Heinrich Bullinger: Von der Obrigkeit

1568 veröffentlichte der Schweizer Reformator Heinrich Bullinger (1504–1575, Nachfolger Ulrich Zwinglis in Zürich) sein „Haußbuch“ mit einer Reihe von Predigten. Eine dieser Predigten, die sechzehnte, beschäftigte sich im Rahmen einer Betrachtung über die Zehn Gebote mit der Obrigkeit. Der folgende Text ist dem gedruckten Predigttext entnommen und sprachlich etwas unserer Schreibweise angepasst worden.

»Was die Obrigkeit sei.

Das Wörtlein Obrigkeit heißt im Lateinischen Magistratus, und hat seinen Ursprung vom Wörtlein Magister, das heißt Meister, mit welchem angezeigt wird, dass du, wenn du zur Obrigkeit gehörst, Meister, Führer von Oberen des Volkes bist. Diese werden auch die Gewalt von Gott genannt, wegen der Gewalt, die sie von Gott empfangen haben. Die Obrigkeit wird auch eine Herrschaft genannt, wegen der Herrschaft, die ihr Gott auf Erden gegeben und zugelassen hat. Und welche also herrschen, werden Fürsten genannt, von Vorstehen, denn sie sind die vordersten unter dem Volk. Also heißen sie auch Räte von raten, und Könige von regieren, Gebieter von gebieten. Darum ist die Obrigkeit an ihr selbst ein Amt und eine Verwaltung. Aristoteles beschreibt die Obrigkeit also, dass sie eine Hüterin und Erhalterin der Gesetze sei. Und Plutarchus spricht im Büchlein, in dem er lehrt, dass ein Oberer notwendiger Weise geschickt und gelehrt sein soll, spricht unter anderem so: Die Oberen sind Diener Gottes, zum Heil und zur Fürsorge der Menschen, zum Teil, dass sie ihnen austeilen, zum Teil auch bei dem erhalten, das Gott ihnen gegeben hat. Aus der heiligen Schrift aber mag die Obrigkeit also beschrieben werden, dass sie eine Ordnung Gottes sei, dass durch Hilfe und Rat der Vornehmsten die Frommen geschützt und geschirmt, die Bösen aber gestraft, und also wahre Gottesfurcht, Gerechtigkeit, Ehrbarkeit und Ruhe, auch allgemeiner und besonderer Friede, erhalten werden. Daraus folgt dann, dass im Regiment sein, und das Amt der Obrigkeit treulich auszurichten, ein Gottesdienst ist. Denn solches gefällt Gott, und dann ist Obrigkeit ein gutes Ding, aus dem trefflich viele gute Werke entspringen, wie ich in vorgehender Predigt bereits erklärt habe.

Dreierlei Obrigkeit.

[Monarchie.] Es gibt aber dreierlei Obrigkeiten, nämlich: die Monarchie, Aristokratie und Demokratie. Die Monarchie mögen wir ein Reich nennen, in dem einer die oberste Gewalt ausübt und alle Dinge verwaltet durch gerechte und angemessene [billige] Satzungen. Wenn aber ein solcher Regent die Gerechtigkeit und Angemessenheit [Billigkeit] hintanstellt und alle Dinge nach seinem Mutwillen wider Recht und Angemessenheit [Billigkeit] tut, ist er ein Tyrann und seine Gewalt eine Tyrannei, also eine grausame [grimmige] Überwältigung. Solches Laster hängt dem Reich und der Monarchie gerne an und ist dem zuwider. Aristokratie hingegen ist eine Regierung der Vornehmsten und Besten unter dem Volk, da man die allerbesten, frömmsten [frembsten] und redlichsten einer gewissen Zahl erwählt und aussucht, die dem Volk vorstehen. Diese Regierung ist erwachsen aus der Tyrannei. Denn da man anfing zu sehen, wie misslich es wäre, einem Mann alle Gewalt zu lassen, hat man angefangen, die höchste Gewalt vielen und den Besten anzubefehlen. Wenn aber solche vornehmsten Häupter unter dem Volk mit bösen Künsten und Sünden an das Regiment kommen und ihren eigenen Nutz und Frommen suchen, anstelle des allgemeinen Nutzens und des allgemeinen Wohlstand, so ist ihre Regierung damit nicht mehr eine Artistokratie, sondern eine Oligarchie zu nennen, das heißt: eine mutwillige Gewalt weniger Leute, nicht eine gerechtfertigte [billige] Regierung der Besten und Vornehmsten. Auf diese Weise werden die Oligarchen anstelle der Optimatibus, die die Besten und Vornehmsten sind, gesetzt. Demokratie ist eine solche Regierung, wo alle Gewalt beim gewöhnlichen Mann steht. Diese Regierungsform ist aus der Oligarchie erwachsen. Denn da der gewöhnliche Mann gesehen hat, dass auch die Vornehmsten und Auserwähltesten im Volk ihre Gewalt missbrauchen und zu Oligarchen wurden, hat er sie des Amtes enthoben [entsetzt] und die Gewalt behalten und mit mehreren Händen angefangen, alle Dinge zu verwalten und zu regieren. Diese Demokratie aber bricht manchmal auch aus und gerät zu einem Aufruhr und einer Zusammenrottung, wenn sich niemand regieren lassen will, und ein jeder tun will, was ihm gefällt, weil er ja genauso viel zählt, wie jeder andere gewöhnliche Mann, bei dem alle Gewalt steht.

Welche aber von diesen Regierungen die beste sei, will ich nicht urteilen. Viele sind es, die die Monarchie für die beste gehalten haben, unter der Bedingung [hinzu gesetzt], dass der Fürst gut sei, welches aber selten der Fall ist. Die aber dieser Meinung gewesen waren, haben gewöhnlich unter den Monarchen gelebt, wider die zu reden gefährlich war. Im Volk Juda und Israel findet man wenige gute – oder zumindest mittelmäßige – Könige. Darum hat Gott auch durch Samuel dem Volk nicht ohne Ursache geraten, dass sie die Aristokratie, die unter ihnen durch die allerweisesten und vortrefflichsten Männer, Mose und Jethro, aufgerichtet war, behalten sollten. Wiewohl niemand leugnen kann, dass auch bei der Aristokratie große Gefahr und Ungebührlichkeiten [Unkömmlichkeiten] mitlaufen. Viel mehr aber bei der Demokratie. Aber es steht um uns Menschen in diesem Leben ja so, dass es nichts gibt, das nicht irgend einen Mangel hätte. Darum wird das für das Beste gehalten, das obgleich nicht ohne Fehl seiend, doch im Vergleich zu den anderen am wenigsten davon hat.

Man soll aller Obrigkeit gehorsam sein.

Sei es, wie es wolle, jedenfalls heißen uns die Apostel unseres Herrn Jesus Christus, dass wir der Obrigkeit gehorsam sein sollen, sei sie nun ein König oder ein versammelter Rat der Besten unter dem Volk. Es gilt gleich. Denn Paulus spricht in der Epistel an Titus im dritten Kapitel: Erinnere sie, dass sie den Vorgesetzten und der Gewalt untertan seien, der Obrigkeit gehorsam seien. Und zu den Römern [Röm. 13.] : Jedermann sei der Obrigkeit und der Gewalt untertan, denn es ist keine Gewalt denn von Gott, alle Gewalt ist aber von Gott verordnet. Und zu Timotheus spricht er [1. Tim. 2.]: So ermahne ich nun vor allen Dingen, dass man bete und Fürbitte einlege für die Könige und für alle Obrigkeit (usw.). Darum: Ist jemand unter einem Monarchen und König, so sei demselben gehorsam. Ist er unter einer anderen Regierung, Bürgermeistern, Gemeindevorstehern [Schultheißen], Zunftmeistern, Ratsherren, so sei er ihnen desgleichen untertan. Denn es ist besser, man gehorche der Ordnung Gottes, als dass man spitzfindig viel diskutieren wolle über den Unterschied der Regierungsformen und welche von diesen die Beste sei. Dass es aber eine Obrigkeit gibt, ist uns Menschen höchst notwendig, allein schon deswegen vonnöten, weil unsere Sachen ohne eine Obrigkeit in keinem Wohlstand sein noch bleiben mögen.

Ursachen und Ursprung der Obrigkeit. Richter 19.

Denn im Volk Israel standen die Sachen nie übler, als wo sie nach dem Tode Simsons bis auf den Heli [?] keine rechte Obrigkeit hatten, sondern ein jeder tat, was ihm wohlgefiel. Denn allen Menschen ist die Eigenliebe und das eigene Wohlgefallen so angeboren, dass ein jeder allein auf das Seine sieht, dass er an allem, was er tut, Wohlgefallen hat, und das Wort und Werk anderer Leute verachtet. Ja, unsere böse Begierde und unablässliche Eigenliebe führt uns auch dahin, dass wir selbst böse Sachen verstehen als Recht zu beschirmen und sie für recht und gut ausgeben. Wer das nicht glaubt, der weiß nicht, was Menschen sind. Siehe, das Volk Israel war erst aus Ägypten erlöst und hatte erschreckende und große Wunder gesehen, und wurde in der Wüste vom Himmel herab wunderbarlich ernährt, und sah alle Tage neue Wunderzeichen. Doch höre, was Mose, der allermildeste und sanftmütigste unter allen Menschen von diesem heiligen Volk, von dem Volk Gottes, das Gott selbst ein Eigentum nennt, redet. Er spricht also zum Volk: Wie kann ich allein solche Mühe und Last und Hader von euch ertragen? Also tat sich des Fleisches Art auch in der heiligen Gesellschaft und aller herzlichsten Gemeinschaft der ersten Apostolischen Kirchen, ja in den Wiedergeborenen selbst, hervor. Denn es erhob sich ein Gemurmel unter den Griechen wider die Hebräer, weil ihre Witwen übersehen wurden in der täglichen Handreichung. Also zankten sich auch die Korinther vor den heidnischen Richtern, wofür sie vom heiligen Apostel Paulus gar heftig gescholten wurden, der sie anweist, aus den Gläubigen Schiedsleute zu erwählen, die ihre Sachen entscheiden sollen. Deshalb kann uns in dieser Sache niemand vorwerfen, das alte Volk Israel sei ein fleischliches Volk gewesen und noch nicht wiedergeboren, weil wir sehen, dass auch in denen, die wiedergeboren sind, noch des Fleisches verbliebene Schwachheit hängt, die sich immerdar, wo ihr Luft und Anlass gegeben wird, offenbaren wird, Zank und Unruhe hervorbringt, da sie wohl zufrieden sein möchte. Ganz zu schweigen davon, dass der Großteil der Welt nicht nach dem Geist fragt, sondern nur dem Fleisch nachlebt und nachhängt. Darum, weil Gott ein Liebhaber und Gönner der Menschen ist, und ein Erhalter des menschlichen Geschlechts, alles Friedens und aller Ruhe, so hat er die Obrigkeit eingesetzt, als eine Arznei und Hilfe, um den großen Übeln der Menschen zu wehren, dass sie sich mit Angemessenheit und Gerechtigkeit zwischen die lege, die miteinander zanken, sie voneinander trenne, der bösen und unangemessenen [unbillichen] Gewalt wehre, die Unschuldigen beschirme. Darum, wer diese göttliche Ordnung brechen oder aufheben wollte (wir Menschen würden dann allesamt zu Engeln), der würde nichts anderes, als eine Konfusion und Zerstörung aller Dinge, und bewirken, dass wer es am besten vermöchte, der die frömmsten und andere alle unterdrücke und ausrottete. [Die Obrigkeit ist von Gott eingesetzt den Menschen zum Guten] Darum sehen wir aus allem, was wir bisher erzählt haben, ganz klar, dass die Obrigkeit von Gott eingesetzt ist, den Guten zu schirmen und den Bösen zu bestrafen, das heißt, zum Guten und zum Wohlstand aller Menschen. Dies wird unterstützt davon, dass wir finden, dass von Anfang der Welt an stets Obrigkeiten gewesen sind. Des weiteren [item] befestigen solches die Zeugnisse der heiligen Schrift. Als dass Moses im Gesetz die Richter Götter nennt und spricht, dass das Gericht Gottes sei. Aus welchen Worten auch Josaphat genommen hat, dass er zu den Richtern spricht [2. Chr. 19]: Sehet zu, was ihr tut. Dass ihr übet das Gericht nicht für den Menschen, sondern für den Herrn. Und er ist mit euch im Gericht, darum lasst die Furcht des Herrn bei euch sein (usw.). Entsprechend heißt St. Petrus [1. Pet. 2.], der Obrigkeit gehorsam zu sein, um des Herrn willen, von welchem die selbige verordnet ist, zur Rache der Bösen und zum Lob der Frommen. So spricht auch Paulus, der Lehrer der Heiden [Röm. 13.]: Es ist keine Gewalt, als von Gott, und die Gewalt, die da ist, ist von Gott verordnet. Und wer der Gewalt widersteht, der widersteht der Ordnung Gottes. Wer aber dieser widersteht, der wird ein Urteil über sich empfangen. Denn die Gewaltigen sind nicht denen, die Gutes tun, sondern den Bösen zur Furcht. Denn sie sind Diener Gottes, dir zum Guten, und zur Strafe dessen, der Böses tut. Deshalb, wie gesagt, ist die Obrigkeit von Gott und ihr Amt gut, heilig, gottgefällig, recht, nützlich und notwendig allen Menschen, und die so von der Obrigkeit sind, und dies Amt wohl und recht verwalten, die sind Freund, Diener und auserwählte Werkzeuge Gottes, durch die Gott das Heil und den Wohlstand der Menschen wirkt und ausrichtet. Dessen wir Exempel haben an Adam, an allen Erzvätern, an unserem Vater Noah, an Josef, an Mose, an Josua, am Gideon, Samuel, David, Josaphat, Hesekiel, Josia, Daniel, und vielen anderen. Auch die nach den Zeiten unseres Herrn Jesus Christus das Amt der Obrigkeit verwaltet haben.

Gute und böse Obrigkeit.

Es gibt aber hauptsächlich zweierlei Obrigkeit: gute und böse. Eine gute Obrigkeit ist eine, die ordentlich gewählt wurde und auch ihr Amt recht verwaltet. Eine böse Obrigkeit ist eine, die nicht durch ordentliche Mittel in das Regiment gekommen ist, und die das selbige auch nicht recht, sondern nach ihrem Mutwillen verwaltet. [Ob auch die böse Obrigkeit von Gott sei] Hier aber entsteht eine Frage: Ob die böse und tyrannische Obrigkeit auch von Gott sei? Antwort: Gott ist nicht eine Ursache des Bösen, sondern des Guten. Denn Gott ist von Natur gut, und all sein Vornehmen ist gut und dient zum Guten und zum Heil, nicht zum Schaden und Verderben des Menschen. Also ist auch die Obrigkeit, als eine gute, nützliche Ordnung, ohne allen Zweifel von GOTT, der ein Ursprung und Brunnen alles Guten ist. Da muss man aber unterscheiden zwischen der Ordnung Gottes, das ist, dem Amt an sich, und der Person, die das Amt, das an sich selbst gut ist, nicht verrichtet, wie sie sollte. Wenn also in der Obrigkeit Böses gefunden wird, und nicht das Gute, weswegen sie eingesetzt ist, so entspringt dieses Böse aus anderen Ursachen und tragen andere Schuld daran, nämlich die Personen oder Menschen, die Gott nicht folgen, und die gute Ordnung missbrauchen. Und: An Gott, oder der Ordnung Gottes, ist an sich gar keine Schuld. Denn entweder ist da ein Oberster, der in sich selbst böse und von dem Teufel verführt ist, der die Wege Gottes verletzt und diese von sich aus mutwillig übertritt, so dass er besser ein teuflischer als denn ein göttlicher Herrscher [Gewalt] genannt wird. So wie wir dies sehen bei der Obrigkeit Jerusalems, welche wohl den Anfang und Ursprung ihrer Gewalt bis auf Mose, ja auf GOTT selbst hätte zurückführen [rechnen] können, welche aber den Herrn Christum in dem Garten verhaften und binden ließen, so dass der Herr zu ihren Dienern sagte [Luk. 22]: Ihr seid wie zu einem Mörder mit Schwertern und Stangen [Kolben] ausgegangen. Ich bin täglich bei euch im Tempel gewesen und ihr habt keine Hand an mich gelegt. Aber dies ist eure Stunde und die Gewalt der Finsternis. 

Siehe, da nennt er die ordentliche Obrigkeit, die aber ihre Gewalt missbrauchte, eine Gewalt des Teufels. Was könnte Klareres geredet werden? Solches redet der Herr aber nicht betreffs des Amtes, sondern betreffs ihrer Personen. Also war wohl das Römische Reich von Gott verordnet, wie wir das aus den Gesichten des Propheten Daniels ersehen. Doch so, wie Nero regierte, tat er dies nicht aus Gott, wenn auch nicht ohne Gottes Ordnung, sondern aus dem Teufel, obschon er ein König und ein Kaiser war, weil er nicht tat, was ein guter Herr und Oberer tun soll. Denn wie anders als aus dem Teufel war es, dass er die Apostel Christi kreuzigte und enthauptete und eine blutige Verfolgung der Kirchen Christi anfing. Also muss man aufpassen, dass man eine tyrannische Gewalt nicht als eine göttliche verteidige. Denn eine tyrannische Regierung ist aus dem Teufel und nicht aus Gott, und Tyrannen sind eigentlich nicht Gottes, sondern des Teufels Diener. Oder es begibt sich, dass ein Volk wegen seines ungöttlichen, lasterhaften Lebens es verdient, einen Tyrannen als König zu haben. Aber auch hier kommt Gott keine Schuld zu, sondern den sündigenden Menschen, derentwegen Gott solches verhängte, und einen Angeber [Gleißner] zu ihrem Regenten macht. Hier ist also die böse Obrigkeit von Gott, wie auch Aufruhr, Krieg, Pestilenzen, Hagel, Frost [reyffen?] und anderen Plagen und Unglück der Menschen von Gott sind: Als Strafen der Sünden und Laster, wie auch Gott selbst spricht [Jes. 3.]: Ich will ihnen Kinder zu Fürsten geben und junge Kinder werden über sie herrschen, darum, dass ihre Reden und Ratschläge wider den Herrn sind, um das Angesicht seiner Majestät zu erzürnen. Also hat Gott wider sein Volk und Stadt die grausamen Könige der Assyrer und Babylonier erweckt: Weil sie seinem Wort nicht folgten und nicht taten, was sie sollten.

Ein getreuer Rat für alle Unterdrückten

Wie aber nun die Untertanen gegenüber solchen schrecklichen [grimmigen]und rohen Fürsten und Tyrannen gesinnt sein sollen, lernen wir aus dem Exempel Davids, Jeremias und den heiligen Aposteln. David wusste wohl, wer Saul war, nämlich ein gottloser und grausamer Totschläger, vor dem er fliehen musste[?]. Und obwohl er ein- oder zweimal die Gelegenheit hatte, dass er ihn wohl hätte umbringen können, tat er es doch nicht, sondern verschonte ihn und ehrte ihn als seinen Vater. Genauso Jeremia, der für den Jojakim und den Zedekia betete, obwohl sie beide gottlose Könige waren, und ihnen gehorsam war, solange es nicht wider Gott war. Dann auch vorher, als ich von dem Gebot der Verehrung der Eltern geredet hatte, hatte ich aus der Schrift gezeigt, dass man den Geboten der Gottlosen, die wider Gott sind, nicht gehorchen solle. Denn es ziemt keiner Obrigkeit, dass sie etwas tue und vornehme, das wider das Gesetz Gottes und der Natur ist. Wie sich auch die heiligen Apostel gegen die tyrannischen Obrigkeiten gehalten haben, bezeugen ihre Geschichten. Welche durch Tyrannei gedrängt, ja von gottlosen, lasterhaften Obrigkeiten wider alle Angemessenheit und alles Recht unterdrückt werden, die fassen diesen Rat. 

Aufs Erste bedenken sie, welch große Sünden die Abgötterei und Schnödigkeit und Unzucht vor Gott sind, mit welchen sie den Zorn und die Strafe Gottes verdient und wohl verschuldet haben. 

Danach bedenken sie auch, dass GOTT mit solcher Geißel und Ruten nicht aufhören wird, wo sie den falschen Gottesdienst nicht von sich tun und ihr Leben bessern. Darum ist es notwendig, dass man vor allen Dingen die Religion recht anrichte und reformiere und das Leben ändere und bessere. 

Danach soll man auch ernstlich und emsig beten, dass Gott die Unterdrückten erretten und aus dem Übel erlösen wolle. Denn diesen Rat gibt auch der Herr selbst den Unterdrückten in Lukas im achtzehnten Kapitel und verheißt dabei eine sichere Hilfe und Erlösung [V. 7–8a]. Was aber und wie die Unterdrückten beten sollen, davon haben wir hübsche Beispiele und Formeln in Daniels neuntem und der Apostelgeschichte viertem Kapitel. Unterdessen sollten alle Herzen, die also beschwert sind, auch dessen eingedenk sein, dass die vornehmsten Apostel Christi, sowohl Petrus wie Paulus, gelehrt haben, da jener spricht [2. Pet. 2. | 1. Kor. 10.]: Gott kann die Seinen wohl aus Trübsalen erretten, wie er auch den Lot gerettet hat. Dieser aber spricht: Gott ist treu, der die Seinen nicht wird lassen versucht werden über das hinaus, was sie ertragen mögen, sondern wird neben der Versuchung einen glückseligen Ausgang geben, damit sie es ertragen mögen. Dabei sollen sie auch des Gefängnisses des Volkes Gottes gedenken, als sie siebzig ganze Jahre in Babylonien gefangen gewesen waren. Item der schönen Tröstungen, mit denen sie getröstet worden waren, welche Jesaja in seiner Prophetie vom vierzigsten an bis zum neunundvierzigsten Kapitel beschreibt. Wir sollen eingedenk sein, dass der Herr gut, gnädig und allmächtig ist, weshalb er uns wohl zu helfen vermag. Und er kennt auch viele Mittel, uns zu helfen. Sehen wir nur zu, dass wir die Tyrannen nicht mit unserem vermessenen [schnöden] und gottlosen Leben stärken. Es mag der Herr die Herzen und Gemüter der Regenten (weil die Herzen der Könige in seiner Hand wie Wasserbäche sind, die er leiten kann, wohin er will) bald ändern, so dass die, die bisher am grausamsten gegen uns gewesen waren, von Stund an gütig und freundlich werden. Und jene, die die wahre Religion aufs grausamste verfolgt haben, werden von nun an (die ehemals Verfolgten) aufs Allerinbrünstigste lieben und mit größtem Fleiß fördern. Davon haben wir sehr hübsche und klare Zeugnisse in den Geschichtsbüchern der Könige. Item in den Büchern Esra und Nehemia, auch in der Prophezeiung Daniels. Auch bei Nebukadnezar [Nabuchodonosor], der sich erdreistete, die getreuen und tapferen Märtyrer Gottes im feurigen Ofen zu braten und zu vertilgen wegen ihres wahren Glaubens. Aber bald ward er ein anderer und lobte Gott, dass er sie im Feuer erhalten hatte, und fachte selbst durch veröffentlichtes Edikt und Mandat an, den wahren Gott und die wahre Religion zu predigen und auszubreiten. Ebenso Darius, der Sohn Assyriens, der Daniel in die Löwengrube werfen ließ. Aber Gott ändert ihn gleich dermaßen, dass er ihn wieder herauszog und alle Feinde Daniels in die selbe Grube den Löwen zum Zerreißen vorwarf. Kyrus, der allergewaltigste König der Perser, förderte ebenso die wahre Religion. Item Darius Hystaspes, der mit Beinamen Artaxerxes genannt wird, der dem Volk Gottes vortrefflich half in ihrem Vorhaben, die Stadt und den Tempel zu Jerusalem wieder aufzubauen. Darum sollen wir an der Hilfe Gottes niemals zweifeln. So plagt auch etwa GOTT die Tyrannen oder nimmt sie gar hinweg durch schnelle und grausam schreckliche Krankheiten. [Tyrann: tödte.] Wir sehen das daran, wie es dem Antiochio, dem großen Herodes und seinem Enkel Herodes Agrippa, ebenfalls dem Marentio und anderen Gottes und der Welt Feinden ergangen ist. Manchmal erweckt Gott auch Helden und tapfere Männer, die solche Tyrannen töten und das Volk Gottes erlösen. Viele Beispiele davon stehen im Buch der Richter und der Könige. Damit aber diese Beispiele nicht missbraucht werden, muss man dabei auf die Berufung Gottes sehen. Denn welcher diese nicht hat, oder vor dieser Berufung etwas anfacht, der wird mit seinem Umbringen der Tyrannen nichts schaffen noch ausrichten; vielmehr ist zu befürchten, dass er es nur noch schlimmer macht. Soweit zu diesem Thema.

Von Erwählung der Obrigkeit.

Damit ich aber wieder auf mein vorgenommenes Thema komme, ist auch etwas zu sagen von der Erwählung der Obrigkeit und dabei zum Ersten, wem es zusteht und gebührt, die Obrigkeit zu setzen und zu erwählen. Danach: Wen und was für Leute man dazu erwählen solle. Und zum letzten: Vom Einsetzen und Vorstellen derer, die erwählt wurden.

Wem zusteht, die Obrigkeit zu erwählen.

Vom ersten Stück, wem es zustehe und gebühre, die Obrigkeit zu erwählen, da sollte [mag] kein festes Gesetz noch eine Regel gegeben oder vorgeschrieben werden. Denn an etlichen Orten erwählt die Allgemeinheit [ein gange gemein] die Obrigkeit. An etlichen wählen aber die Oberen einander selbst. An etlichen Orten werden die Fürsten aus Geburt zu Oberherren. Bei diesen Ordnungen soll man bleiben und diesbezüglich keine Unruhe oder Neuerung verursachen. Denn gewöhnlicher Weise werden einem jeglichen Reich und einer jeden Stadt ihre alten Bräuche und Gewohnheiten gelassen, es sei denn, dass solche Bräuche und Gewohnheiten gar unangemessen oder unerträglich sind. Wo aber Fürsten aus einem Stamme oder Geschlecht her geboren werden, da soll man Gott stets treulich anrufen und bitten, dass er gute Fürsten geben wolle.

Was für Leute zur Obrigkeit sollen erwählt werden. Exod. 18.

Zum anderen aber: Wen oder was für Leute man dazu erwählen soll, das stellt uns Gott selbst vor mit diesen Worten: Siehe dich um unter allem Volk nach redlichen Leuten, die gottesfürchtig, wahrhaftig und des Geizes Feind sind. Die setze über sie zu Oberen über Tausend, über Hundert, über Fünfzig und über Zehn, dass sie das Volk allezeit richten. Da fordert Gott vier Dinge an einem guten Ratsherren. 

Zum ersten, dass er ein beherzter, tapferer, redlicher Mann sei, das heißt, dass er dasjenige verrichten möge, wozu er erwählt wird. Das Vermögen steht aber mehr im Gemüt, als denn in Leibeskräften und Gütern. Denn es wird hierbei gefordert, dass er nicht ein Tor sei, sondern weise und erfahren. Gleich wie auch von einem Hauptmann oder Heerführer gefordert wird, dass er eine Ordnung machen könne, und an einen Fuhrmann, dass er den Wagen leiten könne. Also auch an einen Oberen, das er das Regiment verwalten könne. Dabei wird dann auch Tapferkeit gefordert, dass er sich auch dessen annehme [des dörffe unterstehen?], das er kann und versteht. Denn dieses Amt bedarf großer Tapferkeit und Geduld.

[Eine Obrigkeit soll rechtgläubig sein.] Zum anderen wird gesetzt, das anerkanntermaßen das vornehmste und größte ist, nämlich, dass er gottesfürchtig sei, rechtgläubig, nicht abergläubisch. Keiner, der mit Abgötterei umhergeht, wird das Regiment erhalten, sondern es vielmehr verderben. Und wie Gottlose eben sind: Sie werden die Wahrheit und die Religion nicht fördern, sondern verfolgen sie und reißen sie aus. Darum sollen wir die erwählen, die der wahren Lehre anhängen und gesunden Glaubens sind, die dem Wort Gottes glauben und wissen, dass Gott stets bei den Menschen zugegen ist und einem jeden vergilt nach seinem Verdienst. Darum bekennt auch der Kaiser Justinianus in seinen Nouellis Constitut. 109. öffentlich, dass sein ganzer Schirm von Gott sei, warum es auch angemessen sei, dass alle Gesetze und Ordnung auf ihn sehen. Und gleich darauf: Es weiß ein jeder, dass die, welche vor uns das Kaisertum verwaltet haben, wie Leo seligem Gedächtnis, und der teure Fürst Justinus unser Vater, in ihren Constitutionibus und Ordnungen überall verboten haben allen Ketzern, das diese zu keinem Heerzug angenommen noch Gemeinschaft haben sollen in der Verwaltung der allgemeinen Ämter, damit sie nicht durch Anlass des Mitreisens oder durch Verwaltung allgemeinen Handels und Geschäften den Glauben und die Einigkeit der heiligen Katholischen und Apostolischen Kirchen zertrennen und verderben. Und solches haben auch wir getan. Dies schreibt gedachter Kaiser. Und zwar: Wer gottesfürchtig ist, der ruft Gott an und empfängt auch Weisheit von Gott. Und wenn die Oberen Freunde Gottes sind, und sich oft mit Gott besprechen, so ist gute Hoffnung,  dass es ein seliges Regiment sein werde. Hingegen ist nichts anderes zu erwarten als alles Unglück, wenn Feinde Gottes im Regiment sind. 

Zum Dritten wird auch erfordert vom jemand, den man zur Obrigkeit berufen und erwählen soll, dass er wahrhaftig sei, nicht ein Blender/Großmaul [gleißner], nicht ein Lügner, Betrüger, arglistig, der aus einem Munde Kaltes und Warmes blasen könnte, sondern dass er treu, einfältig, offenbar und aufrichtig [auffrecht] sei. Dass er nicht mehr verspreche, als er halte. Dass er den Eid nicht gering achte oder eidbrüchig sei.

Zum Vierten: Dieweil viele in der Obrigkeit nichts anderes suchen als Reichtum und Mehrung ihres zeitlichen Guts, so heißt Gott, dass solche abbestellt werden sollen, und er verbietet allen guten Oberen den Geiz, ja, er fordert, dass sie den Geiz hassen. Gleich wie er auch an einem anderen Ort verbietet, Gaben zu nehmen, sondern auch gebietet, dass man solche ausschlagen soll. Denn Geiz und Gabensucht sind ein Verderbnis auch der guten Obrigkeit. Wer geizig ist und Geschenke liebt, der ist käuflich [dem ist es alles feyl], Gericht und Recht, Rechtssprüche, Freiheit, Gerechtigkeit, ja das Vaterland selbst. Und obwohl Gott hier nur das allerschädlichste Laster nennt, so ist doch kein Zweifel, dass er damit auch andere dergleichen Laster und Untugenden verbietet und will, dass dieselben weit von einer guten Obrigkeit entfernt seien, als da sind: Hoffart, Missgunst, Neid, Hass, Zorn, Spielsucht, Völlerei, Trunkenheit, Hurerei, Ehebruch, und was dergleichen mehr ist.

Diese jetzt herangezogene Stelle wird auch durch andere Stellen des Gesetzes erklärt, wenn man sie gegenüber stellt. So wie Mose in Deuteronomium [5. Buch Mose] im 1. Kapitel zum Volk spricht: Schaffet her weise und verständige Leute, die unter euren Stämmen bekannt sind. In welchen Worten Mose abermals drei Dinge erfordert an denen, die man zur Obrigkeit setzen will. Zum ersten, dass sie weise seien. Der Anfang aber der Weisheit ist die Furcht Gottes. Darum soll man solche Leute anstellen [ordnen], die Gottes und der wahren Religion Freund seien, die auch weise und witzig, nicht Toren und Narren sind. Zum anderen, dass sie verständig seien, das heißt vorsichtig, wohlgeübt durch lange Erfahrung in allerlei Belangen [händeln], dass sie jede zufallende Sache nach Vermögen der Satzungen richten. Zum Dritten, dass sie bekannt seien, das ist, dass deren Frömmigkeit und Redlichkeit jedermann offenbar sei, dass von ihrem so angetriebenen und geführtem Leben und ihren Sitten im Wesentlichen nichts als Gutes bekannt und bezeugt sei. Dass sie auch großen Ansehens seien, nicht verachtet als leichtfertige, unnütze Leute.

In Numeri im 27. Kapitel spricht Mose: Der Herr, der Gott der Geister allen Fleisches, wolle einen Mann setzen über die Gemeinde, der vor ihnen aus- und eingehe und sie aus- und einführe, dass die Gemeinde des Herrn nicht sei wie Schafe, die keinen Hirten haben [V. 15–17]. Aus diesen Worten des teuren Propheten Gottes wir auch lernen, wen man zur Obrigkeit erwählen, und wie auch dasselbige geschehen solle. Moses bittet zum Herrn um einen geschickten Mann. Also sollen auch wir Gott, den Erforscher aller Herzen, bitten und anrufen, dass er solche Leute gebe, an denen kein Mangel oder Fehl sei. Denn wir werden oft an der äußeren Gestalt eines Menschen betrogen, dass wir etwa einen für einen frommen, aufrichtigen, gottesfürchtigen Mann halten, der aber nichts als ein großer Scheinheiliger [gleißner] ist. Gott allein aber kennt die Herzen, den soll man bitten, dass er uns im Erwählen nicht irren oder fehlen lasse. Keiner wird aber besser sein, als einer, welcher den heiligen Geist Gottes hat, und derselbe soll dann auch in allen Dingen und Handlungen tun und lassen sein. Faulbäuche richten und treiben nur andere Leute an und sehen darauf, dass sie nie an die Spitze gestellt werden. Es ist auch sehr unrecht und unangemessen [unbillich], wenn einer anderen Leuten viel vorschreibt, er aber niemals etwas Rechtes oder Gutes tut. Einer, der zur Obrigkeit erwählt ist soll ein Hirte sein, der Tag und Nacht wache und hüte, dass die Herde Gottes nicht in Gefahr komme oder zerstreut oder verderbt werde. Aus diesem Grunde sind nur solche dem Volk Gottes als Oberste zu setzen.

Von der Vorstellung oder Einsetzung der Obrigkeit.

Zuletzt noch, was die Vorstellung oder Einweihung der Obrigkeit betrifft, gibt es unterschiedliche Gebräuche hin und her, sei es in Städten oder Ländern. Jedes Volk aber sei frei gelassen in seinen Gewohnheiten. Doch ist das der beste Brauch, wo man am allerwenigsten äußerliches Gepränge, aber am allermeisten das Gebet braucht. Es ist aber nicht ohne Frucht, sondern nützlich, dass man die, die zur Obrigkeit erwählt sind, mit einer gewissen und ziemlichen Zeremonie einsetze und vorstelle, und dies vor dem ganzen Volk, damit ein jeder wisse, welche Väter des Volkes seien, und welchen er die Ehre schuldig sei, welchen er gehorsam sein solle und für welche er beten solle. Also ist auch unter dem Volk Gottes eine bestimmte Zeremonie gewesen, die sie gebraucht haben, um ihre Könige und die Obrigkeiten einzuweihen. Welches gewisslich von Gott nicht vergeblich, sondern nützlich und von notwendigen Ursachen wegen befohlen und eingesetzt worden ist. Was aber weiter von der Obrigkeit zu reden ist, wollen wir uns aufsparen bis morgen, jetzt aber den Herrn loben und anrufen. Ihm sei Lob und Ehre in Ewigkeit. Amen.«

Textquelle: Heinrich Bullinger (1504–1575): Haußbuch. Die Sechzehende Predig (Heidelberg: Martinum Agricolam, 1568), Doppelseiten LXXIIII–LXXVIII. Diese Predigt ist auf Doppelseite LXXI überschrieben mit: »Von dem anderen Gebot der anderen Tafel, welches in der Ordnung der Zehn Gebote das Sechste ist, nämlich: Du sollst nicht töten. Item von der Obrigkeit.« Der Drucktext wurde 2021 behutsam in verständlichere Rechtschreibung und Formulierung übertragen. Überschriften und Fettdruck hinzugefügt, Kursivschrift im Original. Marginalien im Original stehen fettgedruckt in eckigen Klammern oder wurden als Überschriften verwendet. Alle sonstigen Ergänzungen in eckigen Klammern wurden hinzugefügt. Verbesserungs- und Korrekturhinweise willkommen.

Johann Neuton über die biblische Lehre der Gnadenwahl

Viele kennen den Engländer John Henry Newton (1725–1807) als jenen Sklavenhändler, der sich zum Christentum bekehrte, das weltbekannte Lied Amazing Grace (1772) dichtete und später entschieden für die Beendigung der Sklaverei eintrat. Er verfasste auch viele lehrreiche Briefe, die gesammelt zu Lebzeiten veröffentlicht wurden. Im November 1775 schrieb er im Rahmen eines längeren Schriftwechsel mit einem »lieben Freund« (dem »Hochehrwürdigen Herrn S.«) folgendes:

»Sie mögen bemerkt haben, daß ich verschiedenemalen von Prädestination oder Gnadenwahl zu reden, mit Fleiß vermieden habe, nicht als wenn ich mich der Lehre schämte, weil, wenn sie in der That dumm, schrecklich und ungerecht wäre, die Schuld davon mit Recht nicht auf mich, denn ich erfand sie ja nicht, sondern auf die h. Schrift fiele, worin sie, wie ich gewiß versichert bin, in eben so deutlichen Worten vorgetragen wird, als die Wahrheit, daß Gott Himmel und Erde schuff. Ich bekenne, daß ich nicht umhin kann, mich darüber zu verwundern, daß Leute, die Hochachtung gegen die Bibel vorgeben, so geradezu und stark ihren Abscheu an dem erklären sollten, was doch die Bibel so ausdrücklich lehret, nemlich: daß Gott nach seiner Gnade und Wohlgefallen einen Unterschied unter den Menschen macht, wenn auch gleich von Natur kein Unterschied unter ihnen Statt findet, und daß alle Dinge, die die Seligkeit solcher Menschen betreffen, durch eine göttliche Predestination oder Vorherbestimmung untrüglich gesichert sind.

Ich gebe dieses nicht für eine vernünftige Lehre aus, (wiewol sie mir im höchsten Grade vernünftig vorkommt) sondern sie ist eine Schriftlehre, oder wenn sie das nicht ist, ist die h. Schrift eine blosse wäckserne Nase, und hat keinen entschiedenen Sinn. Was für Geschicklichkeit wird doch dazu erfordert, um viele Stellen so auszulegen, und ihnen einen solchen Sinn zu geben, daß sie die Vorurtheile, die wir von Natur gegen Gottes unumschränkte Oberherrschaft hegen, besser begünstigen! Math. XI, 25. 26. und XIII, 10–17. Marc. XIII, 20. 22. Joh. XVII, hin und wieder in diesem Capitel. Joh. X, 26. Röm. VIII, 28–30. und IX, 13–24. und XI, 7. Ephes. I, 4. 5. 1Pet. I, 2. […]

Jedoch, wie gesagt, ich habe mir vorgenommen, diesen Punkt dahingestellt seyn zu lassen; weil, so wahr und nothwendig auch immer derselbige an sich selbst ist, die Erkenntniß und das Begreifen desselben nicht nothwendig erfordert wird, um ein wahrer Christ zu seyn, wiewol ich auch fast nicht glauben kann, daß Einer, dem es daran fehlt, ein ächter standhafter Gläubiger seyn kann. […]

Aber ich will es ganz kurz sagen. Ich glaube, daß alle Menschen, weil sie vor Gott verderbt und strafbar sind, von Gott, ohne daß es seiner Gerechtigkeit zum Vorwurf gereichen könnte, hätten mögen sich selbst überlassen werden, um verlohren zu gehen, so wie es gewiß ist, daß er es in Ansehung der gefallenen Engel gethan hat. Allein es gefiel ihm, Barmherzigkeit zu erzeigen, und Barmherzigkeit muss frey seyn. Wenn der Sünder irgendeinen Anspruch darauf hätte, in sofern wäre es Gerechtigkeit und nicht Barmherzigkeit. Er, der unser Richter einmal seyn wird, versichert uns, daß wenige die Pforte finden, die zum Leben führet, weil viele auf dem Wege, der zum Verderben führet, wandeln, und sich untereinander drängen. […] Der Richter der ganzen Erde will Recht thun. Er hat einen Tag vestgesetzt, an welchem er es auch offenbaren will, daß er Recht gethan habe, so daß alle davon überzeugt werden sollen. Bis dahin halte ich es für das Beste, die Sache auf sein Wort anzunehmen, und nicht zu streng dasjenige zu richten, welches dem Jehovah zu thun zukommt.«

Johann Neuton [John Newton]: Unterhaltungen über wichtige Herzensangelegenheiten in Briefen an vertraute Freunde. Aus dem Englischen übersetzt. Erster Band (Elberfeld: Chr. Wilh. Giesen, 1791), S. 345–347.362–363 (17. November 1775). Hervorhebungen hinzugefügt.

Concursus Dei – Die göttliche Mitwirkung in allen Dingen

Aufmerksamen Bibellesern entgeht nicht, dass bestimmte Taten und Vorkommnisse sowohl Menschen als auch Gott zugeschrieben werden. Dies zu verstehen ist nicht leicht. Wie kann es zum Beispiel sein, dass die Heilige Schrift einerseits Gott als souverän (ohne Anstoß oder Hilfe von außen, also monergistisch) Handelnden beschreibt, gleichzeitig aber die Schrift Menschen dieselbe Handlung gebietet oder gestattet und damit (moralisch) diese Tat voll in die menschliche Verantwortung legt? Wer ist dann letztlich der verantwortlich Handelnde? Der Mensch oder Gott? Wer ist der effektiv Handelnde? Der Mensch oder Gott?

Diese Sache wurde schon lange erkannt, beschrieben und erforscht. Die Theologen nennen es den Concursus Dei oder Concursus Divinus. Gemeint ist damit die Kongruenz (das Zusammenfallen) von göttlichem und menschlichem Handeln. Dabei geht es bei den unterschiedlichen Akteuren zwar um das selbe Geschehnis, aber nicht zwingend um die gleichen Motive der Handelnden.

Am Beispiel des Leidens des Hiob (Hiob/Job 1) ist dies gut zu erkennen. Drei Handelnde sind klar benannt: (1) Satan löste das Leiden Hiobs aus, weil er Gott herausfordern wollte mit der Behauptung, dass Hiob nur deswegen gottesfürchtig lebe, weil Gott ihn segne und Hiob um dieses Segens Gottes (Reichtums, Gesundheit usw.) willen –also rein opportunistisch– Frömmigkeit spiele. (2) Die Sabäer und die Chaldäer griffen aus reiner Beutelust die Herden Hiobs an und raubten die Tiere. (3) Gott erlaubte Satan durch vollmächtige Anweisung, dass er Hiob bis zur jeweils festgesetzten Grenze schaden dürfe. – Hinzu kommt ein Sturm, der „wie zufällig“ ein Haus zum Einstürzen und alle Kinder Hiobs zu Tode brachte. – Wer war nun jeweils der Handelnde, wer war der moralisch Verantwortliche: Gott, Satan, die Sabäer/Chaldäer, jemand anders – oder keiner der Genannten?

Festhalten kann man: Drei Parteien verursachten das Leiden des Hiob, aber ihre Absichten (Motive) waren sehr unterschiedlich: (1) Satan wollte Hiob –und damit dessen Gott– diskreditieren. (2) Die Sabäer/Chaldäer wollten sich am Gut anderer gewalttätig bereichern. (3) Gott wollte den Glauben des Hiob offenbaren und beweisen. – Jeder der Handelnden war am Leiden Hiobs aktiv beteiligt, aber jeder auf unterschiedlicher Ebene und mit unterschiedlichem Beweggrund. Der Beweggrund Gottes war absolut rein und gut, der Beweggrund der anderen zweifelsohne bösartig.

Diese Differenzierung ist notwendig für das Verstehen eines Concursus Dei in der Heiligen Schrift. Sie erklärt uns, wie Gott selbst Böses vorherbestimmen (ordinieren) kann, ohne selbst des Bösen schuldig zu werden. Böses ist stets böse (und Gott legt dafür den Maßstab fest). Gott hat aber niemals böse Absichten und er tut niemals Böses. Er erfährt noch nicht einmal ein Verlangen danach, hat vielmehr größte heilige Abscheu vor allem Bösen. Aber Gott kann durch die bösen Absichten und die daraus folgenden Handlungen anderer dergestalt wirken, dass seine guten Absichten zustande kommen.

Wer das nicht verstanden hat, geht leicht an zentraler Stelle (bezüglich des Wesens und Handelns Gottes, also in der Fundamentaltheologie) in die Irre. Dies wird sehr deutlich an der denkbar bösesten Tat aller Zeiten: an der Ermordung des menschgewordenen Sohnes Gottes durch gesetzlose, böse Menschen, die aber gleichzeitig nach dem festen Ratschluss und Vorsatz Gottes geschah:

Männer von Israel, hört diese Worte: Jesus, … hingegeben nach dem bestimmten Ratschluss und nach Vorkenntnis Gottes, habt ihr durch die Hand von Gesetzlosen an das Kreuz geschlagen und umgebracht.

Apostelgeschichte 2,22-23 (ELB03)

Denn in dieser Stadt versammelten sich in Wahrheit gegen deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, sowohl Herodes als auch Pontius Pilatus mit den Nationen und den Völkern Israels, um alles zu tun, was deine Hand und dein Ratschluss zuvor bestimmt hat, dass es geschehen sollte.

Apostelgeschichte 4,27-28 (ELB03)

Freiheit Gottes. Auch jenseits der oben gegebenen Einzelbeispiele lehrt die Heilige Schrift, dass alles in der Schöpfung Geschehende im Rahmen und gemäß der Zielsetzung der göttlichen Vorsehung und Zuvorbestimmung erfolgt. Auch im ewigen Heilswerk Gottes geht alles »nach dem Vorsatz dessen, der alles wirkt nach dem Rat seines Willens« (Epheser 1,11b). Kein geschaffenes Wesen wirkt mithin völlig autonom, denn dafür mangelt diesem die Macht (etwas zu tun), die Autorität (etwas zu veranlassen) und das Wesen (der autonomen Souveränität). Nur Gott ist und wirkt „aus sich selbst heraus“ (sog. Aseität Gottes), alle Geschöpfe hingegen existieren ursprünglich und beständig alleine durch den Willen und die Erhaltung seitens ihres Schöpfers (vgl. Hebräer 1,3). Mit einem technischen Metapher platt gesagt: Jedes Geschöpf hängt existenziell und lebensenergetisch an der Steckdose des Schöpfers. Gott hat das Wesen und den Lebenskontakt selbst hergestellt, niemand anderes. Zieht Gott den Stecker, fällt das Geschöpf ins Nichts (Tod), in die Wirkungslosigkeit; die menschliche Seele jedoch ist unsterblich. Jede Lebensäußerung, auch die böse Tat, ist nur möglich, solange Gott dem Geschöpf den Lebensodem erhält. Kein Geschöpf ist mit eigenem Batteriesatz oder Kraftwerk lebens-autonom, auch nicht eine Sekunde, nur der Schöpfergott lebt aus sich ewig. (Dies zu bedenken gehört u. a. zur Theodizee-Frage.)

Verantwortung von Mensch und Engeln. Die Heilige Schrift lehrt, dass Gott den von ihm geschaffenen Engeln und Menschen im Rahmen der göttlichen Schöpfungsordnung Aufgaben und die zu deren Erledigung notwendigen Fähigkeiten, Freiheiten, Kräfte und Autoritäten verliehen hat. Verantwortung als ethisches Prinzip ist ein Dreiklang von Subjekt, Objekt und Instanz: Gott macht seine Geschöpfe (Subjekt) Ihm gegenüber (Instanz) verantwortlich für alle ihre Taten und Absichten (Objekt). Versucht ein Geschöpf, seine von Gott gesetzten Grenzen zu überschreiten, ist es ohne Ausweg dem göttlichen Urteil unterworfen und – nach göttlichem Wort – dem Tod geweiht. Die Schrift lehrt deutlich die persönliche Verantwortung vor Gott, u. a. hier:

Denn es steht geschrieben: „So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir wird sich jedes Knie beugen, und jede Zunge wird Gott bekennen“ [Jesaja 45,23.]. So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.

Römerbrief 14,11-12 (ELB03) [Fettdruck hinzugefügt]

Weitere Beispiele zum Zusammenwirken menschlich verantwortlichen Tuns und göttlich souveränen Handelns im selben Geschehen:

(1) Wer bewirkt die geistliche Herzensbeschneidung (Bekehrung)?: Gott befiehlt seinem erwählten Volk Israel: »So beschneidet denn die Vorhaut eures Herzens!« (5. Mose 10,16a). Gleichzeitig gilt die göttliche Verheißung: »Und JHWH, dein Gott, wird dein Herz und das Herz deiner Nachkommen beschneiden, damit du JHWH, deinen Gott, liebst mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele, damit du am Leben bleibst.« (5. Mose 30,6). – Was menschliche Tat und Verantwortung ist, ist vorlaufend und begleitend ebenso Gottes souveräne Tat und gnädiges Geschenk. Der Apostel Paulus erklärt diesen Zusammenhang und die Priorität des göttlichen Wirkens im zeitlichen, praktischen Heil u. a. in Philipper 2,12–13 und betreffs des ewigen Heils u. a. in Epheser 2,1–10 (zusammengefasst in 2,8–10; vgl. Römer 2,29; Philipper 3,3). Schon Jeremia hatte diese Prioritäten und Zusammenhänge richtig erkannt: »Bekehre mich, dass ich mich bekehre, denn du bist JHWH, mein Gott« (Jeremia 31,18b).

(2) Was motiviert zum christlichen Dienst?: Paulus bezeugt: »Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin; und seine Gnade gegen mich ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe viel mehr gearbeitet als sie alle; nicht aber ich, sondern die Gnade Gottes, die mit mir war.« (1. Korintherbrief 15,10). Die Gnade Gottes ist nicht passiv bleibendes Geschenk, sondern aktive, lebensverändernde Kraft im Glaubenden. Der von der Gnade Veränderte offenbart diese Veränderung in fleißigem, Gott hingegebenem Dienst.

(3) Wer hat unsere Werke getan und vollendet?: »JHWH, du wirst uns Frieden geben, denn du hast ja alle unsere Werke für uns vollendet.« (Jesaja 26,12). Ein Mensch betreibt seine eigenen Werke, aber Gott vollendet sie für ihn.

Weitere Beispiele für Concursus Dei in der Schöpfung und im Heilswerk Gottes samt Erläuterungen sind hier aufgezählt.

Die Gnade Gottes ist erschienen … und unterweist uns, gottselig zu leben

Die 95 Reformationsthesen Martin Luthers (1483–1546) wurden durch die üble Lehre und Praxis der Römisch-katholischen Kirche provoziert, die er als Augustinermönch (1505–1521?) bestens kannte. Schon in These 1 formuliert er daher unter Verweis auf Matthäus 4,17, dass Gott gewollt habe, »dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll«. Wie aber gelingt dem ein für alle Mal Gerechtfertigten solch ein gottseliges Leben echter Umkehr? Wie ist es möglich, dass ein an Jesus Christus Glaubender praktisch lernt, »besonnen und gerecht und gottselig [zu] leben« (Titus 2,12)?

Auf diese Frage rechter Glaubenspraxis wurden und werden leider falsche Antworten gegeben und damit die Glaubenden irregeleitet. Anhand einiger Schlüsselstellen der Schrift soll daher die biblische Lehre der Heiligung, des Prozesses also, der den Glaubenden im Leben der Nachfolge praktisch in das Bild des Sohnes Gottes verwandelt, umrissen werden, um Irrwege zu erkennen, zu vermeiden und echtes Wachstum zu erleben.

Zum 500. Reformationsjubiläum 2017 veranstaltete das EBTC e. V. in Lutherstadt Wittenberg eine mehrtägige Reformationskonferenz. Am 20.05.2017 wurde ein Vortrag zum angegebenen Thema gehalten, dessen schriftliche (Lang-)Fassung hier zur Verfügung gestellt wird (PDF, 670 kB). Es ist nicht gestattet, diesen Beitrag kommerziell zu nutzen oder online im Internet zur Verfügung zu stellen.

Gliederung des Beitrags

1 Leben wir in „beständiger Reformation“?

2 Der Kontext der Heiligung

2.1 Rechtfertigung
2.2 Verherrlichung
2.3 Heiligsein und Heiligwerden (Heil und Heiligung)
2.4 Gnade
2.5 Zusammenfassung
2.6 Was ist Heiligung und wie geschieht sie?
2.6.1 Warum müssen Heilige heilig(er) werden?
2.6.2 Wie geschieht Heiligung?
2.6.3 Wie heilig müssen Heilige werden?
2.6.4 Wo geht Heiligung „schief“?

3 Die Lehre der biblischen Heiligung nach Titus 2,11–15
3.1 Biblische Heiligung ist ein Gnadenwerk des Heiland-Gottes
3.2 Biblische Heiligung hat Jesus Christus zum Vorbild
3.3 Biblische Heiligung geschieht in aktiver, dynamischer Unterweisung
3.3.1 Unterweisung im Lebensvollzug
3.3.2 Unterweisung zum Lassen (Gelassenhaben)
3.3.3 Unterweisung im Tun
3.3.4 Biblische Heiligung ist vom Zweiten Kommen Jesu motiviert
3.4 Biblische Heiligung erleben nur Erkaufte und Gereinigte
3.5 Biblische Heiligung findet Ausdruck und Lebensinhalt im Eifer für Gute Werke
3.6 Biblische Heiligung muss Gegenstand der biblischen Ermahnung sein

4 Erfolgt biblische Heiligung monergistisch oder synergistisch?
4.1 Biblische Heiligung ist keine rein passive Veranstaltung
4.2 Biblische Heiligung erfolgt in einer lebendigen Vater-Sohn-Beziehung
4.3 Biblische Heiligung ist keine rein menschlich-aktive Veranstaltung
4.4 Biblische Heiligung geschieht unter Anwendung geistlicher Mittel

5 Drei Schlussfolgerungen
5.1 Biblische Heiligung verlangt anwendungsorientierte Auslegungspredigt
5.2 Biblische Heiligung verlangt vom Glaubenden Aktivität und Eifer
5.3 Biblische Heiligung schenkt dem Glaubenden alles zum Heil Notwendige

Literaturverzeichnis

Auserwählung – Fragen über Fragen

Die Frage der Auserwählung (kurz: Erwählung) ist unter den Christen seit Jahrhunderten umstritten. Was bezeichnet die Bibel als „Auserwählung“, was lehrt sie darüber? Auserwählung bezeichnet mehrere Akte Gottes, darunter auch die Auserwählung zum Heil.

Die Auserwählung zum Heil betrifft den in der vorzeitlichen Ewigkeit in göttlicher Liebe und mit göttlich freiem Willen gefassten Plan Gottes, bestimmte Menschen aus der Menge der zurecht verdammten Sünder wirksam herauszurufen, sie zu retten und sie in die ewige Lebensgemeinschaft mit sich selbst zu holen. Da die Bibel mehrfach und klar bezeugt, dass Gott Menschen zum Heil auserwählt hat, bedeutet das Leugnen dieser Tatsache ein Verlassen der uns göttlich geoffenbarten Wahrheit in der Heiligen Schrift und einen schwerwiegenden Affront gegen das souveräne Gnadenwirken unseres Heiland-Gottes und seine damit verbundene exklusive Herrlichkeit und Ehre.

Der Apostel Paulus beschreibt die Auserwählung zum Heil in Epheser 1 näher:

  • Er sagt, dass Gott »vor Grundlegung der Welt« (unserer Welt) auserwählt hat. Kein Geschöpf war also anwesend, kein Mensch hatte Anteil an dieser Wahl, weder durch seine Worte, sein Wesen noch seine Taten. Aber Gott war da, der Schöpfer und souveräne Herr aller Dinge und Wesen. Als solcher hat Er vor aller Zeit auserwählt.
  • Er sagt, dass Gott auserwählt hat »in ihm«, das ist Christus. Es gibt also keine Auserwählung und damit keine Auserwählten außerhalb von Christus. Gott hat damit entschieden, dass alles Heil nur in Christus zu haben ist. Die Einsmachung mit Christus ist elementare Wahrheit des Heils in Christus (siehe: »in ihm«, »in dem«, »in Christus« u. ä. in Epheser 1).
  • Er sagt, dass Gott auserwählt hat, »dass wir heilig und untadelig seien vor ihm in Liebe«. Das ist das Ziel, das Wozu, der Telos, der Auserwählung Gottes. In solcher Weise vor Gott zu sein bedeutet das größte Glück eines Menschen. Die völlige Errettung ist selbstverständlich Teil dieses Glücks. Die Behauptung, bei Erwählung ginge es nicht (auch) um das Heil, müsste jedem Bibelleser mithin als Unsinn offenbar sein. Gleiches gilt für die Behauptung, bei der Erwählung gehe es (nur) um die Sohnschaft (Epheser 1,5), nicht um das Heil: Wer die Sohnschaft hat, mithin ein Sohn Gottes ist, ist auch absolut sicher gerettet.

Trotzdem umwabert viel trüber Nebel und beißender Rauch die Gedanken und Lehren von Christen und Predigern in Sachen „Auserwählung“. Diese selbstverschuldete Finsternis in den Gedanken und Lehren über das Heil Gottes ist teilweise Ergebnis mangelnden Fleißes, die Schrift unter Gebet gründlich zu studieren, teilweise Ergebnis eines nicht aus der Schrift entnommenen Gedankenrahmens (Paradigmas), in der die exklusiven Rechte Gottes als Gott nicht gebührend Platz gefunden haben. Anders gesagt: Man weiß und glaubt zu wenig von der Wahrheit und/oder klammert sich an zu viele nicht-biblische Presuppositionen. Paul K. Jewett schreibt:

»Die Frage der individuellen Auserwählung hat mehr Menschen dazu verführt, die Heilige Schrift so zu lesen, dass sie dort (nur) das finden, was sie finden wollen (anstelle auf die Heilige Schrift zu hören, auch auf das, wovor sie Angst haben zu hören), als praktisch jede andere theologische Streitfrage.«

Paul K. Jewett, Election and Predestination (Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1985), S. 67

Viele Fragen zur Auserwählung werden von Interessierten gestellt, wichtige, mitunter schwierige Fragen. Das ist ein guter Anfang und Motivation für demütige Selbstreflexion und fleißiges Bibelstudium unter Gebet. Bruce Demarest liefert dankenswerter Weise in seinem Werk The Cross and Salvation (Wheaton, IL: Crossway Books, 1997) eine gute Sammlung solcher wichtigen Fragen, die in folgender Liste mitverwendet wurden:

  • F1:    Geht es bei der Auserwählung Gottes um die Berufung einiger Menschen nur zum (zeitlichen) Dienst, nur zur (ewigen) Errettung oder zu beidem?
  • F2:    Ist die Auserwählung bedingt (also dadurch bedingt, dass Gott die positive Reaktion einer Person auf das Evangelium notwendigerweise vorhersehen muss), oder ist sie bedingungslos (also ausschließlich in Gottes souveränem Willen und seinem Wohlgefallen gegründet und durch ihn verursacht)? Anders gesagt: Folgt logischerweise (kausal) die göttliche Auserwählung dem menschlichen Glauben, oder folgt der menschliche Glaube (kausal) der göttlichen Auserwählung?
  • F3:    Wenn die Auserwählung bedingungslos ist, wie unterscheidet sich diese Lehre dann vom heidnischen Determinismus (z. B. der Stoiker) und vom islamischen Fatalismus?
  • F4:    Ist Auserwählung passiv, also nur Gottes Ratifizierung (nachfolgende Bestätigung) der menschlichen Entscheidung, Christus zu vertrauen, oder ist sie aktiv, also Gottes vorauslaufende, souveräne Festlegung, bestimmte Menschen sicher zu retten?
  • F5:    Ist Auserwählung zur Rettung korporativ (eine [anonyme] Gruppe betreffend) oder individuell (Einzelpersonen betreffend), oder beides?
  • F6:    Betrifft die Auserwählung zum ewigen Heil nur das Ziel und den Inhalt der Auserwählung (das Wozu der Erwählung), oder auch (ggf. sogar primär) die (Einzel-) Personen, die auserwählt wurden (das Wer der Erwählung)? Geht es primär um die Sache oder um die beteiligten Personen?
  • F7:    Betrifft Gottes auserwählender Beschluss die Klasse (Gruppe) jener, die glauben werden, oder betrifft er spezifische Einzelpersonen, die Gott zuvorerkannt und ausgewählt hat?
  • F8:    Ruht die Auserwählung auf Gottes »Zuvorwissen« (rein kognitiv) oder auf Gottes »Zuvorerkennen« (beziehungsmäßig)?
  • F9:    (F8 vertieft) Was meint die Heilige Schrift, wenn sie feststellt, dass Gott die Heiligen »zuvor erkannt« hat (Röm 8:29; 11:2)? Bedeutet es nur, dass Gott in seiner Allwissenheit die glaubensvollen Reaktionen von Menschen voraussieht? Oder sagt sie damit vor allem und tiefergehender, dass Gott seine Liebe auf gewisse Sünder gelegt, eine Lebensbeziehung zu ihnen aufgebaut und folglich sie auserwählt hat, gerettet und geliebt zu werden?
  • F10:  Ist die göttliche Auserwählung einfach, nämlich nur zu ewigem Leben, oder doppelt, nämlich sowohl (manche sagen: in gleicher Weise) zum ewigen Leben also auch zum ewigen Tod?
  • F11:  Fordert die Lehre der bedingungslosen Auserwählung zur Errettung notwendigerweise (»logischerweise«) auch eine bedingungslose Auserwählung zur Verdammnis (Lehre der Reprobation)?
  • F12:  Wie rechtfertigten große Heilige der Vergangenheit, wie z. B. Luther, Calvin, Owen und Bunyan, biblisch ihren Glauben an eine »doppelte Prädestination«?
  • F13:  Liefert das Alte Testament eine andere Sicht auf die Lehre der Auserwählung, als das Neue Testament? Wie unterscheiden sich ggf. diese Sichten?
  • F14:  Welche Rolle spielt Jesus Christus in Gottes »Auserwählungsprogramm«?
  • F15:  Was bedeutet der biblische Ausdruck der Auserwählung »in Christus«? Bedeutet er, dass Glaubende erwählt wurden, weil sie eines Tages begannen, an Christus zu glauben, sich mittels dieses Glaubens »in Christus« hineinbegeben haben und Gott dies in seiner Allwissenheit vorhergesehen hatte? Oder bezeichnet es Gottes Absicht, Errettung nur aufgrund des gehorsamen Lebens und sühnenden Todes Christi zu geben?
  • F16:  Wie können wir den Vorwurf biblisch beantworten, dass die Lehre der bedingungslosen Auserwählung unfair und letztlich Gottes unwürdig sei?
  • F17:  (F16 vertieft) Kollidiert die Lehre der bedingungslosen Auserwählung mit dem in der Bibel geoffenbarten „Charakter“ Gottes?
  • F18:  Wenn Gott souverän festgelegt hat, wer errettet werden wird, würde das die Mission, das Predigen (Evangelisieren) und Überreden von Sündern und das Gebet für die Verlorenen überflüssig (o. sinnlos) machen?
  • F19:  Erzeugt die bedingungslose Sicht auf die Auserwählung nicht ein selbstzufriedenes Leben und untergräbt das Streben nach einem heiligen Leben (wie es z. B. der Methodist Wesley behauptete)?
  • F20:  Bietet die Auserwählungslehre für die Glaubenden praktischen Wert und Trost? Nennt die Heilige Schrift positive Auswirkungen dieser Lehre im Leben der Heiligen?
  • F21:  Sollte die Lehre der Auserwählung in der ganzen Welt gepredigt werden, wie Spurgeon drängte, oder sollte sie nur dem Volk Gottes in der Gemeinde (sozusagen als »Familiengeheimnis«) gelehrt werden?

Diese Fragen rund um die Lehre der Auserwählung sind wichtige. Sie erfordern sorgfältige Untersuchung anhand der Heiligen Schrift, dem »Wort der Wahrheit« (Johannes 17,17; 2.Korinther 6,7; Epheser 1,13; Kolosse 1,5; 2.Timotheus 2,15; Jakobus 1,18).

Eine Einführung und einen Überblick sowohl über die biblische Lehre der Auserwählung als auch über die verschiedenen Lehren und Ansichten unterschiedlicher christlicher Lehrschulen und Gruppen vermittelt Bruce Demarest im erwähnten Buch. Er hat seine Ausarbeitung wie folgt gegliedert (eigene Übersetzung):

1 Warum ist die Lehre der Auserwählung so »schwierig«?
2 Historische Interpretationen der Erwählungslehre
(Übers. wird nachgeliefert)
3 Die biblische Lehre der Auserwählung
3.1   Auserwählung zum Dienst
3.2   Korporative Auserwählung eines Volkes
3.3   Persönliche Auserwählung im AT: Ein Nebenthema
3.4   Persönliche Auserwählung im NT: Ein Hauptthema
3.5   Lehrt die Heilige Schrift eine »Doppelte Prädestination«?
3.6   Zusammenfassung
4 Praktische Auswirkungen der Erwählungslehre
4.1   Große Freude und Gewissheit, erwählt zu sein
4.2   Ermutigung zu Predigt, zur Evangelisation und zum Gebet
4.3   Ein positiver Stimulus für die Heiligung
4.4   Verkünde zuversichtlich: »Wer immer da will«
4.5   »Will« Gott wirklich, dass alle Menschen errettet werden?

Eine Übersetzung ins Deutsche mit vielen Ergänzungen und Erweiterungen durch Grace@logikos.club gibt es hier zum Download (PDF).

Wir haben empfangen … Gnade um Gnade

Der Apostel Johannes schreibt als einer der letzten der Autoren des Neuen Testaments. Die drei synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus und Lukas) sind alle schon einige Jahrzehnte geschrieben und verbreitet worden. Sie portraitierten den Herrn Jesus Christus als den König und Messias Israels, den Knecht Gottes und den wahren Menschen. Aber Johannes hat einen besonderen Auftrag: Er soll von Jesus Christus als dem menschgewordenen ewigen Sohn Gottes schreiben, damit Menschen an Ihn glaubend das ewige Leben haben (Johannes 20,31).

Das erste Kapitel seines Evangeliums ist voll tiefgründiger Aussagen über Christi Gottsein, Menschsein und Sendung. Johannes vergleicht das Kommen Jesu Christi mit dem größten Führer des Volkes Gottes alttestamentlicher Zeit, mit Mose:

Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben;
die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.

Johannes 1,17 (ELBCSV 2003)

Offenbar ist in Jesus Christus ein unvergleichlich Größerer zu uns Menschen gekommen, als der große Mose: der große Gott selbst. Und offenbar hat Jesus Christus etwas unvergleichlich Größeres mitgebracht, als Mose damals übermittelnd liefern konnte, nämlich Gnade und Wahrheit. Er, der als Gott selbst Licht (1.Johannesbrief 1,5) und Liebe (1.Johannesbrief 4,8) ist, bringt „uns allen“ leuchtende Wahrheit und liebende Gnade. Und dies mitnichten spärlich, sondern im Überfließen, „aus seiner Fülle“ [πληρώματος αὐτοῦ]:

Denn aus seiner Fülle haben wir alle empfangen,
und zwar Gnade um Gnade [χάριν ἀντὶ χάριτος].

Johannes 1,16 (ELBCSV 2003)

So wundert es nicht, dass vor allem das Evangelium nach Johannes eine Fund- und Schatzgrube für Beispiele, Aussagen und Lehren über die Gnade Gottes ist. Im menschgewordenen Sohn Gottes ist die Gnade Gottes sichtbar und für den Glauben rettend und beglückend greifbar geworden. Während der Apostel Paulus besonders erklärt, dass in Jesus die Gnade Gottes allen Menschen heilbringend erschienen ist (Titus 2,11ff), lehrt der Apostel Johannes vor allem, wie Gott seine Familie aus der verdorbenen, rebellischen Welt durch die Hingabe Seines einzigen Sohnes ans Kreuz rettet, ja: herausliebt (Johannes 3,16). Nun gilt für jeden Glaubenden, dass er im Sohn Gottes ewiges Leben hat, und zwar als Geschenk, nicht als Lohn, sondern „aus Gnade“ (Johannes 20,31).

Der amerikanische Theologe, Autor und Prediger Dr. Steven J. Lawson (Gründer und Präsident von OnePassion Ministries) hat eine Lehrreihe zu The Doctrines of Grace in John zur Verfügung gestellt. Es handelt sich dabei um 12 Kurslektionen zu je ca. 25 Minuten. Ein Kursteilnehmer hat freundlicherweise seine deutschsprachigen Notizen online zur Verfügung gestellt. Alle Rechte für den originalen Kurs bleiben natürlich beim Autor und beim Veranstalter Ligonier Ministries (Sanford, FL, USA, www.ligonier.org). Die Kursteilnahme mit offener Bibel sei hiermit wärmstens empfohlen.

Quellenverweise

  • Den Kurs in englischer Sprache (Original) kann man hier in verschiedenen Medien und Gruppenlizenzen kaufen.
  • Eine kostenlose Probelektion (Einleitung) des Kurses in englischer Sprache gibt es hier.
  • Kursunterlagen (Study Guide) in englischer Sprache (PDF; backup);
  • Kursunterlagen in englischer Sprache als Taschenbuch, Hörbuch und Audio-CD.
  • Kursnotizen (Mitschrift) in deutscher Sprache (PDF; backup).
  • Eine kürzere Abhandlung gleichen Themas des Baptisten R. Bruce Steward (1936–2006) ist in der Chapel Library der Mount Zion Bible Church enthalten (PDF).
  • Eine grundlegende Abhandlung über die Lehren der Gnade aus reformierter Sicht: James Montgomery Boice und Philip Graham Ryken, The Doctrines of Grace, Wheaton, IL: Crossway, 2002. Deutsch: Die Lehren der Gnade, Oerlinghausen: Betanien, 2009.
  • Eine dogmengeschichtliche Darstellung der Lehren der Gnade in der Plymouth-Brüder-Bewegung: Mark R. Stevenson: The Doctrines of Grace in an Unexpected Place. Calvinistic Soteriology in Nineteenth-Century Brethren Thought. Eugene, OR: Wipf and Stock, 2007). Deutsch: Die Brüder und die Lehren der Gnade. Wie stand die Brüderbewegung des 19. Jahrhunderts zur calvinistischen Heilslehre? Bielefeld: CLV, 2019.
  • Der bekannte Baptist und „Fürst der Prediger“ Charles H. Spurgeon (1834–1892) lehrte ebenfalls die Lehren der Gnade, siehe: Charles H. Spurgeon – Prediger der biblischen »Lehren der Gnade« (auf diesem BLOG).

»Es ist vollbracht!« – Was denn?

Als der Herr Jesus Christus am Karfreitag am Kreuz hängend sieben bedeutsame Worte aussprach, lautete das vorletzte: »Es ist vollbracht!« (Johannes 19,30 ELBCSV; vgl. Mt 27,50; Mk 15,37; Lk 23,46). Nur der Apostel Johannes berichtet es uns im Wortlaut. Danach neigte Christus sein Haupt und übergab mit dem siebten Ausruf seinen Geist Gott: Das Lamm Gottes, »das die Sünde der Welt wegnimmt« (Joh 1,29), starb in aktiver, völliger Hingabe an Gott. Der Mensch gewordene Sohn Gottes neigte sein Haupt, nicht in Resignation oder Schwäche, sondern wie zum Schlummer[1], um es am dritten Tag in eigener Autorität wieder zu erheben (Joh 10,18).

Was heißt »vollbracht«?

Jesus sprach tatsächlich nur ein Wort: » tetélestai «[2]. Schon zwei Verse vorher gebrauchte Johannes dieses Wort in identischer Form: »Danach, da Jesus wusste, dass alles schon vollbracht war[2], spricht er, damit die Schrift erfüllt würde[3]: Mich dürstet!« (Joh 19,28). Das Wort und seine Zeitform hier bedeuten, dass eine Tat oder ein Werk zum erfolgreichen Ziel gebracht wurde und nun bleibende Auswirkungen hat. Man schrieb tetélestai auf eine bezahlte Rechnung, auf eine abgesessene Gefängnisstrafe usw., also: „Bezahlt!“, „Abgeleistet!“, „Fertig!“: Nichts ist mehr zu bezahlen, keine Forderung besteht mehr, alles ist erledigt. – Hier wurde nicht nur „eine Tür zum Heil aufgestoßen“ oder „dem Sünder eine Chance geboten“ oder „dem Menschen ein großes Vorbild gegeben“ –alles Vorstellungen des bloß Potentiellen, im Prinzip also Unvollkommenen– , sondern etwas komplett fertiggestellt! »Welches Wort enthielt jemals so viel?« (William Kelly, An Exposition of the Gospel of John ).

»Es« – Was wurde vollbracht?

Auch hier gibt uns Johannes den Schlüssel zum Verständnis in die Hand. (1) Christi Gehorsam. Er berichtet, dass die Werke, die Christus tat, seine Sendung bezeugten: »die Werke, die der Vater mir gegeben hat, dass ich sie vollbringe, die Werke selbst, die ich tue, zeugen von mir, dass der Vater mich gesandt hat« (Joh 5,36). Christi Gehorsam und Widmung wurden auf dem Kreuzesaltar völlig offenbar. (2) Offenbarung des Vaters. Der Apostel Johannes berichtet ferner, dass Christus kurz vor seiner Passion rückblickend zum Vater sagte: »Ich habe dich verherrlicht[4] auf der Erde; das Werk habe ich vollbracht[5], das du mir gegeben hast, dass ich es tun sollte.« (Joh 17,4). Als Jesus ausrief: »Es ist vollbracht!«, war jenes Werk, das ihm der Vater aufgetragen hatte, erfolgreich fertiggestellt. Bei diesem Werk des Sohnes Gottes ging es letztlich darum, den Vater auf der Erde zu verherrlichen, also die Herrlichkeit Seines wunderbaren Wesens und einzigartigen Heilswerks bekannt zu machen, denn: »Niemand hat Gott jemals gesehen; der eingeborene Sohn, der im Schoß des Vaters ist, der hat ihn kundgemacht[6]« (Joh 1,18). (3) Vollkommene Sühnung. Und letztlich sagt uns der Apostel Johannes, dass Christus »das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt«, ist (Joh 1,29.36; vgl. Offb 5,6ff; 21,22–27). Der Apostel Petrus äußert sich in ähnlicher Weise, fokussiert sich jedoch auf das Volk Gottes. Er verbindet die vollkommene Erlösung der »Kinder des Gehorsams« mit ihrem vollkommenen Erlöser: »[Ihr seid] erlöst worden … mit dem kostbaren Blut Christi, als eines Lammes ohne Fehl und ohne Flecken« (1Pet 1,18–19). In Summa: »Denn mit einem Opfer hat er auf immerdar die vollkommen gemacht[7], die geheiligt werden.« (Hebr 10,14).

Ad (2): Am deutlichsten wurde das Kundtun (Darlegen, Erklären) des Vaters durch den Sohn im Sterben Jesu am Kreuz: Jeder kann am Kreuz Jesu nun sehen, dass Gott Liebe ist (1Joh 4,7–12) und dass Gott Licht ist (1Joh 1,5), gerecht und heilig:

  • Liebe: »Denn so hat Gott die Welt geliebt«
  • Licht: »dass er seinen eingeborenen Sohn [als Opfer] gab«
  • Liebe: »damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe.« (Joh 3,16).

Wer auf Christus im Glauben schaut, wer Sein Opfer am Kreuz für sich persönlich in Anspruch nimmt, sich für seine ewige Erlösung und Rettung alleine auf Jesu Person und Werk verlässt, der ist für immer gerettet, ist ein Kind Gottes, das zeitlebens Grund zum Jubeln hat, denn: »Es ist vollbracht!«

»Es ist vollbracht!« – Das muss man besingen!

Jacques Erné (1825–1883) hat den Siegesruf des Sohnes Gottes im 19. Jhdt. (1883?) in ein schönes Loblied gefasst:

Es ist vollbracht,
das große Werk, das schwere.
Gott ist gerecht, Ihm ward nun Seine Ehre
durch Seinen Sohn, der laut verkündet hat;
„Es ist vollbracht!“, „Es ist vollbracht!“

Es ist vollbracht!
Was Gottes Liebe wollte,
was für den Sünder, den verlornen, sollte
zur Rettung und zum ew’gen Heile sein,
das ist vollbracht, das ist vollbracht.

„Es ist vollbracht!“,
durchtönt’s die Ewigkeiten
zu Gottes Lob, zu der Erlösten Freuden;
sie danken Gott, sie beten Jesus an,
dass Er’s vollbracht, dass Er’s vollbracht.

Sprachliche Notizen

[1] κλίνας – Aorist Partizip Aktiv von κλίνω = neigen, beugen. »What is indicated in the statement “He bowed His head,” is not the helpless dropping of the head after death, but the deliberate putting of His head into a position of rest, John 19:30. The verb is deeply significant here. The Lord reversed the natural order. The same verb is used in His statement in Matt. 8:20 and Luke 9:58, “the Son of Man hath not where to lay His head.”« (Vine, W. E. ; Unger, Merrill F. ; White, William, Jr.: Vine’s Complete Expository Dictionary of Old and New Testament Words, 2, s. v. »bow, bowed (Verb)«. Vgl.: Walter Bauer, Das Johannes-Evangelium, 3. Aufl. (Tübingen, 1933), S. 218.
[2] τετέλεσται – Perfekt Passiv Indikativ 3.Pers. Sing. von τελέω = vollenden (nicht nur zum Ende, sondern zur Vollendung führen). Das Verb kommt im NT 28mal vor, in dieser Form nur 2mal im Johannesevangelium (Joh 19,28.30). Die ELBCSV gibt es wieder als: vollenden, zu Ende sein, bezahlen/entrichten (!), vollbringen, erfüllen.
[3] τελειωθῇ – Aorist Passiv Konjunktiv 3.Pers.Sing. von τελειόω = vollkommen machen; »bedeutet die abschließende Erfüllung des gesamten Schriftinhaltes« (Rienecker, Sprachlicher Schlüssel, S. 246). Das Verb kommt im NT 23mal vor, und wird in der ELBCSV auch mit vollenden, vollbringen, vollkommen machen wiedergegeben. Im Vergleich zum verwandten Verb τελέω (s. o.) betont es über die Vollendung hinaus den Aspekt der erzielten Perfektion (Vollkommenheit). Das Verb ist Kennzeichenverb des Hebräerbriefes (9mal: 2,10; 5,9; 7,19.28; 9,9; 10,1.14; 11,40; 12,23). Vgl. die Verwendung bei Johannes in Joh 4,34; 5,36; 17,4.23; 19,28; 1Joh 2,5; 4,12.17.18, sowie in Apg 20,24; Php 3,12; Jak 2,22.
[4] ἐδόξασα – Aorist Aktiv Indikativ von δοξάζω = verherrlichen, erheben, preisen, Ehre geben. Es ist also Feststellung einer bestehenden Tatsache. In dieser Form nur in Joh 12,28 »Ich habe ihn verherrlicht« und hier in 17,4 »Ich habe dich verherrlicht auf der Erde«.
[5] τελειώσας – Aorist Partizip Aktiv von τελειόω = ans Ziel bringen, vollenden. Versteht man dieses Partizip periphrastisch, dann war das Vollenden der Werke (punktueller Aspekt) der Begleitumstand oder die Art und Weise, mit dem bzw. der der Sohn Gottes seinen Vater verherrlichte (= Haupthandlung). Die ESV hat: »having accomplished the work that you gave me«. Das Vollenden war jedenfalls der Zielpunkt der Sendung des Sohnes, vgl. Johannes 5,36: »die Werke, die der Vater mir gegeben hat, damit ich sie vollbringe [τελειώσω – Aorist Konjunktiv Aktiv von τελειόω; Aspekt: punktuell, also feststellend, zusammenfassend betreffs der Absicht des Handelns]«.
[6] ἐξηγήσατο – Aorist Medium Indikativ 3.Pers Sing. von ἐξηγέομαι = darlegen, auseinandersetzen, auslegen, berichten; »etwas völlig bekannt machen durch sorgfältige Erklärung oder durch klare Offenbarung« (Louw, Johannes P., Nida, Eugene Albert: Greek-English Lexicon of the New Testament: Based on Semantic Domains (New York: United Bible Societies, 1996), 28.41; Üb.d.A.).
[7] τετελείωκεν – Perfekt Aktiv Indikativ von τελειόω = ans Ziel bringen, vollenden; mit expliziter Anfügung von εἰς τὸ διηνεκὲς = »auf immerdar«, »ununterbrochen«. Die von Gott Geheiligten sind durch Christi Opfer in einen Zustand versetzt worden, in dem sie ein für allemal und ohne jegliche Unterbrechung vollkommen sind (was Auswirkungen bis heute hat). Da das Opfer Christi für immer und stets vollwirksam gilt, besteht dieser vollkommene Zustand der »Geheiligten« in gleicher Weise immer und stets vollwirksam.


Vor 500 Jahren: Luther auf dem Reichstag zu Worms

Am 18. April 1521 stand der Wittenberger Professor und Reformator Dr. Martin Luther vor dem jungen römisch-deutschen König und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Karl V. (1500–1558), der ihn zum Reichstag nach Worms eingeladen hatte. Dieser Reichstag ist einer der großen Wendepunkte der deutschen Geschichte. Er steht am Ende der verfassungsgebenden Reichsversammlungen, auf denen seit dem Wormser Tag von 1495 die zerrütteten Ordnungen des Reiches im Sinne der ständischen Gewalten neu verhandelt wurde (Paul Kalkoff, S. 6). Der Reichstag verhandelte also bedeutsame Sachen und tagte daher recht lange (27.01.–26.05.1521). Auch Vertreter des römischen Papstes waren anwesend, unter anderem Hieronymus Alexander, seit 1520 außerordentlicher Nuntius bei Karl V. Die römische Kirche wollte Karl V. bewegen, sich der Causa Luther anzunehmen und die Bannandrohungsbulle Exsurge Domino des Papstes gegen Martin Luther in Deutschland zu publizieren. Am 6. März 1521 lud Karl V. Luther mit Dreiwochenfrist ab Kenntnisnahme vor und sicherte ihm das freie kaiserliche Geleit zu. Reichsherold Kaspar Sturm übergab Luther die Vorladung am 29. März 1521. Die Zusicherung freien Geleits war natürlich in Erinnerung an das Schicksal des böhmischen Reformators Jan Hus einhundert Jahre vorher nicht überzeugend: Dieser wurde trotz entsprechender Zusicherung des deutschen Königs Sigismund nach dem Konzil zu Konstanz am 6. Juli 1415 nach langer Inhaftierung als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Trotz ähnlicher Gefahrenlage machte sich Luther mit Begleitern am 2. April 1521 auf den langen Weg von Wittenberg nach Worms.

Der Kaiser sprach nicht selbst mit dem vor ihm stehenden Luther. Soweit die gewählte Sprache Deutsch war, konnte er sowieso nur mittels Dolmetscher folgen. Er bediente sich eines Redners („Orator“), Johann von Eck, Offizial des Erzbischofs von Trier, also einem Vertreter der Gegenpartei Luthers. Überhaupt war der Kaiser derart entschieden gegen Luther voreingenommen, dass er bereits vor der Anhörung und ohne die Einwilligung der Stände ein „Sequestrationsmandat“ erlassen hatte (26/27. März 1521), das die Vernichtung der Schriften Luthers befahl und damit Luther schon im Voraus verurteilte. Johann von Eck stellte Luther am ersten Verhörtag 17. April 1521 (eine Disputation war von Luthers Gegenseite gar nicht vorgesehen) im Wesentlichen zwei Fragen: Ob die ausgelegten Schriften und Bücher die seinen wären und ob er diese widerrufe. Luther bejahte das Erste und verneinte das Zweite. Er verlangte und bekam daraufhin einen Tag Bedenkfrist.

Am 18. April 1521 wurden von Johann von Eck die Fragen des Vortags wiederholt. Luther antwortete nochmals ausführlich. Nach einer längeren Gegenrede von Ecks befragte dieser Luther abschließend nochmals, ob er seine Schriften widerrufe. Luther antwortete (auf Lateinisch) mit:

»… wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, daß sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!«

Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe, Band II: Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. [Der Reichstag zu Worms 1521]. Bearbeitet von Adolf Wrede. Gotha 1896.], Rede Luthers ab S. 551; siehe auch Nr. 80, S. 569–582. [Link digitale Kopie: https://archive.org/details/deutschereichst07kommgoog/page/n8/mode/2up]

Am 19. April 1521 gab Karl V. nach Verhandlungen mit den Reichsständen eine Erklärung ab, in der er sich zur tausendjährigen christlichen Tradition, zur Treue gegenüber Rom und zum Schutz der römischen Kirche bekannte. In Luther sah er nur einen Häretiker, gegen den vorzugehen sei. Dass sich jemand nur auf das Wort Gottes als letzter Instanz berief, war trotz Hus (u. a. Vorreformatoren) noch ungewohnt und aus Sicht der Herrschenden unakzeptabel und provokativ. Auf den Inhalt der Lehre Luthers ging der Kaiser nicht ein. Er war in den machtpolitischen Umwälzungen seiner Zeit zwischen den Reichsständen, dem Papst (Römisch-katholische Kirche, Kurie) und der um sich greifenden Reformation und deren Vertretern in Politik und Kirche stark gefordert und auch gefährdet. Der Reichstag hatte diese machtpolitischen Fragen bezüglich der Reichsreform als Hauptgegensstand, aber im Rückblick war die Causa Luther die alles überragende Frage des Reichstags zu Worms.

Es dauerte nur acht Jahre, bis auf dem Reichstag zu Speyer (19. April 1529) sechs Fürsten und die Bevollmächtigten von 14 Reichsstädten gegen die Reichsacht über Martin Luther und die Ächtung seiner Schriften und Lehre offiziell protestierten. Sie überreichten eine Protestationsschrift, aber der Leiter des Reichstags, Ferdinand I. (ab 1558 Kaiser des HRR), der seinen Bruder Kaiser Karl V. auf dem Reichstag vertrat, verweigerte die Annahme. Vielmehr wurde in der Schlusssitzung am 24. April 1529 nochmals die alte Reichsacht als geltendes Recht verlesen, die Protestation wurde mit keinem Wort erwähnt. Die „Protestanten“ nahmen dies so nicht hin, sondern verfassten am nächsten Tag das sog. Instrumentum Appellationis, in dem sie ihre Beschwerde gegen diesen Endbescheid des Reichstag (den sog. Reichsabschied) nochmals zusammenfassten.

Seitdem tragen die Anhänger der reformatorischen Bewegung die Bezeichnung „Protestanten“. Die grundlegende Argumentation Luthers begründet die Bezeichnung „Evangelische“, denn er beruft sich zuoberst und alleine auf das Evangelium, die Lehre Christi, die Heilige Schrift, welche Gottes Wort und damit –nach Aussage des Sohnes Gottes (Johannes 17,17)– die Wahrheit ist.

Luthers Verteidigungsrede auf dem Reichstag zu Worms (18. April 1521)

»Allergnädigster Herr und Kaiser!

Durchlauchtigste Fürsten! Gnädigste Herrn!

Ich erscheine gehorsam zu dem Zeitpunkt, der mir gestern abend bestimmt worden ist, und bitte die allergnädigste Majestät und die durchlauchtigsten Fürsten und Herren um Gottes Barmherzigkeit wollen, sie möchten meine Sache, die hoffe ich, gerecht und wahrhaftig ist, in Gnaden anhören. Und wenn ich aus Unkenntnis irgend jemand nicht in der richtigen Form anreden oder sonst in irgendeiner Weise gegen höfischen Brauch und Benehmen verstoßen sollte, so bitte ich, mir dies freundlich zu verzeihen; denn ich bin nicht bei Hofe, sondern im engen mönchischen Winkel aufgewachsen und kann von mir nur dies sagen, daß ich bis auf diesen Tag mit meinen Lehren und Schriften einzig Gottes Ruhm und die redliche Unterweisung der Christen einfältigen Herzens erstrebt habe.

Allergnädigster Kaiser, durchlauchtigste Fürsten! Mir waren gestern durch Eure allergnädigste Majestät zwei Fragen vorgelegt worden, nämlich ob ich die genannten, unter meinem Namen veröffentlichten Bücher als meine Bücher anerkennen wollte, und ob ich dabei bleiben wollte, sie zu verteidigen, oder bereit sei, sie zu widerrufen. Zu dem ersten Punkt habe ich sofort eine unverhohlene Antwort gegeben, zu der ich noch stehe und in Ewigkeit stehen werde: Es sind meine Bücher, die ich selbst unter meinem Namen veröffentlicht habe, vorausgesetzt, daß die Tücke meiner Feinde oder eine unzeitige Klugheit darin nicht etwa nachträglich etwas geändert oder fälschlich gestrichen hat. Denn ich erkenne schlechterdings nur das an, was allein mein eigen und von mir allein geschrieben ist, aber keine weisen Auslegungen von anderer Seite.

Hinsichtlich der zweiten Frage bitte ich aber Euer allergnädigste Majestät und fürstliche Gnaden dies beachten zu wollen, daß meine Bücher nicht alle den gleichen Charakter tragen.

Die erste Gruppe umfaßt die Schriften, in denen ich über den rechten Glauben und rechtes Leben so schlicht und evangelisch gehandelt habe, daß sogar meine Gegner zugeben müssen, sie seien nützlich, ungefährlich und durchaus lesenswert für einen Christen. Ja, auch die Bulle erklärt ihrer wilden Gegnerschaft zum Trotz einige meiner Bücher für unschädlich, obschon sie sie dann in einem abenteuerlichen Urteil dennoch verdammt. Wollte ich also anfangen, diese Bücher zu widerrufen – wohin, frag ich, sollte das führen? Ich wäre dann der einzige Sterbliche, der eine Wahrheit verdammte, die Freund und Feind gleichermaßen bekennen, der einzige, der sich gegen das einmütige Bekenntnis aller Welt stellen würde!

Die zweite Gruppe greift das Papsttum und die Taten seiner Anhänger an, weil ihre Lehren und ihr schlechtes Beispiel die ganze Christenheit sowohl geistlich wie leiblich verstört hat. Das kann niemand leugnen oder übersehen wollen. Denn jedermann macht die Erfahrung, und die allgemeine Unzufriedenheit kann es bezeugen, daß päpstliche Gesetze und Menschenlehren die Gewissen der Gläubigen aufs jämmerlichste verstrickt, beschwert und gequält haben, daß aber die unglaubliche Tyrannei auch Hab und Gut verschlungen hat und fort und fort auf empörende Weise weiter verschlingt, ganz besonders in unserer hochberühmten deutschen Nation. Und doch sehen sie in ihren Dekreten selbst vor, wie Distinctio 9 und 25, quaestio 1 und 9, zu lesen steht: Päpstliche Gesetze, die der Lehre des Evangeliums und den Sätzen des Evangeliums und den Sätzen der Kirchenväter widersprächen, seien für irrig und ungültig anzusehen. Wollte ich also diese Bücher widerrufen, so würde ich die Tyrannei damit geradezu kräftigen und stützen, ich würde dieser Gottlosigkeit für ihr Zerstörungswerk nicht mehr ein kleines Fenster, sondern Tür und Tor auftun, weiter und bequemer, als sie es bisher je vermocht hat. So würde mein Widerruf ihrer grenzenlosen, schamlosen Bosheit zugute kommen, und ihre Herrschaft würde das arme Volk noch unerträglicher bedrücken, und nun erst recht gesichert und gegründet sein, und das um so mehr, als man prahlen wird, ich hätte das auf Wunsch Eurer allergnädigsten Majestät getan und des ganzen Römischen Reiches. Guter Gott, wie würde ich da aller Bosheit und Tyrannei zur Deckung dienen!

Die dritte Gruppe sind die Bücher, die ich gegen einige sozusagen für sich stehende Einzelpersonen geschrieben habe, die den Versuch machten, die römische Tyrannei zu schützen und das Christentum, wie ich es lehre, zu erschüttern. Ich bekenne, daß ich gegen diese Leute heftiger vorgegangen bin, als in Sachen des Glaubens und bei meinem Stande schicklich war. Denn ich mache mich nicht zu einem Heiligen und trete hier nicht für meinen Lebenswandel ein, sondern für die Lehre Christi. Trotzdem wäre mein Widerruf auch für diese Bücher nicht statthaft; denn er würde wieder die Folge haben, daß sich die gottlose Tyrannei auf mich berufen könnte und das Volk so grausamer beherrschen und mißhandeln würde denn je zuvor.

Aber ich bin ein Mensch und nicht Gott. So kann ich meinen Schriften auch nicht anders beistehen, als wie mein Herr Christus selbst seiner Lehre beigestanden hat. Als ihn Hannas nach seiner Lehre fragte und der Diener ihm einen Backenstreich gegeben hatte, sprach er: «Habe ich übel geredet, so beweise, daß es böse gewesen sei.» Der Herr selbst, der doch wußte, daß er nicht irren könnte, hat also nicht verschmäht, einen Beweis wider seine Lehre anzuhören, dazu noch von einem elenden Knecht. Wieviel mehr muß ich erbärmlicher Mensch, der nur irren kann, da bereit sein, jedes Zeugnis wider meine Lehre, das sich vorbringen läßt, zu erbitten und zu erwarten. Darum bitte ich um der göttlichen Barmherzigkeit willen, Eure allergnädigste Majestät, durchlauchtigste fürstliche Gnaden oder wer es sonst vermag, er sei höchsten oder niedersten Standes, möchte mir Beweise vorlegen, mich des Irrtums überführen und mich durch das Zeugnis der prophetischen oder evangelischen Schriften überwinden. Ich werde völlig bereit sein, jeden Irrtum, den man mir nachweisen wird, zu widerrufen, ja, werde der erste sein, der meine Schriften ins Feuer wirft.

Es wird hiernach klar sein, daß ich die Nöte und Gefahren, die Unruhe und Zwietracht, die sich um meiner Lehre willen in aller Welt erhoben haben, und die man mir gestern hier mit Ernst und Nachdruck vorgehalten hat, sorgsam genug bedacht und erwogen habe. Für mich ist es ein denkbar erfreulicher Anblick, zu sehen, wie um Gottes Wort Unruhe und Zwietracht entsteht. Denn das ist der Lauf, Weg und Erfolg, den Gottes Wort zu nehmen pflegt, wie Christus spricht: «Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert; denn ich bin gekommen, den Menschen zu erregen wider seinen Vater usw.» Darum müssen wir bedenken, wie Gott wunderbar und schrecklich ist in seinen Ratschlüssen, daß nicht am Ende das, was wir ins Werk setzen, um der Unruhe zu steuern, damit anfängt, daß wir Gottes Wort verdammen, und so viel mehr einer neuen Sintflut ganz unerträgliche Leiden zustrebt. Wir müssen sagen, daß die Regierung unseres jungen, vortrefflichen Kaisers Karl, auf dem nächst Gott die meisten Hoffnungen ruhen, nicht eine unselige, verhängnisvolle Wendung nehme. Ich könnte es hier mit vielen Beispielen aus der Schrift vom Pharao, vom König Babylons und den Königen Israels veranschaulichen, wie sich gerade dann am sichersten zugrunde richteten, wenn sie mit besonders klugen Plänen darauf ausgingen, Ruhe und Ordnung in ihren Reichen zu behaupten. Denn er, Gott, fängt die Schlauen in ihrer Schlauheit und kehret die Berge um, ehe sie es inne waren. Darum ist’s die Furcht Gottes, deren wir bedürfen. Ich sage das nicht in der Meinung, so hohe Häupter hätten meine Belehrung oder Ermahnung nötig, sondern weil ich meinem lieben Deutschland den Dienst nicht versagen wollte, den ich ihm schuldig bin. Hiermit will ich mich Euer allergnädigsten kaiserlichen Majestät und fürstlichen Gnaden demütig befohlen und gebeten haben, sie wollten sich von meinen eifrigen Widersachern nicht ohne Grund gegen mich einnehmen lassen. Ich bin zu Ende …

Weil denn Eure allergnädigste Majestät und fürstlichen Gnaden eine einfache Antwort verlangen, will ich sie ohne Spitzfindigkeiten und unverfänglich erteilen, nämlich so: Wenn ich nicht mit Zeugnissen der Schrift oder mit offenbaren Vernunftgründen besiegt werde, so bleibe ich von den Schriftstellen besiegt, die ich angeführt habe, und mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort. Denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, weil es offenkundig ist, daß sie öfters geirrt und sich selbst widersprochen haben. Widerrufen kann und will ich nichts, weil es weder sicher noch geraten ist, etwas gegen sein Gewissen zu tun.

Gott helfe mir, Amen.«

Textquelle: https://www.projekt-gutenberg.org/luther/misc/chap008.html [Farb- und Fettdruck hinzugefügt]
Bildquelle: Anton Werner (1843–1915), Luther at the Diet of Worms (1877), im Auftrag des Königreiches Preußen für die Aula der Kieler Gelehrtenschule. Erworben 1883, wegen Zerstörung eigenhändige Replik (1944), Staatsgalerie Stuttgart (Öl auf Leinwand, 66 cm x 125 cm, Inv. Nr. 876). (Digitalbild: wikipedia.de; gemeinfrei)

Literatur

  • Paul Kalkoff, Der Wormser Reichstag von 1521 – Biographische und quellenkritische Studien zur Reformationsgeschichte. München und Berlin: R. Oldenburg, 1922.
  • Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe, Band II [Der Reichstag zu Worms 1521]. Bearbeitet von Adolf Wrede. Gotha, 1896.

Ein Glaube ohne Werke ist tot

Seit Jahrtausenden haben sich Christen darüber unterhalten und gestritten, wie Glauben und (Gute) Werke im christlichen Glauben zueinander stehen und miteinander gehen. Sogar der Reformator Martin Luther, der in der Rechtfertigungslehre des Neuen Testaments den Zentralartikel der christlichen Kirche sah, konnte mit der mahnenden Botschaft des Jakobus im Neuen Testament und seiner Aussage, dass die (guten) Werke zur Rechtfertigung führen, eher wenig anfangen.

Was nützt es, meine Brüder, wenn jemand sagt, er habe Glauben, hat aber keine Werke? Kann etwa der Glaube ihn erretten? …
So ist auch der Glaube, wenn er keine Werke hat, in sich selbst tot.
Willst du aber erkennen, o nichtiger Mensch, dass der Glaube ohne die Werke tot ist?

Jakobus 2,14.17.20 (ELBCSV 2003)

Zu schnell wurde ein Gegensatz oder Widerspruch zwischen den Aussagen des Apostels Paulus und des Jakobus wahrgenommen oder behauptet. Beide sind jedoch in der Sache ohne jeglichen Widerspruch. Problematisch ist nur, wenn man den Begriff Rechtfertigung beider Schreiber als identisch in der Blickrichtung ansieht. Beide Schreiber meinen mit rechtfertigen dasselbe: gerecht gesprochen zu werden. Paulus spricht jedoch von der Rechtfertigung eines Sünders vor Gott und durch Gott alleine, während Jakobus von der Rechtfertigung eines Gläubigen durch seine Glaubenswerke angesichts einer beobachtenden Welt spricht: seine Glaubenswerke weisen seinen Glauben als echt aus.

Beide Glaubenslehrer stehen sich also nicht mit überkreuzten Klingen gegenüber, sondern sie verteidigen die selbe biblische Wahrheit Rücken an Rücken gegen unterschiedliche Feinde dieser Lehre: Paulus gegen jene, die mit eigener Frömmigkeit und Werken sich die Annahme bei Gott erarbeiten wollen, Jakobus gegen jene, die meinen, der rettende Glaube in Christus habe nichts mit einem entsprechenden Weg in guten Werken des Glaubens zu tun. Allerdings muss man festhalten, dass beide Schreiber beide Aspekte kennen und lehren. Wenden wir uns zuerst dem Fundamentalartikel der Rechtfertigung allein aus Glauben zu.

Die Schrift lehrt einstimmig die Rechtfertigung »allein aus Glauben«

Sowohl Paulus wie Jakobus halten einmütig und mit der selben zentralen Belegstelle der Schrift fest, dass die Gerechterklärung des Sünders durch Gott alleine auf der Grundlage des Glaubens (d. i. alleine mittels des Glaubens) erfolgt. Beide deuten auf das Glaubensvorbild Abraham und zitieren als Schriftbeleg 1. Mose 15,6:

Und die Schrift wurde erfüllt, die sagt: „Abraham aber glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet“, und er wurde Freund Gottes genannt.

Jakobus 2,23 (ELBCSV 2003)

Denn was sagt die Schrift? „Abraham aber glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet.“

Römer 4,3 (ELBCSV 2003)

Etliche Jahre nach Jakobus schreibt der Apostel Paulus also, dass die Rechtfertigung des Sünders, also seine Für-gerecht-Erklärung seitens Gottes, eine exklusive Sache Gottes ist, die mittels des Glaubens und nur aufgrund des Glaubens, also unter Ausschluss der Anrechnung von Werken (»Gesetzeswerken«), erfolgt.

Darum, aus Gesetzeswerken wird kein Fleisch vor ihm gerechtfertigt werden. … Denn wir urteilen, dass ein Mensch durch Glauben gerechtfertigt wird, ohne Gesetzeswerke. …
Dem aber, der nicht wirkt, sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet;

Römer 3,20a.28; 4,5 (ELBCSV 2003)

Denn durch die Gnade seid ihr errettet, mittels des Glaubens; und das nicht aus euch, Gottes Gabe ist es; nicht aus Werken, damit niemand sich rühme.

Epheser 2,8-9 (ELBCSV 2003)

Da die Rechtfertigung nach der Schrift »allein durch Glauben«geschieht, stellt dies sicher, dass alle Ehre allein Gott zukommt. Sind wir nicht aufgrund eigener Werke, sondern alleine durch das rettende Werk Jesu gerechtfertigt, dann gebührt alles Lob für unser Heil alleine Ihm. Die Absicht Gottes mit der Rechtfertigung ist also – wie bei allen anderen Aspekten des Evangeliums auch – die Offenbarung und Verherrlichung Gottes: Soli Deo Gloria.

Die reformatorische Position zu Glauben und Werken

Dieses »allein durch Glauben« haben die Reformatoren in ihren grundlegenden vier Exklusivpartikeln mit sola fide bezeichnet: Allein durch den Glauben wird der Mensch gerechtfertigt, nicht durch gute Werke. Dies ist wegen der Altlasten der römisch-katholischen Theologie und der menschlichen Wesensneigung, sich durch eigene Anstrengungen den Weg in den Himmel zu bahnen und sich die Anerkennung seitens Gottes zumindest teilweise zu verdienen, nicht unwidersprochen geblieben.

Martin Luther erklärte 1531 in seiner Wittenbergschen Vorlesung über den Galaterbrief (1535 schriftlich gefasst von Georg Rörer aus seinen Mitschriften) folgendes über Glauben und Werke (zu Galater 2,19):

Daher sagen wir auch, daß der Glaube ohne Werke nichts und nichtig ist. Das verstehen die Papisten und Schwärmer so: der Glaube ohne Werke kann nicht rechtfertigen, oder der Glaube ohne Werke, wenn er noch so wahr ist, vermag nichts, wenn er nicht Werke hat. Das ist falsch. Aber ein Glaube ohne Werke, will sagen ein schwärmerischer Gedanke und ein leeres Geschwätz und ein Traum des Herzens, ein solcher Glaube ist falsch und rechtfertigt nicht.

Martin Luther, Der Galaterbrief. 2. Auflage. Göttingen: Vadenhoeck & Ruprecht, 1987. Textquelle digital.

Johannes Calvin war vielleicht der erste Reformator, der gegen die falsche römisch-katholische Lehre Stellung bezog, die das Konzil zu Trient (6. Sitzung Cum hoc tempore (1547) über die Rechtfertigung, 9. und 11. Kanon) wie folgt formuliert hatte:

9. Wenn jemand sagt, der Sündhafte werde allein durch den Glauben gerechtfertigt; so dass er damit versteht, es werde nichts anderes, das zur Erlangung der Rechtfertigungsgnade mitwirke, erfordert, und es sei keinen Teils notwendig, dass er sich aus Antrieb seines Willens dazu vorbereite, und bereitsam mache, der sei im Bann.
11. Wenn jemand sagt, die Menschen werden gerechtfertigt entweder allein durch die Zurechnung der Gerechtigkeit Christi, oder allein durch die Nachlassung der Sünden, mit Ausschluss der Gnade und der Liebe, welche durch den Heiligen Geist (Röm 5,5) in ihre Herzen ausgegossen wird, und ihnen innehaftet, oder auch, die Gnade, durch welche wir gerechtfertigt werden, sei nur eine Gunst Gottes, der sei im Bann.

Deutsche Textquelle: http://www.kathpedia.com/index.php?title=Cum_hoc_tempore [16.02.2021]

Calvin schrieb im gleichen Jahr (1547) eine Antwort auf die Konzilsbeschlüsse und formulierte zum biblischen Zusammenhang von Glauben und Werken u. a. folgendes:

Ich möchte, dass der Leser versteht, dass wir, wenn wir in dieser Frage vom Glauben allein reden, nicht an einen toten Glauben denken, welcher nicht durch die Liebe wirkt, sondern dass wir daran festhalten, dass der Glaube allein die Ursache der Rechtfertigung ist (Galater 5,6; Römer 3,22). Daher ist es allein der Glaube, welcher rechtfertigt, und trotzdem steht jener Glaube, welcher rechtfertigt, nicht alleine da: Genauso wie es allein die Hitze der Sonne ist, welche die Erde erwärmt, so ist doch die Hitze der Sonne nie alleine, weil sie beständig mit dem Licht verbunden ist.

Johannes Calvin, Antidote to the Canons of the Council of Trent, in: Henry Beveridge (Übs.). Tracts and Treatises in Defense of the Reformed Faith. 1851. Nachdruck (Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1958) Bd. 3. S. 152. Übers. des Verf.

Eine weitere Spur davon kann man in der Konkordienformel (Formula Concordia, 1580) nachvollziehen, welche einen Versuch darstellt, Zerwürfnisse beizulegen, die nach Luthers Tod zwischen der eher milden Melanchthonschen Richtung (Philippismus) und der eher streng lutherischen Richtung (Gnesiolutheraner) entstanden waren. Unter Artikel III. Von der Gerechtigkeit des Glaubens vor Gott wird Folgendes als rechtgläubig bestätigt:

8) Wir gläuben, lehren und bekennen, daß, obwol vorgehende Reu und nachfolgende gute Werk nicht in den Artikel der Rechtfertigung vor GOtt gehören, jedoch sol nicht ein solcher Glaube gedichtet werden, der bey und neben einem bösen Vorsatz zu sündigen, und wider das Gewissen zu handeln, seyn und bleiben könte; sondern nachdem der Mensch durch den Glauben gerechtfertiget worden, alsdann ist ein warhaftiger lebendiger Glaube durch die Liebe thätig, Galat. 5 [v. 6]. Also, daß die gute Werk dem gerechtmachenden Glauben allzeit folgen und bei demselben, da er rechtschaffen und lebendig, gewislich erfunden werden; wie er denn nimmer allein ist, sondern allzeit Liebe und Hoffnung bey sich hat.

Formula Concordiae Epitome. Summarischer Begrif der streitigen Artikel, zwischen (…), Artikel III. Von der Gerechtigkeit des Glaubens vor Gott, Punkt 8 (1577). Textquelle (Druck von Gebauer, Halle, 1747), S. 16 [850]. Betonung mit Unterstreichung ist im Original mit Sperrdruck geschehen. Fettdruck hinzugefügt.

Unter Artikel IV. Von guten Werken wird Folgendes hinzugefügt:

1) Daß gute Werke dem warhaftigen Glauben, wann derselbige nicht ein todter, sondern ein lebendiger Glaube ist, gewislich und ungezweifelt folgen als Früchte eines guten Baums.
2) Wir gläuben, lehren und bekennen auch, daß die guten Werke gleich so wol, wenn von der Seligkeit gefraget wird, als im Artikel der Rechtfertigung vor GOtt gänzlichen ausgeschlossen werden sollen, wie der Apostel mit klaren Worten bezeuget, da er also geschrieben: … Röm. 4. [v. 6.7.] Und abermals: … Ephes. 2. [v. 8. 9.] (…)
10) Wir gläuben, lehren und bekennen auch, daß den Glauben und die Seligkeit in uns nicht die Werke, sondern allein der Geist GOttes die Seligkeit durch den Glauben erhalte, des Gegenwärtigkeit und Inwonung die guten Werke Zeugen seyn.

Formula Concordiae Epitome. Summarischer Begrif der streitigen Artikel, zwischen (…), Artikel IV. Von guten Werken. Textquelle (Druck von Gebauer, Halle, 1747), S. 18–20 [852–854]. Betonung mit Unterstreichung ist im Original mit Sperrdruck geschehen. Fettdruck hinzugefügt.

Will man die biblische Lehre (wie sie im reformatorischen Glauben auch erfasst wurde) sehr vereinfacht mit prägnanten Formeln zusammenfassen, so mag dies so aussehen:

Zu verwerfen: Glaube + Werke = Rechtfertigung.
Festzuhalten: Glaube = Rechtfertigung + Werke

Der Glaube, mittels dessen Gott die Rechtfertigung ausspricht, ist stets ein Glaube, der als lebendiger Glaube auch entsprechende Glaubenswerke zeitigt. Fehlen solche Werke, obwohl Glaube behauptet wird, so lautet die biblische Diagnose: dieser Glaube ist tot, er rettet nicht.

Die Schrift lehrt einstimmig, dass rettender Glaube und Glaubenswerke wesensartig zusammen gehören

Man muss also klar zwischen Glauben und Werken unterscheiden, aber man darf und kann sie –wie die beiden Seiten derselben Münze– nicht voneinander trennen, ohne die ganze Sache zu verlieren.

Paulus wie Jakobus lehren, dass ein von jemand behaupteter Glaube ohne Werke tot und damit im Wesen (Jakobus: »in sich selbst«) nicht der rettende Glaube ist. Die Lebendigkeit (und damit Echtheit) des rettenden Glaubens wird sich stets beweisen in seiner von göttlicher Liebe motivierten Wirksamkeit:

So ist auch der Glaube, wenn er keine Werke hat, in sich selbst tot.

Jakobus 2,17 (ELBCSV 2003)

Denn wir erwarten durch den Geist aus Glauben die Hoffnung der Gerechtigkeit. Denn in Christus Jesus vermag weder Beschneidung noch Vorhaut etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe wirkt.

Galater 5,5-6 (ELBCSV 2003)

Wegen dieses wesensartigen Zusammenhangs kann der Apostel Johannes diesen in seinem Ersten Brief in die Reihe seiner Gotteskind-Prüfsteine mit aufnehmen. »Ihn kennen« markiert den Empfang des ewigen Lebens (Gotteskindschaft), »seine Gebote halten« das Kindeswesen der Liebe gegenüber Gott, das sich im Gehorsam äußert (vgl. 5. Mose 6,4ff).

Und hieran wissen wir, dass wir ihn kennen, wenn wir seine Gebote halten. Wer sagt: Ich kenne ihn, und hält seine Gebote nicht, ist ein Lügner, und in diesem ist die Wahrheit nicht. Wer aber irgend sein Wort hält, in diesem ist wahrhaftig die Liebe Gottes vollendet. Hieran wissen wir, dass wir in ihm sind. (…)
Hieran erkennen wir, dass wir die Kinder Gottes lieben, wenn wir Gott lieben und seine Gebote halten. Denn dies ist die Liebe Gottes, dass wir seine Gebote halten, und seine Gebote sind nicht schwer.

1. Brief des Johannes 2,3–5; 5,2–3 (ELBCSV 2003); vgl. 3,22.24

Weil die Lebensbekundungen des neuen Lebens in Christus kein Mechanismus ist, sondern nach Philipper 2,12–13 vielmehr ein wesenseigenes Wirken des glaubenden, gottesfürchtigen Menschen, zu dem er Dank Gottes Wirken in ihm sowohl motiviert als auch befähigt ist, sind diese Lebenserweise des Glaubenden wachstümlich und damit stets unvollkommen. (Ergänzend sei bemerkt, dass mit »euer eigenes Heil« nicht die ewige Errettung der Philipper gemeint ist, denn diese hatten sie offenbar: sie waren »Heilige in Christus Jesus« (1,1), es war ihnen von Gott geschenkt worden, »an ihn zu glauben« (1,29) und ihr »Bürgertum war in den Himmeln« (3,20). Paulus forderte sie angesichts ihrer großen internen Probleme als Gemeinde vielmehr dazu auf, diese in einer christusähnlichen Gesinnung von Demut und Liebe heilstiftend zu lösen.)

Daher, meine Geliebten, … bewirkt euer eigenes Heil mit Furcht und Zittern; denn Gott ist es, der in euch wirkt sowohl das Wollen als auch das Wirken, zu seinem Wohlgefallen.

Philipper 2,12-13 (ELBCSV 2003)

Der Herr Jesus Christus selbst hat den organischen (wesensartigen) Zusammenhang zwischen Glauben und neuem Leben und zwischen neuem Leben und Frucht vielfach in seinen Gleichnissen und Predigten gelehrt. Besonders eindrucksvoll ist dazu sein erstes Gleichnis vom Sämann und den vier Ackerböden (Matthäus 13,3–9; 18–23; vgl. Markus 4,1–12; 13–20; Lukas 8,4–15). Anhaltende Frucht ist Beweis dafür, dass der Same empfangen (aufgenommen) wurde und lebendig ist. Kurzfristiges Aufblühen kann diesen Beweis nicht liefern. Die Frage nach der Quantität (Menge) der Frucht wird nur insofern angesprochen, als dass sie größer Null sein muss; ob sie »30-, 60- oder 100fältig« ist, ist Sache des Wachstums und Wirkungsgrades, jedoch keine Anfrage an die Echtheit (Qualität) der Frucht. (Damit ist auch der Fall des gläubigen Verbrechers neben Christus am Kreuz geklärt.)

Auch bei der Beurteilung von Menschen, die sich als Diener Christi ausgeben (im Dienst als Christen ausgeben), verordnet Christus seinen Nachfolgern zur Urteilsfindung die Beurteilung der »Früchte« dieser Arbeiter. Sein Argument setzt voraus, dass das Wirken eines Menschen stets in Übereinstimmung mit seinem Wesen ist, die Frucht eines Baumes identifiziert eindeutig den Baum. Der Kontrast ist hier nicht wie beim Sämann-Gleichnis zwischen (bleibender) Frucht und Fruchtlosigkeit, sondern zwischen guter und schlechter Frucht.

An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Sammelt man etwa von Dornen Trauben oder von Disteln Feigen? So bringt jeder gute Baum gute Früchte, aber der faule Baum bringt schlechte Früchte. Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte bringen, noch kann ein fauler Baum gute Früchte bringen. Jeder Baum, der keine gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Deshalb, an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.

Matthäus 7,16-20 (ELBCSV 2003)

Christus sprach auch das altbekannte Problem an, dass die Rede und das Bekenntnis eines Menschen nicht unbedingt mit seinem Wesen und seiner Realität in Übereinstimmung sein müssen. Das Phänomen der Heuchelei, des guten Scheins und des buchstäblichen Pharisäertums ist ja seit dem Sündenfall ein allen Menschen anhaftendes Übel. In seiner Argumentation macht der Herr Jesus deutlich, dass wir die Werke eines Menschen genau ansehen müssen, um sein Bekenntnis zu prüfen, das Sagen eines Menschen muss vom Tun her beurteilt werden, und zwar danach, ob es Ausdruck des Gehorsams gegen Gottes Willen ist:

Nicht jeder, der zu mir sagt: „Herr, Herr!“, wird in das Reich der Himmel eingehen, sondern wer den Willen meines Vaters tut, der in den Himmeln ist.

Matthäus 7,21 (ELBCSV 2003)

Gegenüber den elf glaubenden Aposteln erklärt der Herr Jesus, dass das Geheimnis anhaltenden und sich steigernden Fruchtbringens die Lebensverbindung mit Ihm selbst ist (Johannes 15,1–8):

Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, dieser bringt viel Frucht, denn außer mir könnt ihr nichts tun.

Johannes 15,5 (ELBCSV 2003)

Neuzeitliche Debatte

Aus der Geschichte des Volkes Gottes wissen wir, dass der Feind Gottes, der Ur-Lügner Satan, die Wahrheit immer gleichzeitig in beide Richtungen verfälscht, um sicher von der Wahrheit wegzuführen, egal, wie die jeweilige Neigung des Opfers seiner Verführung ist. Am Beispiel der Gemeinde in Korinth ist besonders gut zu beobachten, dass der Teufel seinen Irrtum immer in Paaren der Extreme serviert. C. S. Lewis (1898-1963) schrieb in Mere Christianity (dt.: Pardon, ich bin Christ): »Der Teufel versucht, uns ein Schnippchen zu schlagen. Er schickt der Welt die Irrtümer immer paarweise auf den Hals, in Paaren von Gegensätzen. Und er stiftet uns ständig dazu an, viel Zeit dadurch zu vertrödeln, nachzugrübeln, welches der schlimmere Irrtum sei. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Er baut auf unseren tiefen Unwillen gegen den einen Irrtum, um uns Schritt für Schritt in den anderen hineinzuziehen.«

Die biblische Mitte, die göttlich geoffenbarte Wahrheit nach links und rechts zu bewahren, ist also keine Sache, bei der wir uns schräge oder einseitige Blicke und Vorlieben erlauben dürfen. Bei den Korinthern kann man beispielsweise beobachten: Das Gottesgeschenk der Sexualität darf weder in grenzenloser Ausschweifung missbraucht noch in asketisch-philosophischer Verweigerung verachtet werden. Abusus non tollit usum.

Auch in der Frage, wie rettender Glaube und gute Werke zusammengehören, kann man auf beiden Seiten vom Pferd fallen:

(1) Die Einen verbinden Glauben und Werke so sehr, dass Rechtfertigung und Heiligung zu einem nicht unterscheidbaren Gemisch und Komplex werden, das den biblischen Grundsatz der Rechtfertigung allein aus Glauben verleugnet und die Rechtfertigung zu einem Prozess macht, den unsere Werke maßgeblich beeinflussen. Die Folge ist meist irgendeine Form der Gesetzlichkeit, also jenem Verständnis, dass unsere Werke zu unserem ewigen Heil beitragen. Dass die Schrift dies kategorisch ausschließt, wurde oben schon belegt. Die römisch-katholische Lehre hält bis heute an diesem Irrtum fest.

(2) Die Anderen trennen Glauben und Werke kategorisch so sehr, dass der wesensartige Zusammenhang zwischen beiden verleugnet wird. In den gnostisch beeinflussten Strömungen in der Christenheit führt dies zu einer Trennung der Dinge des Geistes („oben“, geistlich) von den Dingen des Fleisches („unten“, irdisch), wobei das Geistliche das Wesentliche und Wertvolle, das Irdische aber das Unwesentliche und Wertlose sei. Von dort ausgehend irrt man dann auseinandergehend entweder zur Zügellosigkeit (Antinomismus), weil das Irdische, Leibliche nichts mit dem Glauben zu tun habe, oder zu einem alles Irdisch-leibliche entsagenden und verachtenden Asketismus (häufig in den geweihten Ständen anzutreffen). Es ist aber gleichartig falsch, einem Rasputin oder dem Trappistenorden zu folgen.

Die amerikanischen Evangelikalen haben sich in dieser Frage ebenfalls sehr grundlegend auseinander dividiert. Leider hat sich dieser Streit durch die Medien weltweit ausgebreitet.

(1) Die sog. Non-Lordship-Salvation-Richtung leugnet, dass der Erweis des rettenden Glaubens etwas mit einem Leben in Gottesfurcht und mit entsprechenden Glaubenswerken zu tun hat. Zu den Vertretern dieser falschen Richtung gehören bekannte Theologen wie Lewis Sperry Chafer (1871–1952), der Gründer und erste Präsident des renommierten Dallas Theological Seminary (DTS), und Charles C. Ryrie (1925–2016), Professor für Systematische Theologie dieser Hochburg des amerikanischen Dispensationalismus. Ryrie war auch Gastdozent an der Bibelschule Brake in Lemgo (1998–2004), seine Studienbibel (NT 1976, Gesamtbibel 1978, erweitert 1994, deutsch 2012) erfreute sich größter Auflagen und Verbreitung, besonders auch innerhalb der sog. Brüderbewegung (Plymouth Brethren, Elberfelder Brüder). Ryrie lehrte noch, dass die Echtheit des rettenden Glaubens in »gewissen Veränderungen« sichtbar wird: »Mit der Errettung gehen gewisse Veränderungen einher, und wenn ich einige dieser Veränderungen sehe, dann kann ich sicher sein, das neue Leben empfangen zu haben.« (Charles C. Ryrie: Hauptsache gerettet? Was Errettung bedeutet, Christliche Verlagsgesellschaft, Dillenburg 1998, S. 150).

Zane Clark Hodges (1932–2008), Professor am DTS, formulierte die wohl extremste Trennung von Glauben und Werken in seiner Free Grace Theology. In dieser Radical No-Lordship Theology genannten Ansicht reicht eine rein intellektuelle Zustimmung zu gewissen Heilstatsachen völlig aus, um das ewige Heil zu erhalten. Abwendung von der Sünde, Lebensübergabe an Christus und Gehorsam gegenüber den neutestamentlichen Geboten sind nicht Teil des rettenden Glaubens, sondern gehören zum Bereich der (evtl. später noch folgenden) Nachfolge bzw. christlichen Lebensführung. Gläubige können dauerhaft in die Sünde zurückfallen und den Glauben sogar ganz aufgeben, ohne dass man daraus den Schluss ziehen dürfe, dass diese Person nicht gerettet war und ist. Diese Free Grace Theology wendet sich zurecht gegen den „Arminianismus“, der lehrt, dass dauerhafte Sünde oder Abfall vom Glauben den Verlust des ewigen Heils nach sich ziehe, aber sie wendet sich auch gegen die biblische Lehre, dass der hohepriesterliche Dienst Christi alle wahren Gläubigen bis zum Ende im Glauben erhalten wird (Lukas 22,32; 1. Korinther 1,8; vgl. Punkt 5 der Lehrregeln von Dordrecht). Der Inhalt des rettenden Evangeliums wurde von Hodge so weit eingeschränkt, dass man weder an das Kreuz noch an die Auferstehung Jesu glauben müsse, sondern nur noch an die Verheißung des ewigen Lebens. Alle Arten von Werken, vor der Neugeburt (was biblisch richtig ist) und nach der Neugeburt (was falsch ist) hätten mit dem rettenden Glauben nichts zu tun. Die 1986 gegründete Grace Evangelical Society (GES) vertritt diese radikalen Ansichten heute am deutlichsten.

(2) Die sog. Lordship-Salvation-Richtung hingegen behauptet, dass der Erweis des rettenden Glaubens etwas mit einem Leben in Gottesfurcht und mit entsprechenden Glaubenswerken zu tun hat. Der bekannteste Vertreter dieser Richtung ist der kalifornische Pastor John F. MacArthur (*1939), ehemaliger Präsident von The Master’s University, The Master’s Seminary und des Missionswerks Grace to You sowie Herausgeber der weit verbreiteten MacArthur Studienbibel (über 2 Mio. Kopien). Seine Zentralposition ist, dass das Evangelium, das Jesus Christus predigte, ein Aufruf zur gehorsamen Nachfolge (Jüngerschaft) ist, nicht nur eine Bitte, eine einmalige Entscheidung zu treffen oder einmal ein „Übergabegebet“ zu sprechen. Mit außerordentlicher Klarheit vertritt MacArthur die in der Reformation wiederentdeckte biblische Lehre, dass die Rechtfertigung des Sünders und mithin sein ewiges Heil allein aus Gnade, allein aus Glauben und allein in Christus zu finden ist. Eigene Werke fügen dem nichts hinzu, weder solche vor der Neugeburt, noch solche nach der Neugeburt von oben. Die Entkopplung des ewigen Heils vom Ruf und den Kosten der Christus-Nachfolge hingegen wird als „easy believism“ bezeichnet und als unbiblisch abgewiesen. Die Befreiung von den Gebundenheiten der Sünde geschieht nach der Heiligen Schrift vielmehr durch existentielle Übergabe des Lebens an Christus, was Umkehr vom tödlichen Weg (Lebensstil) des Sünders und wirkliche Freiheit des so geretteten Menschen bedeutet. Das »Wort des Glaubens« und der darauf beruhende, rettende Glaube schließt den Glauben an Christus als Retter wie auch an Ihn als Herrn mit allen rettenden Konsequenzen ein.

Das ist das Wort des Glaubens, das wir predigen, dass, wenn du mit deinem Mund Jesus als Herrn bekennst und in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn aus den Toten auferweckt hat, du errettet werden wirst. Denn mit dem Herzen wird geglaubt zur Gerechtigkeit, mit dem Mund aber wird bekannt zum Heil.

Römer 10,8-10 (ELBCSV 2003)

Das Hören, Glauben und Gehorchen ist keine extern aufgepresste Haltung des Christen, sondern das innere Wesen des an Christus Glaubenden. Wer eines Seiner Schafe (geworden) ist, glaubt, hört und folgt dem Sohn Gottes:

…aber ihr glaubt nicht, denn ihr seid nicht von meinen Schafen, wie ich euch gesagt habe. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie gehen nicht verloren in Ewigkeit, und niemand wird sie aus meiner Hand rauben.

Johannes 10,26-28 (ELBCSV 2003)

Martin Luther hat es mit seinem ihm eigenen Duktus schön zusammengefasst:

Es reimen und schicken sich fein zusammen der Glaube und die guten Werke, […] aber der Glaube ist es allein, der den Segen ergreift, ohne die Werke, (der) doch nimmer und zu keiner Zeit allein ist.

Formula Concordia, Zweiter Teil, Solida Declaratio, Wiederholung und Erklärung etlicher Artikel Augsburgischer Konfession…, III. Von der Gerechtigkeit des Glaubens vor Gott, Nr. 41. (Orig. Luther: »Bene conveniunt et sunt connexa inseparabiliter fides et opera; sed sola fides est, quae apprehendit benedictionem sine operibus, et tamen nun quam est sola.«) Textquelle.

Weiterführende Literatur

John F. MacArthur hat die theologische Auseinandersetzung ausführlich in mehreren Büchern dargestellt. Am deutlichsten wird die „Lordship Salvation“-Debatte von ihm im Buch The Gospel According to the Apostles: The Role of Works in the Life of Faith niedergelegt (Thomas Nelson, 2005, 266 Seiten, ISBN 978-0785271802). Weitere Abhandlungen MacArthurs über das biblische Evangelium sind folgende: The Gospel According to Jesus: What Is Authentic Faith? (Zondervan, 2009; dt.: Lampen ohne Öl, 2. Aufl., CLV, 2012); The Gospel According to Paul: Embracing the Good News at the Heart of Paul’s Teachings (Thomas Nelson, 2018); The Gospel according to God: Rediscovering the Most Remarkable Chapter in the Old Testament (Crossway, 2018).

Der Verführung, das biblische Evangelium dem modernen Menschen zeitgeistmäßig schmackhaft(er) zu machen, trat MacArthur in seinem Buch Hard To Believe (Thomas Nelson, 2010) entgegen (dt.: Durch die enge Pforte: Wie moderne Evangelikale den schmalen Weg breit machen. 4. Aufl., Betanien, 2016).

Joel R. Beeke und Steven J. Lawson haben die Lehraussagen des Apostel Paulus (Röm 3,21–28) und des Jakobus (2,14–26) zur Rechtfertigung ebenfalls gründlich untersucht und in ihrem Buch Glaube und Werke sind kein Widerspruch – Paulus und Jakobus über die Lehre der Rechtfertigung dargelegt (Waldems-Esch: 3L-Verlag, 2021, ISBN 978-3-944799-18-6). Gliederung und Leseprobe auf der Verlagsseite. Original: Root & Fruit: Harmonizing Paul and James on Justification (Free Grace Press, 2020, ISBN 978-1952599019).


Die intolerante Toleranz

»Der Begriff Toleranz hat sich im letzten Jahrhundert subtil verändert. Verstand man darunter früher die Haltung eines Menschen, der selbst einer von ihm als richtig erkannten Ansicht anhängt, aber das Vorhandensein und Artikulieren anderer, aus seiner Sicht falscher Ansichten akzeptiert, so fordert die „neue Toleranz“, jegliche Ansicht als gleich gültig zu akzeptieren – alles ist gleich „richtig“. Die Kehrseite ist, dass es nur noch einen Unwert gibt, nämlich die Intoleranz. Als solche gilt die Überzeugung, dass tatsächlich nicht alle Standpunkte gleich richtig sind. Wo solche „Intoleranz“ gewittert wird, zeigen sich die Verfechter der Toleranz meist außerordentlich intolerant.«

D. A. Carson: Die intolerante Toleranz, (Waldems: 3L Verlag, 2014), S. 13–14.25. Orig.: The Intolerance of Tolerance, Grand Rapids, MI (USA) und Cambridge, England: William B. Eerdmans Publishing, 2012. Paperback-Edition 2013.

Nichts ist wohl intoleranter als eine Toleranz, die die Aufgabe aller Überzeugungen verlangt, insbesondere jener Überzeugungen, die der Toleranzfordernde selbst nicht vertritt. Toleranz auf Kosten der Wahrheit (i.S.d. Übereinstimmung mit der Realität) zu fordern, kann nur nach Irrealis oder Dystopia führen und markiert das Ende der Rationalität. Rationaler Diskurs und Fortschritt in Wissenschaft und Denken kann nur im freien Austausch gegensätzlicher Theorien und Meinungen gedeihen. (Natürlich reden wir hier ausdrücklich nicht von Aufforderungen zu strafbaren oder unmoralischen Handlungen.) Der Angriff auf die Freiheit des Menschen, insbesondere seiner Denk- und Redefreiheit, fördert weder Freiheit noch Demokratie, sondern führt, wie viele rote und braune Beispiele zeigen, in den ideologischen und tyrannischen Staat.

In einem Interview mit John Starke erklärte Carson den Unterschied zwischen alter Toleranz und neuer Toleranz und das unvermeidliche Paradox der neuen Toleranz, das aber im Denken der Postmoderne nicht als schädlich erkannt, sondern vielmehr als wertvoll begrüßt wird:

»The old tolerance presupposed another system of thought already in place—Christianity, communism, Naziism, Buddhism, secularism—whatever. The issue then became how much deviation from that system could be tolerated before coercive force is applied. To the extent that one allowed deviation, one was tolerant; correspondingly, where one judges that deviation has gone too far (e.g., almost everyone agrees, even today, that pedophilia goes beyond the pale), then coercive force—in short, intolerance—is a virtue. It was quite possible to disagree strongly with what a person was saying, but still tolerate the opinion that was perceived to be aberrant, on the ground that it was better for society to allow such opinions than to coerce silence from those articulating them.

But invariably, tolerance has its limits. The new tolerance (1) tends to insist that those who merely disagree with others, at least in several spheres, are intolerant, even if no coercive force is applied; (2) tends to make such tolerance the supreme good, independently of surrounding systems of thought; and (3) tends to be remarkably blind in regard to its own intolerant condemnation of everyone who disagrees with its own definition of tolerance. The result is that in many domains, in many discussions, the question is rarely “Is this true?” but “Is anyone offended?” Rigorous discussion of content soon shuts down; truth is demoted; various forms of class warfare are encouraged; in some domains it becomes wrong (supreme irony) to say that anyone is wrong.«

Zitiert nach: https://www.thegospelcoalition.org/blogs/justin-taylor/the-intolerance-of-tolerance/ [19.02.2021] Fett- und Farbschrift hinzugefügt.

Seit der Antike verstanden die Menschen Wahrheit als Angleichung des Verstandes an das Sein (Wirklichkeit). Bibelkennende Christen wissen, dass es Gott Selbst ist, der Sein und Wirklichkeit in Raum, Zeit und Materie erschaffen hat (1Mose 1,1) und diese höchstpersönlich und beständig aufrecht erhält (Hebräer 1,3). Christen glauben auch, dass die Heilige Schrift Gottes Wort und mithin die Wahrheit ist, stammend aus einer zur Lüge und Täuschung unfähigen Quelle (5Mose 32,4; 1Petrus 2,22): Was Gott mitteilt, ist Wahrheit (Psalm 119,60; Johannes 17,17). Die Wahrheit ist erkennbar (Römer 1,19ff; 1Korinther 2,12–16) und diese Wahrheit macht frei, sagte der Sohn Gottes (Johannes 8,32). Diese Fakten widerlegen die Grundannahmen von Atheismus und Agnostizismus.

Der radikale Konstruktivismus und die neue Toleranz hingegen leugnen sowohl die Existenz objektiver Wahrheit als auch die Erkenntnismöglichkeit derselben. Damit sind wir scheinbar in subjektive Beliebigkeit und Gleich-Gültigkeit entlassen, bemerken aber bald, dass dieses Wahrheitsvakuum schnell und oppressiv von der herrschenden Klasse mit Ideologie und Narrativen (samt unterstützenden Fake-News) gefüllt wird. Die modernen Massenmedien verstärken diese Wirkkräfte ungemein. Die Quelle und das Interesse solcher Leugnung ist unschwer zu erkennen (Johannes 8,44). Ergebnis ist stets Versklavung.