Was ist das Zentralanliegen des „Calvinismus“?

Vorwort

Immer wieder wurde und wird versucht, das theologische Monumentalwerk von Johannes Calvin (auch: die Lehre Calvins, den „Calvinismus“, den reformierten Glauben) kurz zusammenzufassen und prägnant auf den Punkt zu bringen, weil der jeweiligen Leserschaft offenbar nicht zugemutet werden könne oder solle, das Werk Calvins selbst einmal in Ruhe zu studieren und anhand der Bibel zu prüfen (Apg 17,11). 

Dieser Versuch wird auch von anti-calvinistischer Seite aus immer wieder unternommen. Nicht selten muss man dabei beobachten, dass einfach von anderen abgeschrieben wird: das Richtige, das Gefälschte und das Falsche. Sekundär- und Tertiärzitate häufen sich. Ob dies auf Faulheit, Ignoranz oder Desinteresse an echter Auseinandersetzung anhand der Originalquellen beruht, sei hier dahingestellt, aber es führt nicht selten zu einem Zerrbild, das nur die eigenen Vorurteile bedient, mithin nur eine Widerspiegelung der eigenen theologischen Meinungen und Vorurteile ist. Dies ist vor allem in theologisch und biblisch weniger bewanderten Freikirchen, Gemeinschaften und religiösen Vereinen und deren Rednern und Autoren zu beobachten, die sich dem Anti-Calvinismus verschrieben haben. Zum Glück muss dies nicht die Endstation sein (Psalm 1,1–2; 119,67).

Es macht also viel Sinn, auch einmal einen „Calvinisten“ zu befragen, jemand, der nicht nur Ahnung und Vorurteile, sondern Fachkenntnis von der Materie und daher ein qualifiziertes Fachurteil besitzt. Zu diesen kann man sicher den reformierten Pastor und Theologen Joel R. Beeke (*1952) zählen, den Präsidenten des Puritan Reformed Theological Seminary in Grand Rapids, Michigan (USA).

In seinem Buch Living for God’s Glory: An Introduction to Calvinism (etwa: Leben zur Verherrlichung Gottes: Eine Einführung in den Calvinismus) geht er der Frage nach, was denn der Kern, das Mark (marrow), des Calvinismus sei. Hier ist sein Ergebnis [1] (eigene Übersetzung von Grace@logikos.club). Bibeltreue, gottesfürchtige Glaubende werden das meiste und entscheidende davon wahrscheinlich nicht als »calvinistisch«, sondern einfach als christlich und biblisch bezeichnen. Denn »Leben zur Verherrlichung Gottes« war, ist und bleibt das Urthema, der Sinn und die Bestimmung des Menschen, insbesondere des glaubenden Christen.

Erfreulich und entscheidend wichtig ist, dass Beeke nicht eine Eigenschaft (Vortrefflichkeit, Vollkommenheit) Gottes vor allen anderen auswählt, wie manche dies gerne verzerrend tun, sondern Gott Selbst in den Mittelpunkt stellt [„Theo-zentrismus“, „Gott im Mittelpunkt“, bedeutet: alles dreht sich um Gott]:

»Theozentrismus

Wenn wir den Calvinismus auf ein Begriff, ein Konzept reduzieren müssten, folgen wir am besten Warfield, der sagte, dass reformiert zu sein bedeutet, theozentrisch zu sein. Das Hauptinteresse der reformierten Theologie ist der dreieinige Gott, denn der transzendente-immanente, väterliche Gott in Jesus Christus ist Gott selbst. Calvinisten sind Menschen, deren Theologie von der Vorstellung von Gott beherrscht wird. Mason Pressly hat es so gesagt: »So wie der Methodist die Idee der Erlösung der Sünder in den Vordergrund stellt, der Baptist das Geheimnis der Wiedergeburt, der Lutheraner die Rechtfertigung durch den Glauben, die Böhmischen Brüder [auch: Brüder-Unität] die Wunden Christi, das Mitglied der Griechisch-orthodoxen Kirche die Mystik des Heiligen Geistes und der Romanist die Katholizität der Kirche, so stellt der Calvinist immer den Gedanken an Gott in den Vordergrund.«[2]

Reformiert zu sein bedeutet, die umfassende, souveräne, väterliche Herrschaft Gottes über alle Dinge und Bereiche zu betonen: jeden Bereich der Schöpfung, alle Unternehmungen der Geschöpfe und jeden Aspekt des Lebens des Gläubigen. Das vorherrschende Motiv im Calvinismus ist: „Am Anfang […] Gott“ (1Mo 1,1).

In seiner Beziehung zu uns hat Gott nur Rechte und Befugnisse. An Pflichten bindet Er sich souverän und gnädig nur durch Bundesschlüsse. Im Bund übernimmt Er die Pflichten und Verantwortungen, die er als unser Gott hat, aber das ändert nichts daran, dass Er selbst die erste Ursache und das letzte Ziel aller Dinge ist und bleibt. Das Universum wird nicht durch Zufall oder Schicksal bestimmt, sondern durch die vollständige, souveräne Herrschaft Gottes. Wir existieren nur zu einem Zweck: Ihm die Ehre zu geben. Wir haben gegenüber Gott nur Pflichten, keine Rechte. Jeder Versuch, diese Wahrheit in Frage zu stellen, ist zum Scheitern verurteilt. In Römer 9,20b heißt es: „Wird etwa das Geformte zu dem, der es geformt hat, sagen: Warum hast du mich so gemacht?“ Gott erlässt seine Gesetze für jeden Bereich unseres Lebens und verlangt unbedingten Gehorsam. Wir sind aufgerufen, ihm mit Leib und Seele zu dienen, im Gottesdienst und bei der täglichen Arbeit, jede Sekunde eines jeden Tages.

Reformiert zu sein, bedeutet also, sich mit dem vollständigen Charakter der Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf zu befassen. Es bedeutet, das ganze Leben coram Deo zu betrachten, das heißt, vor dem Angesicht Gottes zu leben. Wie Warfield schrieb:

»Der Calvinist ist ein Mensch, der [überall] Gott erkennt: Gott in der Natur, Gott in der Geschichte, Gott in der Gnade. Überall sieht er Gott in seinem mächtigen Schreiten, überall spürt er das Wirken seines mächtigen Armes, das Pochen seines mächtigen Herzens. Der Calvinist ist ein Mensch, der Gott hinter allen Erscheinungen sieht und in allem, was geschieht, die Hand Gottes erkennt, die Seinen Willen ausführt. [Der Calvinist] macht die Haltung, die die Seele im Gebet zu Gott einnimmt, zu seiner ständigen Haltung in allen Lebensaktivitäten; [er] wirft sich völlig und ausschließlich auf die Gnade Gottes und schließt jeden Gedanken daran, dass das Werk der Erlösung auch nur im Geringsten von ihm selbst abhängig sei, aus.« [3]

Die Lehre von Gott – einem väterlichen, souveränen Gott in Jesus Christus – ist daher das Zentrum der reformierten Theologie. R. C. Sproul drückt es so aus: »Wie wir das Wesen und den Charakter Gottes selbst verstehen, beeinflusst, wie wir das Wesen des Menschen verstehen, der Gottes Ebenbild trägt; das Wesen Christi, der wirkt, um den Vater zu befriedigen; das Wesen der Erlösung, die von Gott bewirkt wird; das Wesen der Ethik, deren Normen auf Gottes Charakter beruhen; und eine Unzahl anderer theologischer Überlegungen, die alle auf unserem Verständnis von Gott beruhen.« [4] 

Calvinisten definieren also alle Lehren auf eine gottzentrierte Weise. Die Sünde ist schrecklich, weil sie eine Beleidigung für Gott ist. Die Erlösung ist wunderbar, weil sie Gott die Ehre gibt. Der Himmel ist herrlich, weil er der Ort ist, an dem Gott alles in allem ist. Die Hölle ist höllisch, weil sie der Ort ist, an dem Gott seinen gerechten Zorn offenbart. Gott ist der Mittelpunkt all dieser Wahrheiten.

Bedenken wir beispielsweise einmal, was der wahre Grund dafür ist, dass Sünde so überaus schrecklich ist. Ein Christ mag anführen, dass die Sünde den Sünder schädige und ihn ins Elend führe, aber ohne eine auf Gott ausgerichtete Perspektive wird er den wichtigsten Punkt von allen übersehen: Sünde ist ein Affront gegen Gott selbst, wie David in Psalm 51,6 bekennt: »Gegen dich, gegen dich allein habe ich gesündigt, und ich habe getan, was böse ist in deinen Augen; damit du gerechtfertigt wirst, wenn du redest, für rein befunden, wenn du richtest.«

Das häufigste Wort im Römerbrief, dem größten Lehrtext der Bibel, ist nicht Gnade, Glaube, Glauben oder Gesetz, sondern Gott. Die meisten der großen theologischen Aussagen im Römerbrief beginnen mit Gott:

  • Gott hat sie hingegeben (Röm 1,24.26.28)
  • Gott wird jedem vergelten wird nach seinen Werken (Röm 2,6)
  • Gott wird das Verborgene der Menschen richten […] durch Jesus Christus (Röm 2,16)
  • Gott hat ihn dargestellt hat als ein Sühnemittel durch den Glauben an sein Blut (Röm 3,25)
  • Gott rechtfertigt die Gottlosen (Röm 4,5)
  • Gottes Liebe ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist (Röm 5,5)

Als Calvinisten sind wir in Gott verliebt. Wir sind überwältigt von seiner Majestät, seiner Schönheit, seiner Heiligkeit und seiner Gnade. Wir suchen seine Herrlichkeit, sehnen uns nach seiner Gegenwart und richten unser Leben nach ihm aus.

Andere Christen sagen, dass Evangelisation oder Erweckung ihr größtes Anliegen sei, und diese Dinge müssen uns natürlich sehr am Herzen liegen. Aber letztlich haben wir nur ein Anliegen: Gott zu kennen, ihm zu dienen und ihn verherrlicht zu sehen. Das ist unser Hauptziel. Die Rettung der Verlorenen ist deshalb wichtig, weil sie zur Verherrlichung des Namens Gottes und zum Kommen seines Reiches führt. Die Läuterung der Gesellschaft ist wichtig, weil sie uns hilft, Gottes Willen auf Erden so zu tun, wie er im Himmel getan wird. Bibelstudium und Gebet sind wichtig, weil sie uns in die Gemeinschaft mit Gott führen.«

Aus Hiob zum Letzten

[Elihu:] Siehe, Gott handelt erhaben in seiner Macht; wer ist ein Lehrer wie er?
Wer hat ihm seinen Weg vorgeschrieben, und wer dürfte sagen: Du hast unrecht getan? Erinnere dich daran, dass du sein Tun erhebst, das Menschen besingen. Alle Menschen schauen es an, der Sterbliche erblickt es aus der Ferne. Siehe, Gott ist zu erhaben für unsere Erkenntnis; die Zahl seiner Jahre, sie ist unerforschlich. […]

[Hiob:] Ich weiß, dass du alles vermagst und kein Vorhaben dir verwehrt werden kann.
Wer ist es, der den Rat verhüllt ohne Erkenntnis? So habe ich denn beurteilt, was ich nicht verstand, Dinge, zu wunderbar für mich, die ich nicht kannte. Höre doch, und ich will reden; ich will dich fragen, und du belehre mich!
Mit dem Gehör des Ohres hatte ich von dir gehört, aber nun hat mein Auge dich gesehen. Darum verabscheue ich [mich] und bereue in Staub und Asche.

Hiob 36,22-26; 42,2-6 (ELB2003)

Endenoten

[1] Joel R. Beeke, Living for God’s Glory: An Introduction to Calvinism. 1. Aufl. (Sanford, FL: Ligonier Ministries, 2008), Kapitel 3 The Marrow of Calvinism, Abschnitt Theocentrism, S. 40–42.

[2] Mason Pressly, „Calvinism and Science“ in: Evangelica Repertoire (1891), S. 662.

[3] B. B. Warfield, Calvin as a Theologian and Cavinism Today (London: Evangelical Press, 1969), S. 23–24.

[4] R. C. Sproul, Grace Unknown: The Heart of Reformed Theology (Grand Rapids: Baker, 1997), S. 25.