Spurgeon über das Miteinander der Wahrheiten von Gottes Vorherbestimmung und von des Menschen Freiheit

Charles Haddon Spurgeon (1834 – 1892) war kein Wankelmütiger oder Flüsterer, wenn es um die Verkündigung der biblischen Wahrheit ging. Tausende hörten ihm zu und Gott gebrauchte seine Predigt des Evangeliums, um unzählige Sünder zur Umkehr und zum Glauben zu rufen.

Natürlich erlebte Spurgeon auch die alte Kontroverse zwischen den falschen Heilslehren, wie sie sich in seinen Tagen darstellte. Er war selbst oft genug Ziel von Angriffen von „Arminianern“ wie „Hyper-Calvinisten“ sowie anderer Falschlehrer und Fehlgeleiteter. Für ihn war es jedoch eine Gewissenssache, also eine Sache direkt zwischen ihm und Gott, dass er das Evangelium Gottes ganz und gar so verkündigte, wie es die Offenbarung Gottes in der Heiligen Schrift ausreichend, irrtumsfrei und autoritativ definiert. In einer Zeit, von er er klagte: »Manche Leute haben zwanzig verschiedene Heilsbotschaften („Gospels“) in ebenso vielen Jahren empfangen«, ging es ihm um die eine, »die alte Wahrheit«:

»Die alte Wahrheit, die Calvin predigte, die Augustinus predigte, die Paulus predigte, ist die Wahrheit, die ich heute predigen muss, wenn ich nicht treulos gegen mein Gewissen und gegen Gott handeln soll. Ich kann mir die Wahrheit nicht hinbiegen; ich habe auch noch nie davon gehört, dass mir erlaubt sei, die rauhen Kanten einer Wahrheit abzuschleifen. Das Evangelium von John Knox ist auch mein Evangelium. Der Donnerhall, der einst ganz Schottland erfüllte, muss auch in England wieder gehört werden.«

Schmuckzitat im Kapitelkopf von: Charles H. Spurgeon, A Defense of Calvinism, in: Charles H. Spurgeon, The autobiography of Charles H. Spurgeon, Bd. 1, S. 167–178, Kap. XVI.

In seiner „Verteidigung des Calvinismus“ spricht Spurgeon nicht die Summe dessen an, was Calvin je gelehrt und vertreten hat, sondern was man damals unter dieser Bezeichnung verstand: die Heilslehre (Sühnung, Erlösung usw.), wie sie die reformierten Glaubenden bekannten und glaubten.

Ein Hauptpunkt der Streitigkeiten zwischen den Jahrhunderte alten Parteien der „Arminianer“ und der „Calvinisten“ ist das Verständnis davon, wie sich die Souveränität Gottes in der Vorherbestimmung (Prädestination) und die Verantwortung des Menschen für seine freien Entscheidungen, Worte und Taten in der Heilsfrage darstellen, ob und ggf. wie diese „sich vertragen“ oder ob hier vielmehr ein unlösbarer Widerspruch vorliege. Spurgeon beantwortet diese Frage mit klaren Worten:

»Das System der Wahrheit (»system of truth«), das in der Heiligen Schrift offenbart wurde, entspricht nicht einer einzigen Geraden, sondern zwei solcher Linien gleichzeitig. Zum Beispiel lese ich in einem Buch der Bibel: „Und der Geist und die Braut sagen: Komm! Und wer es hört, spreche: Komm! Und wen dürstet, der komme; wer will, nehme das Wasser des Lebens umsonst.“ [Offenbarung 22,17]. Trotzdem werde ich in einem anderen Teil des selben inspirierten Wortes belehrt, dass „es nun nicht an dem Wollenden noch an dem Laufenden, sondern an dem begnadigenden Gott [liegt]“ (Römer 9,16). Ich sehe an der einen Stelle, dass Gott in seiner Vorsehung über allem thront, und trotzdem sehe ich an anderer Stelle unausweichlich, dass der Mensch so handelt, wie es ihm gefällt, und dass Gott des Menschen Handlungen in großem Maß dessen freien Willen überlassen hat.

Wenn ich nun behaupten würde, dass der Mensch in seinem Handeln so frei sei, dass Gott die Handlungen des Menschen nicht im Griff hätte, dann wäre ich gefährlich nahe an den Atheismus abgedriftet. Wenn ich andererseits behaupten würde, dass Gott alle Dinge so beherrsche, dass kein Mensch mehr so frei sei, um für sein Tun verantwortlich zu sein, dann befände ich mich sogleich im Antinomianismus [dem Glauben, dass der Christ überhaupt kein moralisches Gebot zu beachten habe] oder im Fatalismus [dem Glauben, alles sei unvermeidlich und schicksalshaft durch ein universelles, unpersönliches Prinzip vorherbestimmt].

Ich kann beide Tatsachen: 1. dass Gott zuvorbestimmt (prädestiniert), und 2. dass der Mensch trotzdem verantwortlich ist, sehr klar erkennen. Manche glauben, dass diese Tatsachen inkonsistent und einander widersprüchlich seien. Wenn ich jedoch in einem Teil der Bibel sehe, dass alles vorherbestimmt ist, dann ist dies die Wahrheit. Und wenn ich in einem anderen Teil der Schrift sehe, dass der Mensch für alle seine Taten verantwortlich ist, dann ist das ebenfalls die Wahrheit. Es ist alleine meine Torheit, die mir erlaubt vorzustellen, dass diese beiden Wahrheiten der Schrift je einander widersprechen könnten. Ich glaube zwar nicht, dass diese beiden Wahrheiten auf irgendeinem irdischen Amboss in eins geformt werden könnten, aber sie werden sicherlich in der Ewigkeit eins sein. Diese beiden Linien sind zwar eng, aber so parallel, dass der menschliche Geist ihnen soweit ihm möglich nachspüren kann, ohne je zu entdecken, dass sie zusammenlaufen. Aber sie laufen sicher zusammen, und sie werden sich irgendwo in der Ewigkeit verbinden, nahe am Thron Gottes, aus dem alle Wahrheit entspringt.«

Charles H. Spurgeon, A Defense of Calvinism, in: Charles H. Spurgeon, The autobiography of Charles H. Spurgeon, Bd. 1, S. 167–178, Kap. XVI (Kapitelkopf). Ebenso: Charles H. Spurgeon, A Defense of Calvinism, (Banner of Truth, Nachdruck 2008). Fett- und Farbdruck hinzugefügt.
[http://www.romans45.org/spurgeon/calvinis.htm oder: https://www.princeofpreachers.org/spurgeon-sermons/a-defense-of-calvinism; 11JUL2020]

Vertiefende Literatur

  • Donald A. Carson, Divine Sovereignty and Human Responsibility: Biblical Themes in Tension (Atlanta: John Knox, 1981). Dies ist eine revidierte und vereinfachte Form seiner Dissertation, Predestination and Responsibility: Elements of Tension-Theology in the Fourth Gospel Against Jewish Background (Cambridge, 1975).
  • Wolfgang Nestvogel, Erwählung und/oder Bekehrung? – Das Profil der evangelistischen Predigt und der Testfall Martyn Lloyd-Jones (Dissertation an der Theologischen Fakultät der Uni Erlangen/Nürnberg; auch: Shaker Verlag, 2001), 600 Seiten.

Charles H. Spurgeon – Prediger der biblischen »Lehren der Gnade«

Charles Haddon Spurgeon (1834 – 1892) war einer der größten Prediger der letzten Jahrhunderte. Der Spurgeon-Biograph Lewis Drummond nannte ihn den größten Prediger, den»Fürsten unter den Predigern« (»Spurgeon: Prince of Preachers«; Kregel Publ., 1992). Viele wurden von seinen Predigten angezogen, das Metropolitan Tabernacle in London war regelmäßig mit 5.000–6.000 Zuhörern gefüllt.

Steven Lawson fasst die enorme Breite und Tiefe des Wirkens Spurgeons in Wort und Schrift wie folgt zusammen:

»Schon im Jahr 1863 waren von Spurgeons Predigten mehr als 8 Millionen Kopien verkauft worden. Bei seinem Heimgang im Jahr 1892 waren es schon 50 Millionen. Am Ende des 19. Jahrhunderts waren mehr als 100 Millionen Predigten in 23 Sprachen verkauft worden, eine Anzahl, die kein Prediger vorher oder nachher je erreicht hat.

Heute hat diese Zahl die 300 Millionen überschritten. Ein Jahrhundert nach seinem Tod liegen mehr gedruckte Werke von Spurgeon vor, als von jedem anderen englischsprachigen Autor. Spurgeon ist historisch gesehen der am häufigsten gelesene Prediger.«

Steven Lawson, The Gospel Focus of Charles Spurgeon, (Reformation Trust Publishing), S. 17.

Die unglaubliche Reichweite der Predigten Spurgeons wurde nicht durch das Verklickern eines seichten Evangeliums erreicht. Ganz im Gegenteil: man wird von der theologischen Reichhaltigkeit der Predigten Spurgeons beeindruckt. Er verschwendete seine Zeit nie mit netten, ohrenschmeichelnden Allgemeinplätzen und ging beim Predigen den schwierigeren Lehren der Heiligen Schrift nie aus dem Weg. Spurgeon ist ein Vorbild für alle, die Gottes Wort anschaulich, klar und reichhaltig verkündigen wollen.

Der Zeitgeist der »Evangelikalen« heute führt viele ins Erstaunen darüber, dass ein so begabter Evangelist wie Spurgeon in seinen Predigten immer wieder sehr begeistert jenen Schatz der Reformation verkündigte, den wir heute die »Lehren der Gnade« nennen. Seine Predigten und Schriften sind gesättigt mit den biblischen Wahrheiten, die heute einige auf »Die 5 Punkte des Calvinismus« reduzieren wollen.

Interior View of the Metropolitan Tabernacle

Bereits bald nach Eröffnung des riesigen Metropolitan Tabernacle in London Mitte März 1861 veranstaltete Spurgeon am 11. April 1861 eine Bibelkonferenz zum Thema »Die Lehren der Gnade« (»Exposition of the Doctrines of Grace«). Seiner Einleitung schlossen sich dann fünf andere Prediger an, die über jeden der sog. »Fünf Punkte« sprachen: Erwählung, menschliche Verdorbenheit, besondere Erlösung, wirksame Berufung und Ausharren der Glaubenden in Christus Jesus bis ans Ende. [1]

In seiner Autobiographie schrieb Spurgeon ausführlich über seinen festen Glauben an die biblischen »Lehren der Gnade«:

»Die alte Wahrheit, die Calvin gepredigt hat, die Wahrheit, die Augustin gepredigt hat, sie ist auch die Wahrheit, die ich heute predigen muss, sonst wäre ich unaufrichtig gegenüber meinem Gewissen und gegenüber Gott. Ich darf die Wahrheit nicht selbst gestalten; es ist mir fremd, die rauhen Kanten einer biblischen Lehre abzuschleifen. Ich habe das gleiche Evangelium, wie John Knox. Das, was durch Schottland gerauscht ist, muss auch wieder durch England rauschen.« …

»Es gibt niemand, der mehr an den Lehren der Gnade festhält, als ich. Wenn mich jemand fragte, ob ich mich schäme, ein Calvinist genannt zu werden, dann würde ich antworten: Ich möchte nichts anderes heißen, als Christ. Aber wenn du fragst, ob ich die lehrmäßigen Anschauungen von Johannes Calvin für richtig halte, dann antworte ich, dass ich sie im großen und ganzen für richtig halte. Ich bekenne dies gerne. Aber es liegt mir fern zu denken, dass Zion nur calvinistische Christen enthält, oder dass niemand gerettet würde, der nicht an diese Lehren glaubt.«

Charles H. Spurgeon, A Defense of Calvinism, in: Charles H. Spurgeon, The autobiography of Charles H. Spurgeon, Bd. 1, S. 167–178, Kap. XVI. Farbdruck hinzugefügt.

Spurgeon liefert eine sehr wichtige Klarstellung mit Blick auf den Spitznamen (heute: Schimpfnamen, Pejorativum) »Calvinist«. Er kommentierte bezüglich dieser Bezeichnung:

Jene Lehre, die nun »Calvinismus« genannt wird, entsprang nicht von Calvin. Wir glauben, dass sie von dem großen Begründer aller Wahrheit entsprang. … Wir verwenden diesen Ausdruck also nicht, weil wir der Tatsache, dass Calvin diese Lehren gelehrt hat, eine außerordentliche Bedeutung zurechnen würden. Wir wären in der Tat genauso bereit, diese Lehren mit einem anderen Namen zu bezeichnen, wenn wir denn einen solchen finden könnten, der besser verstanden werden würde und welcher insgesamt genauso mit den Tatsachen übereinstimmen würde.

Charles H. Spurgeon, Exposition of the Doctrines of Grace, (April 11, 1861) [https://www.spurgeon.org/resource-library/sermons/exposition-of-the-doctrines-of-grace/#flipbook/ abgerufen: 11JUL2020] Fettdruck hinzugefügt.

Spurgeon nannte sich also nicht »Calvinist«, weil er Johannes Calvin besonders verehrte, sondern weil er glaubte, dass die »Lehren der Gnade« direkt aus den Seiten der Heiligen Schrift stammen. Für ihn war der Begriff »Calvinismus« einfach ein Kürzel für »Evangelium Jesu Christi«. Er sah die »Lehren der Gnade« klar als biblische Lehren an und lehrte sie daher auch furchtlos von seiner Kanzel aus. Er sagte:

»Mir steigt keinesfalls die Schamesröte ins Gesicht, wenn ich euch heute die Lehre von der Souveränität Gottes predige. Was die Lehre der Auserwählung angeht, so werde nicht herumeiern, sondern sie so uneingeschränkt und offen wie möglich predigen. Ich werde keine Angst davor haben, die große Wahrheit des Ausharren der Heiligen darzulegen. Ich werde die unzweifelhafte Wahrheit der Schrift über die wirksame Berufung der Erwählten Gottes nicht zurückhalten. Ich werde mich nach Kräften und mit Gott Hilfe bemühen, vor euch, die ihr meine Herde geworden seid, nichts davon zurückzuhalten. Ich sehe ja, dass die meisten von euch inzwischen ›geschmeckt haben, dass der HErr gütig ist‹ [Psalm 34,8], und daher werde ich mir jetzt die Mühe machen, durch das gesamte System der ›Lehren der Gnade‹ zu gehen, damit die Heiligen erbaut und gefestigt werden in ihrem allerheiligsten Glauben.« [Judas 20]

Charles H. Spurgeon, Particular Redemption, (February 28, 1858), Predigt über Matthäus 20,28 [https://www.spurgeon.org/resource-library/sermons/particular-redemption–2/#flipbook/ abgerufen: 11JUL2020]

Für Spurgeon und seine Gemeinde[2] bedeutete die Vernachlässigung der Predigt der »calvinistischen Heilslehre«, dass er seiner Gemeinde etwas Wichtiges vorenthalten würde. Dazu war er aber niemals bereit, denn diese Wahrheiten werden in der Heiligen Schrift gefunden und werden gerade durch Gottes verordnetes Mittel weitergegeben: durch die Predigt des ganzen Evangeliums:

»Wie werden sie nun den anrufen, an den sie nicht geglaubt haben? Wie aber werden sie an den glauben, von dem sie nicht gehört haben? Wie aber werden sie hören ohne einen Prediger? … Also ist der Glaube aus derVerkündigung, die Verkündigung aber durch Gottes Wort.«

Römerbrief 10,14.17 (ELB03)

Endnoten

[1] Nach C. H. Spurgeon sprachen: John Bloomfield: Election; Evan Probert: Human Depravity; James A. Spurgeon (C.H. Spurgeons Bruder): Particular Redemption; James Smith: Effectual Calling, sowie William O’Neil: Final Perseverance of Believers in Christ Jesus.
[2] Die »Doctrinal Basis« (Lehrgrundlage) der Gemeinde The Metropolitan Tabernacle macht klar, dass die Gemeinde heute noch eine unabhängige reformierte Baptistengemeinde (»independent reformed Baptist church«) ist. Die zwei ersten der sieben Hauptpunkte (»key biblical policies«) lauten:
«Doctrines of grace. We teach the doctrines of grace (in the reformed faith, often summarised as the ‚five points of Calvinism‘). Our doctrinal basis is the Baptist Confession of Faith, 1689.
Free offer of the Gospel. We believe in the universal tender of salvation, also called the free offer of the Gospel, dedicating one ­service every Sunday to persuasive evangelistic preaching, and praying that God will use this for the salvation of precious souls. Evangelism is a ­foremost duty for us, embracing evangelistic Sunday Schools, youth outreach, and other measures des­cribed in these pages.«

Weitere Ressourcen

  • The Spurgeon Center for Biblical Preaching at Midwestern Seminary (Kansas City, MO, USA) – »Making visible the lifelegacy and libraryof Charles Haddon Spurgeon« (https://www.spurgeon.org/)
  • The Spurgeon Archive (http://www.romans45.org/spurgeon/mainpage.htm)
  • Spurgeon Gems (https://www.spurgeongems.org)
  • Charles H. Spurgeon, A Defense of Calvinism [Eine Verteidigung des Calvinismus] (http://www.romans45.org/spurgeon/calvinis.htm 11JUL2020)

Spurgeon: Die Wahrheit über die Sühnung durch Christus muss verkündigt werden

»We hold that Christ, when He died, had an object in view, and that object will most assuredly, and beyond a doubt, be accomplished. We measure the design of Christ’s death by the effect of it. … We cannot so belie our reason as to think that the intention of Almighty God could be frustrated, or that the design of so great a thing as the atonement, can by any way whatever, be missed of. We hold—we are not afraid to say that we believe—that Christ came into this world with the intention of saving „a multitude which no man can number;“ and we believe that as the result of this, every person for whom He died must, beyond the shadow of a doubt, be cleansed from sin, and stand, washed in blood, before the Father’s throne. We do not believe that Christ made any effectual atonement for those who are for ever damned; we dare not think that the blood of Christ was ever shed with the intention of saving those whom God foreknew never could be saved, and some of whom were even in Hell when Christ, according to some men’s account, died to save them. …

For you must bear this in mind, that some of you, perhaps, may be ready to dispute things which I assert; but you will remember that this is nothing to me; I shall at all times teach those things which I hold to be true, without let or hindrance from any man breathing.

Now, beloved, when you hear any one laughing or jeering at a limited atonement, you may tell him this. General atonement is like a great wide bridge with only half an arch; it does not go across the stream: it only professes to go half way; it does not secure the salvation of anybody. Now, I had rather put my foot upon a bridge as narrow as Hungerford[1], which went all the way across, than on a bridge that was as wide as the world, if it did not go all the way across the stream.«

Charles H. Spurgeon, Particular Redemption, Predigt am 28FEB1858 über Matthäus 20,28 [https://www.spurgeon.org/resource-library/sermons/particular-redemption–2/#flipbook/ 11JUL2020]

[1] Die Hungerford Bridge wurde 1845 als reine Fußgängerverbindung über die Themse in London eröffnet. Die enge Fußgängerbrücke hatte den Ruf, heruntergekommen und bei Nacht gefährlich zu sein. Später wurde sie mehrfach umgebaut und ist heute eine Eisenbahnbrücke zum Bahnhof Charing Cross.

Freude ist eine ernste Sache

»Christus will, dass sein Volk fröhlich ist. Wenn sein Volk eines Tages vollkommen gemacht ist, wie Er es zu Seiner Zeit sicherstellen wird, dann wird es auch vollkommen fröhlich sein. Der Himmel ist ein Ort reinster Heiligkeit, aber genauso ist er ein Ort ungetrübten Frohsinns. Je mehr wir für den Himmel zubereitet werden, umso mehr werden wir jene Freude besitzen, die Teil des Himmels ist. Es ist der ausdrückliche Wunsch unseres Heilandes, dass Seine Freude heute schon in uns sei, und dass unsere Freude völlig werde.« [Johannes 15,11; vgl. 17,13]

»Christ wishes his people to be happy. When they are perfect, as he will make them in due time, they shall also be perfectly happy. As heaven is the place of pure holiness, so is it the place of unalloyed happiness; and in proportion as we get ready for heaven, we shall have some of the joy which belongs to heaven, and it is our Saviour’s will that even now his joy should remain in us, and that our joy should be full.«

C. H. Spurgeon, The Metropolitan Tabernacle Pulpit Sermons, 63 Bände (London: Passmore & Alabaster, 1855–1917), Bd. 51, S. 229.

Lehrpredigt – oder Leerpredigt?

The Sword and The Trowel Cover Page Metropolitan Tabernacle top

»Einige Prediger haben eine Heidenangst davor, dass ihre Predigten zu viel biblische Lehre enthalten und so das geistliche Verdauungsvermögen ihrer Zuhörer schädigen könnten. Diese Angst ist völlig überflüssig … Wir leben in einer Zeit, die schwerlich eine theologische genannt werden kann, eine Zeit, in der man sich über gesundes biblisches Lehren furchtbar aufregt. Hier wird das Prinzip deutlich, dass der Unverständige stets die Weisheit verachtet. Die ruhmreichen Giganten der Zeit der Puritaner ernährten sich von etwas Besserem als buntem Zuckerzeugs und balaststoffarmen Knabbereien, die heute so in Mode sind.«

»Some preachers seem to be afraid lest their sermons should be too rich in doctrine, and so injure the spiritual digestions of their hearers. The fear is superfluous. . . . This is not a theological age, and therefore it rails at sound doctrinal teaching, on the principle that ignorance despises wisdom. The glorious giants of the Puritan age fed on something better than the whipped creams and pastries which are now so much in vogue.«

C. H. Spurgeon, The Sword and Trowel (London: Passmore & Alabaster, 1865–1891), S. 125–126.

Kirchenväter – Eine Autorität in Lehrfragen?

Der Bibellehrer John N. Darby (1800–1882) schrieb am 23. März 1880 in einem Brief Henry Chisholm Anstey (1843–1922) Folgendes:

»As to the Fathers, I have read some, consulted almost all, and some a good deal. But when, many years ago, I set about to read them, I found them as a body such trash that I gave it up as a study: for history they are of course useful, and I have examined them largely. Did Mr. – ever read Hermas? If that is not enough to destroy all confidence in the early church, I do not know what would. Did he ever read Cyprian or Chrysostom on the state of the church in their days? Talking of looking to the primitive church for some doctrine or morality is the most wicked humbug that ever was: either people have not read what is patristic, or they must love and excuse wickedness.«

Brief an H C Anstey. Letters of J.N.D., Bd. 3, [Kingston-on-Thames, o.J.], S. 70, Nr. 60.

Die Liebe Gottes – Ein einfaches Thema?

D.A. Carson hielt 1998 vor Bibelstudenten vier Vorträge über The Difficult Doctrine of the Love of God (Die schwierige Lehre von der Liebe Gottes). Die Vorträge wurden als so wertvoll erachtet, dass Carson sie mit geringer Überarbeitung auch in schriftlicher Form herausgab. Der Vortragsstil ist jedoch immer noch zu spüren und erlaubt trotz der tiefen Gedanken über dieses anspruchsvolle Thema ein flüssiges Lesen.

Warum soll die „einfachste Sache der Bibel über Gott“ nun plötzlich eine „schwierige Lehre“ sein? Wir würden erwarten, dass man die Trinitätslehre, die Lehre der Schrift über das Wesen Jesu als wahrer Gott und wahrer Mensch oder die Inspirationslehre als „schwierig“ bezeichnet – aber die Lehre von der Liebe Gottes?

Carson nennt fünf Gründe, warum diese Lehre „schwierig“ ist:

  • Die meisten Leute glauben „irgendwie“, dass Gott ein liebendes Wesen sei, aber dieser Glaube ist oft in anderen Annahmen und Quellen gegründet, als alleine in Gottes Wort. Wenn die gesamte Welt sich eines Tages unter einem Götzen einen wird, dann könnte dieser gut „Liebe“ heißen.
  • Viele Begleitwahrheiten über Gott werden von vielen in unserem Kulturkreis (und oft auch in kirchlichen Kreisen) nicht (mehr) geglaubt.
  • Der Postmodernismus fördert eine sentimentale, synkretistische und pluralistische Sicht auf Gott.
  • Die Kirche hat immer mehr eine sentimentale Auffassung über die Liebe Gottes übernommen, die nicht mit dem Gott, der sich in der Bibel offenbart, übereinstimmt.
  • Die Kirche stellt die Lehre von der Liebe Gottes oft als „einfache“ Wahrheit vor und übergeht (manchmal nichtsahnend) gewisse bedeutsame Wahrheiten über Gottes Wesen und Seine Liebe, die diese Lehre als „schwierig“ erweisen.

Von dieser Analyse ausgehend baut Carson seine Lektionen (Kapitel) auf:

  • Die Verzerrung der Liebe Gottes,
  • die Tatsache, dass Gott Liebe ist,
  • der Zusammenhang von Gottes Liebe und Gottes Souveränität, sowie
  • Gottes Liebe und Gottes Zorn.

Wie bei Carson gewohnt, geht er direkt zur Bibel und damit zur schriftlichen Selbst-Offenbarung Gottes in der Heiligen Schrift, um an ihr falsche Annahmen zu korrigieren und um eine mehr und tiefer in der Schrift gegründete Diskussion darüber zu führen, was die Liebe Gottes tatsächlich ist und mit sich bringt. Er verteidigt dabei auch die Verträglichkeit (eigentlich: Harmonie, Vortrefflichkeit oder Vollkommenheit) von angeblich widersprüchlichen Eigenschaften Gottes, wie z. B., dass Gott in Seinem Zorn gleichzeitig absolut gerecht und vollkommen liebend ist. Er untersucht auch das „Spannungsfeld“ des Verstehens, wie Gottes Liebe mit Seiner Souveränität betreffs der menschlichen Angelegenheiten zusammenhängt und verträglich ist.

Jeder Bibelleser sollte Carson folgen können, wenn er darauf aufmerksam macht, dass die Heilige Schrift die Liebe Gottes recht differenziert darstellt (auch da, wo sie nicht das Wort „Liebe“ gebraucht), z. B.:

  • Die besondere Liebe, die der Vater gegenüber dem Sohn und der Sohn gegenüber dem Vater hat.
  • Gottes fürsorgende und erhaltende Liebe gegenüber seiner gesamten Schöpfung.
  • Gottes besorgt-liebende Einstellung als Rettergott gegenüber einer gefallenen Welt.
  • Gottes besondere, wirksame und erwählende Liebe gegenüber Seinen Erwählten, seien es Einzelpersonen oder Personengruppen (wie das Volk Israel oder die Gemeinde Jesu).
  • Gottes an Bedingungen (meist: des Gehorsams) geknüpfte Liebe.

Carson tritt aber sofort drei Missverständnissen entgegen, wie man mit dieser Vielfalt oder Differenziertheit der Liebe Gottes umgehen könnte. Alle diese Auffassungen sind Verirrungen in Sackgassen des Irrtums:

  • Man erklärt einen der Aspekte (o. eine Art) der Liebe Gottes als absolut. Alles andere sei unwichtig oder relativ oder würde durch das Herausgenommene dominant regiert.
  • Man versteht die unterschiedlichen Aspekte oder Arten der Liebe Gottes so, als seien dies voneinander unabhängige, abgetrennte Lieben (Plural!) Gottes. Weil Gott Einer ist, ist auch sein Wesen eins. Dies gilt auch für sein Sein als Liebe, das Er ewig in Perfektion ist.
  • Man verkündet Aussagen über Gottes Liebe in klischeehafter Weise, wie z. B.: „Gottes Liebe setzt keine Bedingungen.“, „Liebe ist frei“, „Liebe fordert nie, sie gibt nur.“, „Gott liebt alle Menschen gleich.“ (»God loves everyone exactly the same way.«) usw.

Fazit. Carsons verschriftete Vorlesungen über die Liebe Gottes sind keine „lockere Lektüre“, sondern tiefe Gedanken, die Lernbereitschaft, Konzentration und eine aufgeschlagene Bibel erfordern. Der Vortragsstil erleichtert das gedankliche Mitgehen. Carson fordert den Bibelstudenten heraus, in klassisch-vorbildlicher „Beröer-Einstellung“ unter Gebet „täglich die Schriften [zu] untersuch[t]en, ob dies sich so verhielte.“ (Apostelgeschichte 17,11 ELBCSV). Das Ergebnis muss die alleinige Verherrlichung Gottes sein. Soli Deo Gloria.

Quellenverweise

D.A. Carson, The Difficult Doctrine of the Love of God (Crossway, 2000). Als PDF: https://s3.amazonaws.com/tgc-documents/carson/2000_difficult_doctrine_of_the_love_of_God.pdf

Siehe auch seine Vorträge über die Nächstenliebe: D.A. Carson, Love in Hard Places (Crossway, 2002). Als PDF: https://s3.amazonaws.com/tgc-documents/carson/2002_love_in_hard_places.pdf

Spurgeon versus Hyper-Calvinismus

Iain Murray zieht in seinem Buch  Spurgeon v. Hyper-Calvinism vier Lehren aus dem Konflikt mit den Hyper-Calvinisten:

1.  „Echtes evangelisches Christentum hat nie einen exklusiven Geist. Jede Sicht auf die Wahrheit, welche wahre Katholizität [Allgemeingültigkeit, alle Christen im Blick habend] untergräbt, ist von der Schrift abgewichen.“ Spurgeon widersprach den Hyper-Calvinisten, die „den Glauben an die Auserwählung zu einem Teil des rettenden Glaubens machten und damit entweder das Christsein aller bekennenden Christen, die nicht so glaubten, leugneten, oder einem solchen Bekenntnis zumindest mit viel Misstrauen begegneten“.

2.  Spurgeon „wollte, dass sowohl die göttliche Souveränität als auch die menschliche Verantwortung aufrecht erhalten bleiben; wenn es jedoch um die Verkündigung des Evangeliums geht, so glaubte er, dass es notwendig sei, sich mehr auf die Seite der Verantwortlichkeit des Menschen zu konzentrieren. Die Hyper-Calvinisten neigten zur Ansicht, dass ein Sünder erst die Theologie verstehen solle, bevor er an Christus glauben könne.“

3. „Diese Kontroverse deutet darauf, dass wir echte Demut vor Gott nötig haben. Sie erinnert uns zwingend an Fragen, über die wir nur sagen können: »Siehe, Gott ist zu erhaben für unsere Erkenntnis [FN: w. ist erhaben, so dass wir nicht erkennen].«  (Hiob 36,26).“ „Es ist zu befürchten, dass scharfe Auseinandersetzungen zwischen Christen über diese Themen zu oft aus einem falschen Vertrauen in unser Denken und unsere Fähigkeit zu logischen Schlussfolgerungen entstanden sind.“ Spurgeon sah, „wie ein System, das alles der Gnade Gottes zuzuschreiben suchte, selbst zu viel Vertrauen in die Kräfte des menschlichen Verstandes setzte.“

4.  „Die Schlussfolgerung muss lauten: Wenn der Calvinismus aufhört, evangelistisch zu sein, wenn er sich mehr mit der Theorie als mit der Errettung von Männern und Frauen befasst, wenn die Akzeptanz von Lehren wichtiger zu werden scheint, als die Akzeptanz Christi, dann ist er ein aus der Form geratenes System geworden und verliert unausweichlich seine Anziehungskraft.“

Iain H. Murray, Spurgeon v. Hyper-Calvinism (Edinburgh, 1995), S. 110-122. Fettdruck hinzugefügt.

Ohne die Wahrheit verstehen wir weder Gott, noch die Welt, noch uns

Jeder Mensch braucht und hat eine generelle Vorstellung, mithilfe derer er alles, was er wahrnimmt, interpretiert, begreift und vermeintlich versteht. Wir nennen diese grundlegende, alles umfassende Vorstellung eine Weltanschauung. Manche wählen ihre Weltanschauung sehr bewusst, andere hingegen sind sich ihrer nicht bewusst oder setzen sich mit ihr nicht auseinander, aber alle haben sie als Denkrahmen (Paradigma) und persönlichen „Ich verstehe!“-Interpretationsschlüssel.

Warum ist das so? Weil wir Menschen nicht damit zufrieden sind zu wissen, was der Fall ist (Zahlen, Daten, Fakten), sondern danach streben, auch zu verstehen, was diese Zahlen, Daten und Fakten bedeuten. Menschen fragen nach dem Wozu, nach dem Sinn. Sinn im Sein und Tun zu suchen, ist uns Menschen ureigen, daher ist uns Sinnklärung und Sinnstiftung tiefes Bedürfnis. Wo aber diesen Sinn finden? Wer sagt uns zu Sinn und Sollen verlässlich Wahres? Wo finde ich objektive Wahrheit, die von der eigenen Existenz, Prägung und Begrenztheit unverfälscht, ungefärbt und uneingeschränkt ist?

Angesichts großartiger technischer Errungenschaften glauben viele, in einer Zeit reiner Vernunft und objektiver Wissenschaft zu leben. Der Fortschrittsglaube ist längst zur Religion vieler geworden. Und so sucht man Wahrheit und die Antwort auf die Fragen des Seins und Sollens in der angeblich neutralen Wissenschaft: Harald Lesch wird uns sicher alle Fragen objektiv beantworten können! Dieser Astrophysiker kann ja in einer Stunde so beeindruckend über 4,5 Milliarden Jahre Erdgeschichte reden, dass man fast vergessen könnte, dass er 99,9999987 % dieser Zeit gar nicht dabei war. Das nennen wir in der Wissenschaft extrapolieren (hier mit viel Extra und –noch viel mehr– medialer Politur). Nach Max Weber kann sich die wissenschaftliche Analyse aber nur dem Seienden widmen, die Klärung von Werturteilen und das Fragen nach dem Sollen (dem „Seinsollenden“) bleibe reine Glaubenssache. Auf der Suche nach einer tragfähigen Weltanschauung müssen wir also woanders suchen. Aber wo?

Wahrheit, objektive, ewige, vollständige Wahrheit, ist in der Tat die größte Mangelware unserer post-faktischen und post-postmodernen Zeit. Wir brauchen aber klare Aussagen darüber, was der Fall ist, wie alles zu verstehen ist und wie wir es zu bewerten haben. Das Fragen nach Sein, Sinn und Sollen ist uns Menschen wesenseigen, unterscheidet uns kategorial vom Tier. Wir brauchen dazu Antworten, am besten aus einer Quelle, die sich nicht täuschen kann und die nie lügen wird. Damit ist gesagt: Der Quell solcher Wahrheit kann nicht ein Mensch sein.

Angesichts des pervasiven (alles durchdringenden) Mangels an Wahrheit wundert es uns nicht, dass wir in einer Zeit der moralischen Beliebigkeit und des Glauben an die Konstruierbarkeit aller sozialen und ethischen Normen leben. Es fehlt nicht nur an Wissen, sondern auch an ethischer Orientierung, an sichernder Grenzziehung, an Gottesbewusstsein, an praktischem Wissen, wie das Leben gelingt. Die Alten haben das Weisheit genannt: Wissen über Gott und Mensch, Sünde und Heiligkeit, heute und morgen, angewandt im ganzheitlichen, zielorientierten Lebensvollzug. Daran mangelt es erdrückend. Die selbstgewählte Gottesfinsternis des Menschen hat seine Vernunft verhüllt, verdreht und verkrüppelt (Römer 1,21–22; Epheser 4,17–19; vgl. Johannes 3,19; Apostelgeschichte 16,18). Wir Christen leben in dieser „verdrehten (perversen) Welt“ (Philipper 2,15). Umso mehr brauchen wir die biblische Wahrheit des geschriebenen Gotteswortes, um unseren Glaubensweg coram Deo (vor dem Angesicht Gottes) in demütiger Weisheit und echter Heiligung gehen zu können (Johannes 17,17). Allein das ist menschenwürdiges Leben.

Der dritte Mangel, den wir beklagen, ist Liebe, jene Grundessenz, die der Schöpfer in die Textur unseres Menschseins fest verwoben hat. Wie viele Verzerrungen und Karikaturen von „Liebe“ geistern umher und lassen den Menschen mit teuer glitzernden Plastikfälschungen unbefriedigt und enttäuscht zurück? Wo gibt es echte Liebe, und wie sieht sie in Wahrheit aus? Gott allein kann den Pascal’schen »unendlichen Abgrund« unserer Seele (Pensées, Sec. VII, 425) wirklich ausfüllen. Er ist die Liebe (1.Johannes 4,16).

Unser Fragen wirft uns wieder zurück auf Platz 1: Wo finde ich „wahre Wahrheit“? Und woher weiß ich, was wahre Wahrheit ist? Wer sich in der Beantwortung dieser Frage nur um sich selbst dreht (sein Herz, Seine Vernunft, seine Bedürfnisse usw. befragt), wird in dieser Frage nicht weiterkommen. Wie bei der Navigation brauchen wir notwendiger Weise Bezugspunkte außerhalb des eigenen Referenzsystems. Oder besser: Jemand mit Überblick muss uns von außen verlässliche Informationen geben. Anders gesagt: wir brauchen Offenbarung. Selbstreferenz liefert prinzipiell keinen Fixpunkt, keine Orientierung. (Werfen Sie doch mal ihren Anker im Boot aus.)

Und was ist mit der Vernunft, der wir uns als „Aufgeklärte“ vertrauensvoll ausliefern sollen? Sie sei doch die verlässliche Führerin jenseits aller traditionellen Autoritäten, sagte man uns Jahrhunderte lang. Solcher Glaube ist 2020 aber schon längst überholt. Die Dialektik der Aufklärung hat das Projekt der Aufklärung (und damit den Modernismus und Fortschrittsglauben gleich mit) als gescheitert dargestellt: sie liefert Schlimmeres und mehr von dem, dem man eigentlich entrinnen wollte.

So bleibt es eine Frage des Glaubens und der Quelle solchen Glaubens. Wer glaubt, kann wissen. Umgekehrt geht das nicht. Der christliche Glaube ist daher so ziemlich das Gegenteil dessen, was man landläufig unter „glauben“ versteht. Existentiell entscheidend erweist sich, was man glaubt und wem man glaubt. An der Schriftfrage entscheidet sich alles. Und die wird erst dann richtig entschieden, wenn man eine Lebensbeziehung zu der Person hat, die die Wahrheit in Person ist (Johannes 1,14; 14,6), und die stets die Wahrheit sagt (Johannes 16,7). Die Erkenntnis der Wahrheit wird den Glaubenden freimachen (Johannes 8,32; 17,17.19).

Was glauben Sie? Viel wichtiger: Wem glauben Sie?

Hybris und Ignoranz verarmen den Menschen ganz

»Es kommt nicht von ungefähr, dass das lnfragestellen der Bibel als dem geoffenbarten Gotteswort mit dem Einsetzen des aufklärerischen Denkens korrespondiert und dass damit die Erhebung des Menschen über Gott begann. Dies hängt ursächlich zusammen mit dem Anspruch, alles erkennen zu wollen, und dem allmählich entstehenden Glauben, auch tatsächlich alles erkennen zu können.

Demgegenüber ist hervorzuheben, dass die Menschen dieser Welt die Bibel niemals vollkommen werden ergründen können, was freilich eine Anfrage an die Denkmöglichkeiten und den Erkenntnisradius des Menschen bedeutet und nicht etwa eine Anfrage an den Realitätsgehalt von Gottes Wort

Prof. (em.) Dr. Lutz E. v. Padberg (*1950)
Die Bibel – Grundlage für Glauben, Denken und Erkennen (Neuhausen-Stuttgart: Hänssler, 1986).