Machtmenschen in der Gemeinde

Dr. Volker und Martina Kessler haben recht gute Hilfestellungen für das Phänomen des Machtmenschen geliefert. Dieses Phänomen ist in fast allen Gruppen der Gesellschaft zu beobachten und wird entsprechend von der Soziologie erforscht. Besonders schädlich und widernatürlich ist es aber in Gruppen, die sich als christlich verstehen und darstellen (Gemeinden, Kirchen, Missionen, Bibelhauskreise u.ä.). Auch dieses wurde verschiedentlich beobachtet und erforscht, oft mit der Motivation, seelsorgerische Hilfen und Überlebenshilfen für Gemeinden und Einzelne zu bieten. Das Folgende ist eine gute Zusammenfassung des Problems und möglicher Lösungen aus der Hand des Autoren(ehe)paars Kessler.

»„Machtmenschen – Gibt es so etwas in der Gemeinde?“ Viele Gespräche und Reaktionen zu Vorträgen haben uns erschreckt, weil wir merkten, wie viele Christen unter Machtmenschen leiden. Bei aller Unterschiedlichkeit zeigen die Erfahrungsberichte auffallende Parallelen. 

Ankündigung von Machtmenschen 

Das Neue Testament kündigt Machtmenschen in der Gemeinde an. Jesus warnt in der Bergpredigt: „Hütet euch vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen! Inwendig sind sie aber reißende Wölfe. An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen…“ (Mt 7,15f). Ebenso mahnt Paulus die Ältesten von Ephesus zur Vorsicht: „Habt acht auf euch selbst und auf die ganze Herde … Ich weiß, dass nach meinem Abschied grausame Wölfe zu euch hereinkommen werden, die die Herde nicht verschonen.“ (Apg 20,28.29) 

Wir interpretieren diese Verse häufig in Bezug auf Irrlehrer. Aber die Gemeinde ist nicht nur durch Irrlehrer bedroht. Ein Machtmensch kann vordergründig die „richtige Lehre vertreten“ und dennoch die Gemeinde missbrauchen. Mit der Bezeichnung „Wölfe“ wird ein bekanntes Bild aus Hesekiel aufgegriffen. Gott spricht über die Führer von Juda: „Seine Obersten sind in seiner Mitte wie Wölfe, die Beute reißen, um Blut zu vergießen, Seelen zugrunde richten, damit sie unrechten Gewinn erlangen.“ (Hes 22,27) Die Obersten sind Hirten, „die sich selbst weiden“ (Hes 34,2). Wölfe, die sich als Hirten tarnen, benutzen die Herde für ihre Bedürfnisse, anstatt sich um die Bedürfnisse der Anvertrauten zu kümmern. 

Diotrephes – ein typischer Machtmensch 

Ein Machtmensch wird sogar beim Namen genannt: Diotrephes (3Joh 9.10) ist in mancherlei Hinsicht sehr typisch für Machtmenschen in Gemeinden. (Um der besseren Lesbarkeit wegen benutzen wir im folgenden immer die männliche Form. Aber es gibt auch Machtfrauen.) 

1. Wo Machtmenschen auftreten, entsteht eine gewisse Unruhe. 
Manche Geschwister sind beunruhigt, sie fühlen, dass etwas nicht in Ordnung ist, und merken, dass dies mit einer bestimmten Person zusammenhängt. Es werden Gespräche geführt, Briefe geschrieben. 

2. Der Machtmensch hat ein Ziel: herrschen, möglichst alleine. 
Wo er mitarbeitet, bestimmt er die Richtung, unabhängig davon, ob er diesen Kreis offiziell leitet. Er will Aufmerksamkeit um jeden Preis. Negative Aufmerksamkeit ist ihm lieber als gar keine. Wenn die Leute sich über ihn ärgern –wunderbar– so steht er doch alleine im Mittelpunkt! 

3. Der Machtmensch nimmt Kritik nicht wirklich an. 
Er lebt nach dem Motto: „Ich kann gar nicht verstehen, dass es vielen Christen so schwer fällt, sich zu entschuldigen. Wenn ich Fehler machte, würde ich mich sofort entschuldigen.“ 

4. Der Machtmensch profitiert vom kurzen Gedächtnis der anderen. 
Viele vergessen, was schon alles gelaufen ist. So kann sich der Machtmensch auch über gemeinsame Beschlüsse hinwegsetzen. Die anderen erinnern sich ja nicht mehr an diese Entscheidungen. 

5. Der Machtmensch fühlt sich durch kritisches Nachfragen bedroht. 
Menschen, die er als Bedrohung empfindet, verleumdet er. Dies kann öffentlich geschehen (typisch für Machtmänner), es kann aber auch in vielen kleinen Gesprächen passieren (typisch für Machtfrauen). Wenn sie mal hier, mal dort im persönlichen Gespräch ein Wort gegen eine Person sagt, werden diese Worte weitergetragen und zeigen Wirkung. Auf einmal hat die so verleumdete Person keine Vertrauensbasis mehr in der Gemeinde und wundert sich, dass das Klima gegen sie gekippt ist. 

6. Wenn ein Machtmensch befürchtet zu verlieren, wird er alles tun, um wieder Oberhand zu bekommen. 
Er wird zu immer stärkeren Mitteln greifen. Er wird gegebenenfalls auch lügen – obwohl er Gemeindeglied ist. 

7. Der Machtmensch bildet Allianzen. 
Er sammelt einen Freundeskreis um sich, der ihn unterstützt. Er polarisiert: Wer ist für mich, wer gegen mich? 

8. Wer ihm zu gefährlich ist, den stößt er aus der Gemeinde. 
Vordergründig schützt er damit die Gemeinde. Denn er hat jene mit dem „kritischen Geist“ aus der Gemeinde verbannt. Bei manchen Machtmenschen lässt sich über die Jahre hinweg eine Reihe von „Leichen“ verfolgen. Leute kommen neu zum Hauskreis / Gemeinde, sie arbeiten mit, nach zwei Jahren werden sie geistlich selbstständig und damit dem Machtmenschen zu gefährlich. Er mobbt sie hinaus und holt sich neue Leute. Der Kreislauf beginnt von neuem. 

Machtmenschen sind machtsüchtig 

Die meisten Menschen haben gelegentlich Machtgelüste. Wer sich dem kontinuierlich hingibt, kann machtsüchtig werden. Es ist ein Unterschied, ob man gelegentlich seine Kompetenzen überschreitet, gelegentlich seine Macht missbraucht oder ob man machtsüchtig ist. Genauso wie es ein Unterschied ist, ob man gelegentlich zu viel Alkohol trinkt oder ob man alkoholsüchtig ist. Damit wird der gelegentliche Missbrauch nicht schön geredet. Es ist jedoch wichtig, den Unterschied zu sehen. Mancher, der in Leitungsverantwortung steht, überschreitet im Eifer des Gefechts seine Kompetenzen. Ich (Volker) habe Entscheidungen getroffen, von denen mir nachher bewusst wurde, dass ich sie mit anderen hätte absprechen müssen. Wurde ich daraufhin angesprochen, so tat mir dies leid und ich zügelte mich das nächste Mal. Persönlichkeit macht die Art und Weise aus, wie jemand die Dinge gewöhnlich sieht, wie er normalerweise zu anderen Menschen steht und mit ihnen umgeht. Es ist die Kontinuität der Sünde, die die Persönlichkeit krank macht. 

Dominanter Typ ist nicht gleich Machtmensch 

Häufig werden dominante Menschen mit Machtmenschen gleichgesetzt. Diese Gleichsetzung ist in beide Richtungen falsch. Denn es können auch andere Persönlichkeitstypen zum Machtmenschen werden. Da ist z.B. der Gewissenhafte, der aus Angst davor, dass etwas falsch läuft, die Kontrolle über alles haben will und überall eingreift. Es kann sein, dass der Machtmensch in der Öffentlichkeit kaum auffällt, aber dennoch die Gemeinde völlig bestimmt. Außerdem ist nicht jeder, der dominant auftritt, ein Machtmensch. Kriterien zur Unterscheidung sind: Wie steht die Person zu gemachten Fehlern? Gibt sie gelegentlich auch Verantwortungsbereiche ganz ab oder vergrößert sie immer nur ihren Einflußbereich? Ist es möglich Dinge zu klären und auszuräumen oder verstärkt sich der Druck auf den, der Probleme anspricht? 

Literatur zu Kennzeichen von Machtmenschen 

In seinem Buch Wölfe im Schafspelz – Machtmenschen in der Gemeinde (Brendow-Verlag [Titel korrigiert zur Fassung 2013; vorher (1997): Wölfe in Schafspelzen…]) fasst der Norweger Edin Løvås seine Erfahrungen „Nach vierzig Jahren seelsorgerlicher Arbeit bin ich entsetzt darüber, welches Ausmaß von Leiden durch Machtmenschen einzelnen Christinnen und Christen und christlichen Gruppen und Gemeinden zugefügt wird.“ Er beobachtet, dass Machtmenschen häufig charmant und intelligent sind und sehr geistlich wirken. Außerdem sind sie erfolgreich, das Werk oder die Gemeinde wächst. So fällt es schwer, sie zu enttarnen. 

„Das Schuldgefühl anderer ist die Lieblingswaffe von Machtmenschen.“ Sie missbrauchen das feine Gewissen der anderen. Sie sind scharfe Beobachter und äußern selten unhaltbare Beschuldigungen. Wenn sie jemandem sagen: „Das hast du falsch gemacht!“, dann zuckt derjenige innerlich zusammen. Er weiß ja, dass nicht alles richtig war. Wer ständig diesen Anklagen ausgesetzt ist, wird dünnhäutig. Es entsteht folgende paradoxe Situation: Einerseits lehnt das Opfer den Machtmenschen ab, andererseits guckt es ihm nach den Augen, um nicht wieder Kritik zu ernten. Mit der Schuldwaffe untergräbt der Machtmensch das Selbstwertgefühl des anderen. Irgendwann ist der andere völlig verunsichert und weiß nicht mehr, was und wie er etwas tun soll. Hilflos wendet er sich an den Machtmenschen. Dieser tröstet ihn: „Vertraue mir, mach es so, wie ich es dir sage, dann machst du es richtig.“ 

Hilfreich sind die Beobachtungen des Amerikaners George K. Simon in dem (säkularen) Buch Wölfe im Schafspelz (mvg-Verlag). Machtmenschen sind häufig versteckt-aggressiv, d.h. sie erreichen ihr Ziel durch geschickte Manipulation statt durch offene Aggression. „Wenn sich Opfer versteckt-aggressiver Menschen zum ersten Mal an einen Therapeuten wenden, wissen sie meistens nicht, warum sie sich schlecht fühlen. Sie wissen nur, dass sie verwirrt, verängstigt oder deprimiert sind. Allmählich erkennen sie jedoch, dass es der Umgang mit einer bestimmten Person in ihrem Leben ist, der ihnen das Gefühl gibt, nicht normal zu sein. Sie vertrauen diesem Menschen nicht, wissen aber nicht warum. Sie ärgern sich über diesen Menschen, aber aus irgendeinem Grund, fühlen sie sich selbst schuldig.“ Dieses Phänomen hören wir häufig von Opfern von Machtmenschen. Bei den meisten gab es in der Auseinandersetzung einen Punkt, an dem sie das Gefühl hatten: „Ich bin nicht normal!“ Dies erzählen gestandene Leiter mit Personalverantwortung! Man führt Gespräche, will Dinge klären, meint auch zunächst, sie geklärt zu haben, aber irgendwie wird alles nur noch schlimmer. Das verwirrt. 

Die Verantwortung der „Mitspieler“ 

Der Gemeinde zu Korinth zeigt Paulus auf, wie sie sich durch die „übergroßen Apostel“ lähmen lässt: „Denn ihr ertragt es, wenn jemand euch knechtet, wenn jemand euch aufzehrt, wenn jemand euch einfängt, wenn jemand sich überhebt, wenn jemand euch ins Gesicht schlägt.“ (2Kor 11,20). Erstaunlich: Christen ließen (und lassen) sich freiwillig knechten. Paulus verdeutlicht der Gemeinde ihre Mitverantwortung, denn sie lassen es zu, dass sie jemand ausbeutet! 

Machtmenschen haben nur deshalb eine Chance, weil die anderen so prima mitspielen. Jeder ärgert sich über den Dauerredner, der beim Grußwort in einer Festversammlung 25 Minuten statt der vorgegebenen fünf Minuten redet. Aber keiner bremst ihn! Ein Dauerredner kann nur deshalb die Gelegenheit missbrauchen, weil die anderen ihn reden lassen. 
Auch christliche Gemeinden bieten Machtmenschen ein gutes Umfeld, ihre Machtgelüste auszuleben. Erstens haben geistliche Leiter Macht über andere. Deshalb kann diese Macht auch missbraucht werden. Zweitens hegen manche Christen eine falsche Illusion: „Das gibt es in der Welt, aber nicht bei uns in der Gemeinde.“ Drittens darf es gemäß dem eigenen hohen moralischen Standard so etwas in der Gemeinde nicht geben. Was nicht existieren darf, wird dann auch nicht wahrgenommen. Viertens spielt die Demutshaltung der Christen dem Machtmenschen in die Hände. Wir sind –zu Recht– mit harten Urteilen über andere zurückhaltend. Wir haben gelernt, dass die anderen nicht wirklich die bösen Absichten haben, die uns unser Gefühl nahelegen will. Hier wäre es gut, seine Gefühle wahrzunehmen. Fünftens gibt es ein übertriebenes Harmoniebedürfnis unter Christen. Interne Probleme anzusprechen ist in unseren Gemeinden nicht beliebt. Wer auf ein mögliches Problem hinweist, steht als Nörgler und Kritiker da und muss sich anhören: „Du bist das Problem!“ Sechstens sind – gerade in „Brüder„-Gemeinden – die Leitungsstrukturen häufig unklar. Wenn nicht geklärt wird, wer was entscheiden darf, setzt sich immer der mit den stärksten Ellenbogen durch. Siebtens können sich Machtmenschen in christlichen Leitungspositionen auf die göttliche Autorität als Leiter berufen. Wer sie in Frage stellt, stellt scheinbar damit Gott in Frage. 

Typische Opfer von Machtmenschen 

Nicht jeder wird Opfer eines Machtmenschen. Es kann passieren, dass Person A jemanden als Machtmensch erlebt, während Person B völlig erstaunt darüber ist, dass A solche Anschuldigungen über diesen dritten erhebt. Wer keine Bedrohung für den Machtmenschen darstellt, wird häufig liebevoll umworben. 

Ob man Opfer wird, hängt auch von der eigenen Persönlichkeit ab. Manche Frauen leiden darunter, dass ihr Mann trinkt und sie schlägt. Nachdem sie es endlich geschafft haben, sich von diesem Mann zu lösen, wählen sie sich einen neuen Partner, der trinkt und sie schlägt. Genauso geraten manche immer wieder an Machtmenschen. Wer einmal Opfer war, tut gut daran, zu reflektieren, warum gerade er Opfer wurde. Folgende Persönlichkeitstypen sind besonders gefährdet: 

Menschen mit frühkindlich eintrainierter Ohnmacht haben sich einen Lebensstil angeeignet, der ausgezeichnet zur „beherrschenden“ Seite des Machtmenschen passt. Er ist gekennzeichnet von Unterordnung, Harmoniesucht, Gefühl der eigenen Schuldhaftigkeit und Minderwertigkeit. Warnsignale der eigenen Seele und manchmal auch des Körpers werden übergangen und zu Schuldgefühlen gegenüber dem Machtmenschen umfunktioniert. 

Ein gewissenhafter Mensch strebt danach, immer alles richtig zu machen. Ein Machtmensch kann ihn zu Wachs in seinen Händen machen, wenn es ihm gelingt, ein Gefühl von „nicht genug“ zu vermitteln. Er sei nicht sorgfältig genug, nicht aufmerksam genug, nicht geistlich genug etc. Gewissenhafte Menschen gehen gewissenhaft mit anderen Menschen um und erwarten dies auch von anderen. Sie setzen sich für Personen ein, denen Unrecht geschieht. Damit sind sie eine Gefahr für einen Machtmenschen, der es nur gut mit sich meint. 

Beziehungsorientierte Menschen sind bereit, viel in eine Beziehung zu investieren. Manche opfern sich selbst für eine Beziehung. Ferner können sie vom Machtmenschen als Schutzschild missbraucht werden. Sie verteidigen ihn bei Angriffen und werden so selbst missbraucht. 

Tipps für den Umgang mit Machtmenschen 

1. Beten und handeln Sie! Als David sich gegenüber seinem eigenen Sohn wehren musste, betete er darum, dass dieser die falsche Entscheidung träfe (2.Sam.15,31). Gott erhörte dieses Gebet (2Sam 17,14). 

2. Schätzen Sie den Charakter des anderen realistisch ein. Achten Sie mehr auf die Ergebnisse (seine „Früchte“ Mt 7,16) als auf seine Worte. Die Aussage „Ich habe es doch nur gut gemeint!“ zeigt Dominanz pur (er bestimmt was gut für Sie ist) und sollte Sie nicht beeindrucken. 

3. Machen Sie sich ihre eigene Achillesferse bewußt. Wo sind Sie verletzlich, wo angreifbar? Wieso geraten Sie gerade in solche Situationen? 

4. Beachten Sie die drei Phasen der Gesprächsführung gemäß Mt 18,15–17: erst alleine, dann mit einer dritten Person, dann öffentlich in der Gemeinde. Versuchen Sie dabei Vereinbarungen zu treffen, die angemessen, klar definiert, durchsetzbar, bis zu einem gesetzten Datum zu erledigen und überprüfbar sind. Eine solche Vereinbarung wäre z.B., dass derjenige bis zum Soundsovielten eines seiner sechs Leitungsämter in der Gemeinde niederlegt. 

5. Machen Sie die Taktiken von Machtmenschen transparent, so wie Johannes die Taten des Diotrephes in Erinnerung brachte und offenlegte (3Joh 10). Machen Sie die anderen in der Besprechung darauf aufmerksam, wenn Beschlüsse nicht eingehalten werden, der andere vom Thema ablenkt usw. Tun Sie dies an Ort und Stelle, damit die anderen merken, wovon Sie reden. 

6. Seien Sie auf die Konsequenzen gefasst! Es kann passieren, dass Sie verleumdet werden, dass Ihre Familie in Mitleidenschaft gezogen wird, dass Sie aus der Gemeinde ausgeschlossen werden (3Joh 10).

7. Vermeiden Sie aussichtslose Kämpfe. Manchmal ist Flucht die einzige Rettung (Mt 2,13; Apg 9,25; 17,10)! 

Gibt es Hoffnung für Machtmenschen? 

Løvås ist in seinem Buch sehr pessimistisch. Wir sind froh, dass wir inzwischen Zeugnisse von Menschen kennen, die sich als Machtmenschen erkannten und dann an sich arbeiteten. Eigenes Verhalten, welches sie früher als normal ansahen, erkennen sie jetzt als Sünde. Eine Frau hatte erfolgreich einen anderen Mitarbeiter aus der Gemeinde gemobbt und ihm Jahre später diese Schuld bekannt. Ein Gemeindeleiter, der früher seine Gemeinde beherrschte, kann ihr jetzt ein dienender Leiter sein. Gott kann Wunder tun! Hoffnung gibt es aber nur dann, wenn Machtmenschen erkennen, dass es nicht nur eine einzelne Situation ist, bei der sie sich ungeschickt verhalten haben, sondern dass ihr ganzes Streben auf falsche Ziele ausgerichtet ist. Ein Alkoholsüchtiger hat nur dann eine Chance auf Umkehr, wenn ihm seine Sucht deutlich wird und er nicht mehr versucht, sein „Bierchen“ zu verniedlichen. Langjährig antrainerte Verhaltensweisen abzulegen erfordert Zeit.

Nachwort

Es gibt zwei gegensätzliche Gefahren. Die erste ist, das Phänomen „Machtmenschen in der Gemeinde“ nicht wahrhaben zu wollen. Damit verharmlost man krankhafte Situationen. Die zweite Gefahr ist, dass z.B. ausgelöst durch Artikel wie diesen Hetzjagden entstehen. Leute überlegen, wer in ihrer Gemeinde wohl Machtmensch ist und fangen an, anderen Geschwistern dieses Etikett anzuheften. Das ist nicht in unserem Sinne. 

Wir ermutigen diejenigen, die in der Gemeinde Machtmissbrauch zu erkennen meinen, dies offen und gegebenenfalls auch öffentlich anzusprechen. Es ist einfacher mit Gefühlen und Eindrücken umzugehen, die „auf dem Tisch liegen“, als mit verdeckten Empfindungen. Die Gefühle beeinflussen sowieso unser Denken und unser Handeln. Wo Gefühle nicht gesagt werden (dürfen), werden Scheinargumente benutzt. Scheinargumente führen zu Scheingefechten, die Zeit und Kraft kosten, die Ursache des Konfliktes aber nicht beheben. Eine offene Subjektivität ist besser als eine Scheinobjektivität. Gefühle auszusprechen erfordert Disziplin. Damit dies in guter Weise geschehen kann, ist es manchmal hilfreich, einen externen, unbeteiligten Moderator einzubeziehen, der auf die Einhaltung gewisser Gesprächsregeln achtet. 

Einen Machtmenschen mit der geballten Macht einer Gemeinde fertigzumachen ist lieblos. Ganze Heiligung geschieht dort, wo Gemeinde und Machtmensch heil werden. Finden Machtmenschen ihren gesunden Weg vor Gott, sind sie ebenso wertvolle Mitarbeiter im Reich Gottes wie andere auch.«

Textquelle und Referenzen

Textvorlage im Web-Archiv: https://web.archive.org/web/20141224051143/http://www.irrglaube-und-wahrheit.ch/sutra5913.html (Administrator-Beitrag auf www.irrglaube-und-wahrheit.ch vom 11.03.2007)

Edin Løvås, Wölfe im Schafspelz. Machtmenschen in der Gemeinde. 5. Auflage (Moers: Brendow & Sohn, 2010), 96 Seiten, ISBN 978-3870678821. Kindle-Version seit 2013 erhältlich. Vorher: Wölfe in Schafspelzen: Machtmenschen in der Gemeinde (Edition C – M), übersetzt von Andreas Ebert (Brendow, 1997), 80 Seiten, ISBN 978-3870673925.

Martina und Volker Kessler, Die Machtfalle: Machtmenschen – wie man ihnen begegnet. 5. vollständig. überarb. Auflage (Gießen: Brunnen, 2017), 144 Seiten, ISBN  978-3765543241.

George K. Simon, Wölfe im Schafspelz. Wie Sie mit üblen Typen souverän umgehen. (MVG, 1998) 158 Seiten, ISBN 978-3478086035. Orig.: In Sheep’s Clothing. Understanding and Dealing with Manipulative People (Little Rock, AK: Parkhurst Brothers, 2010).

Fritz Weber, Gibt es ein „Recht auf Verletztsein“? Teil 1 in Bibel und Gemeinde 118, Band 1 (2018), Seiten 49–56; Teil 2 in Bibel und Gemeinde 118, Band 2 (2018), Seiten 57–70. »Empfindlichkeit ist auch unter Christen weit verbreitet. Und wem Böses angetan wurde, der nimmt sich oft für lange Zeit das Recht auf Verletzt- und Beleidigtsein.« (Fritz Weber). Ein ausgewogener Artikel über Kritik an Leitungspersonen. Er betrachtet sowohl aktive wie passive Kritikfähigkeit anhand biblischer Beispiele.

(Mit Vorbehalt:) Paul und Liz Griffin, Missbrauch hat viele Gesichter. Opfer finden Hoffnung und Heilung. (cap, 2008), 140 Seiten, ISBN 978-3867730648.

David Johnson und Jeff VanVonderen, Die zerstörende Kraft des geistlichen Missbrauchs. 1 Auflage (Hünfeld: CMD, 2016), 336 Seiten, ISBN 978-3945973004. (Orig.: The Subtle Power of Spiritual Abuse. Minneapolis, MN: Bethany House Publ., 1991.)

(Mit Vorbehalt:) Inge Tempelmann, Geistlicher Missbrauch. Auswege aus frommer Gewalt. Ein Handbuch für Betroffene und Berater. (Wuppertal: SCM R. Brockhaus, 2015), 358 Seiten, ISBN 978-3417262001 (auch als Kindle erhältlich). 

Titelbild: © Drittewahl (Frank, fotocommunity.de) [evtl. nicht verwendet].

HerzensGebet: Für das eigene Herz beten (Andacht)

Behüte dein Herz mehr als alles, was zu bewahren ist;
denn in ihm entspringt die Quelle des Lebens. 

Sprüche Salomons 4,23

Wie soll das gehen: »Mehr als alles hüte dein Herz!« (NEÜ)? Bestimmt nicht ohne anhaltendes, gezieltes Gebet! Wir sollten daher regelmäßig für unser Herz, unsere Seele, beten, denn (nach biblischem Menschenbild) werden alle Lebensfunktionen (Denken, Fühlen, Wollen usw.) zentral von dort gesteuert und »fließen« von dort heraus.

Gott hat uns in der Neugeburt anstelle unseres angeborenen kalten, toten Herzens ein neues, »fleischernes«, lebendiges Herz geschenkt. Aber wir stecken noch in vielen alten, sündigen Gewohnheiten. Da muss Veränderung her! Und daran arbeitet Gott der Heilige Geist in uns mittels geistlicher Mittel. Das Gebet ist eines davon.

Wie wir für unser Herz –und das anderer!– beten, sollte in Übereinstimmung mit dem sein, was Gottes Wort dazu sagt. Beten wir regelmäßig für unser Herz und für das unserer Ehepartner, Kinder, Ältesten und Glaubensgeschwister! Was sollten wir beten? Hier einige Vorschläge:

  1. Neige mein Herz. Das erste, was meine Seele braucht, ist eine feste innere Neigung zu Gott und Seinem Wort. Ohne dies wird in meinem Leben nichts von echtem Wert passieren. Ich muss Gott kennen lernen, sein Wort lesen und mich Ihm nahen wollen. Woher kommt dieses Wollen? Von Gott! Daher lehrt uns Psalm 119,36 zu beten: »Neige mein Herz zu deinen Zeugnissen und nicht zum Gewinn!«
  2. Öffne meine Herzensaugen. Als nächstes bedarf ich, dass die Augen meines Herzens geöffnet werden. Wenn ich durch meine neue Herzensneigung zum Wort Gottes gezogen werde, dann will ich dort sehen, was wirklich geschrieben steht – und nicht nur meine eigenen Ideen. Wer öffnet die Augen meines Herzens? Gott! So lehrt uns Psalm 119,18 zu beten: »Öffne meine Augen, damit ich schaue die Wunder aus deinem Gesetz.« 
  3. Erleuchte meine Herzensaugen. Meine Herzensaugen müssen erleuchtet werden, damit ich die »Wunder« im Wort Gottes erkennen kann. Ich will nicht nur bloß interessante Fakten lesen, sondern die Herrlichkeit darin wahrnehmen. Wer erleuchtet meine Herzensaugen? Gott! Epheser 1,18 lehrt uns zu beten, dass »Er erleuchte die Augen eures Herzens.«
  4. Einige mein Herz. Meine Erfahrung macht mir betroffen bewusst, dass mein Herz ziemlich geteilt und zertrennt ist: manche Bereiche werden erleuchtet, während andere im Dunkel bleiben. Deswegen sehne ich mich danach, dass mein Herz für Gott zusammengefasst und geeinigt wird. Woher kann solche Ganzheit und Einheit kommen? Von Gott! Daher lehrt uns Psalm 86,11 zu beten: »Lehre mich, Jahwe, deinen Weg: ich will wandeln in deiner Wahrheit! Einige mein Herz zur Furcht Deines Namens.«  
  5. Sättige mein Herz. Was ich mit all der Beschäftigung mit Gottes Wort und dem Werk des Geistes Gottes in Beantwortung meiner Gebete erreichen will ist, dass mein Herz in Gott –und nicht durch die Dinge der Welt– völlig befriedigt und gesättigt wird. Woher kommt solche Befriedigung? Von Gott! So lehrt uns Psalm 90,14 zu beten: »Sättige uns am Morgen mit deiner Gnade [o. Güte, anhaltenden Liebe], so werden wir jubeln und uns freuen in allen unseren Tagen.« 
  6. Stärke mein Herz. Ich möchte nicht, dass dieses mein Glücklichsein zerbrechlich oder schwach ist, sondern vielmehr stark, beständig und langlebig – auch angesichts größter Widrigkeiten. Ich will auch in den dunklen Zeiten stark in der Freude und ausdauernd sein. Woher kommt solche Stärke und Ausdauer? Von Gott! So lehrt uns Epheser 3,16 zu beten, »dass er [der Vater] euch gebe, nach dem Reichtum seiner Herrlichkeit mit Kraft gestärkt zu werden durch seinen Geist an dem inneren Menschen.« 
  7. Mache mich fruchtbarIch möchte nicht, dass meine Stärke in Christus nur für mich fruchtbar ist, sondern auch für andere. Ganz offenbar ist »Geben seliger als Nehmen« (Apg 20,35). Daher will ich gute Werke und »Bemühungen der Liebe« (1Thess 1,3) für andere tätigen, damit die Herrlichkeit Gottes in meinem Leben gesehen werde und auch andere schmecken und sehen mögen, dass der Herr gütig ist (Ps 34,9; 1Petr 2,3). Wer erzeugt solche guten Werke der Liebe (vgl. Eph 2,10)? Gott! So lehrt uns Kolosser 1,10 zu beten, »um würdig des Herrn zu wandeln zu allem Wohlgefallen, fruchtbringend in jedem guten Werk.«  
  8. Geheiligt werde Dein Name. Damit bei all solchem Bitten und Anstreben das wichtigste Ziel nicht aus den Augen verloren werde, sollten wir Tag für Tag als fliegendes Banner über allen unseren Bitten beten (Mt 6,9): »Geheiligt werde Dein Name!« — Herr bewirke, dass aufgrund meines Lebens und Dienens Dein Name bekannt und gefürchtet und geliebt und in Ehren gehalten und bewundert und gepriesen wird und dass in diesem Namen Urvertrauen gegründet wird.

Wir wollen dies alles im Namen Jesu Christi erbitten, denn Gott gibt uns diese Dinge nur auf Grundlage des Sterbens Jesu und nur »in Ihm«. Christus starb für uns und beseitigte so den Zorn Gottes, damit der Vater uns freizügig alle geistlichen Segnungen schenken kann (vgl. Röm 8,32).

Herr, lehre uns von Anfang bis Ende auf biblische Art und Weise und mit einer biblischen Sicht, wie Du in dieser Welt handelst, zu beten. Zeige Dich uns und wie Du wirkst, damit wir beten, wie es sich gehört. Und lehre uns zu beten wie es sich gehört, damit wir Dich sehen und wie Du wirkst.

Denn die Augen Jahwes durchlaufen die ganze Erde, 
um denen treu beizustehen,
deren Herz ungeteilt auf ihn gerichtet ist.

2. Chronika 16,9a (ELB2003)

Was ihr auch tut,
arbeitet von Herzen als dem Herrn
und nicht den Menschen.

Kolosser 3,23 (ELB2003)

Referenzen

Diese Andacht entstand in eigener Adaptierung und Übersetzung aus der Vorlage von John Piper, Taste and See, S. 63–65 (Grace@logikos.club, 2009).

Bildquelle: Bild von rawpixel.com auf Freepik.

Ein Glaube ohne Werke ist tot

Seit Jahrtausenden haben sich Christen darüber unterhalten und gestritten, wie Glauben und (Gute) Werke im christlichen Glauben zueinander stehen und miteinander gehen. Sogar der Reformator Martin Luther, der in der Rechtfertigungslehre des Neuen Testaments den Zentralartikel der christlichen Kirche sah, konnte mit der mahnenden Botschaft des Jakobus im Neuen Testament und seiner Aussage, dass die (guten) Werke zur Rechtfertigung führen, eher wenig anfangen.

Was nützt es, meine Brüder, wenn jemand sagt, er habe Glauben, hat aber keine Werke? Kann etwa der Glaube ihn erretten? …
So ist auch der Glaube, wenn er keine Werke hat, in sich selbst tot.
Willst du aber erkennen, o nichtiger Mensch, dass der Glaube ohne die Werke tot ist?

Jakobus 2,14.17.20 (ELBCSV 2003)

Zu schnell wurde ein Gegensatz oder Widerspruch zwischen den Aussagen des Apostels Paulus und des Jakobus wahrgenommen oder behauptet. Beide sind jedoch in der Sache ohne jeglichen Widerspruch. Problematisch ist nur, wenn man den Begriff Rechtfertigung beider Schreiber als identisch in der Blickrichtung ansieht. Beide Schreiber meinen mit rechtfertigen dasselbe: gerecht gesprochen zu werden. Paulus spricht jedoch von der Rechtfertigung eines Sünders vor Gott und durch Gott alleine, während Jakobus von der Rechtfertigung eines Gläubigen durch seine Glaubenswerke angesichts einer beobachtenden Welt spricht: seine Glaubenswerke weisen seinen Glauben als echt aus.

Beide Glaubenslehrer stehen sich also nicht mit überkreuzten Klingen gegenüber, sondern sie verteidigen die selbe biblische Wahrheit Rücken an Rücken gegen unterschiedliche Feinde dieser Lehre: Paulus gegen jene, die mit eigener Frömmigkeit und Werken sich die Annahme bei Gott erarbeiten wollen, Jakobus gegen jene, die meinen, der rettende Glaube in Christus habe nichts mit einem entsprechenden Weg in guten Werken des Glaubens zu tun. Allerdings muss man festhalten, dass beide Schreiber beide Aspekte kennen und lehren. Wenden wir uns zuerst dem Fundamentalartikel der Rechtfertigung allein aus Glauben zu.

Die Schrift lehrt einstimmig die Rechtfertigung »allein aus Glauben«

Sowohl Paulus wie Jakobus halten einmütig und mit der selben zentralen Belegstelle der Schrift fest, dass die Gerechterklärung des Sünders durch Gott alleine auf der Grundlage des Glaubens (d. i. alleine mittels des Glaubens) erfolgt. Beide deuten auf das Glaubensvorbild Abraham und zitieren als Schriftbeleg 1. Mose 15,6:

Und die Schrift wurde erfüllt, die sagt: „Abraham aber glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet“, und er wurde Freund Gottes genannt.

Jakobus 2,23 (ELBCSV 2003)

Denn was sagt die Schrift? „Abraham aber glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet.“

Römer 4,3 (ELBCSV 2003)

Etliche Jahre nach Jakobus schreibt der Apostel Paulus also, dass die Rechtfertigung des Sünders, also seine Für-gerecht-Erklärung seitens Gottes, eine exklusive Sache Gottes ist, die mittels des Glaubens und nur aufgrund des Glaubens, also unter Ausschluss der Anrechnung von Werken (»Gesetzeswerken«), erfolgt.

Darum, aus Gesetzeswerken wird kein Fleisch vor ihm gerechtfertigt werden. … Denn wir urteilen, dass ein Mensch durch Glauben gerechtfertigt wird, ohne Gesetzeswerke. …
Dem aber, der nicht wirkt, sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet;

Römer 3,20a.28; 4,5 (ELBCSV 2003)

Denn durch die Gnade seid ihr errettet, mittels des Glaubens; und das nicht aus euch, Gottes Gabe ist es; nicht aus Werken, damit niemand sich rühme.

Epheser 2,8-9 (ELBCSV 2003)

Da die Rechtfertigung nach der Schrift »allein durch Glauben«geschieht, stellt dies sicher, dass alle Ehre allein Gott zukommt. Sind wir nicht aufgrund eigener Werke, sondern alleine durch das rettende Werk Jesu gerechtfertigt, dann gebührt alles Lob für unser Heil alleine Ihm. Die Absicht Gottes mit der Rechtfertigung ist also – wie bei allen anderen Aspekten des Evangeliums auch – die Offenbarung und Verherrlichung Gottes: Soli Deo Gloria.

Die reformatorische Position zu Glauben und Werken

Dieses »allein durch Glauben« haben die Reformatoren in ihren grundlegenden vier Exklusivpartikeln mit sola fide bezeichnet: Allein durch den Glauben wird der Mensch gerechtfertigt, nicht durch gute Werke. Dies ist wegen der Altlasten der römisch-katholischen Theologie und der menschlichen Wesensneigung, sich durch eigene Anstrengungen den Weg in den Himmel zu bahnen und sich die Anerkennung seitens Gottes zumindest teilweise zu verdienen, nicht unwidersprochen geblieben.

Martin Luther erklärte 1531 in seiner Wittenbergschen Vorlesung über den Galaterbrief (1535 schriftlich gefasst von Georg Rörer aus seinen Mitschriften) folgendes über Glauben und Werke (zu Galater 2,19):

Daher sagen wir auch, daß der Glaube ohne Werke nichts und nichtig ist. Das verstehen die Papisten und Schwärmer so: der Glaube ohne Werke kann nicht rechtfertigen, oder der Glaube ohne Werke, wenn er noch so wahr ist, vermag nichts, wenn er nicht Werke hat. Das ist falsch. Aber ein Glaube ohne Werke, will sagen ein schwärmerischer Gedanke und ein leeres Geschwätz und ein Traum des Herzens, ein solcher Glaube ist falsch und rechtfertigt nicht.

Martin Luther, Der Galaterbrief. 2. Auflage. Göttingen: Vadenhoeck & Ruprecht, 1987. Textquelle digital.

Johannes Calvin war vielleicht der erste Reformator, der gegen die falsche römisch-katholische Lehre Stellung bezog, die das Konzil zu Trient (6. Sitzung Cum hoc tempore (1547) über die Rechtfertigung, 9. und 11. Kanon) wie folgt formuliert hatte:

9. Wenn jemand sagt, der Sündhafte werde allein durch den Glauben gerechtfertigt; so dass er damit versteht, es werde nichts anderes, das zur Erlangung der Rechtfertigungsgnade mitwirke, erfordert, und es sei keinen Teils notwendig, dass er sich aus Antrieb seines Willens dazu vorbereite, und bereitsam mache, der sei im Bann.
11. Wenn jemand sagt, die Menschen werden gerechtfertigt entweder allein durch die Zurechnung der Gerechtigkeit Christi, oder allein durch die Nachlassung der Sünden, mit Ausschluss der Gnade und der Liebe, welche durch den Heiligen Geist (Röm 5,5) in ihre Herzen ausgegossen wird, und ihnen innehaftet, oder auch, die Gnade, durch welche wir gerechtfertigt werden, sei nur eine Gunst Gottes, der sei im Bann.

Deutsche Textquelle: http://www.kathpedia.com/index.php?title=Cum_hoc_tempore [16.02.2021]

Calvin schrieb im gleichen Jahr (1547) eine Antwort auf die Konzilsbeschlüsse und formulierte zum biblischen Zusammenhang von Glauben und Werken u. a. folgendes:

Ich möchte, dass der Leser versteht, dass wir, wenn wir in dieser Frage vom Glauben allein reden, nicht an einen toten Glauben denken, welcher nicht durch die Liebe wirkt, sondern dass wir daran festhalten, dass der Glaube allein die Ursache der Rechtfertigung ist (Galater 5,6; Römer 3,22). Daher ist es allein der Glaube, welcher rechtfertigt, und trotzdem steht jener Glaube, welcher rechtfertigt, nicht alleine da: Genauso wie es allein die Hitze der Sonne ist, welche die Erde erwärmt, so ist doch die Hitze der Sonne nie alleine, weil sie beständig mit dem Licht verbunden ist.

Johannes Calvin, Antidote to the Canons of the Council of Trent, in: Henry Beveridge (Übs.). Tracts and Treatises in Defense of the Reformed Faith. 1851. Nachdruck (Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1958) Bd. 3. S. 152. Übers. des Verf.

Eine weitere Spur davon kann man in der Konkordienformel (Formula Concordia, 1580) nachvollziehen, welche einen Versuch darstellt, Zerwürfnisse beizulegen, die nach Luthers Tod zwischen der eher milden Melanchthonschen Richtung (Philippismus) und der eher streng lutherischen Richtung (Gnesiolutheraner) entstanden waren. Unter Artikel III. Von der Gerechtigkeit des Glaubens vor Gott wird Folgendes als rechtgläubig bestätigt:

8) Wir gläuben, lehren und bekennen, daß, obwol vorgehende Reu und nachfolgende gute Werk nicht in den Artikel der Rechtfertigung vor GOtt gehören, jedoch sol nicht ein solcher Glaube gedichtet werden, der bey und neben einem bösen Vorsatz zu sündigen, und wider das Gewissen zu handeln, seyn und bleiben könte; sondern nachdem der Mensch durch den Glauben gerechtfertiget worden, alsdann ist ein warhaftiger lebendiger Glaube durch die Liebe thätig, Galat. 5 [v. 6]. Also, daß die gute Werk dem gerechtmachenden Glauben allzeit folgen und bei demselben, da er rechtschaffen und lebendig, gewislich erfunden werden; wie er denn nimmer allein ist, sondern allzeit Liebe und Hoffnung bey sich hat.

Formula Concordiae Epitome. Summarischer Begrif der streitigen Artikel, zwischen (…), Artikel III. Von der Gerechtigkeit des Glaubens vor Gott, Punkt 8 (1577). Textquelle (Druck von Gebauer, Halle, 1747), S. 16 [850]. Betonung mit Unterstreichung ist im Original mit Sperrdruck geschehen. Fettdruck hinzugefügt.

Unter Artikel IV. Von guten Werken wird Folgendes hinzugefügt:

1) Daß gute Werke dem warhaftigen Glauben, wann derselbige nicht ein todter, sondern ein lebendiger Glaube ist, gewislich und ungezweifelt folgen als Früchte eines guten Baums.
2) Wir gläuben, lehren und bekennen auch, daß die guten Werke gleich so wol, wenn von der Seligkeit gefraget wird, als im Artikel der Rechtfertigung vor GOtt gänzlichen ausgeschlossen werden sollen, wie der Apostel mit klaren Worten bezeuget, da er also geschrieben: … Röm. 4. [v. 6.7.] Und abermals: … Ephes. 2. [v. 8. 9.] (…)
10) Wir gläuben, lehren und bekennen auch, daß den Glauben und die Seligkeit in uns nicht die Werke, sondern allein der Geist GOttes die Seligkeit durch den Glauben erhalte, des Gegenwärtigkeit und Inwonung die guten Werke Zeugen seyn.

Formula Concordiae Epitome. Summarischer Begrif der streitigen Artikel, zwischen (…), Artikel IV. Von guten Werken. Textquelle (Druck von Gebauer, Halle, 1747), S. 18–20 [852–854]. Betonung mit Unterstreichung ist im Original mit Sperrdruck geschehen. Fettdruck hinzugefügt.

Will man die biblische Lehre (wie sie im reformatorischen Glauben auch erfasst wurde) sehr vereinfacht mit prägnanten Formeln zusammenfassen, so mag dies so aussehen:

Zu verwerfen: Glaube + Werke = Rechtfertigung.
Festzuhalten: Glaube = Rechtfertigung + Werke

Der Glaube, mittels dessen Gott die Rechtfertigung ausspricht, ist stets ein Glaube, der als lebendiger Glaube auch entsprechende Glaubenswerke zeitigt. Fehlen solche Werke, obwohl Glaube behauptet wird, so lautet die biblische Diagnose: dieser Glaube ist tot, er rettet nicht.

Die Schrift lehrt einstimmig, dass rettender Glaube und Glaubenswerke wesensartig zusammen gehören

Man muss also klar zwischen Glauben und Werken unterscheiden, aber man darf und kann sie –wie die beiden Seiten derselben Münze– nicht voneinander trennen, ohne die ganze Sache zu verlieren.

Paulus wie Jakobus lehren, dass ein von jemand behaupteter Glaube ohne Werke tot und damit im Wesen (Jakobus: »in sich selbst«) nicht der rettende Glaube ist. Die Lebendigkeit (und damit Echtheit) des rettenden Glaubens wird sich stets beweisen in seiner von göttlicher Liebe motivierten Wirksamkeit:

So ist auch der Glaube, wenn er keine Werke hat, in sich selbst tot.

Jakobus 2,17 (ELBCSV 2003)

Denn wir erwarten durch den Geist aus Glauben die Hoffnung der Gerechtigkeit. Denn in Christus Jesus vermag weder Beschneidung noch Vorhaut etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe wirkt.

Galater 5,5-6 (ELBCSV 2003)

Wegen dieses wesensartigen Zusammenhangs kann der Apostel Johannes diesen in seinem Ersten Brief in die Reihe seiner Gotteskind-Prüfsteine mit aufnehmen. »Ihn kennen« markiert den Empfang des ewigen Lebens (Gotteskindschaft), »seine Gebote halten« das Kindeswesen der Liebe gegenüber Gott, das sich im Gehorsam äußert (vgl. 5. Mose 6,4ff).

Und hieran wissen wir, dass wir ihn kennen, wenn wir seine Gebote halten. Wer sagt: Ich kenne ihn, und hält seine Gebote nicht, ist ein Lügner, und in diesem ist die Wahrheit nicht. Wer aber irgend sein Wort hält, in diesem ist wahrhaftig die Liebe Gottes vollendet. Hieran wissen wir, dass wir in ihm sind. (…)
Hieran erkennen wir, dass wir die Kinder Gottes lieben, wenn wir Gott lieben und seine Gebote halten. Denn dies ist die Liebe Gottes, dass wir seine Gebote halten, und seine Gebote sind nicht schwer.

1. Brief des Johannes 2,3–5; 5,2–3 (ELBCSV 2003); vgl. 3,22.24

Weil die Lebensbekundungen des neuen Lebens in Christus kein Mechanismus ist, sondern nach Philipper 2,12–13 vielmehr ein wesenseigenes Wirken des glaubenden, gottesfürchtigen Menschen, zu dem er Dank Gottes Wirken in ihm sowohl motiviert als auch befähigt ist, sind diese Lebenserweise des Glaubenden wachstümlich und damit stets unvollkommen. (Ergänzend sei bemerkt, dass mit »euer eigenes Heil« nicht die ewige Errettung der Philipper gemeint ist, denn diese hatten sie offenbar: sie waren »Heilige in Christus Jesus« (1,1), es war ihnen von Gott geschenkt worden, »an ihn zu glauben« (1,29) und ihr »Bürgertum war in den Himmeln« (3,20). Paulus forderte sie angesichts ihrer großen internen Probleme als Gemeinde vielmehr dazu auf, diese in einer christusähnlichen Gesinnung von Demut und Liebe heilstiftend zu lösen.)

Daher, meine Geliebten, … bewirkt euer eigenes Heil mit Furcht und Zittern; denn Gott ist es, der in euch wirkt sowohl das Wollen als auch das Wirken, zu seinem Wohlgefallen.

Philipper 2,12-13 (ELBCSV 2003)

Der Herr Jesus Christus selbst hat den organischen (wesensartigen) Zusammenhang zwischen Glauben und neuem Leben und zwischen neuem Leben und Frucht vielfach in seinen Gleichnissen und Predigten gelehrt. Besonders eindrucksvoll ist dazu sein erstes Gleichnis vom Sämann und den vier Ackerböden (Matthäus 13,3–9; 18–23; vgl. Markus 4,1–12; 13–20; Lukas 8,4–15). Anhaltende Frucht ist Beweis dafür, dass der Same empfangen (aufgenommen) wurde und lebendig ist. Kurzfristiges Aufblühen kann diesen Beweis nicht liefern. Die Frage nach der Quantität (Menge) der Frucht wird nur insofern angesprochen, als dass sie größer Null sein muss; ob sie »30-, 60- oder 100fältig« ist, ist Sache des Wachstums und Wirkungsgrades, jedoch keine Anfrage an die Echtheit (Qualität) der Frucht. (Damit ist auch der Fall des gläubigen Verbrechers neben Christus am Kreuz geklärt.)

Auch bei der Beurteilung von Menschen, die sich als Diener Christi ausgeben (im Dienst als Christen ausgeben), verordnet Christus seinen Nachfolgern zur Urteilsfindung die Beurteilung der »Früchte« dieser Arbeiter. Sein Argument setzt voraus, dass das Wirken eines Menschen stets in Übereinstimmung mit seinem Wesen ist, die Frucht eines Baumes identifiziert eindeutig den Baum. Der Kontrast ist hier nicht wie beim Sämann-Gleichnis zwischen (bleibender) Frucht und Fruchtlosigkeit, sondern zwischen guter und schlechter Frucht.

An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Sammelt man etwa von Dornen Trauben oder von Disteln Feigen? So bringt jeder gute Baum gute Früchte, aber der faule Baum bringt schlechte Früchte. Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte bringen, noch kann ein fauler Baum gute Früchte bringen. Jeder Baum, der keine gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Deshalb, an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.

Matthäus 7,16-20 (ELBCSV 2003)

Christus sprach auch das altbekannte Problem an, dass die Rede und das Bekenntnis eines Menschen nicht unbedingt mit seinem Wesen und seiner Realität in Übereinstimmung sein müssen. Das Phänomen der Heuchelei, des guten Scheins und des buchstäblichen Pharisäertums ist ja seit dem Sündenfall ein allen Menschen anhaftendes Übel. In seiner Argumentation macht der Herr Jesus deutlich, dass wir die Werke eines Menschen genau ansehen müssen, um sein Bekenntnis zu prüfen, das Sagen eines Menschen muss vom Tun her beurteilt werden, und zwar danach, ob es Ausdruck des Gehorsams gegen Gottes Willen ist:

Nicht jeder, der zu mir sagt: „Herr, Herr!“, wird in das Reich der Himmel eingehen, sondern wer den Willen meines Vaters tut, der in den Himmeln ist.

Matthäus 7,21 (ELBCSV 2003)

Gegenüber den elf glaubenden Aposteln erklärt der Herr Jesus, dass das Geheimnis anhaltenden und sich steigernden Fruchtbringens die Lebensverbindung mit Ihm selbst ist (Johannes 15,1–8):

Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, dieser bringt viel Frucht, denn außer mir könnt ihr nichts tun.

Johannes 15,5 (ELBCSV 2003)

Neuzeitliche Debatte

Aus der Geschichte des Volkes Gottes wissen wir, dass der Feind Gottes, der Ur-Lügner Satan, die Wahrheit immer gleichzeitig in beide Richtungen verfälscht, um sicher von der Wahrheit wegzuführen, egal, wie die jeweilige Neigung des Opfers seiner Verführung ist. Am Beispiel der Gemeinde in Korinth ist besonders gut zu beobachten, dass der Teufel seinen Irrtum immer in Paaren der Extreme serviert. C. S. Lewis (1898-1963) schrieb in Mere Christianity (dt.: Pardon, ich bin Christ): »Der Teufel versucht, uns ein Schnippchen zu schlagen. Er schickt der Welt die Irrtümer immer paarweise auf den Hals, in Paaren von Gegensätzen. Und er stiftet uns ständig dazu an, viel Zeit dadurch zu vertrödeln, nachzugrübeln, welches der schlimmere Irrtum sei. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Er baut auf unseren tiefen Unwillen gegen den einen Irrtum, um uns Schritt für Schritt in den anderen hineinzuziehen.«

Die biblische Mitte, die göttlich geoffenbarte Wahrheit nach links und rechts zu bewahren, ist also keine Sache, bei der wir uns schräge oder einseitige Blicke und Vorlieben erlauben dürfen. Bei den Korinthern kann man beispielsweise beobachten: Das Gottesgeschenk der Sexualität darf weder in grenzenloser Ausschweifung missbraucht noch in asketisch-philosophischer Verweigerung verachtet werden. Abusus non tollit usum.

Auch in der Frage, wie rettender Glaube und gute Werke zusammengehören, kann man auf beiden Seiten vom Pferd fallen:

(1) Die Einen verbinden Glauben und Werke so sehr, dass Rechtfertigung und Heiligung zu einem nicht unterscheidbaren Gemisch und Komplex werden, das den biblischen Grundsatz der Rechtfertigung allein aus Glauben verleugnet und die Rechtfertigung zu einem Prozess macht, den unsere Werke maßgeblich beeinflussen. Die Folge ist meist irgendeine Form der Gesetzlichkeit, also jenem Verständnis, dass unsere Werke zu unserem ewigen Heil beitragen. Dass die Schrift dies kategorisch ausschließt, wurde oben schon belegt. Die römisch-katholische Lehre hält bis heute an diesem Irrtum fest.

(2) Die Anderen trennen Glauben und Werke kategorisch so sehr, dass der wesensartige Zusammenhang zwischen beiden verleugnet wird. In den gnostisch beeinflussten Strömungen in der Christenheit führt dies zu einer Trennung der Dinge des Geistes („oben“, geistlich) von den Dingen des Fleisches („unten“, irdisch), wobei das Geistliche das Wesentliche und Wertvolle, das Irdische aber das Unwesentliche und Wertlose sei. Von dort ausgehend irrt man dann auseinandergehend entweder zur Zügellosigkeit (Antinomismus), weil das Irdische, Leibliche nichts mit dem Glauben zu tun habe, oder zu einem alles Irdisch-leibliche entsagenden und verachtenden Asketismus (häufig in den geweihten Ständen anzutreffen). Es ist aber gleichartig falsch, einem Rasputin oder dem Trappistenorden zu folgen.

Die amerikanischen Evangelikalen haben sich in dieser Frage ebenfalls sehr grundlegend auseinander dividiert. Leider hat sich dieser Streit durch die Medien weltweit ausgebreitet.

(1) Die sog. Non-Lordship-Salvation-Richtung leugnet, dass der Erweis des rettenden Glaubens etwas mit einem Leben in Gottesfurcht und mit entsprechenden Glaubenswerken zu tun hat. Zu den Vertretern dieser falschen Richtung gehören bekannte Theologen wie Lewis Sperry Chafer (1871–1952), der Gründer und erste Präsident des renommierten Dallas Theological Seminary (DTS), und Charles C. Ryrie (1925–2016), Professor für Systematische Theologie dieser Hochburg des amerikanischen Dispensationalismus. Ryrie war auch Gastdozent an der Bibelschule Brake in Lemgo (1998–2004), seine Studienbibel (NT 1976, Gesamtbibel 1978, erweitert 1994, deutsch 2012) erfreute sich größter Auflagen und Verbreitung, besonders auch innerhalb der sog. Brüderbewegung (Plymouth Brethren, Elberfelder Brüder). Ryrie lehrte noch, dass die Echtheit des rettenden Glaubens in »gewissen Veränderungen« sichtbar wird: »Mit der Errettung gehen gewisse Veränderungen einher, und wenn ich einige dieser Veränderungen sehe, dann kann ich sicher sein, das neue Leben empfangen zu haben.« (Charles C. Ryrie: Hauptsache gerettet? Was Errettung bedeutet, Christliche Verlagsgesellschaft, Dillenburg 1998, S. 150).

Zane Clark Hodges (1932–2008), Professor am DTS, formulierte die wohl extremste Trennung von Glauben und Werken in seiner Free Grace Theology. In dieser Radical No-Lordship Theology genannten Ansicht reicht eine rein intellektuelle Zustimmung zu gewissen Heilstatsachen völlig aus, um das ewige Heil zu erhalten. Abwendung von der Sünde, Lebensübergabe an Christus und Gehorsam gegenüber den neutestamentlichen Geboten sind nicht Teil des rettenden Glaubens, sondern gehören zum Bereich der (evtl. später noch folgenden) Nachfolge bzw. christlichen Lebensführung. Gläubige können dauerhaft in die Sünde zurückfallen und den Glauben sogar ganz aufgeben, ohne dass man daraus den Schluss ziehen dürfe, dass diese Person nicht gerettet war und ist. Diese Free Grace Theology wendet sich zurecht gegen den „Arminianismus“, der lehrt, dass dauerhafte Sünde oder Abfall vom Glauben den Verlust des ewigen Heils nach sich ziehe, aber sie wendet sich auch gegen die biblische Lehre, dass der hohepriesterliche Dienst Christi alle wahren Gläubigen bis zum Ende im Glauben erhalten wird (Lukas 22,32; 1. Korinther 1,8; vgl. Punkt 5 der Lehrregeln von Dordrecht). Der Inhalt des rettenden Evangeliums wurde von Hodge so weit eingeschränkt, dass man weder an das Kreuz noch an die Auferstehung Jesu glauben müsse, sondern nur noch an die Verheißung des ewigen Lebens. Alle Arten von Werken, vor der Neugeburt (was biblisch richtig ist) und nach der Neugeburt (was falsch ist) hätten mit dem rettenden Glauben nichts zu tun. Die 1986 gegründete Grace Evangelical Society (GES) vertritt diese radikalen Ansichten heute am deutlichsten.

(2) Die sog. Lordship-Salvation-Richtung hingegen behauptet, dass der Erweis des rettenden Glaubens etwas mit einem Leben in Gottesfurcht und mit entsprechenden Glaubenswerken zu tun hat. Der bekannteste Vertreter dieser Richtung ist der kalifornische Pastor John F. MacArthur (*1939), ehemaliger Präsident von The Master’s University, The Master’s Seminary und des Missionswerks Grace to You sowie Herausgeber der weit verbreiteten MacArthur Studienbibel (über 2 Mio. Kopien). Seine Zentralposition ist, dass das Evangelium, das Jesus Christus predigte, ein Aufruf zur gehorsamen Nachfolge (Jüngerschaft) ist, nicht nur eine Bitte, eine einmalige Entscheidung zu treffen oder einmal ein „Übergabegebet“ zu sprechen. Mit außerordentlicher Klarheit vertritt MacArthur die in der Reformation wiederentdeckte biblische Lehre, dass die Rechtfertigung des Sünders und mithin sein ewiges Heil allein aus Gnade, allein aus Glauben und allein in Christus zu finden ist. Eigene Werke fügen dem nichts hinzu, weder solche vor der Neugeburt, noch solche nach der Neugeburt von oben. Die Entkopplung des ewigen Heils vom Ruf und den Kosten der Christus-Nachfolge hingegen wird als „easy believism“ bezeichnet und als unbiblisch abgewiesen. Die Befreiung von den Gebundenheiten der Sünde geschieht nach der Heiligen Schrift vielmehr durch existentielle Übergabe des Lebens an Christus, was Umkehr vom tödlichen Weg (Lebensstil) des Sünders und wirkliche Freiheit des so geretteten Menschen bedeutet. Das »Wort des Glaubens« und der darauf beruhende, rettende Glaube schließt den Glauben an Christus als Retter wie auch an Ihn als Herrn mit allen rettenden Konsequenzen ein.

Das ist das Wort des Glaubens, das wir predigen, dass, wenn du mit deinem Mund Jesus als Herrn bekennst und in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn aus den Toten auferweckt hat, du errettet werden wirst. Denn mit dem Herzen wird geglaubt zur Gerechtigkeit, mit dem Mund aber wird bekannt zum Heil.

Römer 10,8-10 (ELBCSV 2003)

Das Hören, Glauben und Gehorchen ist keine extern aufgepresste Haltung des Christen, sondern das innere Wesen des an Christus Glaubenden. Wer eines Seiner Schafe (geworden) ist, glaubt, hört und folgt dem Sohn Gottes:

…aber ihr glaubt nicht, denn ihr seid nicht von meinen Schafen, wie ich euch gesagt habe. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie gehen nicht verloren in Ewigkeit, und niemand wird sie aus meiner Hand rauben.

Johannes 10,26-28 (ELBCSV 2003)

Martin Luther hat es mit seinem ihm eigenen Duktus schön zusammengefasst:

Es reimen und schicken sich fein zusammen der Glaube und die guten Werke, […] aber der Glaube ist es allein, der den Segen ergreift, ohne die Werke, (der) doch nimmer und zu keiner Zeit allein ist.

Formula Concordia, Zweiter Teil, Solida Declaratio, Wiederholung und Erklärung etlicher Artikel Augsburgischer Konfession…, III. Von der Gerechtigkeit des Glaubens vor Gott, Nr. 41. (Orig. Luther: »Bene conveniunt et sunt connexa inseparabiliter fides et opera; sed sola fides est, quae apprehendit benedictionem sine operibus, et tamen nun quam est sola.«) Textquelle.

Weiterführende Literatur

John F. MacArthur hat die theologische Auseinandersetzung ausführlich in mehreren Büchern dargestellt. Am deutlichsten wird die „Lordship Salvation“-Debatte von ihm im Buch The Gospel According to the Apostles: The Role of Works in the Life of Faith niedergelegt (Thomas Nelson, 2005, 266 Seiten, ISBN 978-0785271802). Weitere Abhandlungen MacArthurs über das biblische Evangelium sind folgende: The Gospel According to Jesus: What Is Authentic Faith? (Zondervan, 2009; dt.: Lampen ohne Öl, 2. Aufl., CLV, 2012); The Gospel According to Paul: Embracing the Good News at the Heart of Paul’s Teachings (Thomas Nelson, 2018); The Gospel according to God: Rediscovering the Most Remarkable Chapter in the Old Testament (Crossway, 2018).

Der Verführung, das biblische Evangelium dem modernen Menschen zeitgeistmäßig schmackhaft(er) zu machen, trat MacArthur in seinem Buch Hard To Believe (Thomas Nelson, 2010) entgegen (dt.: Durch die enge Pforte: Wie moderne Evangelikale den schmalen Weg breit machen. 4. Aufl., Betanien, 2016).

Joel R. Beeke und Steven J. Lawson haben die Lehraussagen des Apostel Paulus (Röm 3,21–28) und des Jakobus (2,14–26) zur Rechtfertigung ebenfalls gründlich untersucht und in ihrem Buch Glaube und Werke sind kein Widerspruch – Paulus und Jakobus über die Lehre der Rechtfertigung dargelegt (Waldems-Esch: 3L-Verlag, 2021, ISBN 978-3-944799-18-6). Gliederung und Leseprobe auf der Verlagsseite. Original: Root & Fruit: Harmonizing Paul and James on Justification (Free Grace Press, 2020, ISBN 978-1952599019).


10 Gründe, warum das gemeinsame Singen wesenseigen zum christlichen Gottesdienst gehört

Joe Lum, Senior Pastor der Living Hope Bible Church in Issaquah, WA (USA), hat im Dezember 2020 einen interessanten und hilfreichen Blogartikel auf The Cripplegate zum Singen im gemeinsamen Gottesdienst veröffentlicht: 10 reasons why singing is essential to worship.

Folgende 10 Gründe hat Joe Lum der Heiligen Schrift entnommen:

  1. Das Singen Einzelner und der Gemeinde wird von Gott ausdrücklich befohlen
  2. Echte Anbetung im Lied ist vom Heiligen Geist bewirkt
  3. Singen ist eine Antwort auf die Verkündigung des Wortes Gottes
  4. Im Lied zueinander reden ist ein Gebot der Schrift für die Gottesdienste
  5. Jesus Christus selbst singt im Gemeindelobpreis mit uns mit
  6. Gott Selbst singt unter seinem Volk
  7. Zusammen zu singen erinnert uns daran, allein in Gott Sicherheit zu finden
  8. Die Bibel ermutigt uns zum gemeinsamen Singen und zum Aufsuchen des Gottes, der unsere Ängste wegnimmt
  9. Gemeindliche Anbetung soll eine Widerspiegelung unserer zukünftigen Erfahrung im Himmel sein
  10. Singen kann uns dabei helfen, Wörter zu verwenden, die unsere Einheit demonstrieren und zum Ausdruck bringen

Der Artikel ist hier zu finden.

Warum wahre Gotteserkenntnis uns zu guten Mitmenschen macht

»Ubi ergo cognoscitur Deus, etiam colitur humanitas.«
(Wo nämlich Gott erkannt wird, da wird auch Menschlichkeit gepflegt.)

Johannes Calvin, Auslegung zu Jeremia 22, 16

Olivier Millet aus Paris hat auf der 7. Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus (23. März 2009) einen Vortrag über die Humanitas Calvins gehalten: »Humanitas. Mensch und Menschlichkeit bei Calvin« (Internetquelle, PDF-Backup).

Die humanitas ist, insbesondere in der christlichen Theologie, »der Inbegriff dessen, was menschlich ist, die Bezeichnung für die menschliche Natur, den Grund- und Eigencharakter des Menschen im Unterschied zur Tiernatur und zum Gotteswesen.«

Millet analysiert in seinem Vortrag auch die bösartige Weise, mit der der Genfer Reformator zeitlebens und post mortem angegriffen wurde: »Bereits zu seiner Lebenszeit wurde die Person Calvins Gegenstand von Anekdoten und Kommentaren, die darauf zielten, seine Laster und Fehler öffentlich zu machen. Feigheit, Härte, Selbstsucht, Autoritarismus sind unter anderem wiederkehrende Themen dieser ersten polemischen Angriffe.« (»Die peinlichsten Fehlurteile über Calvin« führt der Reformierte Bund in Deutschland hier auf.)

Jedem Kind Gottes ist aus Gottes Wort der Wahrheit und schmerzlich auch erfahrungsmäßig bekannt, dass es wie alle anderen Menschen – außer Jesus Christus – fehlerhaft und unvollkommen ist. Heiligenkult ist biblisch unterwiesenen Christen ein Übel. Das macht jedoch „Heiligenschändung“ in Lüge und Verleumdung nicht gut, sondern belässt diese ebenfalls im Übel (siehe z. B.: 2. Mose 20,16; 23,1; Matthäus 5,22; Markus 10,19, Lukas 18,20). Der Herr Jesus hat seine Nachfolger gelehrt, dass wir Sünde Sünde nennen sollen, aber aneinander Vergebung üben und Erbarmen pflegen sollen. Das würde zeigen, dass der Same des Lebens im Christen von Gott-Vater stammt (Matthäus 6,14; 18,35).

Auch Calvin wusste um seine Schwächen und sprach und schrieb über sie. Auf dem Sterbebett schrieb er seinen Genfer Pfarrerskollegen demütig:

»Ich habe viele Schwächen gehabt, die Ihr ertragen musstet, und all das, was ich getan habe, ist im Grunde nichts wert. Die schlechten Menschen werden diesen Ausspruch gewiss ausschlachten. Aber ich sage noch einmal, dass all mein Tun nichts wert ist und ich eine elende Kreatur bin. Ich kann allerdings wohl von mir sagen, dass ich das Gute gewollt habe, dass mir meine Fehler immer missfallen haben und dass die Wurzel der Gottesfurcht in meinem Herzen gewesen ist. Und Ihr könnt sagen, dass mein Bestreben gut gewesen ist. Darum bitte ich Euch, dass Ihr mir das Schlechte verzeiht. Wenn es aber auch etwas Gutes gegeben hat, so richtet Euch danach und folgt ihm nach.«

a.a.O.

Kopfglaube reicht nicht

Dann muss aber das, was der Verstand aufgenommen hat, auch in das Herz selbst überfließen. Denn Gottes Wort ist nicht schon dann im Glauben erfasst, wenn man es ganz oben im Hirn sich bewegen lässt, sondern erst dann, wenn es im innersten Herzen Wurzel geschlagen hat, um ein unbesiegliches Bollwerk zu werden, das alle Sturmwerkzeuge der Anfechtung aushalten und zurückwerfen kann!

Wenn es wahr ist, dass das wirkliche Begreifen unseres Verstandes die Erleuchtung durch Gottes Geist ist, so tritt Seine Kraft noch viel deutlicher in dieser Stärkung des Herzens in Erscheinung; die Vertrauenslosigkeit des Herzens ist ja auch soviel größer als die Blindheit des Verstandes, und es ist viel schwieriger, dem Herzen Gewißheit zu verleihen, als den Verstand mit Erkenntnis zu erfüllen. Deshalb ist der Heilige Geist wie ein Siegel: Er soll in unserem Herzen die gleichen Verheißungen versiegeln, deren Gewissheit Er zuvor unserem Verstande eingeprägt hat.

Johannes Calvin (1509–1564), Institutio Christianae Religionis, Bd. III, 2, 36

Freude ist eine ernste Sache

»Christus will, dass sein Volk fröhlich ist. Wenn sein Volk eines Tages vollkommen gemacht ist, wie Er es zu Seiner Zeit sicherstellen wird, dann wird es auch vollkommen fröhlich sein. Der Himmel ist ein Ort reinster Heiligkeit, aber genauso ist er ein Ort ungetrübten Frohsinns. Je mehr wir für den Himmel zubereitet werden, umso mehr werden wir jene Freude besitzen, die Teil des Himmels ist. Es ist der ausdrückliche Wunsch unseres Heilandes, dass Seine Freude heute schon in uns sei, und dass unsere Freude völlig werde.« [Johannes 15,11; vgl. 17,13]

»Christ wishes his people to be happy. When they are perfect, as he will make them in due time, they shall also be perfectly happy. As heaven is the place of pure holiness, so is it the place of unalloyed happiness; and in proportion as we get ready for heaven, we shall have some of the joy which belongs to heaven, and it is our Saviour’s will that even now his joy should remain in us, and that our joy should be full.«

C. H. Spurgeon, The Metropolitan Tabernacle Pulpit Sermons, 63 Bände (London: Passmore & Alabaster, 1855–1917), Bd. 51, S. 229.