Wir haben empfangen … Gnade um Gnade

Der Apostel Johannes schreibt als einer der letzten der Autoren des Neuen Testaments. Die drei synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus und Lukas) sind alle schon einige Jahrzehnte geschrieben und verbreitet worden. Sie portraitierten den Herrn Jesus Christus als den König und Messias Israels, den Knecht Gottes und den wahren Menschen. Aber Johannes hat einen besonderen Auftrag: Er soll von Jesus Christus als dem menschgewordenen ewigen Sohn Gottes schreiben, damit Menschen an Ihn glaubend das ewige Leben haben (Johannes 20,31).

Das erste Kapitel seines Evangeliums ist voll tiefgründiger Aussagen über Christi Gottsein, Menschsein und Sendung. Johannes vergleicht das Kommen Jesu Christi mit dem größten Führer des Volkes Gottes alttestamentlicher Zeit, mit Mose:

Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben;
die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.

Johannes 1,17 (ELBCSV 2003)

Offenbar ist in Jesus Christus ein unvergleichlich Größerer zu uns Menschen gekommen, als der große Mose: der große Gott selbst. Und offenbar hat Jesus Christus etwas unvergleichlich Größeres mitgebracht, als Mose damals übermittelnd liefern konnte, nämlich Gnade und Wahrheit. Er, der als Gott selbst Licht (1.Johannesbrief 1,5) und Liebe (1.Johannesbrief 4,8) ist, bringt „uns allen“ leuchtende Wahrheit und liebende Gnade. Und dies mitnichten spärlich, sondern im Überfließen, „aus seiner Fülle“ [πληρώματος αὐτοῦ]:

Denn aus seiner Fülle haben wir alle empfangen,
und zwar Gnade um Gnade [χάριν ἀντὶ χάριτος].

Johannes 1,16 (ELBCSV 2003)

So wundert es nicht, dass vor allem das Evangelium nach Johannes eine Fund- und Schatzgrube für Beispiele, Aussagen und Lehren über die Gnade Gottes ist. Im menschgewordenen Sohn Gottes ist die Gnade Gottes sichtbar und für den Glauben rettend und beglückend greifbar geworden. Während der Apostel Paulus besonders erklärt, dass in Jesus die Gnade Gottes allen Menschen heilbringend erschienen ist (Titus 2,11ff), lehrt der Apostel Johannes vor allem, wie Gott seine Familie aus der verdorbenen, rebellischen Welt durch die Hingabe Seines einzigen Sohnes ans Kreuz rettet, ja: herausliebt (Johannes 3,16). Nun gilt für jeden Glaubenden, dass er im Sohn Gottes ewiges Leben hat, und zwar als Geschenk, nicht als Lohn, sondern „aus Gnade“ (Johannes 20,31).

Der amerikanische Theologe, Autor und Prediger Dr. Steven J. Lawson (Gründer und Präsident von OnePassion Ministries) hat eine Lehrreihe zu The Doctrines of Grace in John zur Verfügung gestellt. Es handelt sich dabei um 12 Kurslektionen zu je ca. 25 Minuten. Ein Kursteilnehmer hat freundlicherweise seine deutschsprachigen Notizen online zur Verfügung gestellt. Alle Rechte für den originalen Kurs bleiben natürlich beim Autor und beim Veranstalter Ligonier Ministries (Sanford, FL, USA, www.ligonier.org). Die Kursteilnahme mit offener Bibel sei hiermit wärmstens empfohlen.

Quellenverweise

  • Den Kurs in englischer Sprache (Original) kann man hier in verschiedenen Medien und Gruppenlizenzen kaufen.
  • Eine kostenlose Probelektion (Einleitung) des Kurses in englischer Sprache gibt es hier.
  • Kursunterlagen (Study Guide) in englischer Sprache (PDF; backup);
  • Kursunterlagen in englischer Sprache als Taschenbuch, Hörbuch und Audio-CD.
  • Kursnotizen (Mitschrift) in deutscher Sprache (PDF; backup).
  • Eine kürzere Abhandlung gleichen Themas des Baptisten R. Bruce Steward (1936–2006) ist in der Chapel Library der Mount Zion Bible Church enthalten (PDF).
  • Eine grundlegende Abhandlung über die Lehren der Gnade aus reformierter Sicht: James Montgomery Boice und Philip Graham Ryken, The Doctrines of Grace, Wheaton, IL: Crossway, 2002. Deutsch: Die Lehren der Gnade, Oerlinghausen: Betanien, 2009.
  • Eine dogmengeschichtliche Darstellung der Lehren der Gnade in der Plymouth-Brüder-Bewegung: Mark R. Stevenson: The Doctrines of Grace in an Unexpected Place. Calvinistic Soteriology in Nineteenth-Century Brethren Thought. Eugene, OR: Wipf and Stock, 2007). Deutsch: Die Brüder und die Lehren der Gnade. Wie stand die Brüderbewegung des 19. Jahrhunderts zur calvinistischen Heilslehre? Bielefeld: CLV, 2019.
  • Der bekannte Baptist und „Fürst der Prediger“ Charles H. Spurgeon (1834–1892) lehrte ebenfalls die Lehren der Gnade, siehe: Charles H. Spurgeon – Prediger der biblischen »Lehren der Gnade« (auf diesem BLOG).

Ein Glaube ohne Werke ist tot

Seit Jahrtausenden haben sich Christen darüber unterhalten und gestritten, wie Glauben und (Gute) Werke im christlichen Glauben zueinander stehen und miteinander gehen. Sogar der Reformator Martin Luther, der in der Rechtfertigungslehre des Neuen Testaments den Zentralartikel der christlichen Kirche sah, konnte mit der mahnenden Botschaft des Jakobus im Neuen Testament und seiner Aussage, dass die (guten) Werke zur Rechtfertigung führen, eher wenig anfangen.

Was nützt es, meine Brüder, wenn jemand sagt, er habe Glauben, hat aber keine Werke? Kann etwa der Glaube ihn erretten? …
So ist auch der Glaube, wenn er keine Werke hat, in sich selbst tot.
Willst du aber erkennen, o nichtiger Mensch, dass der Glaube ohne die Werke tot ist?

Jakobus 2,14.17.20 (ELBCSV 2003)

Zu schnell wurde ein Gegensatz oder Widerspruch zwischen den Aussagen des Apostels Paulus und des Jakobus wahrgenommen oder behauptet. Beide sind jedoch in der Sache ohne jeglichen Widerspruch. Problematisch ist nur, wenn man den Begriff Rechtfertigung beider Schreiber als identisch in der Blickrichtung ansieht. Beide Schreiber meinen mit rechtfertigen dasselbe: gerecht gesprochen zu werden. Paulus spricht jedoch von der Rechtfertigung eines Sünders vor Gott und durch Gott alleine, während Jakobus von der Rechtfertigung eines Gläubigen durch seine Glaubenswerke angesichts einer beobachtenden Welt spricht: seine Glaubenswerke weisen seinen Glauben als echt aus.

Beide Glaubenslehrer stehen sich also nicht mit überkreuzten Klingen gegenüber, sondern sie verteidigen die selbe biblische Wahrheit Rücken an Rücken gegen unterschiedliche Feinde dieser Lehre: Paulus gegen jene, die mit eigener Frömmigkeit und Werken sich die Annahme bei Gott erarbeiten wollen, Jakobus gegen jene, die meinen, der rettende Glaube in Christus habe nichts mit einem entsprechenden Weg in guten Werken des Glaubens zu tun. Allerdings muss man festhalten, dass beide Schreiber beide Aspekte kennen und lehren. Wenden wir uns zuerst dem Fundamentalartikel der Rechtfertigung allein aus Glauben zu.

Die Schrift lehrt einstimmig die Rechtfertigung »allein aus Glauben«

Sowohl Paulus wie Jakobus halten einmütig und mit der selben zentralen Belegstelle der Schrift fest, dass die Gerechterklärung des Sünders durch Gott alleine auf der Grundlage des Glaubens (d. i. alleine mittels des Glaubens) erfolgt. Beide deuten auf das Glaubensvorbild Abraham und zitieren als Schriftbeleg 1. Mose 15,6:

Und die Schrift wurde erfüllt, die sagt: „Abraham aber glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet“, und er wurde Freund Gottes genannt.

Jakobus 2,23 (ELBCSV 2003)

Denn was sagt die Schrift? „Abraham aber glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet.“

Römer 4,3 (ELBCSV 2003)

Etliche Jahre nach Jakobus schreibt der Apostel Paulus also, dass die Rechtfertigung des Sünders, also seine Für-gerecht-Erklärung seitens Gottes, eine exklusive Sache Gottes ist, die mittels des Glaubens und nur aufgrund des Glaubens, also unter Ausschluss der Anrechnung von Werken (»Gesetzeswerken«), erfolgt.

Darum, aus Gesetzeswerken wird kein Fleisch vor ihm gerechtfertigt werden. … Denn wir urteilen, dass ein Mensch durch Glauben gerechtfertigt wird, ohne Gesetzeswerke. …
Dem aber, der nicht wirkt, sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet;

Römer 3,20a.28; 4,5 (ELBCSV 2003)

Denn durch die Gnade seid ihr errettet, mittels des Glaubens; und das nicht aus euch, Gottes Gabe ist es; nicht aus Werken, damit niemand sich rühme.

Epheser 2,8-9 (ELBCSV 2003)

Da die Rechtfertigung nach der Schrift »allein durch Glauben«geschieht, stellt dies sicher, dass alle Ehre allein Gott zukommt. Sind wir nicht aufgrund eigener Werke, sondern alleine durch das rettende Werk Jesu gerechtfertigt, dann gebührt alles Lob für unser Heil alleine Ihm. Die Absicht Gottes mit der Rechtfertigung ist also – wie bei allen anderen Aspekten des Evangeliums auch – die Offenbarung und Verherrlichung Gottes: Soli Deo Gloria.

Die reformatorische Position zu Glauben und Werken

Dieses »allein durch Glauben« haben die Reformatoren in ihren grundlegenden vier Exklusivpartikeln mit sola fide bezeichnet: Allein durch den Glauben wird der Mensch gerechtfertigt, nicht durch gute Werke. Dies ist wegen der Altlasten der römisch-katholischen Theologie und der menschlichen Wesensneigung, sich durch eigene Anstrengungen den Weg in den Himmel zu bahnen und sich die Anerkennung seitens Gottes zumindest teilweise zu verdienen, nicht unwidersprochen geblieben.

Martin Luther erklärte 1531 in seiner Wittenbergschen Vorlesung über den Galaterbrief (1535 schriftlich gefasst von Georg Rörer aus seinen Mitschriften) folgendes über Glauben und Werke (zu Galater 2,19):

Daher sagen wir auch, daß der Glaube ohne Werke nichts und nichtig ist. Das verstehen die Papisten und Schwärmer so: der Glaube ohne Werke kann nicht rechtfertigen, oder der Glaube ohne Werke, wenn er noch so wahr ist, vermag nichts, wenn er nicht Werke hat. Das ist falsch. Aber ein Glaube ohne Werke, will sagen ein schwärmerischer Gedanke und ein leeres Geschwätz und ein Traum des Herzens, ein solcher Glaube ist falsch und rechtfertigt nicht.

Martin Luther, Der Galaterbrief. 2. Auflage. Göttingen: Vadenhoeck & Ruprecht, 1987. Textquelle digital.

Johannes Calvin war vielleicht der erste Reformator, der gegen die falsche römisch-katholische Lehre Stellung bezog, die das Konzil zu Trient (6. Sitzung Cum hoc tempore (1547) über die Rechtfertigung, 9. und 11. Kanon) wie folgt formuliert hatte:

9. Wenn jemand sagt, der Sündhafte werde allein durch den Glauben gerechtfertigt; so dass er damit versteht, es werde nichts anderes, das zur Erlangung der Rechtfertigungsgnade mitwirke, erfordert, und es sei keinen Teils notwendig, dass er sich aus Antrieb seines Willens dazu vorbereite, und bereitsam mache, der sei im Bann.
11. Wenn jemand sagt, die Menschen werden gerechtfertigt entweder allein durch die Zurechnung der Gerechtigkeit Christi, oder allein durch die Nachlassung der Sünden, mit Ausschluss der Gnade und der Liebe, welche durch den Heiligen Geist (Röm 5,5) in ihre Herzen ausgegossen wird, und ihnen innehaftet, oder auch, die Gnade, durch welche wir gerechtfertigt werden, sei nur eine Gunst Gottes, der sei im Bann.

Deutsche Textquelle: http://www.kathpedia.com/index.php?title=Cum_hoc_tempore [16.02.2021]

Calvin schrieb im gleichen Jahr (1547) eine Antwort auf die Konzilsbeschlüsse und formulierte zum biblischen Zusammenhang von Glauben und Werken u. a. folgendes:

Ich möchte, dass der Leser versteht, dass wir, wenn wir in dieser Frage vom Glauben allein reden, nicht an einen toten Glauben denken, welcher nicht durch die Liebe wirkt, sondern dass wir daran festhalten, dass der Glaube allein die Ursache der Rechtfertigung ist (Galater 5,6; Römer 3,22). Daher ist es allein der Glaube, welcher rechtfertigt, und trotzdem steht jener Glaube, welcher rechtfertigt, nicht alleine da: Genauso wie es allein die Hitze der Sonne ist, welche die Erde erwärmt, so ist doch die Hitze der Sonne nie alleine, weil sie beständig mit dem Licht verbunden ist.

Johannes Calvin, Antidote to the Canons of the Council of Trent, in: Henry Beveridge (Übs.). Tracts and Treatises in Defense of the Reformed Faith. 1851. Nachdruck (Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1958) Bd. 3. S. 152. Übers. des Verf.

Eine weitere Spur davon kann man in der Konkordienformel (Formula Concordia, 1580) nachvollziehen, welche einen Versuch darstellt, Zerwürfnisse beizulegen, die nach Luthers Tod zwischen der eher milden Melanchthonschen Richtung (Philippismus) und der eher streng lutherischen Richtung (Gnesiolutheraner) entstanden waren. Unter Artikel III. Von der Gerechtigkeit des Glaubens vor Gott wird Folgendes als rechtgläubig bestätigt:

8) Wir gläuben, lehren und bekennen, daß, obwol vorgehende Reu und nachfolgende gute Werk nicht in den Artikel der Rechtfertigung vor GOtt gehören, jedoch sol nicht ein solcher Glaube gedichtet werden, der bey und neben einem bösen Vorsatz zu sündigen, und wider das Gewissen zu handeln, seyn und bleiben könte; sondern nachdem der Mensch durch den Glauben gerechtfertiget worden, alsdann ist ein warhaftiger lebendiger Glaube durch die Liebe thätig, Galat. 5 [v. 6]. Also, daß die gute Werk dem gerechtmachenden Glauben allzeit folgen und bei demselben, da er rechtschaffen und lebendig, gewislich erfunden werden; wie er denn nimmer allein ist, sondern allzeit Liebe und Hoffnung bey sich hat.

Formula Concordiae Epitome. Summarischer Begrif der streitigen Artikel, zwischen (…), Artikel III. Von der Gerechtigkeit des Glaubens vor Gott, Punkt 8 (1577). Textquelle (Druck von Gebauer, Halle, 1747), S. 16 [850]. Betonung mit Unterstreichung ist im Original mit Sperrdruck geschehen. Fettdruck hinzugefügt.

Unter Artikel IV. Von guten Werken wird Folgendes hinzugefügt:

1) Daß gute Werke dem warhaftigen Glauben, wann derselbige nicht ein todter, sondern ein lebendiger Glaube ist, gewislich und ungezweifelt folgen als Früchte eines guten Baums.
2) Wir gläuben, lehren und bekennen auch, daß die guten Werke gleich so wol, wenn von der Seligkeit gefraget wird, als im Artikel der Rechtfertigung vor GOtt gänzlichen ausgeschlossen werden sollen, wie der Apostel mit klaren Worten bezeuget, da er also geschrieben: … Röm. 4. [v. 6.7.] Und abermals: … Ephes. 2. [v. 8. 9.] (…)
10) Wir gläuben, lehren und bekennen auch, daß den Glauben und die Seligkeit in uns nicht die Werke, sondern allein der Geist GOttes die Seligkeit durch den Glauben erhalte, des Gegenwärtigkeit und Inwonung die guten Werke Zeugen seyn.

Formula Concordiae Epitome. Summarischer Begrif der streitigen Artikel, zwischen (…), Artikel IV. Von guten Werken. Textquelle (Druck von Gebauer, Halle, 1747), S. 18–20 [852–854]. Betonung mit Unterstreichung ist im Original mit Sperrdruck geschehen. Fettdruck hinzugefügt.

Will man die biblische Lehre (wie sie im reformatorischen Glauben auch erfasst wurde) sehr vereinfacht mit prägnanten Formeln zusammenfassen, so mag dies so aussehen:

Zu verwerfen: Glaube + Werke = Rechtfertigung.
Festzuhalten: Glaube = Rechtfertigung + Werke

Der Glaube, mittels dessen Gott die Rechtfertigung ausspricht, ist stets ein Glaube, der als lebendiger Glaube auch entsprechende Glaubenswerke zeitigt. Fehlen solche Werke, obwohl Glaube behauptet wird, so lautet die biblische Diagnose: dieser Glaube ist tot, er rettet nicht.

Die Schrift lehrt einstimmig, dass rettender Glaube und Glaubenswerke wesensartig zusammen gehören

Man muss also klar zwischen Glauben und Werken unterscheiden, aber man darf und kann sie –wie die beiden Seiten derselben Münze– nicht voneinander trennen, ohne die ganze Sache zu verlieren.

Paulus wie Jakobus lehren, dass ein von jemand behaupteter Glaube ohne Werke tot und damit im Wesen (Jakobus: »in sich selbst«) nicht der rettende Glaube ist. Die Lebendigkeit (und damit Echtheit) des rettenden Glaubens wird sich stets beweisen in seiner von göttlicher Liebe motivierten Wirksamkeit:

So ist auch der Glaube, wenn er keine Werke hat, in sich selbst tot.

Jakobus 2,17 (ELBCSV 2003)

Denn wir erwarten durch den Geist aus Glauben die Hoffnung der Gerechtigkeit. Denn in Christus Jesus vermag weder Beschneidung noch Vorhaut etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe wirkt.

Galater 5,5-6 (ELBCSV 2003)

Wegen dieses wesensartigen Zusammenhangs kann der Apostel Johannes diesen in seinem Ersten Brief in die Reihe seiner Gotteskind-Prüfsteine mit aufnehmen. »Ihn kennen« markiert den Empfang des ewigen Lebens (Gotteskindschaft), »seine Gebote halten« das Kindeswesen der Liebe gegenüber Gott, das sich im Gehorsam äußert (vgl. 5. Mose 6,4ff).

Und hieran wissen wir, dass wir ihn kennen, wenn wir seine Gebote halten. Wer sagt: Ich kenne ihn, und hält seine Gebote nicht, ist ein Lügner, und in diesem ist die Wahrheit nicht. Wer aber irgend sein Wort hält, in diesem ist wahrhaftig die Liebe Gottes vollendet. Hieran wissen wir, dass wir in ihm sind. (…)
Hieran erkennen wir, dass wir die Kinder Gottes lieben, wenn wir Gott lieben und seine Gebote halten. Denn dies ist die Liebe Gottes, dass wir seine Gebote halten, und seine Gebote sind nicht schwer.

1. Brief des Johannes 2,3–5; 5,2–3 (ELBCSV 2003); vgl. 3,22.24

Weil die Lebensbekundungen des neuen Lebens in Christus kein Mechanismus ist, sondern nach Philipper 2,12–13 vielmehr ein wesenseigenes Wirken des glaubenden, gottesfürchtigen Menschen, zu dem er Dank Gottes Wirken in ihm sowohl motiviert als auch befähigt ist, sind diese Lebenserweise des Glaubenden wachstümlich und damit stets unvollkommen. (Ergänzend sei bemerkt, dass mit »euer eigenes Heil« nicht die ewige Errettung der Philipper gemeint ist, denn diese hatten sie offenbar: sie waren »Heilige in Christus Jesus« (1,1), es war ihnen von Gott geschenkt worden, »an ihn zu glauben« (1,29) und ihr »Bürgertum war in den Himmeln« (3,20). Paulus forderte sie angesichts ihrer großen internen Probleme als Gemeinde vielmehr dazu auf, diese in einer christusähnlichen Gesinnung von Demut und Liebe heilstiftend zu lösen.)

Daher, meine Geliebten, … bewirkt euer eigenes Heil mit Furcht und Zittern; denn Gott ist es, der in euch wirkt sowohl das Wollen als auch das Wirken, zu seinem Wohlgefallen.

Philipper 2,12-13 (ELBCSV 2003)

Der Herr Jesus Christus selbst hat den organischen (wesensartigen) Zusammenhang zwischen Glauben und neuem Leben und zwischen neuem Leben und Frucht vielfach in seinen Gleichnissen und Predigten gelehrt. Besonders eindrucksvoll ist dazu sein erstes Gleichnis vom Sämann und den vier Ackerböden (Matthäus 13,3–9; 18–23; vgl. Markus 4,1–12; 13–20; Lukas 8,4–15). Anhaltende Frucht ist Beweis dafür, dass der Same empfangen (aufgenommen) wurde und lebendig ist. Kurzfristiges Aufblühen kann diesen Beweis nicht liefern. Die Frage nach der Quantität (Menge) der Frucht wird nur insofern angesprochen, als dass sie größer Null sein muss; ob sie »30-, 60- oder 100fältig« ist, ist Sache des Wachstums und Wirkungsgrades, jedoch keine Anfrage an die Echtheit (Qualität) der Frucht. (Damit ist auch der Fall des gläubigen Verbrechers neben Christus am Kreuz geklärt.)

Auch bei der Beurteilung von Menschen, die sich als Diener Christi ausgeben (im Dienst als Christen ausgeben), verordnet Christus seinen Nachfolgern zur Urteilsfindung die Beurteilung der »Früchte« dieser Arbeiter. Sein Argument setzt voraus, dass das Wirken eines Menschen stets in Übereinstimmung mit seinem Wesen ist, die Frucht eines Baumes identifiziert eindeutig den Baum. Der Kontrast ist hier nicht wie beim Sämann-Gleichnis zwischen (bleibender) Frucht und Fruchtlosigkeit, sondern zwischen guter und schlechter Frucht.

An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Sammelt man etwa von Dornen Trauben oder von Disteln Feigen? So bringt jeder gute Baum gute Früchte, aber der faule Baum bringt schlechte Früchte. Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte bringen, noch kann ein fauler Baum gute Früchte bringen. Jeder Baum, der keine gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Deshalb, an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.

Matthäus 7,16-20 (ELBCSV 2003)

Christus sprach auch das altbekannte Problem an, dass die Rede und das Bekenntnis eines Menschen nicht unbedingt mit seinem Wesen und seiner Realität in Übereinstimmung sein müssen. Das Phänomen der Heuchelei, des guten Scheins und des buchstäblichen Pharisäertums ist ja seit dem Sündenfall ein allen Menschen anhaftendes Übel. In seiner Argumentation macht der Herr Jesus deutlich, dass wir die Werke eines Menschen genau ansehen müssen, um sein Bekenntnis zu prüfen, das Sagen eines Menschen muss vom Tun her beurteilt werden, und zwar danach, ob es Ausdruck des Gehorsams gegen Gottes Willen ist:

Nicht jeder, der zu mir sagt: „Herr, Herr!“, wird in das Reich der Himmel eingehen, sondern wer den Willen meines Vaters tut, der in den Himmeln ist.

Matthäus 7,21 (ELBCSV 2003)

Gegenüber den elf glaubenden Aposteln erklärt der Herr Jesus, dass das Geheimnis anhaltenden und sich steigernden Fruchtbringens die Lebensverbindung mit Ihm selbst ist (Johannes 15,1–8):

Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, dieser bringt viel Frucht, denn außer mir könnt ihr nichts tun.

Johannes 15,5 (ELBCSV 2003)

Neuzeitliche Debatte

Aus der Geschichte des Volkes Gottes wissen wir, dass der Feind Gottes, der Ur-Lügner Satan, die Wahrheit immer gleichzeitig in beide Richtungen verfälscht, um sicher von der Wahrheit wegzuführen, egal, wie die jeweilige Neigung des Opfers seiner Verführung ist. Am Beispiel der Gemeinde in Korinth ist besonders gut zu beobachten, dass der Teufel seinen Irrtum immer in Paaren der Extreme serviert. C. S. Lewis (1898-1963) schrieb in Mere Christianity (dt.: Pardon, ich bin Christ): »Der Teufel versucht, uns ein Schnippchen zu schlagen. Er schickt der Welt die Irrtümer immer paarweise auf den Hals, in Paaren von Gegensätzen. Und er stiftet uns ständig dazu an, viel Zeit dadurch zu vertrödeln, nachzugrübeln, welches der schlimmere Irrtum sei. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Er baut auf unseren tiefen Unwillen gegen den einen Irrtum, um uns Schritt für Schritt in den anderen hineinzuziehen.«

Die biblische Mitte, die göttlich geoffenbarte Wahrheit nach links und rechts zu bewahren, ist also keine Sache, bei der wir uns schräge oder einseitige Blicke und Vorlieben erlauben dürfen. Bei den Korinthern kann man beispielsweise beobachten: Das Gottesgeschenk der Sexualität darf weder in grenzenloser Ausschweifung missbraucht noch in asketisch-philosophischer Verweigerung verachtet werden. Abusus non tollit usum.

Auch in der Frage, wie rettender Glaube und gute Werke zusammengehören, kann man auf beiden Seiten vom Pferd fallen:

(1) Die Einen verbinden Glauben und Werke so sehr, dass Rechtfertigung und Heiligung zu einem nicht unterscheidbaren Gemisch und Komplex werden, das den biblischen Grundsatz der Rechtfertigung allein aus Glauben verleugnet und die Rechtfertigung zu einem Prozess macht, den unsere Werke maßgeblich beeinflussen. Die Folge ist meist irgendeine Form der Gesetzlichkeit, also jenem Verständnis, dass unsere Werke zu unserem ewigen Heil beitragen. Dass die Schrift dies kategorisch ausschließt, wurde oben schon belegt. Die römisch-katholische Lehre hält bis heute an diesem Irrtum fest.

(2) Die Anderen trennen Glauben und Werke kategorisch so sehr, dass der wesensartige Zusammenhang zwischen beiden verleugnet wird. In den gnostisch beeinflussten Strömungen in der Christenheit führt dies zu einer Trennung der Dinge des Geistes („oben“, geistlich) von den Dingen des Fleisches („unten“, irdisch), wobei das Geistliche das Wesentliche und Wertvolle, das Irdische aber das Unwesentliche und Wertlose sei. Von dort ausgehend irrt man dann auseinandergehend entweder zur Zügellosigkeit (Antinomismus), weil das Irdische, Leibliche nichts mit dem Glauben zu tun habe, oder zu einem alles Irdisch-leibliche entsagenden und verachtenden Asketismus (häufig in den geweihten Ständen anzutreffen). Es ist aber gleichartig falsch, einem Rasputin oder dem Trappistenorden zu folgen.

Die amerikanischen Evangelikalen haben sich in dieser Frage ebenfalls sehr grundlegend auseinander dividiert. Leider hat sich dieser Streit durch die Medien weltweit ausgebreitet.

(1) Die sog. Non-Lordship-Salvation-Richtung leugnet, dass der Erweis des rettenden Glaubens etwas mit einem Leben in Gottesfurcht und mit entsprechenden Glaubenswerken zu tun hat. Zu den Vertretern dieser falschen Richtung gehören bekannte Theologen wie Lewis Sperry Chafer (1871–1952), der Gründer und erste Präsident des renommierten Dallas Theological Seminary (DTS), und Charles C. Ryrie (1925–2016), Professor für Systematische Theologie dieser Hochburg des amerikanischen Dispensationalismus. Ryrie war auch Gastdozent an der Bibelschule Brake in Lemgo (1998–2004), seine Studienbibel (NT 1976, Gesamtbibel 1978, erweitert 1994, deutsch 2012) erfreute sich größter Auflagen und Verbreitung, besonders auch innerhalb der sog. Brüderbewegung (Plymouth Brethren, Elberfelder Brüder). Ryrie lehrte noch, dass die Echtheit des rettenden Glaubens in »gewissen Veränderungen« sichtbar wird: »Mit der Errettung gehen gewisse Veränderungen einher, und wenn ich einige dieser Veränderungen sehe, dann kann ich sicher sein, das neue Leben empfangen zu haben.« (Charles C. Ryrie: Hauptsache gerettet? Was Errettung bedeutet, Christliche Verlagsgesellschaft, Dillenburg 1998, S. 150).

Zane Clark Hodges (1932–2008), Professor am DTS, formulierte die wohl extremste Trennung von Glauben und Werken in seiner Free Grace Theology. In dieser Radical No-Lordship Theology genannten Ansicht reicht eine rein intellektuelle Zustimmung zu gewissen Heilstatsachen völlig aus, um das ewige Heil zu erhalten. Abwendung von der Sünde, Lebensübergabe an Christus und Gehorsam gegenüber den neutestamentlichen Geboten sind nicht Teil des rettenden Glaubens, sondern gehören zum Bereich der (evtl. später noch folgenden) Nachfolge bzw. christlichen Lebensführung. Gläubige können dauerhaft in die Sünde zurückfallen und den Glauben sogar ganz aufgeben, ohne dass man daraus den Schluss ziehen dürfe, dass diese Person nicht gerettet war und ist. Diese Free Grace Theology wendet sich zurecht gegen den „Arminianismus“, der lehrt, dass dauerhafte Sünde oder Abfall vom Glauben den Verlust des ewigen Heils nach sich ziehe, aber sie wendet sich auch gegen die biblische Lehre, dass der hohepriesterliche Dienst Christi alle wahren Gläubigen bis zum Ende im Glauben erhalten wird (Lukas 22,32; 1. Korinther 1,8; vgl. Punkt 5 der Lehrregeln von Dordrecht). Der Inhalt des rettenden Evangeliums wurde von Hodge so weit eingeschränkt, dass man weder an das Kreuz noch an die Auferstehung Jesu glauben müsse, sondern nur noch an die Verheißung des ewigen Lebens. Alle Arten von Werken, vor der Neugeburt (was biblisch richtig ist) und nach der Neugeburt (was falsch ist) hätten mit dem rettenden Glauben nichts zu tun. Die 1986 gegründete Grace Evangelical Society (GES) vertritt diese radikalen Ansichten heute am deutlichsten.

(2) Die sog. Lordship-Salvation-Richtung hingegen behauptet, dass der Erweis des rettenden Glaubens etwas mit einem Leben in Gottesfurcht und mit entsprechenden Glaubenswerken zu tun hat. Der bekannteste Vertreter dieser Richtung ist der kalifornische Pastor John F. MacArthur (*1939), ehemaliger Präsident von The Master’s University, The Master’s Seminary und des Missionswerks Grace to You sowie Herausgeber der weit verbreiteten MacArthur Studienbibel (über 2 Mio. Kopien). Seine Zentralposition ist, dass das Evangelium, das Jesus Christus predigte, ein Aufruf zur gehorsamen Nachfolge (Jüngerschaft) ist, nicht nur eine Bitte, eine einmalige Entscheidung zu treffen oder einmal ein „Übergabegebet“ zu sprechen. Mit außerordentlicher Klarheit vertritt MacArthur die in der Reformation wiederentdeckte biblische Lehre, dass die Rechtfertigung des Sünders und mithin sein ewiges Heil allein aus Gnade, allein aus Glauben und allein in Christus zu finden ist. Eigene Werke fügen dem nichts hinzu, weder solche vor der Neugeburt, noch solche nach der Neugeburt von oben. Die Entkopplung des ewigen Heils vom Ruf und den Kosten der Christus-Nachfolge hingegen wird als „easy believism“ bezeichnet und als unbiblisch abgewiesen. Die Befreiung von den Gebundenheiten der Sünde geschieht nach der Heiligen Schrift vielmehr durch existentielle Übergabe des Lebens an Christus, was Umkehr vom tödlichen Weg (Lebensstil) des Sünders und wirkliche Freiheit des so geretteten Menschen bedeutet. Das »Wort des Glaubens« und der darauf beruhende, rettende Glaube schließt den Glauben an Christus als Retter wie auch an Ihn als Herrn mit allen rettenden Konsequenzen ein.

Das ist das Wort des Glaubens, das wir predigen, dass, wenn du mit deinem Mund Jesus als Herrn bekennst und in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn aus den Toten auferweckt hat, du errettet werden wirst. Denn mit dem Herzen wird geglaubt zur Gerechtigkeit, mit dem Mund aber wird bekannt zum Heil.

Römer 10,8-10 (ELBCSV 2003)

Das Hören, Glauben und Gehorchen ist keine extern aufgepresste Haltung des Christen, sondern das innere Wesen des an Christus Glaubenden. Wer eines Seiner Schafe (geworden) ist, glaubt, hört und folgt dem Sohn Gottes:

…aber ihr glaubt nicht, denn ihr seid nicht von meinen Schafen, wie ich euch gesagt habe. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie gehen nicht verloren in Ewigkeit, und niemand wird sie aus meiner Hand rauben.

Johannes 10,26-28 (ELBCSV 2003)

Martin Luther hat es mit seinem ihm eigenen Duktus schön zusammengefasst:

Es reimen und schicken sich fein zusammen der Glaube und die guten Werke, […] aber der Glaube ist es allein, der den Segen ergreift, ohne die Werke, (der) doch nimmer und zu keiner Zeit allein ist.

Formula Concordia, Zweiter Teil, Solida Declaratio, Wiederholung und Erklärung etlicher Artikel Augsburgischer Konfession…, III. Von der Gerechtigkeit des Glaubens vor Gott, Nr. 41. (Orig. Luther: »Bene conveniunt et sunt connexa inseparabiliter fides et opera; sed sola fides est, quae apprehendit benedictionem sine operibus, et tamen nun quam est sola.«) Textquelle.

Weiterführende Literatur

John F. MacArthur hat die theologische Auseinandersetzung ausführlich in mehreren Büchern dargestellt. Am deutlichsten wird die „Lordship Salvation“-Debatte von ihm im Buch The Gospel According to the Apostles: The Role of Works in the Life of Faith niedergelegt (Thomas Nelson, 2005, 266 Seiten, ISBN 978-0785271802). Weitere Abhandlungen MacArthurs über das biblische Evangelium sind folgende: The Gospel According to Jesus: What Is Authentic Faith? (Zondervan, 2009; dt.: Lampen ohne Öl, 2. Aufl., CLV, 2012); The Gospel According to Paul: Embracing the Good News at the Heart of Paul’s Teachings (Thomas Nelson, 2018); The Gospel according to God: Rediscovering the Most Remarkable Chapter in the Old Testament (Crossway, 2018).

Der Verführung, das biblische Evangelium dem modernen Menschen zeitgeistmäßig schmackhaft(er) zu machen, trat MacArthur in seinem Buch Hard To Believe (Thomas Nelson, 2010) entgegen (dt.: Durch die enge Pforte: Wie moderne Evangelikale den schmalen Weg breit machen. 4. Aufl., Betanien, 2016).

Joel R. Beeke und Steven J. Lawson haben die Lehraussagen des Apostel Paulus (Röm 3,21–28) und des Jakobus (2,14–26) zur Rechtfertigung ebenfalls gründlich untersucht und in ihrem Buch Glaube und Werke sind kein Widerspruch – Paulus und Jakobus über die Lehre der Rechtfertigung dargelegt (Waldems-Esch: 3L-Verlag, 2021, ISBN 978-3-944799-18-6). Gliederung und Leseprobe auf der Verlagsseite. Original: Root & Fruit: Harmonizing Paul and James on Justification (Free Grace Press, 2020, ISBN 978-1952599019).


Was ist eigentlich „Calvinismus“? (II)

Eine nicht geringe Anzahl von Anti-Calvinisten vermittelt in ihren Statements, Vorträgen und Schriften den Eindruck, dass es beim sog. „Calvinismus” ausschließlich oder vor allem um die sog. „Fünf Punkte” gehe, mithin nur um ein Teilgebiet der Heilslehre (Soteriologie) einschließlich der Lehre des vom in die Sünde gefallenen Menschen (Hamartiologie).

Dies ist eine Falschaussage. Sie zeigt im besten Falle auf, wie wenig sich diese Kritiker mit der Materie und den Schriften und Lehren der von ihnen Kritisierten auseinander gesetzt haben. Im schlimmsten Fall haben wir es mit einer absichtlichen Irreführung trotz besseren Wissens zu tun. Das ist schwer zu entscheiden. Aber es ist traurig zu beobachten, dass deren Leser und Zuhörer meist noch geringere Kenntnisse der Materie haben und so den Mangel an Wahrheit und Richtigkeit nicht erkennen können und so verführt werden.

Lassen wir hier einmal Kenner der Materie sprechen:

»Calvinism cannot be limited to soteriology, but affects all church issues, especially worship and spirituality.«

»Calvinism is a worldview that shapes and informs one’s approach to all of life.«

»…Calvinism speaks to all spheres.«

»Calvinism resonates deeply with biblical truth; it speaks to every area of human life and thought.«

Michael A. G. Haykin, in: Joel R. Beeke: Living For God’s Glory – An Introduction to Calvinism (Reformation Trust, 2008), S. IX–X (Vorwort). Professor Haykin ist Professor of Church History and Biblical Spirituality und Director of The Andrew Fuller Center for Baptist Studies am Southern Baptist Theological Seminary in Louisville (KY), USA (Quelle: www.sbts.edu).

»Calvinism earnestly seeks to meet the purpose for which it were created, namely, to the glory of God.«

»Calvinism is so comprehensive that it is hard to get one’s mind and arms around it.« (citing D. Claire Davis)

»[Calvin’s] theological work was comprehensive and, as a result, it has significant ramifications for a host of areas of human life, society, and culture. He was intent on bringing every sphere of existence under the lordship of Christ, so that all of life might be lived to the glory of God.

That is why Calvinism cannot be explained simply by one major doctrine or in five points, or, if we had them, even ten points! Calvinism is as complex as life itself.«

Joel R. Beeke: Living For God’s Glory – An Introduction to Calvinism (Reformation Trust, 2008), S. XI–XII (Einleitung).


Vgl. auch den Artikel »Was ist eigentlich „Calvinismus“? (I)« auf dieser Website mit einem Zitat von Hendry H. Cole (1856).

Wie ist die Kenosis Jesu Christi zu verstehen?

Wie müssen wir die „Zu-nichts-machung” Jesu in Philipper 2,6 [ἀλλὰ ἑαυτὸν ἐκένωσεν] verstehen? Dort wird im Rahmen einer Ermahnung die vorbildliche Demutsgesinnung des Sohnes Gottes in Form einer „Erniedrigungsleiter” des Sohnes Gottes wie folgt beschrieben:

5 [Denn] diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christus Jesus [war], 6 der, da er in Gestalt Gottes war, es nicht für einen Raub achtete, Gott gleich zu sein, 7 sondern sich selbst zu nichts machte und Knechtsgestalt annahm, indem er in Gleichheit [der] Menschen geworden ist, und, in [seiner] Gestalt wie ein Mensch erfunden, 8 sich selbst erniedrigte, indem er gehorsam wurde bis zum Tod, ja, zum Tod am Kreuz.

Philipper 2,5-8 (ELB03); Fettdruck hinzugefügt.

Diese Zunichtsmachung des Sohnes Gottes wurde vielfach missverstanden und auch absichtlich missgedeutet, um irgendwelchen bibelfremden Vorstellungen besser zu genügen. Dabei wurde die biblische Lehre über Christus (Christologie) schon jahrhundertelang diskutiert und in klaren Bekenntnissen so umrissen und abgegrenzt, dass irrige Ansichten abgewiesen werden konnten und können. Leider sind diese Bekenntnisse nicht Gemeingut von Predigern, Bibellehrern und Glaubenden geblieben. Unter dem Profilierungsdruck, etwas Neues zu sagen oder entdeckt zu haben, und sich so einen Namen zu machen, werden verrückte Thesen aufgestellt und medial verbreitet. Das Internet trägt als Resonanzverstärker auch irrender (und irrer) Lehre zum Übel bei, zumal es in den asozialen Medien oft genug unbelehrte und unwissende Christen erreicht.

Einen sehr empfehlenswerten Beitrag zur Gesunderhaltung der Lehre über Christus hat Mike Riccardi verfasst. Die Zusammenfassung seines Beitrags zur Kenosis Christi ist unten abgedruckt, die zugehörige Referenz enthält einen Link zum Gesamtartikel:

»A tragic lack of familiarity with the historical development of classical Christology has resulted in the acceptance of unbiblical views of Christ’s self-emptying. The post-Enlightenment doctrine of Kenotic Theology continues to exert its influence on contemporary evangelical models of the kenosis, seen primarily in those who would have Christ’s deity circumscribed by His humanity during His earthly ministry. Keeping moored to the text of Scripture and to Chalcedonian orthodoxy combats this error and shows Christ’s kenosis to consist not in the shedding of His divine attributes or prerogatives but in the veiling of the rightful expression of His divine glory. The eternal Son emptied Himself not by the subtraction of divinity but by the addition of humanity, and, consistent with the Chalcedonian definition of the hypostatic union, the incarnate Son acts in and through both divine and human natures at all times. A biblical understanding of these things leads to several significant implications for the Christian life.«

Mike Riccardi, Veiled in Flesh The Godhead See: A Study of The Kenosis of Christ, in: MSJ 30/1 (Spring 2019) S. 103–127. Fettdruck hinzugefügt. Link zur Textquelle (PDF); Backup. (Mike Riccardi, M. Div., Th. M., cand. Ph. D., arbeitet an der theologischen Fakultät des The Master’s Seminary in Los Angeles, CA und bloggt auf The Cripplegate.)

John N. Darby und der 17. Artikel der Anglikanischen Kirche

Der anglo-irische Bibellehrer John N. Darby (1800–1882) war zweifellos einer der einflussreichsten Denker und Theologen der frühen „Brüderbewegung“ („Plymouth Brethren“). Er verbreitete sein Gedankengut durch extensives Schreiben und Reisen in aller Welt. Seine Liebe für das Wort Gottes führte dazu, dass er an mindestens drei Bibelübersetzungen aus den hebräischen und griechischen Grundtexten maßgeblich beteiligt war: der englischen Darby-Bibel, der französischen Pau-Bibel und der deutschen Elberfelder Bibel.

Darby gehörte der Church of Ireland an, wo er 1825 als Diakon und später als Priester ordiniert wurde. Hunderte von Römisch-katholischen Kirchengliedern verließen ihre Kirche, glaubten an das biblische Evangelium und schlossen sich der Church of Ireland an. Wenige Jahre später (um 1831) verließ Darby Dienst und dann Kirche, weil der anglikanische Erzbischof in Dublin verlangte, dass Neubekehrte Georg IV. als rechtmäßigem König Irlands die Treue zu schwören hätten.

Es gab also für Darby genügend Gründe, in große Distanz zur anglikanischen Kirche zu gehen. Aber er verwarf nicht aus sektiererischen Erwägungen heraus jene Lehren der Anglikanischen Kirche, die er gut in Gottes Wort gegründet sah. Dies wird deutlich in seinem Urteil über den Artikel XVII der 39 Glaubensartikel der Anglikanischen Kirche, der kritische Punkte der Heilslehre, nämlich die Vorherbestimmung und die Erwählung, behandelt. Er lautet:

»17. Von der Vorherbestimmung und Erwählung

Die Vorherbestimmung zum Leben ist der ewige Vorsatz Gottes, wodurch er (vor Grundlegung der Welt) nach seinem uns verborgenen Ratschluss fest beschlossen hat, diejenigen, welche er aus dem Menschengeschlecht in Christus erwählt hat, vom Fluch und der Verdammnis zu erretten und sie als Gefäße der Ehre durch Christus zur ewigen Seligkeit zu bringen. Darum werden diejenigen, welche mit solch einem herrlichen Vorzug Gottes beschenkt worden sind, durch seinen Geist, der zur rechten Zeit wirkt, nach Gottes Vorsatz berufen. Durch die Gnade gehorchen sie der Berufung. Sie werden aus freier Gnade gerechtfertigt. Sie werden als Söhne Gottes an Kindesstatt angenommen. Sie werden dem Bilde seines eingeborenen Sohnes Jesus Christus gleich gestaltet. Sie wandeln heilig in guten Werken und gelangen endlich durch Gottes Barmherzigkeit zur ewigen Seligkeit.

Die gottgemäße Beachtung der Vorherbestimmung und unsere Erwählung in Christus ist voll lieblichen, angenehmen und unaussprechlichen Trostes für gottesfürchtige Menschen und für diejenigen, die in sich die Kraft des Geistes Christi verspüren. Bei ihnen werden die Handlungen des Fleisches und ihre irdischen Glieder getötet und ihr Gemüt zu himmlischen und hohen Dingen emporgehoben. Teilweise festigt und stärkt dies sehr ihren Glauben an die ewige Seligkeit, der sie sich durch Christus erfreuen, teilweise entzündet dies heftig ihre Liebe zu Gott. Doch führt auf der andern Seite die dauernde Beachtung der Vorherbestimmungslehre neugierige, fleischliche und des Geistes Christi ermangelnde Menschen zu einem sehr gefährlicher Absturz. Durch diesen stößt sie dann der Teufel entweder in große Verzweifung oder in die nicht weniger große Gefahr eines höchst unmoralischen Lebens hinein.

Weiter müssen wir die göttlichen Verheißungen so annehmen, wie sie uns in der Heiligen Schrift im allgemeinen dargestellt sind; und in unseren Handlungen muß jener Wille Gottes befolgt werden, der uns ausdrücklich im Worte Gottes offenbart wurde

»PREDESTINATION to life is the everlasting purpose of God, whereby, before the foundations of the world were laid, He hath constantly decreed by His counsel secret to us, to deliver from curse and damnation those whom He hath chosen in Christ out of mankind, and to bring them by Christ to everlasting salvation as vessels made to honour. Wherefore they which be endued with so excellent a benefit of God be called according to God’s purpose by His Spirit working in due season; they through grace obey the calling; they be justified freely; they be made sons of God by adoption; they be made like the image of His only-begotten Son Jesus Christ; they walk religiously in good works; and at length by God’s mercy they attain to everlasting felicity.
As the godly consideration of Predestination and our Election in Christ is full of sweet, pleasant, and unspeakable comfort to godly persons and such as feeling in themselves the working of the Spirit of Christ, mortifying the works of the flesh and their earthly members and drawing up their mind to high and heavenly things, as well because it doth greatly establish and confirm their faith of eternal salvation to be enjoyed through Christ, as because it doth fervently kindle their love towards God: so for curious and carnal persons, lacking the Spirit of Christ, to have continually before their eyes the sentence of God’s Predestination is a most dangerous downfall, whereby the devil doth thrust them either into desperation or into wretchlessness of most unclean living no less perilous than desperation.
Furthermore, we must receive God’s promises in such wise as they be generally set forth in Holy Scripture; and in our doings that will of God is to be followed which we have expressly declared unto us in the word of God.«

Deutsche (übersetzte) Textquelle: http://www.rekd.de/index.php?id=10#9-18 [11.08.2020] Farb- und Fettdruck hinzugefügt. »Die ursprüngliche Version der 39 Artikel wurde in lateinischer Sprache verfaßt und 1563 vom englischen Unterhaus angenommen. Erst 1571 wurden dann endlich die 39 Artikel von Elisabeth I. [unter der England endgültig protestantisch geworden war] als verbindlich in englischer Sprache für die Gesamtkirche eingeführt. … Die 39 „Artikel der Religion“ von 1562 sind das bis heute gültige offizielle Lehrbekenntnis der Kirche von England.«

Darby bezeugte bereits 1831 seine völlige Übereinstimmung mit den Inhalten des 17. Artikels in einem Pamphlet, das in Oxford herausgegeben wurde. In seinen Writings kann man lesen:

For my own part, I soberly think Article XVII. to be as wise, perhaps I might say the wisest and best condensed human statement of the views it contains that I am acquainted with. I am fully content to take it in its literal and grammatical sense.

I believe that predestination to life is the eternal purpose of God, by which, before the foundations of the world were laid, He firmly decreed, by His counsel secret to us, to deliver from curse and damnation those whom He hath chosen in Christ out of the human race, and to bring them, through Christ, as vessels made to honor, to eternal salvation. I believe therefore that those who are endued with so excellent a gift of God, are called according to His purpose working in due time; that they obey the calling through grace; that they are freely justified; that they are adopted to be children of God; that they are made conformed to the image of His only begotten Son Jesus Christ; that they do walk holily in good works; and that at length, through the mercy of God, they do attain to everlasting felicity.

John N. Darby, The Collected Writings, Bd. 3: Doctrinal, Vol. 1, (London: G. Morrish), S. 4–5. Fettdruck hinzugefügt, kursiv im Original.

Manche deuten diese Zustimmung seiner zeitlichen Nähe zum Dienst in der Anglikanischen Kirche geschuldet und insofern als unreif. Dem ist aber nachweislich nicht so, denn er schreibt fast 50 Jahre später und nahe dem Ende seines Lebens in zwei Briefen des Jahres 1880:

As to Article XVII., I quite admit that God’s predestination is secret to us, but the seventeenth Article is not: it is very plain, and I think very good. …
the seventeenth Article … is really a very wise statement as I remember it …

John N. Darby, Letters, Vol. 3 (1879–1882), Nachdr., Kingston-on-Thames: Stow Hill Bible and Tract Depot, o. J., S. 70, 71. Erster Brief vom 23.03.1880, zweiter an den selben Empfänger mit 1880 datiert. Fettdruck hinzugefügt.

Die spätere Entwicklung der Soteriologie großer Teile der „Plymouth Brethren“ zu eher arminianischem Denken ist, wie Stevenson in seiner Dissertation gründlich untersucht und ausführlich belegt hat, ein Verlassen der eigenen theologischen Wurzeln. Mit Anleihe bei Charles H. Spurgeon könnte man analog von einem „Downgrade“ sprechen. Die Gottzentriertheit des biblischen Evangeliums wurde und wird zeitgeistig beeinflusst immer mehr von der egozentrischen Denkweise verdrängt. Dies ist besonders in den „offenen“ Splittergruppen der „Brüderbewegung“ und bei Evangelisten der Bewegung zu beobachten. Der amerikanische Pragmatismus und Glaube an das Menschenmögliche fügt diesem Trend hier und da mit seiner Methodengläubigkeit besondere Duftnoten bei.

Weitere Literatur über und von John N. Darby

  • John Nelson Darby schrieb am 17.04.1872 in einem Brief aus Paris etwas ausführlicher über den „freien Willen“ des Menschen, siehe: Collected Writings of John Nelson Darby, Letters Bd. II, S. 164 ff.; verdeutscht hier.
  • Weremchuk, Max S.: John Nelson Darby. Loizeaux Brothers, 1993. (ISBN 978-0872139237)
  • Kelly, William: John Nelson Darby – as I Knew Him. Belfast, Northern Ireland: Words of Truth)
  • Cross, Edwin N.: Unknown and Well Known: A Biography of John Nelson Darby. London: Chapter Two, 2006. (ISBN 978-1853072307) – Eine Überarbeitung und Erweiterung des gleichnamigen Buches von W. G. Turner.
  • Internet Archive mit Titeln Darbys.
  • University of Manchester Special Collections (ELGAR) mit Papers of John Nelson Darby (1,85 Regalmeter).
  • Collected Writings of John Nelson Darby, 34 Bd., Hrsg. William Kelly, Dublin: G. Morrish, 1879–1883; sowie: Notes and Comments on Scripture (7 Bd.), Letters (3 Bd.), Notes and Jottings (1 Bd.), Spiritual Songs (1 Bd.), Full Indexes (1 Bd.) und Synopsis of the Books of the Bible (5 Bd.)
  • Mark R. Stevenson: The Doctrines of Grace in an Unexpected Place. Calvinistic Soteriology in Nineteenth-Century Brethren Thought. Eugene, OR: Wipf and Stock, 2007 (ISBN 978-1-4982-8111-9). Deutsch: Mark R. Stevenson: Die Brüder und die Lehren der Gnade. Wie stand die Brüderbewegung des 19. Jahrhunderts zur calvinistischen Heilslehre? Bielefeld: CLV, 2019.

John Caldwell über das »Auf dass jeder…« (Joh 3,16)

Ein Leser der Zeitschrift The Witness stellte dem Herausgeber John Caldwell (1839–1917) folgende Frage:

»Hat Gott verordnet, dass einige gerettet werden und andere verloren gehen, wenn Er doch in Seinem Wort so klar gesagt hat: Wer auch immer an mich glaubt, hat ewiges Leben“?« (»Has God ordained some to be saved and some to be lost, when He has so clearly said in His Word [Joh 3:16], whosoever believeth in Me hath everlasting life”? «)

Caldwell veröffentlichte einige auf diese Frage eingesandte Antworten und fügte dann in Übereinstimmung mit diesen selbst hinzu:

»Scripture [demonstrates] that God has ordained some to eternal life. Their names have been in the book of life “from the foundation of the world” (Rev 17:8, 13:8). They are chosen in Christ “before the foundation of the world” (Eph 1:4).
But we fail to find any such predestination of individuals to destruction. Certain scriptures may be adduced as apparently giving countenance to such a doctrine, but rightly understood they teach nothing of the kind.
It is evident that not only are all men lost, dead in sins by nature, but also that every man’s “free will” would decide for sin and against God. “The carnal mind is enmity against God.” The “free will” that is directed by such a mind and motive must be directed against God, against Christ, against the truth, against even the Gospel, seeing the Gospel reveals the righteousness of God as well as the grace of God, and can only be received by such as become subject to that righteousness (Rom 10:3) and confess themselves guilty before God (Rom 3:19).
In such a scene, where there is “none that understandeth”, “none that seeketh after God”, what does God do? He retires into His own sovereignty, and looking from that infinite majesty upon a world in which all were guilty, lost sinners, He says in His heart, “I will have mercy upon whom I will have mercy; and I will have compassion on whom I will have compassion” (Rom 9:15).
What about the rest? They are “endured with much long-suffering” (Rom 9:22). They are invited (Lk 14:17), they are besought (2Cor 5:20), they are commanded (Rom 16:26) to believe the Gospel, to accept salvation, to receive Christ, and in Him pardon and life. If, after all, they reject the gift of love, the responsibility is with them. God has abundantly proved that the obstacle lies not with Him, or in any doctrine of reprobation, but in the rebel will of man.
But … we must ever bear in mind that the Christian’s true place is that of the “little child”. Many problems there are that we are not, in our present infant state, capable of comprehending. It is ours to believe what God has said, whether we can reconcile the apparent discrepancies or not. Faith can rest in the assurance that God can and will cause to harmonize all apparent discrepancies and paradoxes in His own time. Many things that we know not, and cannot know now, we shall know hereafter.«

John R. Caldwell, The Witness, Oktober 1888, S. 159–160. Fettdruck hinzugefügt. Anmerkung: Mit equal ultimacy“ wird das präziser beschrieben, was viele missverständlich (und oft missverstanden!) mit Doppelte Prädestination“ bezeichnen.

Theologische Einordnung

Caldwell vertrat eine gemäßigte calvinistische“ Sicht (moderated Calvinistic view) auf die Reichweite des Werkes Christi, wie wir sie auch bei den führenden Theologen der frühen Plymouth Brethren (englische Brüderbewegung“), wie John N. Darby (1800–1882) und William Kelly (1882–1906), finden: universelle Sühnung und persönliche Stellvertretung (universal propitiation und particular substitution). Diese Sicht lässt sich nicht in die weitverbreitet vorherrschende Dichotomie von unlimited vs. limited atonement pressen. (Literatur: Mark R. Stevenson, Die Brüder und die Lehren der Gnade. Wie stand die Brüderbewegung des 19. Jahrhunderts zur calvinistischen Heilslehre? Bielefeld: CLV, 2019.)

Diese Sicht der frühen Brüderbewegung“ auf das Erlösungs- und Sühnungswerk Christi liegt zwischen der Ansicht des Moses Amyraut (1596–1664), die analytisch (amyrautscher) hypothetischer Universalismus“, nach dem Erfinder Amyraultismus“ (meist nur engl. Amyraldism) oder einfach vulgo 4-Punkt-Calvinismus“ genannt wird, und der Sicht des strikten Partikularismus“ oder vulgo 5-Punkt-Calvinismus“, bei der nicht nur die Wirksamkeit, sondern auch die Intention des Erlösung-/Sühnungswerkes Christi als strikt auf die Erwählten begrenzt gesehen wird, also auf jene, die ihm der Vater gegeben hat“ (vgl. Joh 6 und 17).

Manche bezeichnen diese Zwischenposition, die neben J. N. Darby und Wm. Kelly auch Caldwell einnahm, zur Unterscheidung als calvinistischer Universalismus“. Es ist der Glaube, dass Christus in einem gewissen Sinn für alle Personen ohne Ausnahme gestorben sei (meist im Aspekt der gottgewandten Sühnung), dass sein Tod jedoch nur für jene und alle jene rettend wirksam sei, welche von Gott zur Rettung zuvorbestimmt (prädestiniert) wurden (rechtlich möglich aufgrund der persönlichen Stellvertretung, wirksam durch den Ruf und die Wiedergeburt durch den Heiligen Geist) und daher alles Heilsnotwendige (aus Gnade) frei geschenkt bekommen, inklusive Buße, Glauben und Neues Leben. Das Opfergeschehen am Großen Sühnungstag“ (Yom Hakippurim; Leviticus 16) dient hier mit seinen beiden Ziegenböcken als Typus –und insofern als Erklärung– dieser beiden Aspekte des Opfers Jesu am Kreuz. (Literatur: http://plymouthbrethren.org/series/6172)

Der sog. englische hypothetische Universalismus“, für den John Preston, John Davenant und James Ussher stehen, lehrt, dass Gott ineffektiv (nicht zwingend wirksam) verordnet, dass alle Menschen gerettet werden. Weil Gott aber wusste, dass nicht alle Menschen glauben werden, verordnet er in einem zweiten Beschluss, alle jene effektiv (voll wirksam) zu retten, die er zur Rettung zuvorbestimmt (prädestiniert) hat. [http://calvinandcalvinism.com/?p=284]

Der sog. amyrautsche hypothetische Universalismus“, für den John Cameron und Moses Amyraut stehen, lehrt, dass Gott zuerst beschlossen habe, allgemein Errettung durch Christus zu ermöglichen (bereitzustellen), und dann diesem Beschluss folgend weiter beschlossen habe, einige zum Heil zu erwählen. Dies war eine Umkehrung der infralapsarischen Ordnung der Beschlüsse Gottes vor aller Zeit, wie sie von vielen als biblisch geglaubt wurde: dass Gott zuerst beschlossen habe, einige zu retten und darauf (logisch) folgend dann die Rettung beschloss. Spannend war diese Umkehr im amyrautschen Verständnis, weil sie oberflächlich gesehen jener Ordnung entsprach, die Jakob Arminius und seine Nachfolger (Arminianer“) vertraten. Bei Amyraut war das Verständnis aber so, dass der Beschluss Gottes in zwei Phasen unterteilt war (s. o.) und beide sich auf die Errettung einiger bezogen.

Über den Autor

John R. Caldwell (1839–1917) stammt aus Dublin. Er war erfolgreicher Unternehmer (Caldwell, Young and Co., Silk Manufacturers) und fleißiger Verkündiger der biblischen Botschaft. Kirchlich lebte er in stürmischen Zeiten, in der die liberale Theologie Eingang fand in ehemals biblisch gegründete Gemeinden. Dies zwang ihn zu manchem Protest und Wechsel (u. a. Independent Church, Scottish Baptists, Brüderbewegung“). Er war von 1876 bis 1914 Editor der Zeitschrift The Witness, die vor allem in der sog. Brüderbewegung“ gelesen wurde. Er verwendete diese Zeitschrift zur Verkündigung der Grundlagen des biblischen christlichen Glaubens.

Calvin über die Anmaßung, Gottes freien Willen beurteilen zu wollen

»Now no one doubts, that humility lies at the bottom of all true religion, and is the mother of all virtues. But how shall he be humble, who will not hear of the original sin and misery from which he has been delivered? and who, by extending the saving mercy of God to all, without difference, lessens, as much as in him lies, the glory of that mercy? Those, most certainly, are the farthest from glorifying the grace of God, according to its greatness, who declare, that it is, indeed, common to all men; but that it rests effectually in them, because they have embraced it by faith.

The cause of faith itself, however, they would keep buried, all the time, out of sight; which is this;—that the children of God, who are chosen to be sons, are afterwards blessed with the spirit of adoption. Now, what kind of gratitude is that, in me, if, being endowed with so pre-eminent a benefit, I consider myself no greater a debtor than he, who hath not received one-hundredth part of it. Wherefore, if, to praise the goodness of God worthily, it is necessary to bear in mind, how much we are indebted to Him; those are malignant towards Him, and rob Him of his glory, who reject, and will not endure, the doctrine of eternal election: which being buried out of sight, one-half of the grace of God must, of necessity, vanish with it.

Let those roar at us who will. We will ever brighten forth, with all our power of language, the doctrine which we hold concerning the free election of God; seeing that it is only by it, that the faithful can understand how great that goodness of God is, which effectually called them to salvation. I merely give the great doctrine of election a slight touch here, lest any one, by avoiding a subject so necessary for him to know, should afterwards feel what loss his neglect has caused him. I will, by and by, in its proper place, enter into the divine matter with appropriate fulness. Now if we are not really ashamed of the Gospel, we must, of necessity, acknowledge, what is therein openly declared;—that God, by his eternal good-will (for which there was no other cause than his own purpose), appointed those whom He pleased unto salvation, rejecting all the rest; and that those whom He blessed with this free adoption to be his sons, He illumines by his Holy Spirit, that they may receive the life which is offered to them in Christ; while others, continuing, of their own will, in unbelief, are left destitute of the light of faith, in total darkness.

Against this unsearchable judgment of God many insolent dogs rise up and bark. Some of them, indeed, hesitate not to attack God openly: asking why, foreseeing the fall of Adam, He did not better order the affairs of men? To curb such spirits as these, no better means need be sought than those which Paul sets before us. He supposes this question to be put by an ungodly person:—How can God be just, in showing mercy to whom He will, and hardening whom He will? Such audacity in men the apostle considers unworthy a reply. He does nothing but remind them of their order and position in God’s creation. “Who art thou, O man, that repliest against God?” (Rom. 9:20.) Profane men, indeed, vainly babble, that the apostle covered the absurdity of the matter with silence, for want of an answer. But the case is far otherwise.

The apostle, in this appeal, adopts an axiom, or universal acknowledgment: which not only ought to be held fast by all godly minds, but deeply engraven in the breast of common sense:—that the inscrutable judgment of God is deeper than can be penetrated by man. And what man, I pray you, would not be ashamed to compress all the causes of the works of God within the confined measure of his individual intellect? Yet, on this hinge turns the whole question.—Is there no justice of God, but that which is conceived of by us? Now if we should throw this into the form of one question,—whether it be lawful to measure the power of God by our natural sense,—there is not a man who would not immediately reply, that all the senses of all men combined in one individual must faint under an attempt to comprehend the immeasurable power of God: and yet, as soon as a reason cannot immediately be seen for certain works of God, men, somehow or other, are immediately prepared to appoint a day for entering into judgment with Him. What therefore can be more opportune or appropriate than the apostle’s appeal?—that those, who would thus raise themselves above the heavens in their reasonings, utterly forget who and what they are?«

Quelle:  Calvin, John ; Cole, Hendry H.: Calvin’s Calvinism: A Treatise on the Eternal Predestination of God. London : Wertheim and Macintosh, 1856.

Von der Vermessenheit, Gott rechtfertigen zu wollen

»Der alte Drang der Vernunft, Maß aller Dinge zu sein, erhebt auch in unserem Theologisieren das Haupt. Gott soll sich selbst und sein Tun an unseren Normen ausweisen, soll sich vor unserem Forum rechtfertigen. Die Vernunft weiß, was gerecht ist, und Gott hat sich, will er sich nicht selbst disqualifizieren, nach diesem Kriterium (=Merkmal, Kennzeichen) zu richten. …

Der „gesunde Menschenverstand“ will Gott messen; wenn das nicht vermessen ist!
Gerät die Vernunft ins Theologisieren, wird sie „fromm“, so will sie (statt Gott anzugreifen) Gott verteidigen, gebärden sich als sein Advokat: Nein, sagt sie, nicht Gott ist Schuld; nicht an ihm liegt es, sondern am Menschen. Herr X hätte glauben sollen, aber er hat eben nicht „das Seine“ getan. So unternimmt es die Vernunft, „Gott zu entschuldigen und den freien Willen zu beschuldigen“ (LD 271/Mü 135). Sie will Gottes Handeln einsichtig und plausibel machen. Wem? Sich selbst, der Vernunft! Sie will nachweisen, wie „vernünftig“, „human“, „gerecht“ Gott doch handelt, will ihn nicht nur freisprechen, sondern ihm ein „Verdienstkreuz“ verleihen. Dabei merkt die verblendete Vernunft nicht, dass eine Verteidigung Gottes nicht weniger überheblich, ja gotteslästerlich ist, wie ein Angriff auf seine Ehre!

„Dahin kommt es, wenn wir mit menschlicher Vernunft Gott messen und rechtfertigen wollen, wenn wir die Geheimnisse der Majestät nicht ehrfürchtig verehren, sondern forschend in sie eindringen, dass wir, von Scheinruhm erdrückt, statt einer Entschuldigung tausend Gotteslästerungen von uns geben“ (LD 272f/Mü 137).

Freilich meint sie es gut, die Vernunft. Aber mit wem? Mit sich selbst! Sie merkt in ihrer Verblendung nicht, dass es ihr nur scheinbar um Gott geht, in Wahrheit aber um die Selbstbehauptung, um ihr eigenes Überleben. Denn das gäbe der Vernunft den Todesstoß, wenn sie vor der Souveränität (=Herrschaftsgewalt, Unabhängigkeit, Überlegenheit) Gottes ihre Waffen strecken müsste, gerade auch ihre scheinfrommen Verteidigungswaffen! Wenn sie sich so beugen müsste, dass sie alle ihre Normen und Ansprüche aus der Hand legte und Gott wahrhaft Gott sein ließe: Herr Gott, was „gerecht“, was „gut“ ist, das weißt und bestimmst du allein. Was du tust, das ist heilig, gerecht und gut! Nicht, weil ich es einsehen könnte, weil es mir plausibel wäre, sondern weil du GOTT bist („Glaube und Geist urteilen… dass Gott gut sei, und wenn er auch alle Menschen verdürbe“, LD 274/Mü 132).

Gerade bei der Erwählungsfrage geht es um die entscheidende Probe: Wollen wir recht bekommen in und bei Gott? Oder soll Gott endlich bei uns zu seinem Recht kommen? Können wir uns ganz Gott ausliefern, uns Gott ganz anheim geben – auf Gedeih und Verderb? Wenn Gnade wirklich Gnade ist, dann ist sie völlig frei und souverän, kann weder ergründet, noch auf irgend eine Weise gefordert werden. Einen Anspruch auf Gnade kann es nicht geben, das wäre reiner Widersinn! Ist Gnade reines, unvorhersehbares, ja undenkbares Wunder, dann kann es ihr gegenüber weder moralische („Verdienst“) noch intellektuelle („Vernunft“) Forderungen geben. Gerade an der Erwählungsfrage kommt es heraus, ob die Vernunft sich unter das Kreuz Christi beugt, ihr Todesurteil (Kreuz) auf sich nimmt, bedingungslos kapituliert und spricht: „Wir können’s (wollen’s) nicht ergründen, wir können (wollen) nur vertrauen.“ Da ist die Wiedergeburt geschehen: Da ist die Vernunft vom „Baum der Erkenntnis“ hin zum Kreuzesstamm geführt worden. Da gehen ihr die Augen auf:

„Es ist nicht unsere Aufgabe, das (die Geheimnisse der göttlichen Majestät) wissen zu wollen, sondern vielmehr, diese Geheimnisse anzubeten.“ Glauben heißt für Luther Deum justificare: Gott recht geben, nur ihm, ihm ganz und gar

Erwähnte Referenzen: LD = Luther deutsch (10 Bd., hg. von Kurt Aland 1957–1974); Mü = Münchener Lutherausgabe (6 Bd. plus 7 Ergänz.bd., 1948–1965).

Quelle: Siegfried Kettling: Was kann der menschliche Wille leisten? (Ennepetal: Mission zur Verbreitung des Wortes Gottes, 2013), S. 49–52. Textquelle: https://info2.sermon-online.com/german/SiegfriedKettling/Vom_Unfreien_Wille.pdf [abgerufen am 20.07.2020; Fett-, Farb- und Kursivdruck hinzugefügt]

Das o. g. Buch von Siegfried Kettling ist eine redaktionell gekürzte Ausgabe des dritten Kapitels Vom unfreien Willen des Buches Typisch evangelisch – Grundbegriffe des Glaubens vom gleichen Autor (TVG Brunnen/Brockhaus, 1992).