der Sohn, vom Vater geliebt wurde. Es ist also eine besondere, spezielleLiebe! Um diese Liebe geht es in der eingangs erwähnten Bibelstelle in 1. Johannes 3,1! Sie gilt also nicht allen Menschen!

Die Liebe Gottes zum erwählten Volk im alten Bund, Israel, war eine Liebe, die einzigartig für Israel galt, nicht für die anderen Völker der Erde. Auch sie ist besonders und einzigartig. Sie ist eine Bundesliebe, die nach der Scheidungszeit eines Tages im erneuerten Bund wiederhergestellt wird (s. Prophet Hosea u.a.).

Es gibt einige Stellen, die von einer besonderen Liebe Gottes gegenüber Menschen sprechen, diese Liebe jedoch an Bedingungen geknüpft wird, sei es Treue, Gehorsam oder Spendenfreudigkeit. Auch hier handelt es sich also nicht um eine allgemeine, gleiche Liebe Gottes für alle Menschen, sondern um eine Liebe, die auf einen entsprechend beschränkten Personenkreis gerichtet ist.

Schon jetzt können wir festhalten, dass es unterschiedliche Arten besonderer Liebe Gottes gibt gegenüber Personen oder Personengruppen (also Teilmengen), die Gott auserwählt hat, die besondere Bedingungen erfüllen oder zu denen Er in besonderer Beziehung steht. Die Aussage „Gott liebt alle Menschen gleich!“ steht also im Widerstreit mit der Heiligen Schrift. Es ist zu vermuten, dass die Vielfalt und Komplexität des biblischen Zeugnisses der Liebe Gottes unzulässig durch Slogans vereinfacht, das heißt verfälscht, wurde. Wer seine Bibel nicht kennt, fällt auf solche Slogans herein. Dabei sollte uns schon die Lebenserfahrung mit menschlicher Liebe lehren, dass Liebe nicht so flach und eindimensional ist, wie der Slogan vortäuscht.

Wie ist das mit der menschlichen Liebe?

Wir begreifen aus Gottes Wort, dass die Liebesfähigkeit des Menschen eine Gabe Gottes an den Menschen ist, ein Stück seiner Gottesebenbildlichkeit ausmacht. Auch der Mensch liebt mit unterschiedlicher Qualität und Intensität unterschiedliche Personen und Personengruppen. Gott schreibt dem Menschen diesbezüglich z. B. vor:

  • Jesus antwortete: [Das] erste ist: „Höre, Israel: [Der] Herr, unser Gott, ist ein Herr; und du sollst [den] Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und aus deiner ganzen Seele und aus deinem ganzen Verstand und aus deiner ganzen Kraft.“ (Markus 12,29-30)
  • Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen,… (Matthäus 5,44; vgl. Lukas 6,27.35)
  • Du sollst … deinen Nächsten lieben wie dich selbst. (3. Mose 19,18; vgl. Matthäus 19:19; Markus 12,33; Lukas 10,27)
  • Seid niemand irgendetwas schuldig, als nur einander zu lieben; denn wer den anderen liebt, hat [das] Gesetz erfüllt. (Römer 13,8)
  • Geliebte, lasst uns einander lieben, denn die Liebe ist aus Gott; und jeder, der liebt, ist aus Gott geboren und erkennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt, denn Gott ist Liebe. (1. Johannes 4,7-8)
  • Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie auch der Christus die Versammlung geliebt und sich selbst für sie hingegeben hat,… (Epheser 5,25; vgl. Kolosser 3,19)

Auch hier erkennen wir unterschiedliche, begrenzte Personenkreise, die wir lieben sollen, und dass die Art und Weise und Intensität der jeweiligen Liebe unterschiedlich ist und sein soll. Auch bei uns Menschen und Christen gilt nicht: „Liebt alle Menschen gleich!“

Wer wollte mit der Bibel in der Hand behaupten, dass ein Ehemann alle Frauen der Welt mit der gleichen Liebe lieben solle, wie er seine eigene Ehefrau lieben soll? Ist hier durch die Erwählung in Liebe nicht eine Exklusivität und Besonderheit der Liebe zwingend geboten? Wer will behaupten, dass ein Vater alle Kinder der Welt so lieben solle, wie seine eigenen Kinder, die er gezeugt hat? Wer will behaupten, dass wir unseren Nächsten so lieben sollen, wie wir Gott lieben sollen? (Usw.) Schon hier erkennen wir, dass wir zwar nur eine Liebe haben, aber diese unterschiedlich in Umfang, Maß und Qualität zur Geltung kommen soll. Bei Gott ist das nicht anders: Er hat eine Liebe, aber diese kommt unterschiedlich bzgl. Umfang, Maß und Qualität zur Geltung.

Fazit: Aufgrund der Offenbarung des Wortes Gottes über das Wesen Gottes und über seine Gebote an den Menschen ist es falsch zu behaupten: „Gott liebt alle Menschen gleich!“

Wie kommen wir zu einem biblischen Verständnis von der Liebe Gottes?

Drei Antworten gibt es auf diese wesentliche Frage: Lesen, lesen, lesen! Denn Jesus Christus sagte mehrfach „Habt ihr nicht gelesen…?“ und „Irrt ihr nicht deshalb, weil ihr die Schriften nicht kennt noch die Kraft Gottes?“ (Markus 12,24).

Wo wir meinen, Spannungen oder Widersprüche in den biblischen Aussagen zu finden, müssen wir uns daran erinnern, dass die Worte des HERRN „reine Worte … siebenmal gereinigt“ (Psalm 12,7) und daher widerspruchsfrei sind. Probleme entstehen also nur durch unser mangelhaftes Lesen, Studieren und Verstehen. [Eine Studienhilfe wird am Ende des Artikels angegeben.]

Ein Problem machen uns dabei auch falsche oder schriftwidrig verkürzte Aussagen über die Liebe Gottes. Jeder, der meint, Johannes 3,16 verstanden zu haben, weil er diesen Vers schon so oft gehört hat, dass er ihn auswendig kennt, und zusätzlich davon ausgeht, dass dieser Vers die einzige Offenbarung Gottes über Seine Liebe sei, muss wohl notwendiger Weise in die Irre gehen, denn keine Weissagung der Schrift ist „von eigener Auslegung“ (2. Petrus 1,20). Alle Schrift muss zusammengenommen und in ihrer heilgeschichtlichen Entwicklung berücksichtigt werden, denn es gilt: „Die Summe deines Wortes ist Wahrheit“ (Psalm 119,160).

Wo gilt, dass Gott alle Menschen gleich liebt?

Am Ende dieser Untersuchung muss klar sein, dass die Behauptung einer allgemeinen Liebe Gottes zu allen Menschen nur in einem begrenzten Sinn stimmen kann, sonst geraten wir in Widerspruch mit anderen Aussagen der Schrift, wie oben gezeigt.

Die Bibellehrer der Gemeinde Jesu haben auf Liebesbezeugungen Gottes hingewiesen, die für alle Menschen zeitweilig gelten, weil sie alle unterschiedslos seine Geschöpfe sind. Man zählt diese allgemeinen Liebesbezeugungen und Gaben zur sog. „allgemeinen Gnade“. Wir zählen zur allgemeinen Gnade Gottes (engl. common grace) Folgendes:

  • »…eures Vaters …, der in [den] Himmeln ist; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.« (Matthäus 5,45)
    Da die beiden Merismen jeweils die gesamte Menschheit überdecken, haben wir es hier mit „allgemeiner Gnade“ Gottes zu tun. Man muss diese zeitweiligen Geschenke des natürlichen Lebens und der Lebenserhaltung der allgemeinen Liebe Gottes gegenüber allen seinen Geschöpfen, hier den Menschen, zuschreiben. Daher gebührt Gott beständiger Dank dafür, der Ihm aber meist verweigert wird: »weil sie, Gott kennend, [ihn] weder als Gott verherrlichten noch [ihm] Dank darbrachten« (Römer 1,21).
  • Dies gilt auch gegenüber allen Tieren: »Wer bereitet dem Raben sein Futter, wenn seine Jungen zu Gott schreien, umherirren ohne Nahrung?« (Hiob 38,41); »Die jungen Löwen brüllen nach Raub und fordern von Gott ihre Nahrung.« (Psalmen 104,21); »Seht hin auf die Vögel des Himmels, dass sie nicht säen noch ernten, noch in Scheunen sammeln, und euer himmlischer Vater ernährt sie [doch].« (Matthäus 6,26) usw. Dadurch wird auch der Mensch indirekt beschenkt.
  • Dies gilt auch gegenüber der gesamten Schöpfung, die nur deswegen erhalten bliebt, weil der Sohn Gottes sie beständig mit seinem Machtwort erhält: im Sohn, »den er gesetzt hat zum Erben aller [Dinge], durch den er auch die Welten gemacht hat; welcher, [die] Ausstrahlung seiner Herrlichkeit und [der] Abdruck seines Wesens seiend und alle [Dinge] durch das Wort seiner Macht tragend…« (Hebräer 1,2-3). Dadurch wird auch der Mensch indirekt beschenkt.
  • »… einen lebendigen Gott …, der ein Erhalter aller Menschen ist, besonders [der] Gläubigen« (1. Timotheus 4,10b). – Auch hier wird deutlich, dass das Erhalter-sein Gottes allen Menschen gilt, also allgemein ist, aber das „besondere Erhalten/Retten“ nur den Gläubigen gilt, also nicht allgemein, sondern speziell ist.
  • Gott lässt Sünder i.d.R. nach ihrer ersten Sünde weiterhin (für eine Zeit) am Leben, obwohl er schon am Anfang klar gesagt hatte: »…an dem Tag, da du davon isst, musst du sterben.« (1. Mose 2,17) und »Der Lohn der Sünde ist der Tod.« (Römer 6,23). Dass Gott Rebellen gegen seine Majestät eine Zeitlang die guten Gaben des Geschöpfseins genießen lässt, ist eine großartige Demonstration seiner allgemeinen Gnade, Geduld, Langmütigkeit, Sanftmut, Barmherzigkeit und Menschenliebe.

Wer diese Dinge nicht auseinander halten kann, versteht die Lehre der Schrift nicht, und kann sich in viele Irrtümer verwickeln lassen.
Zurück zu 1. Johannes 3,1. Wovon ist hier hier die Rede? 

Von welcher Liebe Gottes wird in 1. Johannes 3,1 gesprochen?

Seht, welch eine Liebe uns der Vater gegeben hat, dass wir Kinder Gottes heißen sollen! 

Die direkt vorhergehende Aussage des Apostels: »aus ihm geboren ist« führt ihn im nächsten Vers zum Ausruf: »Sehet, welch eine Liebe… dass wir Kinder Gottes heißen sollen!«. Niemand hat sich selbst zum Kind Gottes gemacht, Gott der Vater hat dies getan und damit jedem Kind Gottes alle Rechte und Segnungen und Lebensqualitäten des Kindesstandes geschenkt. (Wir sind nicht „Kinder Jesu“ oder „Jesu Kinder“, sondern Kinder Gottes und Kinder des Vaters.) Diese Kindschaft ist so real, dass man ihre Wirklichkeit im Wandeln und Handeln (in ihrer Lebensführung und in ihren Taten) der Kinder Gottes sehen kann: Es ist dem Sohn Gottes gleichartig, denn sie haben dasselbe Leben in sich (Johannes 17,23.26; vgl. Galater 2,20). Die Kinder Gottes offenbaren also ihre „Echtheit“ als Kinder Gottes, indem sie »die Gerechtigkeit tun« (1. Johannes 2:29b), also die Gebote Gottes halten, vor allem das Gebot der Liebe. Ein gerechter Wandel ist also die Frucht (Ergebnis, Folge) der Neugeburt, nicht eine Vorbedingung derselben. Diese Aussage wird hier nicht als Ermahnung ausgesprochen, sondern als Ermunterung an die wahren Kinder Gottes: Sie sollten wieder einmal jene übergroße Gnade betrachten, die sie von Gott darin erhalten hatten, dass Er sie zu Kindern Gottes gemacht hatte! – Davon versteht die nichtglaubende Welt überhaupt nichts, denn diese Welt kennt Gott nicht (vgl. Johannes 5,37; 7,28; 16,3). Sie ist noch in der Finsternis. Und sie hassen das Licht. Die Finsternis und damit den Tod zu wählen, ist ihre bewusste Wahl.

Das Wort, das hier mit »welch eine« wiedergegeben wird, ist potapos (ποταπός). Die Wörterbücher erklären es so: 

  • Vine: bedeutet eigentlich: „aus welchem Land“, „von welcher Sorte/Art“. 
  • Kassühlke: „was für ein“, „welcher Art“, „wie beschaffen“. 
  • Lange: Es geht um Abstammung und Qualität, nicht Menge (Quantität) oder Größe. 
  • Vincent: »What manner of (ποταπὴν). The word is of infrequent occurrence in the New Testament, but is found in all the Synoptists and in 2 Pet. 3:11. Only here in John’s writings. Originally it means from what country or race; then, of what sort or quality. It is used of the quality of both persons and things.«

Die Kinder Gottes sollen also die besondere Qualität dieser Liebe ihres Vaters wahrnehmen. Es ist eine Liebe, die von Gott dem Vater ausgeht (nicht vom Menschen). Es ist eine Liebe, die göttlich ist (nicht menschlich). Es ist eine ewige Liebe, die mithin weder Anfang noch Ende kennt, die das Irdische und das Zeitliche überschreitet. Diese Liebe findet ihren Ursprung in der Ewigkeit vor der Zeit und wird auch in der Ewigkeit nach der Zeit noch sein. Das macht es aus, ein Kind Gottes heißen zu dürfen. Dass eine solche Liebe durch unser menschliches Begreifen nicht völlig fassbar ist, ist offenbar. Der Kontext sagt uns, dass diese Liebe untrennbar mit dem neuen Leben aus Gott, das in der Neugeburt von Gott empfangen wurde (Johannes 1,12), verbunden ist, und dass dieses neue Leben sich in sichtbaren, charakteristischen Lebenszeichen offenbart im Leben (Reden und Tun) und Bewegen und Sein des Kindes Gottes. Die Wahrheit und Hoffnung der zukünftigen Gleichheit mit Christi Wesen (der das Leben des Glaubenden geworden ist) hat unausweichlich als Konsequenz die persönliche Heiligung, das Sichreinigenlassen gemäß der Reinheit Christi (1. Johannes 3,3).

Fazit

Schriftgemäßes Predigen muss festhalten, dass die Liebe Gottes sich unterschiedlich erweist in Qualität und Quantität und Zeit und Ewigkeit. Ohne weiteres zu behaupten: „Gott liebt alle Menschen gleich“ ist am Wort der Wahrheit gemessen eindeutig falsch.

Dies zeigt auch der Text in 1. Johannes 3,1. Wenn die o.g. falsche Aussage dazu führt, dass man verkennt, dass es in diesem Text um eine besondere Liebe des Vaters gegenüber seinen Kindern geht, die eben nicht allen Menschen gilt, weil nicht alle Menschen im dort gemeinten Sinn Kinder Gottes sind, –ja, dass es gerade um ein Unterscheidungs- und Kennzeichen der Kinder Gottes im Kontrast zu den anderen Menschen geht– dann ist dies sehr zu bedauern.

Wichtigste Maßnahme: Lesen, lesen, lesen. Denn Jesus sagt: „Habt ihr nicht gelesen…?“. „Glückselig der Mann, der … seine Lust hat am Gesetz des Ewigen und über sein Gesetz sinnt Tag und Nacht!

Weiterführende Literatur

D.A. Carson, The Difficult Doctrine of the Love of God (Crossway, 1999).
Kostenloser Download: http://s3.amazonaws.com/tgc-documents/carson/2000_difficult_doctrine_of_the_love_of_God.pdf [28.07.2020];
Backup: Carson_The_difficult_doctrine_of_the_love_of_God.pdf