Die Fluchrolle in Sacharja 5,3 | Beobachtungen im Text

Beim Studieren des Propheten Sacharja begegnet man einer Stelle, die recht unterschiedlich in den deutschen Übersetzungen wiedergegeben wird. Das macht neugierig. Im Folgenden ein paar Hinweise, welche Probleme im Text und/oder Textverständnis vorliegen und wie es zu den Übersetzungsvarianten kommt.

Textvarianten

Varianten mit Bezug auf die zwei Seiten der Fluchrolle

ELBCSV: Und er sprach zu mir: Dies ist der Fluch, der über die Fläche des ganzen Landes ausgeht; denn jeder, der stiehlt, wird entsprechend dem, was auf dieser Seite der Rolle geschrieben ist, weggefegt werden; und jeder, der falsch schwört, wird entsprechend dem, was auf jener Seite der Rolle geschrieben ist, weggefegt werden.

SCHL2000: Und er sprach zu mir: Das ist der Fluch, der über die Fläche der ganzen Erde ausgeht; denn jeder Dieb wird weggefegt werden gemäß dem, was auf dieser Seite [der Rolle] steht, und jeder, der falsch schwört, wird weggefegt werden gemäß dem, was auf jener Seite [der Rolle] steht.

Menge: Denn jeder, der stiehlt, wird ausgetilgt, wie auf der einen Seite der Rolle geschrieben steht, und jeder, der falsch schwört, wie auf der anderen Seite.

Gute Nachricht Bibel: Jeder, der stiehlt, wird verschwinden, so wie auf der einen Seite der Schriftrolle geschrieben steht, und jeder, der falsch schwört, so wie auf der anderen Seite.

NeÜ (Vanheiden): Denn jeder, der stiehlt, wird verschwinden, wie es auf der einen Seite steht, und jeder, der falsch schwört, wie auf der anderen Seite.

Varianten ohne Bezug auf die zwei Seiten der Fluchrolle

ELB2006: Und er sprach zu mir: Dies ist der Fluch, der ausgeht über die Fläche des ganzen Landes. Denn jeder, der stiehlt, ist bisher – wie lange nun schon! – ungestraft geblieben, und jeder, der falsch schwört, ist bisher – wie lange nun schon! – ungestraft geblieben. (plus Anmerkung, dass dies ein rekonstruierter Text ist).

Luther 2017: Dies ist der Fluch, der ausgeht über das ganze Land; denn wer stiehlt, der soll nach diesem Fluch ausgerottet werden, und wer falsch schwört, der soll nach diesem Fluch ausgerottet werden.

Einheitsübersetzung 2016: Das ist der Fluch, der über die ganze Erde ausgeht: Jeder Dieb wird von nun an wie dort beseitigt, und jeder, der falsch schwört, wird von nun an wie dort beseitigt.

Züricher 2007: Das ist der Fluch, der ausgeht über die ganze Erde; denn jeder Dieb wird wie dort beseitigt, und jeder, der falsch schwört, wird wie dort beseitigt.

Erklärung der Unterschiede

Text. Der hebräische Text ist textkritisch schwierig und führt daher zu sehr unterschiedlichen deutschen (und anderssprachigen) Übersetzungen. Schon der Masoretische Text (sonst Referenz zum AT) ist unklar. Der Text wirkt grammatisch unklar, evtl. verdorben oder verschoben. Ein wichtiges hebr. Verb (niqqāh) ist zweideutig, kann »unschuldig sein«, »frei ausgehen«, aber auch »ausgerottet werden« und »verschwinden« bedeuten, also genau das Gegenteil. Das alles verlangt nach Orientierung von anderer Stelle aus.

LXX. Also schaut man nach, wie die Juden es in der LXX-Übersetzung (jüd. Übersetzung des AT aus dem Hebräischen ins Griechische um etwa 250 v.Chr.) verstanden und übersetzt haben. Der griech. Text lautet übersetzt so: „Denn jeder Dieb wird von hier wie jener ausgerottet werden, und jeder, der falsch schwört, wird von hier wie jener ausgerottet werden“. Das passt auch zum engeren Kontext, wo die Fluchrolle Strafe und Tilgung bringt, nicht Freispruch.  Daher folgen heute viele einer Wiedergabe entsprechend der LXX.

Enger Kontext: (1) Sacharja sieht: »Ich sah, und siehe, eine fliegende Schriftrolle!  Und er sprach zu mir: Was siehst du?  Ich sagte: Ich sehe eine fliegende Schriftrolle, zwanzig Ellen lang und zehn Ellen breit.« Das ist also eine Rolle mit Schrift, die als Fluch über das Land ausgeht.  In der Antike waren solche Fluchrollen oft beidseitig beschrieben, s.u. –  (2) Der Text in Sacharja 5,3b lautet im Masoretischen Text: »Denn jeder, der stiehlt, von hier, wie sie, wird [niqqāh]; und jeder, der schwört, von hier, wie sie, wird [niqqāh].«, wobei das Wort [niqqāh] eben doppeldeutig ist, s.o. Das klingt verwirrend, weil zweimal das »von hier» steht, aber kein klares Bezugswort dasteht (z.B. »der Seite«, »der Rolle«). Und dann ist auch das »wie sie« nicht klar: Wer oder was ist hier gemeint?

Die »Zwei-Seiten (der Rolle)«-Deutung. Man versteht es so, dass von den zwei Seiten der Schriftrolle geredet wird, »wie sie [beschrieben ist]«. Das ist kein fremder Gedanke; z. B. in Hesekiel 2,9–10 heißt es ausdrücklich: »Und ich sah: Und siehe, eine Hand war gegen mich ausgestreckt; und siehe, darin war eine Buchrolle. Und er breitete sie vor mir aus, und sie war auf der Vorder- und auf der Rückseite beschrieben; und Klagen und Seufzer und Wehe waren darauf geschrieben.« Hier ist also ein Anknüpfungspunkt für die Vorstellung, dass von »zwei Seiten der Rolle« die Rede ist. Entsprechend kann man umschreiben: »Dies ist der Fluch, der ausgeht über das ganze Land:  denn jeder, der stiehlt, wird beseitigt, nach dem, was auf der einen Seite der Rolle geschrieben steht, und jeder, der falsch schwört, wird beseitigt, nach dem, was auf der anderen Seite steht.« – Das passt auch thematisch gut: Die erste Seite richtet sich gegen Diebstahl (zweite Tafel des Dekalogs), die zweite Seite gegen Meineid (erste Tafel des Dekalogs, da der Name des Herrn dabei missbraucht wird). Diese Parallele zu den beiden Tafeln des Gesetzes ist naheliegend und wird oft in Predigten entsprechend hervorgehoben. Werden mit den beiden genannten Geboten synekdotisch jeweils ihre Klasse (i.S. der Zweiteilung des Dekalogs nach gottgewandten Geboten (Tafel 1) und menschgewandten Geboten (Tafel 2)) angesprochen, dann ist damit letztlich der gesamte Dekalog gemeint.

Sprachliche Grundlage. Tatsächlich kann der hebr. Ausdruck »beidseitig« bedeuten. Es fehlt aber das verbindende »und«, was ungewöhnlich ist, aber evtl. hat man das eben auch so gut verstanden (stilistische Kürze) und/oder es liegt einen Fehler im Manuskript/Abschrift vor.

Sprachliche Kritik. Diese Deutung auf die beiden Seiten der ausgebreiteten Rolle steht nicht explizit (wörtlich, ausdrücklich) im Text, sondern ist eine interpretatorische Glättung, die sich auf Parallelen in 2Mose 32,15 und Hesekiel 2,10 stützt. Kontextlogisch passt sie aber hervorragend.

Fazit

Die Idee, dass Sacharja 5,3 von den zwei Seiten der Fluchrolle spricht, ist sprachlich und symbolisch gut begründet, aber nicht eindeutig/ausdrücklich im überlieferten hebräischen Text gegeben. Sie ist eine interpretative Lösung des schwierigen Doppel-„מִזֶּה“ (»von hier«)– angelehnt an Parallelen wie 2Mose 32,15 und Hesekiel 2,10 – und wurde besonders von modernen Übersetzungen aufgegriffen, um dem Vers einen klaren, verständlichen Sinn zu geben. Grundlehren der Schrift werden von den Varianten nicht berührt.

Zwei Kommentare zum »Zweiseiten«-Verständnis

»5,3–4 Auf der Buchrolle stand der Fluch über jeden Dieb und jeden, der falsch schwört. Als Teil dieses Fluches würde das Haus eines jeden, der gestohlen oder falsch geschworen hat, zerstört werden, sowohl das Gebälk als auch die Steine. Vielleicht hat diese Vision mit dem weltweiten Gericht zu tun, das der Errichtung des Reiches Christi vorausgeht. Mit Sünden gegen den Menschen (Diebstahl) und Sünden gegen Gott (Meineid) wird man sich zu jener Zeit beschäftigen. (Diese beiden können auch die zwei Tafeln des Gesetzes symbolisieren.)«
(MacDonald, William ; Eichler, C. ; Grabe, H. ; Reimer, M. ; Wagner, A. ; Passig, S. ; Passig, E.(Übers.): Kommentar zum Alten Testament. 2. Auflage. Bielefeld : Christliche Literatur-Verbreitung, 2010)

»3 Die Botschaft und Bedeutung der Schriftrolle werden offenbart. Diejenigen, die beharrlich den Bund brachen (2. Mose 20), würden den Fluch (die Strafe) für Ungehorsam und Untreue erfahren (5. Mose 27,26). Da die Schriftrolle offenbar wie die beiden Gesetzestafeln (2. Mose 32,15) auf beiden Seiten beschriftet war, muss die eine Seite den Fluch gegen diejenigen enthalten haben, die das dritte Gebot des Gesetzes übertreten hatten, während die andere Seite den Fluch gegen diejenigen enthielt, die das achte Gebot gebrochen hatten. Der Dieb brach das achte Gebot, und wer falsch schwor, verstieß gegen das dritte Gebot. Aus Vers 4 geht klar hervor, dass es sich um das dritte Gebot handelte und nicht um das neunte. Wir haben hier eine Form der Synekdoche, bei der die Art für die Gattung steht (vgl. Bullinger, S. 625–629). Mit anderen Worten, diese beiden repräsentativen Sünden – vielleicht waren Diebstahl und Meineid zu dieser Zeit die häufigsten – stehen für alle Arten von Sünde. Der Punkt ist, dass Israel sich schuldig gemacht hatte, das gesamte Gesetz gebrochen zu haben.«
(Barker, Kenneth L.: Zechariah. In: Gaebelein, F. E. (Hrsg.): The Expositor’s Bible Commentary: Daniel and the Minor Prophets. Bd. 7. Grand Rapids, MI: Zondervan Publishing House, 1986, S. 632–633; eigene Übersetzung von grace@logikos.club)