Wir haben empfangen … Gnade um Gnade

Der Apostel Johannes schreibt als einer der letzten der Autoren des Neuen Testaments. Die drei synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus und Lukas) sind alle schon einige Jahrzehnte geschrieben und verbreitet worden. Sie portraitierten den Herrn Jesus Christus als den König und Messias Israels, den Knecht Gottes und den wahren Menschen. Aber Johannes hat einen besonderen Auftrag: Er soll von Jesus Christus als dem menschgewordenen ewigen Sohn Gottes schreiben, damit Menschen an Ihn glaubend das ewige Leben haben (Johannes 20,31).

Das erste Kapitel seines Evangeliums ist voll tiefgründiger Aussagen über Christi Gottsein, Menschsein und Sendung. Johannes vergleicht das Kommen Jesu Christi mit dem größten Führer des Volkes Gottes alttestamentlicher Zeit, mit Mose:

Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben;
die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.

Johannes 1,17 (ELBCSV 2003)

Offenbar ist in Jesus Christus ein unvergleichlich Größerer zu uns Menschen gekommen, als der große Mose: der große Gott selbst. Und offenbar hat Jesus Christus etwas unvergleichlich Größeres mitgebracht, als Mose damals übermittelnd liefern konnte, nämlich Gnade und Wahrheit. Er, der als Gott selbst Licht (1.Johannesbrief 1,5) und Liebe (1.Johannesbrief 4,8) ist, bringt „uns allen“ leuchtende Wahrheit und liebende Gnade. Und dies mitnichten spärlich, sondern im Überfließen, „aus seiner Fülle“ [πληρώματος αὐτοῦ]:

Denn aus seiner Fülle haben wir alle empfangen,
und zwar Gnade um Gnade [χάριν ἀντὶ χάριτος].

Johannes 1,16 (ELBCSV 2003)

So wundert es nicht, dass vor allem das Evangelium nach Johannes eine Fund- und Schatzgrube für Beispiele, Aussagen und Lehren über die Gnade Gottes ist. Im menschgewordenen Sohn Gottes ist die Gnade Gottes sichtbar und für den Glauben rettend und beglückend greifbar geworden. Während der Apostel Paulus besonders erklärt, dass in Jesus die Gnade Gottes allen Menschen heilbringend erschienen ist (Titus 2,11ff), lehrt der Apostel Johannes vor allem, wie Gott seine Familie aus der verdorbenen, rebellischen Welt durch die Hingabe Seines einzigen Sohnes ans Kreuz rettet, ja: herausliebt (Johannes 3,16). Nun gilt für jeden Glaubenden, dass er im Sohn Gottes ewiges Leben hat, und zwar als Geschenk, nicht als Lohn, sondern „aus Gnade“ (Johannes 20,31).

Der amerikanische Theologe, Autor und Prediger Dr. Steven J. Lawson (Gründer und Präsident von OnePassion Ministries) hat eine Lehrreihe zu The Doctrines of Grace in John zur Verfügung gestellt. Es handelt sich dabei um 12 Kurslektionen zu je ca. 25 Minuten. Ein Kursteilnehmer hat freundlicherweise seine deutschsprachigen Notizen online zur Verfügung gestellt. Alle Rechte für den originalen Kurs bleiben natürlich beim Autor und beim Veranstalter Ligonier Ministries (Sanford, FL, USA, www.ligonier.org). Die Kursteilnahme mit offener Bibel sei hiermit wärmstens empfohlen.

Quellenverweise

  • Den Kurs in englischer Sprache (Original) kann man hier in verschiedenen Medien und Gruppenlizenzen kaufen.
  • Eine kostenlose Probelektion (Einleitung) des Kurses in englischer Sprache gibt es hier.
  • Kursunterlagen (Study Guide) in englischer Sprache (PDF; backup);
  • Kursunterlagen in englischer Sprache als Taschenbuch, Hörbuch und Audio-CD.
  • Kursnotizen (Mitschrift) in deutscher Sprache (PDF; backup).
  • Eine kürzere Abhandlung gleichen Themas des Baptisten R. Bruce Steward (1936–2006) ist in der Chapel Library der Mount Zion Bible Church enthalten (PDF).
  • Eine grundlegende Abhandlung über die Lehren der Gnade aus reformierter Sicht: James Montgomery Boice und Philip Graham Ryken, The Doctrines of Grace, Wheaton, IL: Crossway, 2002. Deutsch: Die Lehren der Gnade, Oerlinghausen: Betanien, 2009.
  • Eine dogmengeschichtliche Darstellung der Lehren der Gnade in der Plymouth-Brüder-Bewegung: Mark R. Stevenson: The Doctrines of Grace in an Unexpected Place. Calvinistic Soteriology in Nineteenth-Century Brethren Thought. Eugene, OR: Wipf and Stock, 2007). Deutsch: Die Brüder und die Lehren der Gnade. Wie stand die Brüderbewegung des 19. Jahrhunderts zur calvinistischen Heilslehre? Bielefeld: CLV, 2019.
  • Der bekannte Baptist und „Fürst der Prediger“ Charles H. Spurgeon (1834–1892) lehrte ebenfalls die Lehren der Gnade, siehe: Charles H. Spurgeon – Prediger der biblischen »Lehren der Gnade« (auf diesem BLOG).

»Es ist vollbracht!« – Was denn?

Als der Herr Jesus Christus am Karfreitag am Kreuz hängend sieben bedeutsame Worte aussprach, lautete das vorletzte: »Es ist vollbracht!« (Johannes 19,30 ELBCSV; vgl. Mt 27,50; Mk 15,37; Lk 23,46). Nur der Apostel Johannes berichtet es uns im Wortlaut. Danach neigte Christus sein Haupt und übergab mit dem siebten Ausruf seinen Geist Gott: Das Lamm Gottes, »das die Sünde der Welt wegnimmt« (Joh 1,29), starb in aktiver, völliger Hingabe an Gott. Der Mensch gewordene Sohn Gottes neigte sein Haupt, nicht in Resignation oder Schwäche, sondern wie zum Schlummer[1], um es am dritten Tag in eigener Autorität wieder zu erheben (Joh 10,18).

Was heißt »vollbracht«?

Jesus sprach tatsächlich nur ein Wort: » tetélestai «[2]. Schon zwei Verse vorher gebrauchte Johannes dieses Wort in identischer Form: »Danach, da Jesus wusste, dass alles schon vollbracht war[2], spricht er, damit die Schrift erfüllt würde[3]: Mich dürstet!« (Joh 19,28). Das Wort und seine Zeitform hier bedeuten, dass eine Tat oder ein Werk zum erfolgreichen Ziel gebracht wurde und nun bleibende Auswirkungen hat. Man schrieb tetélestai auf eine bezahlte Rechnung, auf eine abgesessene Gefängnisstrafe usw., also: „Bezahlt!“, „Abgeleistet!“, „Fertig!“: Nichts ist mehr zu bezahlen, keine Forderung besteht mehr, alles ist erledigt. – Hier wurde nicht nur „eine Tür zum Heil aufgestoßen“ oder „dem Sünder eine Chance geboten“ oder „dem Menschen ein großes Vorbild gegeben“ –alles Vorstellungen des bloß Potentiellen, im Prinzip also Unvollkommenen– , sondern etwas komplett fertiggestellt! »Welches Wort enthielt jemals so viel?« (William Kelly, An Exposition of the Gospel of John ).

»Es« – Was wurde vollbracht?

Auch hier gibt uns Johannes den Schlüssel zum Verständnis in die Hand. (1) Christi Gehorsam. Er berichtet, dass die Werke, die Christus tat, seine Sendung bezeugten: »die Werke, die der Vater mir gegeben hat, dass ich sie vollbringe, die Werke selbst, die ich tue, zeugen von mir, dass der Vater mich gesandt hat« (Joh 5,36). Christi Gehorsam und Widmung wurden auf dem Kreuzesaltar völlig offenbar. (2) Offenbarung des Vaters. Der Apostel Johannes berichtet ferner, dass Christus kurz vor seiner Passion rückblickend zum Vater sagte: »Ich habe dich verherrlicht[4] auf der Erde; das Werk habe ich vollbracht[5], das du mir gegeben hast, dass ich es tun sollte.« (Joh 17,4). Als Jesus ausrief: »Es ist vollbracht!«, war jenes Werk, das ihm der Vater aufgetragen hatte, erfolgreich fertiggestellt. Bei diesem Werk des Sohnes Gottes ging es letztlich darum, den Vater auf der Erde zu verherrlichen, also die Herrlichkeit Seines wunderbaren Wesens und einzigartigen Heilswerks bekannt zu machen, denn: »Niemand hat Gott jemals gesehen; der eingeborene Sohn, der im Schoß des Vaters ist, der hat ihn kundgemacht[6]« (Joh 1,18). (3) Vollkommene Sühnung. Und letztlich sagt uns der Apostel Johannes, dass Christus »das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt«, ist (Joh 1,29.36; vgl. Offb 5,6ff; 21,22–27). Der Apostel Petrus äußert sich in ähnlicher Weise, fokussiert sich jedoch auf das Volk Gottes. Er verbindet die vollkommene Erlösung der »Kinder des Gehorsams« mit ihrem vollkommenen Erlöser: »[Ihr seid] erlöst worden … mit dem kostbaren Blut Christi, als eines Lammes ohne Fehl und ohne Flecken« (1Pet 1,18–19). In Summa: »Denn mit einem Opfer hat er auf immerdar die vollkommen gemacht[7], die geheiligt werden.« (Hebr 10,14).

Ad (2): Am deutlichsten wurde das Kundtun (Darlegen, Erklären) des Vaters durch den Sohn im Sterben Jesu am Kreuz: Jeder kann am Kreuz Jesu nun sehen, dass Gott Liebe ist (1Joh 4,7–12) und dass Gott Licht ist (1Joh 1,5), gerecht und heilig:

  • Liebe: »Denn so hat Gott die Welt geliebt«
  • Licht: »dass er seinen eingeborenen Sohn [als Opfer] gab«
  • Liebe: »damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe.« (Joh 3,16).

Wer auf Christus im Glauben schaut, wer Sein Opfer am Kreuz für sich persönlich in Anspruch nimmt, sich für seine ewige Erlösung und Rettung alleine auf Jesu Person und Werk verlässt, der ist für immer gerettet, ist ein Kind Gottes, das zeitlebens Grund zum Jubeln hat, denn: »Es ist vollbracht!«

»Es ist vollbracht!« – Das muss man besingen!

Jacques Erné (1825–1883) hat den Siegesruf des Sohnes Gottes im 19. Jhdt. (1883?) in ein schönes Loblied gefasst:

Es ist vollbracht,
das große Werk, das schwere.
Gott ist gerecht, Ihm ward nun Seine Ehre
durch Seinen Sohn, der laut verkündet hat;
„Es ist vollbracht!“, „Es ist vollbracht!“

Es ist vollbracht!
Was Gottes Liebe wollte,
was für den Sünder, den verlornen, sollte
zur Rettung und zum ew’gen Heile sein,
das ist vollbracht, das ist vollbracht.

„Es ist vollbracht!“,
durchtönt’s die Ewigkeiten
zu Gottes Lob, zu der Erlösten Freuden;
sie danken Gott, sie beten Jesus an,
dass Er’s vollbracht, dass Er’s vollbracht.

Sprachliche Notizen

[1] κλίνας – Aorist Partizip Aktiv von κλίνω = neigen, beugen. »What is indicated in the statement “He bowed His head,” is not the helpless dropping of the head after death, but the deliberate putting of His head into a position of rest, John 19:30. The verb is deeply significant here. The Lord reversed the natural order. The same verb is used in His statement in Matt. 8:20 and Luke 9:58, “the Son of Man hath not where to lay His head.”« (Vine, W. E. ; Unger, Merrill F. ; White, William, Jr.: Vine’s Complete Expository Dictionary of Old and New Testament Words, 2, s. v. »bow, bowed (Verb)«. Vgl.: Walter Bauer, Das Johannes-Evangelium, 3. Aufl. (Tübingen, 1933), S. 218.
[2] τετέλεσται – Perfekt Passiv Indikativ 3.Pers. Sing. von τελέω = vollenden (nicht nur zum Ende, sondern zur Vollendung führen). Das Verb kommt im NT 28mal vor, in dieser Form nur 2mal im Johannesevangelium (Joh 19,28.30). Die ELBCSV gibt es wieder als: vollenden, zu Ende sein, bezahlen/entrichten (!), vollbringen, erfüllen.
[3] τελειωθῇ – Aorist Passiv Konjunktiv 3.Pers.Sing. von τελειόω = vollkommen machen; »bedeutet die abschließende Erfüllung des gesamten Schriftinhaltes« (Rienecker, Sprachlicher Schlüssel, S. 246). Das Verb kommt im NT 23mal vor, und wird in der ELBCSV auch mit vollenden, vollbringen, vollkommen machen wiedergegeben. Im Vergleich zum verwandten Verb τελέω (s. o.) betont es über die Vollendung hinaus den Aspekt der erzielten Perfektion (Vollkommenheit). Das Verb ist Kennzeichenverb des Hebräerbriefes (9mal: 2,10; 5,9; 7,19.28; 9,9; 10,1.14; 11,40; 12,23). Vgl. die Verwendung bei Johannes in Joh 4,34; 5,36; 17,4.23; 19,28; 1Joh 2,5; 4,12.17.18, sowie in Apg 20,24; Php 3,12; Jak 2,22.
[4] ἐδόξασα – Aorist Aktiv Indikativ von δοξάζω = verherrlichen, erheben, preisen, Ehre geben. Es ist also Feststellung einer bestehenden Tatsache. In dieser Form nur in Joh 12,28 »Ich habe ihn verherrlicht« und hier in 17,4 »Ich habe dich verherrlicht auf der Erde«.
[5] τελειώσας – Aorist Partizip Aktiv von τελειόω = ans Ziel bringen, vollenden. Versteht man dieses Partizip periphrastisch, dann war das Vollenden der Werke (punktueller Aspekt) der Begleitumstand oder die Art und Weise, mit dem bzw. der der Sohn Gottes seinen Vater verherrlichte (= Haupthandlung). Die ESV hat: »having accomplished the work that you gave me«. Das Vollenden war jedenfalls der Zielpunkt der Sendung des Sohnes, vgl. Johannes 5,36: »die Werke, die der Vater mir gegeben hat, damit ich sie vollbringe [τελειώσω – Aorist Konjunktiv Aktiv von τελειόω; Aspekt: punktuell, also feststellend, zusammenfassend betreffs der Absicht des Handelns]«.
[6] ἐξηγήσατο – Aorist Medium Indikativ 3.Pers Sing. von ἐξηγέομαι = darlegen, auseinandersetzen, auslegen, berichten; »etwas völlig bekannt machen durch sorgfältige Erklärung oder durch klare Offenbarung« (Louw, Johannes P., Nida, Eugene Albert: Greek-English Lexicon of the New Testament: Based on Semantic Domains (New York: United Bible Societies, 1996), 28.41; Üb.d.A.).
[7] τετελείωκεν – Perfekt Aktiv Indikativ von τελειόω = ans Ziel bringen, vollenden; mit expliziter Anfügung von εἰς τὸ διηνεκὲς = »auf immerdar«, »ununterbrochen«. Die von Gott Geheiligten sind durch Christi Opfer in einen Zustand versetzt worden, in dem sie ein für allemal und ohne jegliche Unterbrechung vollkommen sind (was Auswirkungen bis heute hat). Da das Opfer Christi für immer und stets vollwirksam gilt, besteht dieser vollkommene Zustand der »Geheiligten« in gleicher Weise immer und stets vollwirksam.


Vor 500 Jahren: Luther auf dem Reichstag zu Worms

Am 18. April 1521 stand der Wittenberger Professor und Reformator Dr. Martin Luther vor dem jungen römisch-deutschen König und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Karl V. (1500–1558), der ihn zum Reichstag nach Worms eingeladen hatte. Dieser Reichstag ist einer der großen Wendepunkte der deutschen Geschichte. Er steht am Ende der verfassungsgebenden Reichsversammlungen, auf denen seit dem Wormser Tag von 1495 die zerrütteten Ordnungen des Reiches im Sinne der ständischen Gewalten neu verhandelt wurde (Paul Kalkoff, S. 6). Der Reichstag verhandelte also bedeutsame Sachen und tagte daher recht lange (27.01.–26.05.1521). Auch Vertreter des römischen Papstes waren anwesend, unter anderem Hieronymus Alexander, seit 1520 außerordentlicher Nuntius bei Karl V. Die römische Kirche wollte Karl V. bewegen, sich der Causa Luther anzunehmen und die Bannandrohungsbulle Exsurge Domino des Papstes gegen Martin Luther in Deutschland zu publizieren. Am 6. März 1521 lud Karl V. Luther mit Dreiwochenfrist ab Kenntnisnahme vor und sicherte ihm das freie kaiserliche Geleit zu. Reichsherold Kaspar Sturm übergab Luther die Vorladung am 29. März 1521. Die Zusicherung freien Geleits war natürlich in Erinnerung an das Schicksal des böhmischen Reformators Jan Hus einhundert Jahre vorher nicht überzeugend: Dieser wurde trotz entsprechender Zusicherung des deutschen Königs Sigismund nach dem Konzil zu Konstanz am 6. Juli 1415 nach langer Inhaftierung als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Trotz ähnlicher Gefahrenlage machte sich Luther mit Begleitern am 2. April 1521 auf den langen Weg von Wittenberg nach Worms.

Der Kaiser sprach nicht selbst mit dem vor ihm stehenden Luther. Soweit die gewählte Sprache Deutsch war, konnte er sowieso nur mittels Dolmetscher folgen. Er bediente sich eines Redners („Orator“), Johann von Eck, Offizial des Erzbischofs von Trier, also einem Vertreter der Gegenpartei Luthers. Überhaupt war der Kaiser derart entschieden gegen Luther voreingenommen, dass er bereits vor der Anhörung und ohne die Einwilligung der Stände ein „Sequestrationsmandat“ erlassen hatte (26/27. März 1521), das die Vernichtung der Schriften Luthers befahl und damit Luther schon im Voraus verurteilte. Johann von Eck stellte Luther am ersten Verhörtag 17. April 1521 (eine Disputation war von Luthers Gegenseite gar nicht vorgesehen) im Wesentlichen zwei Fragen: Ob die ausgelegten Schriften und Bücher die seinen wären und ob er diese widerrufe. Luther bejahte das Erste und verneinte das Zweite. Er verlangte und bekam daraufhin einen Tag Bedenkfrist.

Am 18. April 1521 wurden von Johann von Eck die Fragen des Vortags wiederholt. Luther antwortete nochmals ausführlich. Nach einer längeren Gegenrede von Ecks befragte dieser Luther abschließend nochmals, ob er seine Schriften widerrufe. Luther antwortete (auf Lateinisch) mit:

»… wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde, denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, daß sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!«

Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe, Band II: Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. [Der Reichstag zu Worms 1521]. Bearbeitet von Adolf Wrede. Gotha 1896.], Rede Luthers ab S. 551; siehe auch Nr. 80, S. 569–582. [Link digitale Kopie: https://archive.org/details/deutschereichst07kommgoog/page/n8/mode/2up]

Am 19. April 1521 gab Karl V. nach Verhandlungen mit den Reichsständen eine Erklärung ab, in der er sich zur tausendjährigen christlichen Tradition, zur Treue gegenüber Rom und zum Schutz der römischen Kirche bekannte. In Luther sah er nur einen Häretiker, gegen den vorzugehen sei. Dass sich jemand nur auf das Wort Gottes als letzter Instanz berief, war trotz Hus (u. a. Vorreformatoren) noch ungewohnt und aus Sicht der Herrschenden unakzeptabel und provokativ. Auf den Inhalt der Lehre Luthers ging der Kaiser nicht ein. Er war in den machtpolitischen Umwälzungen seiner Zeit zwischen den Reichsständen, dem Papst (Römisch-katholische Kirche, Kurie) und der um sich greifenden Reformation und deren Vertretern in Politik und Kirche stark gefordert und auch gefährdet. Der Reichstag hatte diese machtpolitischen Fragen bezüglich der Reichsreform als Hauptgegensstand, aber im Rückblick war die Causa Luther die alles überragende Frage des Reichstags zu Worms.

Es dauerte nur acht Jahre, bis auf dem Reichstag zu Speyer (19. April 1529) sechs Fürsten und die Bevollmächtigten von 14 Reichsstädten gegen die Reichsacht über Martin Luther und die Ächtung seiner Schriften und Lehre offiziell protestierten. Sie überreichten eine Protestationsschrift, aber der Leiter des Reichstags, Ferdinand I. (ab 1558 Kaiser des HRR), der seinen Bruder Kaiser Karl V. auf dem Reichstag vertrat, verweigerte die Annahme. Vielmehr wurde in der Schlusssitzung am 24. April 1529 nochmals die alte Reichsacht als geltendes Recht verlesen, die Protestation wurde mit keinem Wort erwähnt. Die „Protestanten“ nahmen dies so nicht hin, sondern verfassten am nächsten Tag das sog. Instrumentum Appellationis, in dem sie ihre Beschwerde gegen diesen Endbescheid des Reichstag (den sog. Reichsabschied) nochmals zusammenfassten.

Seitdem tragen die Anhänger der reformatorischen Bewegung die Bezeichnung „Protestanten“. Die grundlegende Argumentation Luthers begründet die Bezeichnung „Evangelische“, denn er beruft sich zuoberst und alleine auf das Evangelium, die Lehre Christi, die Heilige Schrift, welche Gottes Wort und damit –nach Aussage des Sohnes Gottes (Johannes 17,17)– die Wahrheit ist.

Luthers Verteidigungsrede auf dem Reichstag zu Worms (18. April 1521)

»Allergnädigster Herr und Kaiser!

Durchlauchtigste Fürsten! Gnädigste Herrn!

Ich erscheine gehorsam zu dem Zeitpunkt, der mir gestern abend bestimmt worden ist, und bitte die allergnädigste Majestät und die durchlauchtigsten Fürsten und Herren um Gottes Barmherzigkeit wollen, sie möchten meine Sache, die hoffe ich, gerecht und wahrhaftig ist, in Gnaden anhören. Und wenn ich aus Unkenntnis irgend jemand nicht in der richtigen Form anreden oder sonst in irgendeiner Weise gegen höfischen Brauch und Benehmen verstoßen sollte, so bitte ich, mir dies freundlich zu verzeihen; denn ich bin nicht bei Hofe, sondern im engen mönchischen Winkel aufgewachsen und kann von mir nur dies sagen, daß ich bis auf diesen Tag mit meinen Lehren und Schriften einzig Gottes Ruhm und die redliche Unterweisung der Christen einfältigen Herzens erstrebt habe.

Allergnädigster Kaiser, durchlauchtigste Fürsten! Mir waren gestern durch Eure allergnädigste Majestät zwei Fragen vorgelegt worden, nämlich ob ich die genannten, unter meinem Namen veröffentlichten Bücher als meine Bücher anerkennen wollte, und ob ich dabei bleiben wollte, sie zu verteidigen, oder bereit sei, sie zu widerrufen. Zu dem ersten Punkt habe ich sofort eine unverhohlene Antwort gegeben, zu der ich noch stehe und in Ewigkeit stehen werde: Es sind meine Bücher, die ich selbst unter meinem Namen veröffentlicht habe, vorausgesetzt, daß die Tücke meiner Feinde oder eine unzeitige Klugheit darin nicht etwa nachträglich etwas geändert oder fälschlich gestrichen hat. Denn ich erkenne schlechterdings nur das an, was allein mein eigen und von mir allein geschrieben ist, aber keine weisen Auslegungen von anderer Seite.

Hinsichtlich der zweiten Frage bitte ich aber Euer allergnädigste Majestät und fürstliche Gnaden dies beachten zu wollen, daß meine Bücher nicht alle den gleichen Charakter tragen.

Die erste Gruppe umfaßt die Schriften, in denen ich über den rechten Glauben und rechtes Leben so schlicht und evangelisch gehandelt habe, daß sogar meine Gegner zugeben müssen, sie seien nützlich, ungefährlich und durchaus lesenswert für einen Christen. Ja, auch die Bulle erklärt ihrer wilden Gegnerschaft zum Trotz einige meiner Bücher für unschädlich, obschon sie sie dann in einem abenteuerlichen Urteil dennoch verdammt. Wollte ich also anfangen, diese Bücher zu widerrufen – wohin, frag ich, sollte das führen? Ich wäre dann der einzige Sterbliche, der eine Wahrheit verdammte, die Freund und Feind gleichermaßen bekennen, der einzige, der sich gegen das einmütige Bekenntnis aller Welt stellen würde!

Die zweite Gruppe greift das Papsttum und die Taten seiner Anhänger an, weil ihre Lehren und ihr schlechtes Beispiel die ganze Christenheit sowohl geistlich wie leiblich verstört hat. Das kann niemand leugnen oder übersehen wollen. Denn jedermann macht die Erfahrung, und die allgemeine Unzufriedenheit kann es bezeugen, daß päpstliche Gesetze und Menschenlehren die Gewissen der Gläubigen aufs jämmerlichste verstrickt, beschwert und gequält haben, daß aber die unglaubliche Tyrannei auch Hab und Gut verschlungen hat und fort und fort auf empörende Weise weiter verschlingt, ganz besonders in unserer hochberühmten deutschen Nation. Und doch sehen sie in ihren Dekreten selbst vor, wie Distinctio 9 und 25, quaestio 1 und 9, zu lesen steht: Päpstliche Gesetze, die der Lehre des Evangeliums und den Sätzen des Evangeliums und den Sätzen der Kirchenväter widersprächen, seien für irrig und ungültig anzusehen. Wollte ich also diese Bücher widerrufen, so würde ich die Tyrannei damit geradezu kräftigen und stützen, ich würde dieser Gottlosigkeit für ihr Zerstörungswerk nicht mehr ein kleines Fenster, sondern Tür und Tor auftun, weiter und bequemer, als sie es bisher je vermocht hat. So würde mein Widerruf ihrer grenzenlosen, schamlosen Bosheit zugute kommen, und ihre Herrschaft würde das arme Volk noch unerträglicher bedrücken, und nun erst recht gesichert und gegründet sein, und das um so mehr, als man prahlen wird, ich hätte das auf Wunsch Eurer allergnädigsten Majestät getan und des ganzen Römischen Reiches. Guter Gott, wie würde ich da aller Bosheit und Tyrannei zur Deckung dienen!

Die dritte Gruppe sind die Bücher, die ich gegen einige sozusagen für sich stehende Einzelpersonen geschrieben habe, die den Versuch machten, die römische Tyrannei zu schützen und das Christentum, wie ich es lehre, zu erschüttern. Ich bekenne, daß ich gegen diese Leute heftiger vorgegangen bin, als in Sachen des Glaubens und bei meinem Stande schicklich war. Denn ich mache mich nicht zu einem Heiligen und trete hier nicht für meinen Lebenswandel ein, sondern für die Lehre Christi. Trotzdem wäre mein Widerruf auch für diese Bücher nicht statthaft; denn er würde wieder die Folge haben, daß sich die gottlose Tyrannei auf mich berufen könnte und das Volk so grausamer beherrschen und mißhandeln würde denn je zuvor.

Aber ich bin ein Mensch und nicht Gott. So kann ich meinen Schriften auch nicht anders beistehen, als wie mein Herr Christus selbst seiner Lehre beigestanden hat. Als ihn Hannas nach seiner Lehre fragte und der Diener ihm einen Backenstreich gegeben hatte, sprach er: «Habe ich übel geredet, so beweise, daß es böse gewesen sei.» Der Herr selbst, der doch wußte, daß er nicht irren könnte, hat also nicht verschmäht, einen Beweis wider seine Lehre anzuhören, dazu noch von einem elenden Knecht. Wieviel mehr muß ich erbärmlicher Mensch, der nur irren kann, da bereit sein, jedes Zeugnis wider meine Lehre, das sich vorbringen läßt, zu erbitten und zu erwarten. Darum bitte ich um der göttlichen Barmherzigkeit willen, Eure allergnädigste Majestät, durchlauchtigste fürstliche Gnaden oder wer es sonst vermag, er sei höchsten oder niedersten Standes, möchte mir Beweise vorlegen, mich des Irrtums überführen und mich durch das Zeugnis der prophetischen oder evangelischen Schriften überwinden. Ich werde völlig bereit sein, jeden Irrtum, den man mir nachweisen wird, zu widerrufen, ja, werde der erste sein, der meine Schriften ins Feuer wirft.

Es wird hiernach klar sein, daß ich die Nöte und Gefahren, die Unruhe und Zwietracht, die sich um meiner Lehre willen in aller Welt erhoben haben, und die man mir gestern hier mit Ernst und Nachdruck vorgehalten hat, sorgsam genug bedacht und erwogen habe. Für mich ist es ein denkbar erfreulicher Anblick, zu sehen, wie um Gottes Wort Unruhe und Zwietracht entsteht. Denn das ist der Lauf, Weg und Erfolg, den Gottes Wort zu nehmen pflegt, wie Christus spricht: «Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert; denn ich bin gekommen, den Menschen zu erregen wider seinen Vater usw.» Darum müssen wir bedenken, wie Gott wunderbar und schrecklich ist in seinen Ratschlüssen, daß nicht am Ende das, was wir ins Werk setzen, um der Unruhe zu steuern, damit anfängt, daß wir Gottes Wort verdammen, und so viel mehr einer neuen Sintflut ganz unerträgliche Leiden zustrebt. Wir müssen sagen, daß die Regierung unseres jungen, vortrefflichen Kaisers Karl, auf dem nächst Gott die meisten Hoffnungen ruhen, nicht eine unselige, verhängnisvolle Wendung nehme. Ich könnte es hier mit vielen Beispielen aus der Schrift vom Pharao, vom König Babylons und den Königen Israels veranschaulichen, wie sich gerade dann am sichersten zugrunde richteten, wenn sie mit besonders klugen Plänen darauf ausgingen, Ruhe und Ordnung in ihren Reichen zu behaupten. Denn er, Gott, fängt die Schlauen in ihrer Schlauheit und kehret die Berge um, ehe sie es inne waren. Darum ist’s die Furcht Gottes, deren wir bedürfen. Ich sage das nicht in der Meinung, so hohe Häupter hätten meine Belehrung oder Ermahnung nötig, sondern weil ich meinem lieben Deutschland den Dienst nicht versagen wollte, den ich ihm schuldig bin. Hiermit will ich mich Euer allergnädigsten kaiserlichen Majestät und fürstlichen Gnaden demütig befohlen und gebeten haben, sie wollten sich von meinen eifrigen Widersachern nicht ohne Grund gegen mich einnehmen lassen. Ich bin zu Ende …

Weil denn Eure allergnädigste Majestät und fürstlichen Gnaden eine einfache Antwort verlangen, will ich sie ohne Spitzfindigkeiten und unverfänglich erteilen, nämlich so: Wenn ich nicht mit Zeugnissen der Schrift oder mit offenbaren Vernunftgründen besiegt werde, so bleibe ich von den Schriftstellen besiegt, die ich angeführt habe, und mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort. Denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, weil es offenkundig ist, daß sie öfters geirrt und sich selbst widersprochen haben. Widerrufen kann und will ich nichts, weil es weder sicher noch geraten ist, etwas gegen sein Gewissen zu tun.

Gott helfe mir, Amen.«

Textquelle: https://www.projekt-gutenberg.org/luther/misc/chap008.html [Farb- und Fettdruck hinzugefügt]
Bildquelle: Anton Werner (1843–1915), Luther at the Diet of Worms (1877), im Auftrag des Königreiches Preußen für die Aula der Kieler Gelehrtenschule. Erworben 1883, wegen Zerstörung eigenhändige Replik (1944), Staatsgalerie Stuttgart (Öl auf Leinwand, 66 cm x 125 cm, Inv. Nr. 876). (Digitalbild: wikipedia.de; gemeinfrei)

Literatur

  • Paul Kalkoff, Der Wormser Reichstag von 1521 – Biographische und quellenkritische Studien zur Reformationsgeschichte. München und Berlin: R. Oldenburg, 1922.
  • Deutsche Reichstagsakten, Jüngere Reihe, Band II [Der Reichstag zu Worms 1521]. Bearbeitet von Adolf Wrede. Gotha, 1896.

Ein Glaube ohne Werke ist tot

Seit Jahrtausenden haben sich Christen darüber unterhalten und gestritten, wie Glauben und (Gute) Werke im christlichen Glauben zueinander stehen und miteinander gehen. Sogar der Reformator Martin Luther, der in der Rechtfertigungslehre des Neuen Testaments den Zentralartikel der christlichen Kirche sah, konnte mit der mahnenden Botschaft des Jakobus im Neuen Testament und seiner Aussage, dass die (guten) Werke zur Rechtfertigung führen, eher wenig anfangen.

Was nützt es, meine Brüder, wenn jemand sagt, er habe Glauben, hat aber keine Werke? Kann etwa der Glaube ihn erretten? …
So ist auch der Glaube, wenn er keine Werke hat, in sich selbst tot.
Willst du aber erkennen, o nichtiger Mensch, dass der Glaube ohne die Werke tot ist?

Jakobus 2,14.17.20 (ELBCSV 2003)

Zu schnell wurde ein Gegensatz oder Widerspruch zwischen den Aussagen des Apostels Paulus und des Jakobus wahrgenommen oder behauptet. Beide sind jedoch in der Sache ohne jeglichen Widerspruch. Problematisch ist nur, wenn man den Begriff Rechtfertigung beider Schreiber als identisch in der Blickrichtung ansieht. Beide Schreiber meinen mit rechtfertigen dasselbe: gerecht gesprochen zu werden. Paulus spricht jedoch von der Rechtfertigung eines Sünders vor Gott und durch Gott alleine, während Jakobus von der Rechtfertigung eines Gläubigen durch seine Glaubenswerke angesichts einer beobachtenden Welt spricht: seine Glaubenswerke weisen seinen Glauben als echt aus.

Beide Glaubenslehrer stehen sich also nicht mit überkreuzten Klingen gegenüber, sondern sie verteidigen die selbe biblische Wahrheit Rücken an Rücken gegen unterschiedliche Feinde dieser Lehre: Paulus gegen jene, die mit eigener Frömmigkeit und Werken sich die Annahme bei Gott erarbeiten wollen, Jakobus gegen jene, die meinen, der rettende Glaube in Christus habe nichts mit einem entsprechenden Weg in guten Werken des Glaubens zu tun. Allerdings muss man festhalten, dass beide Schreiber beide Aspekte kennen und lehren. Wenden wir uns zuerst dem Fundamentalartikel der Rechtfertigung allein aus Glauben zu.

Die Schrift lehrt einstimmig die Rechtfertigung »allein aus Glauben«

Sowohl Paulus wie Jakobus halten einmütig und mit der selben zentralen Belegstelle der Schrift fest, dass die Gerechterklärung des Sünders durch Gott alleine auf der Grundlage des Glaubens (d. i. alleine mittels des Glaubens) erfolgt. Beide deuten auf das Glaubensvorbild Abraham und zitieren als Schriftbeleg 1. Mose 15,6:

Und die Schrift wurde erfüllt, die sagt: „Abraham aber glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet“, und er wurde Freund Gottes genannt.

Jakobus 2,23 (ELBCSV 2003)

Denn was sagt die Schrift? „Abraham aber glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet.“

Römer 4,3 (ELBCSV 2003)

Etliche Jahre nach Jakobus schreibt der Apostel Paulus also, dass die Rechtfertigung des Sünders, also seine Für-gerecht-Erklärung seitens Gottes, eine exklusive Sache Gottes ist, die mittels des Glaubens und nur aufgrund des Glaubens, also unter Ausschluss der Anrechnung von Werken (»Gesetzeswerken«), erfolgt.

Darum, aus Gesetzeswerken wird kein Fleisch vor ihm gerechtfertigt werden. … Denn wir urteilen, dass ein Mensch durch Glauben gerechtfertigt wird, ohne Gesetzeswerke. …
Dem aber, der nicht wirkt, sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet;

Römer 3,20a.28; 4,5 (ELBCSV 2003)

Denn durch die Gnade seid ihr errettet, mittels des Glaubens; und das nicht aus euch, Gottes Gabe ist es; nicht aus Werken, damit niemand sich rühme.

Epheser 2,8-9 (ELBCSV 2003)

Da die Rechtfertigung nach der Schrift »allein durch Glauben«geschieht, stellt dies sicher, dass alle Ehre allein Gott zukommt. Sind wir nicht aufgrund eigener Werke, sondern alleine durch das rettende Werk Jesu gerechtfertigt, dann gebührt alles Lob für unser Heil alleine Ihm. Die Absicht Gottes mit der Rechtfertigung ist also – wie bei allen anderen Aspekten des Evangeliums auch – die Offenbarung und Verherrlichung Gottes: Soli Deo Gloria.

Die reformatorische Position zu Glauben und Werken

Dieses »allein durch Glauben« haben die Reformatoren in ihren grundlegenden vier Exklusivpartikeln mit sola fide bezeichnet: Allein durch den Glauben wird der Mensch gerechtfertigt, nicht durch gute Werke. Dies ist wegen der Altlasten der römisch-katholischen Theologie und der menschlichen Wesensneigung, sich durch eigene Anstrengungen den Weg in den Himmel zu bahnen und sich die Anerkennung seitens Gottes zumindest teilweise zu verdienen, nicht unwidersprochen geblieben.

Martin Luther erklärte 1531 in seiner Wittenbergschen Vorlesung über den Galaterbrief (1535 schriftlich gefasst von Georg Rörer aus seinen Mitschriften) folgendes über Glauben und Werke (zu Galater 2,19):

Daher sagen wir auch, daß der Glaube ohne Werke nichts und nichtig ist. Das verstehen die Papisten und Schwärmer so: der Glaube ohne Werke kann nicht rechtfertigen, oder der Glaube ohne Werke, wenn er noch so wahr ist, vermag nichts, wenn er nicht Werke hat. Das ist falsch. Aber ein Glaube ohne Werke, will sagen ein schwärmerischer Gedanke und ein leeres Geschwätz und ein Traum des Herzens, ein solcher Glaube ist falsch und rechtfertigt nicht.

Martin Luther, Der Galaterbrief. 2. Auflage. Göttingen: Vadenhoeck & Ruprecht, 1987. Textquelle digital.

Johannes Calvin war vielleicht der erste Reformator, der gegen die falsche römisch-katholische Lehre Stellung bezog, die das Konzil zu Trient (6. Sitzung Cum hoc tempore (1547) über die Rechtfertigung, 9. und 11. Kanon) wie folgt formuliert hatte:

9. Wenn jemand sagt, der Sündhafte werde allein durch den Glauben gerechtfertigt; so dass er damit versteht, es werde nichts anderes, das zur Erlangung der Rechtfertigungsgnade mitwirke, erfordert, und es sei keinen Teils notwendig, dass er sich aus Antrieb seines Willens dazu vorbereite, und bereitsam mache, der sei im Bann.
11. Wenn jemand sagt, die Menschen werden gerechtfertigt entweder allein durch die Zurechnung der Gerechtigkeit Christi, oder allein durch die Nachlassung der Sünden, mit Ausschluss der Gnade und der Liebe, welche durch den Heiligen Geist (Röm 5,5) in ihre Herzen ausgegossen wird, und ihnen innehaftet, oder auch, die Gnade, durch welche wir gerechtfertigt werden, sei nur eine Gunst Gottes, der sei im Bann.

Deutsche Textquelle: http://www.kathpedia.com/index.php?title=Cum_hoc_tempore [16.02.2021]

Calvin schrieb im gleichen Jahr (1547) eine Antwort auf die Konzilsbeschlüsse und formulierte zum biblischen Zusammenhang von Glauben und Werken u. a. folgendes:

Ich möchte, dass der Leser versteht, dass wir, wenn wir in dieser Frage vom Glauben allein reden, nicht an einen toten Glauben denken, welcher nicht durch die Liebe wirkt, sondern dass wir daran festhalten, dass der Glaube allein die Ursache der Rechtfertigung ist (Galater 5,6; Römer 3,22). Daher ist es allein der Glaube, welcher rechtfertigt, und trotzdem steht jener Glaube, welcher rechtfertigt, nicht alleine da: Genauso wie es allein die Hitze der Sonne ist, welche die Erde erwärmt, so ist doch die Hitze der Sonne nie alleine, weil sie beständig mit dem Licht verbunden ist.

Johannes Calvin, Antidote to the Canons of the Council of Trent, in: Henry Beveridge (Übs.). Tracts and Treatises in Defense of the Reformed Faith. 1851. Nachdruck (Grand Rapids, MI: Eerdmans, 1958) Bd. 3. S. 152. Übers. des Verf.

Eine weitere Spur davon kann man in der Konkordienformel (Formula Concordia, 1580) nachvollziehen, welche einen Versuch darstellt, Zerwürfnisse beizulegen, die nach Luthers Tod zwischen der eher milden Melanchthonschen Richtung (Philippismus) und der eher streng lutherischen Richtung (Gnesiolutheraner) entstanden waren. Unter Artikel III. Von der Gerechtigkeit des Glaubens vor Gott wird Folgendes als rechtgläubig bestätigt:

8) Wir gläuben, lehren und bekennen, daß, obwol vorgehende Reu und nachfolgende gute Werk nicht in den Artikel der Rechtfertigung vor GOtt gehören, jedoch sol nicht ein solcher Glaube gedichtet werden, der bey und neben einem bösen Vorsatz zu sündigen, und wider das Gewissen zu handeln, seyn und bleiben könte; sondern nachdem der Mensch durch den Glauben gerechtfertiget worden, alsdann ist ein warhaftiger lebendiger Glaube durch die Liebe thätig, Galat. 5 [v. 6]. Also, daß die gute Werk dem gerechtmachenden Glauben allzeit folgen und bei demselben, da er rechtschaffen und lebendig, gewislich erfunden werden; wie er denn nimmer allein ist, sondern allzeit Liebe und Hoffnung bey sich hat.

Formula Concordiae Epitome. Summarischer Begrif der streitigen Artikel, zwischen (…), Artikel III. Von der Gerechtigkeit des Glaubens vor Gott, Punkt 8 (1577). Textquelle (Druck von Gebauer, Halle, 1747), S. 16 [850]. Betonung mit Unterstreichung ist im Original mit Sperrdruck geschehen. Fettdruck hinzugefügt.

Unter Artikel IV. Von guten Werken wird Folgendes hinzugefügt:

1) Daß gute Werke dem warhaftigen Glauben, wann derselbige nicht ein todter, sondern ein lebendiger Glaube ist, gewislich und ungezweifelt folgen als Früchte eines guten Baums.
2) Wir gläuben, lehren und bekennen auch, daß die guten Werke gleich so wol, wenn von der Seligkeit gefraget wird, als im Artikel der Rechtfertigung vor GOtt gänzlichen ausgeschlossen werden sollen, wie der Apostel mit klaren Worten bezeuget, da er also geschrieben: … Röm. 4. [v. 6.7.] Und abermals: … Ephes. 2. [v. 8. 9.] (…)
10) Wir gläuben, lehren und bekennen auch, daß den Glauben und die Seligkeit in uns nicht die Werke, sondern allein der Geist GOttes die Seligkeit durch den Glauben erhalte, des Gegenwärtigkeit und Inwonung die guten Werke Zeugen seyn.

Formula Concordiae Epitome. Summarischer Begrif der streitigen Artikel, zwischen (…), Artikel IV. Von guten Werken. Textquelle (Druck von Gebauer, Halle, 1747), S. 18–20 [852–854]. Betonung mit Unterstreichung ist im Original mit Sperrdruck geschehen. Fettdruck hinzugefügt.

Will man die biblische Lehre (wie sie im reformatorischen Glauben auch erfasst wurde) sehr vereinfacht mit prägnanten Formeln zusammenfassen, so mag dies so aussehen:

Zu verwerfen: Glaube + Werke = Rechtfertigung.
Festzuhalten: Glaube = Rechtfertigung + Werke

Der Glaube, mittels dessen Gott die Rechtfertigung ausspricht, ist stets ein Glaube, der als lebendiger Glaube auch entsprechende Glaubenswerke zeitigt. Fehlen solche Werke, obwohl Glaube behauptet wird, so lautet die biblische Diagnose: dieser Glaube ist tot, er rettet nicht.

Die Schrift lehrt einstimmig, dass rettender Glaube und Glaubenswerke wesensartig zusammen gehören

Man muss also klar zwischen Glauben und Werken unterscheiden, aber man darf und kann sie –wie die beiden Seiten derselben Münze– nicht voneinander trennen, ohne die ganze Sache zu verlieren.

Paulus wie Jakobus lehren, dass ein von jemand behaupteter Glaube ohne Werke tot und damit im Wesen (Jakobus: »in sich selbst«) nicht der rettende Glaube ist. Die Lebendigkeit (und damit Echtheit) des rettenden Glaubens wird sich stets beweisen in seiner von göttlicher Liebe motivierten Wirksamkeit:

So ist auch der Glaube, wenn er keine Werke hat, in sich selbst tot.

Jakobus 2,17 (ELBCSV 2003)

Denn wir erwarten durch den Geist aus Glauben die Hoffnung der Gerechtigkeit. Denn in Christus Jesus vermag weder Beschneidung noch Vorhaut etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe wirkt.

Galater 5,5-6 (ELBCSV 2003)

Wegen dieses wesensartigen Zusammenhangs kann der Apostel Johannes diesen in seinem Ersten Brief in die Reihe seiner Gotteskind-Prüfsteine mit aufnehmen. »Ihn kennen« markiert den Empfang des ewigen Lebens (Gotteskindschaft), »seine Gebote halten« das Kindeswesen der Liebe gegenüber Gott, das sich im Gehorsam äußert (vgl. 5. Mose 6,4ff).

Und hieran wissen wir, dass wir ihn kennen, wenn wir seine Gebote halten. Wer sagt: Ich kenne ihn, und hält seine Gebote nicht, ist ein Lügner, und in diesem ist die Wahrheit nicht. Wer aber irgend sein Wort hält, in diesem ist wahrhaftig die Liebe Gottes vollendet. Hieran wissen wir, dass wir in ihm sind. (…)
Hieran erkennen wir, dass wir die Kinder Gottes lieben, wenn wir Gott lieben und seine Gebote halten. Denn dies ist die Liebe Gottes, dass wir seine Gebote halten, und seine Gebote sind nicht schwer.

1. Brief des Johannes 2,3–5; 5,2–3 (ELBCSV 2003); vgl. 3,22.24

Weil die Lebensbekundungen des neuen Lebens in Christus kein Mechanismus ist, sondern nach Philipper 2,12–13 vielmehr ein wesenseigenes Wirken des glaubenden, gottesfürchtigen Menschen, zu dem er Dank Gottes Wirken in ihm sowohl motiviert als auch befähigt ist, sind diese Lebenserweise des Glaubenden wachstümlich und damit stets unvollkommen. (Ergänzend sei bemerkt, dass mit »euer eigenes Heil« nicht die ewige Errettung der Philipper gemeint ist, denn diese hatten sie offenbar: sie waren »Heilige in Christus Jesus« (1,1), es war ihnen von Gott geschenkt worden, »an ihn zu glauben« (1,29) und ihr »Bürgertum war in den Himmeln« (3,20). Paulus forderte sie angesichts ihrer großen internen Probleme als Gemeinde vielmehr dazu auf, diese in einer christusähnlichen Gesinnung von Demut und Liebe heilstiftend zu lösen.)

Daher, meine Geliebten, … bewirkt euer eigenes Heil mit Furcht und Zittern; denn Gott ist es, der in euch wirkt sowohl das Wollen als auch das Wirken, zu seinem Wohlgefallen.

Philipper 2,12-13 (ELBCSV 2003)

Der Herr Jesus Christus selbst hat den organischen (wesensartigen) Zusammenhang zwischen Glauben und neuem Leben und zwischen neuem Leben und Frucht vielfach in seinen Gleichnissen und Predigten gelehrt. Besonders eindrucksvoll ist dazu sein erstes Gleichnis vom Sämann und den vier Ackerböden (Matthäus 13,3–9; 18–23; vgl. Markus 4,1–12; 13–20; Lukas 8,4–15). Anhaltende Frucht ist Beweis dafür, dass der Same empfangen (aufgenommen) wurde und lebendig ist. Kurzfristiges Aufblühen kann diesen Beweis nicht liefern. Die Frage nach der Quantität (Menge) der Frucht wird nur insofern angesprochen, als dass sie größer Null sein muss; ob sie »30-, 60- oder 100fältig« ist, ist Sache des Wachstums und Wirkungsgrades, jedoch keine Anfrage an die Echtheit (Qualität) der Frucht. (Damit ist auch der Fall des gläubigen Verbrechers neben Christus am Kreuz geklärt.)

Auch bei der Beurteilung von Menschen, die sich als Diener Christi ausgeben (im Dienst als Christen ausgeben), verordnet Christus seinen Nachfolgern zur Urteilsfindung die Beurteilung der »Früchte« dieser Arbeiter. Sein Argument setzt voraus, dass das Wirken eines Menschen stets in Übereinstimmung mit seinem Wesen ist, die Frucht eines Baumes identifiziert eindeutig den Baum. Der Kontrast ist hier nicht wie beim Sämann-Gleichnis zwischen (bleibender) Frucht und Fruchtlosigkeit, sondern zwischen guter und schlechter Frucht.

An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Sammelt man etwa von Dornen Trauben oder von Disteln Feigen? So bringt jeder gute Baum gute Früchte, aber der faule Baum bringt schlechte Früchte. Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte bringen, noch kann ein fauler Baum gute Früchte bringen. Jeder Baum, der keine gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Deshalb, an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.

Matthäus 7,16-20 (ELBCSV 2003)

Christus sprach auch das altbekannte Problem an, dass die Rede und das Bekenntnis eines Menschen nicht unbedingt mit seinem Wesen und seiner Realität in Übereinstimmung sein müssen. Das Phänomen der Heuchelei, des guten Scheins und des buchstäblichen Pharisäertums ist ja seit dem Sündenfall ein allen Menschen anhaftendes Übel. In seiner Argumentation macht der Herr Jesus deutlich, dass wir die Werke eines Menschen genau ansehen müssen, um sein Bekenntnis zu prüfen, das Sagen eines Menschen muss vom Tun her beurteilt werden, und zwar danach, ob es Ausdruck des Gehorsams gegen Gottes Willen ist:

Nicht jeder, der zu mir sagt: „Herr, Herr!“, wird in das Reich der Himmel eingehen, sondern wer den Willen meines Vaters tut, der in den Himmeln ist.

Matthäus 7,21 (ELBCSV 2003)

Gegenüber den elf glaubenden Aposteln erklärt der Herr Jesus, dass das Geheimnis anhaltenden und sich steigernden Fruchtbringens die Lebensverbindung mit Ihm selbst ist (Johannes 15,1–8):

Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, dieser bringt viel Frucht, denn außer mir könnt ihr nichts tun.

Johannes 15,5 (ELBCSV 2003)

Neuzeitliche Debatte

Aus der Geschichte des Volkes Gottes wissen wir, dass der Feind Gottes, der Ur-Lügner Satan, die Wahrheit immer gleichzeitig in beide Richtungen verfälscht, um sicher von der Wahrheit wegzuführen, egal, wie die jeweilige Neigung des Opfers seiner Verführung ist. Am Beispiel der Gemeinde in Korinth ist besonders gut zu beobachten, dass der Teufel seinen Irrtum immer in Paaren der Extreme serviert. C. S. Lewis (1898-1963) schrieb in Mere Christianity (dt.: Pardon, ich bin Christ): »Der Teufel versucht, uns ein Schnippchen zu schlagen. Er schickt der Welt die Irrtümer immer paarweise auf den Hals, in Paaren von Gegensätzen. Und er stiftet uns ständig dazu an, viel Zeit dadurch zu vertrödeln, nachzugrübeln, welches der schlimmere Irrtum sei. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Er baut auf unseren tiefen Unwillen gegen den einen Irrtum, um uns Schritt für Schritt in den anderen hineinzuziehen.«

Die biblische Mitte, die göttlich geoffenbarte Wahrheit nach links und rechts zu bewahren, ist also keine Sache, bei der wir uns schräge oder einseitige Blicke und Vorlieben erlauben dürfen. Bei den Korinthern kann man beispielsweise beobachten: Das Gottesgeschenk der Sexualität darf weder in grenzenloser Ausschweifung missbraucht noch in asketisch-philosophischer Verweigerung verachtet werden. Abusus non tollit usum.

Auch in der Frage, wie rettender Glaube und gute Werke zusammengehören, kann man auf beiden Seiten vom Pferd fallen:

(1) Die Einen verbinden Glauben und Werke so sehr, dass Rechtfertigung und Heiligung zu einem nicht unterscheidbaren Gemisch und Komplex werden, das den biblischen Grundsatz der Rechtfertigung allein aus Glauben verleugnet und die Rechtfertigung zu einem Prozess macht, den unsere Werke maßgeblich beeinflussen. Die Folge ist meist irgendeine Form der Gesetzlichkeit, also jenem Verständnis, dass unsere Werke zu unserem ewigen Heil beitragen. Dass die Schrift dies kategorisch ausschließt, wurde oben schon belegt. Die römisch-katholische Lehre hält bis heute an diesem Irrtum fest.

(2) Die Anderen trennen Glauben und Werke kategorisch so sehr, dass der wesensartige Zusammenhang zwischen beiden verleugnet wird. In den gnostisch beeinflussten Strömungen in der Christenheit führt dies zu einer Trennung der Dinge des Geistes („oben“, geistlich) von den Dingen des Fleisches („unten“, irdisch), wobei das Geistliche das Wesentliche und Wertvolle, das Irdische aber das Unwesentliche und Wertlose sei. Von dort ausgehend irrt man dann auseinandergehend entweder zur Zügellosigkeit (Antinomismus), weil das Irdische, Leibliche nichts mit dem Glauben zu tun habe, oder zu einem alles Irdisch-leibliche entsagenden und verachtenden Asketismus (häufig in den geweihten Ständen anzutreffen). Es ist aber gleichartig falsch, einem Rasputin oder dem Trappistenorden zu folgen.

Die amerikanischen Evangelikalen haben sich in dieser Frage ebenfalls sehr grundlegend auseinander dividiert. Leider hat sich dieser Streit durch die Medien weltweit ausgebreitet.

(1) Die sog. Non-Lordship-Salvation-Richtung leugnet, dass der Erweis des rettenden Glaubens etwas mit einem Leben in Gottesfurcht und mit entsprechenden Glaubenswerken zu tun hat. Zu den Vertretern dieser falschen Richtung gehören bekannte Theologen wie Lewis Sperry Chafer (1871–1952), der Gründer und erste Präsident des renommierten Dallas Theological Seminary (DTS), und Charles C. Ryrie (1925–2016), Professor für Systematische Theologie dieser Hochburg des amerikanischen Dispensationalismus. Ryrie war auch Gastdozent an der Bibelschule Brake in Lemgo (1998–2004), seine Studienbibel (NT 1976, Gesamtbibel 1978, erweitert 1994, deutsch 2012) erfreute sich größter Auflagen und Verbreitung, besonders auch innerhalb der sog. Brüderbewegung (Plymouth Brethren, Elberfelder Brüder). Ryrie lehrte noch, dass die Echtheit des rettenden Glaubens in »gewissen Veränderungen« sichtbar wird: »Mit der Errettung gehen gewisse Veränderungen einher, und wenn ich einige dieser Veränderungen sehe, dann kann ich sicher sein, das neue Leben empfangen zu haben.« (Charles C. Ryrie: Hauptsache gerettet? Was Errettung bedeutet, Christliche Verlagsgesellschaft, Dillenburg 1998, S. 150).

Zane Clark Hodges (1932–2008), Professor am DTS, formulierte die wohl extremste Trennung von Glauben und Werken in seiner Free Grace Theology. In dieser Radical No-Lordship Theology genannten Ansicht reicht eine rein intellektuelle Zustimmung zu gewissen Heilstatsachen völlig aus, um das ewige Heil zu erhalten. Abwendung von der Sünde, Lebensübergabe an Christus und Gehorsam gegenüber den neutestamentlichen Geboten sind nicht Teil des rettenden Glaubens, sondern gehören zum Bereich der (evtl. später noch folgenden) Nachfolge bzw. christlichen Lebensführung. Gläubige können dauerhaft in die Sünde zurückfallen und den Glauben sogar ganz aufgeben, ohne dass man daraus den Schluss ziehen dürfe, dass diese Person nicht gerettet war und ist. Diese Free Grace Theology wendet sich zurecht gegen den „Arminianismus“, der lehrt, dass dauerhafte Sünde oder Abfall vom Glauben den Verlust des ewigen Heils nach sich ziehe, aber sie wendet sich auch gegen die biblische Lehre, dass der hohepriesterliche Dienst Christi alle wahren Gläubigen bis zum Ende im Glauben erhalten wird (Lukas 22,32; 1. Korinther 1,8; vgl. Punkt 5 der Lehrregeln von Dordrecht). Der Inhalt des rettenden Evangeliums wurde von Hodge so weit eingeschränkt, dass man weder an das Kreuz noch an die Auferstehung Jesu glauben müsse, sondern nur noch an die Verheißung des ewigen Lebens. Alle Arten von Werken, vor der Neugeburt (was biblisch richtig ist) und nach der Neugeburt (was falsch ist) hätten mit dem rettenden Glauben nichts zu tun. Die 1986 gegründete Grace Evangelical Society (GES) vertritt diese radikalen Ansichten heute am deutlichsten.

(2) Die sog. Lordship-Salvation-Richtung hingegen behauptet, dass der Erweis des rettenden Glaubens etwas mit einem Leben in Gottesfurcht und mit entsprechenden Glaubenswerken zu tun hat. Der bekannteste Vertreter dieser Richtung ist der kalifornische Pastor John F. MacArthur (*1939), ehemaliger Präsident von The Master’s University, The Master’s Seminary und des Missionswerks Grace to You sowie Herausgeber der weit verbreiteten MacArthur Studienbibel (über 2 Mio. Kopien). Seine Zentralposition ist, dass das Evangelium, das Jesus Christus predigte, ein Aufruf zur gehorsamen Nachfolge (Jüngerschaft) ist, nicht nur eine Bitte, eine einmalige Entscheidung zu treffen oder einmal ein „Übergabegebet“ zu sprechen. Mit außerordentlicher Klarheit vertritt MacArthur die in der Reformation wiederentdeckte biblische Lehre, dass die Rechtfertigung des Sünders und mithin sein ewiges Heil allein aus Gnade, allein aus Glauben und allein in Christus zu finden ist. Eigene Werke fügen dem nichts hinzu, weder solche vor der Neugeburt, noch solche nach der Neugeburt von oben. Die Entkopplung des ewigen Heils vom Ruf und den Kosten der Christus-Nachfolge hingegen wird als „easy believism“ bezeichnet und als unbiblisch abgewiesen. Die Befreiung von den Gebundenheiten der Sünde geschieht nach der Heiligen Schrift vielmehr durch existentielle Übergabe des Lebens an Christus, was Umkehr vom tödlichen Weg (Lebensstil) des Sünders und wirkliche Freiheit des so geretteten Menschen bedeutet. Das »Wort des Glaubens« und der darauf beruhende, rettende Glaube schließt den Glauben an Christus als Retter wie auch an Ihn als Herrn mit allen rettenden Konsequenzen ein.

Das ist das Wort des Glaubens, das wir predigen, dass, wenn du mit deinem Mund Jesus als Herrn bekennst und in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn aus den Toten auferweckt hat, du errettet werden wirst. Denn mit dem Herzen wird geglaubt zur Gerechtigkeit, mit dem Mund aber wird bekannt zum Heil.

Römer 10,8-10 (ELBCSV 2003)

Das Hören, Glauben und Gehorchen ist keine extern aufgepresste Haltung des Christen, sondern das innere Wesen des an Christus Glaubenden. Wer eines Seiner Schafe (geworden) ist, glaubt, hört und folgt dem Sohn Gottes:

…aber ihr glaubt nicht, denn ihr seid nicht von meinen Schafen, wie ich euch gesagt habe. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie gehen nicht verloren in Ewigkeit, und niemand wird sie aus meiner Hand rauben.

Johannes 10,26-28 (ELBCSV 2003)

Martin Luther hat es mit seinem ihm eigenen Duktus schön zusammengefasst:

Es reimen und schicken sich fein zusammen der Glaube und die guten Werke, […] aber der Glaube ist es allein, der den Segen ergreift, ohne die Werke, (der) doch nimmer und zu keiner Zeit allein ist.

Formula Concordia, Zweiter Teil, Solida Declaratio, Wiederholung und Erklärung etlicher Artikel Augsburgischer Konfession…, III. Von der Gerechtigkeit des Glaubens vor Gott, Nr. 41. (Orig. Luther: »Bene conveniunt et sunt connexa inseparabiliter fides et opera; sed sola fides est, quae apprehendit benedictionem sine operibus, et tamen nun quam est sola.«) Textquelle.

Weiterführende Literatur

John F. MacArthur hat die theologische Auseinandersetzung ausführlich in mehreren Büchern dargestellt. Am deutlichsten wird die „Lordship Salvation“-Debatte von ihm im Buch The Gospel According to the Apostles: The Role of Works in the Life of Faith niedergelegt (Thomas Nelson, 2005, 266 Seiten, ISBN 978-0785271802). Weitere Abhandlungen MacArthurs über das biblische Evangelium sind folgende: The Gospel According to Jesus: What Is Authentic Faith? (Zondervan, 2009; dt.: Lampen ohne Öl, 2. Aufl., CLV, 2012); The Gospel According to Paul: Embracing the Good News at the Heart of Paul’s Teachings (Thomas Nelson, 2018); The Gospel according to God: Rediscovering the Most Remarkable Chapter in the Old Testament (Crossway, 2018).

Der Verführung, das biblische Evangelium dem modernen Menschen zeitgeistmäßig schmackhaft(er) zu machen, trat MacArthur in seinem Buch Hard To Believe (Thomas Nelson, 2010) entgegen (dt.: Durch die enge Pforte: Wie moderne Evangelikale den schmalen Weg breit machen. 4. Aufl., Betanien, 2016).

Joel R. Beeke und Steven J. Lawson haben die Lehraussagen des Apostel Paulus (Röm 3,21–28) und des Jakobus (2,14–26) zur Rechtfertigung ebenfalls gründlich untersucht und in ihrem Buch Glaube und Werke sind kein Widerspruch – Paulus und Jakobus über die Lehre der Rechtfertigung dargelegt (Waldems-Esch: 3L-Verlag, 2021, ISBN 978-3-944799-18-6). Gliederung und Leseprobe auf der Verlagsseite. Original: Root & Fruit: Harmonizing Paul and James on Justification (Free Grace Press, 2020, ISBN 978-1952599019).


Die intolerante Toleranz

»Der Begriff Toleranz hat sich im letzten Jahrhundert subtil verändert. Verstand man darunter früher die Haltung eines Menschen, der selbst einer von ihm als richtig erkannten Ansicht anhängt, aber das Vorhandensein und Artikulieren anderer, aus seiner Sicht falscher Ansichten akzeptiert, so fordert die „neue Toleranz“, jegliche Ansicht als gleich gültig zu akzeptieren – alles ist gleich „richtig“. Die Kehrseite ist, dass es nur noch einen Unwert gibt, nämlich die Intoleranz. Als solche gilt die Überzeugung, dass tatsächlich nicht alle Standpunkte gleich richtig sind. Wo solche „Intoleranz“ gewittert wird, zeigen sich die Verfechter der Toleranz meist außerordentlich intolerant.«

D. A. Carson: Die intolerante Toleranz, (Waldems: 3L Verlag, 2014), S. 13–14.25. Orig.: The Intolerance of Tolerance, Grand Rapids, MI (USA) und Cambridge, England: William B. Eerdmans Publishing, 2012. Paperback-Edition 2013.

Nichts ist wohl intoleranter als eine Toleranz, die die Aufgabe aller Überzeugungen verlangt, insbesondere jener Überzeugungen, die der Toleranzfordernde selbst nicht vertritt. Toleranz auf Kosten der Wahrheit (i.S.d. Übereinstimmung mit der Realität) zu fordern, kann nur nach Irrealis oder Dystopia führen und markiert das Ende der Rationalität. Rationaler Diskurs und Fortschritt in Wissenschaft und Denken kann nur im freien Austausch gegensätzlicher Theorien und Meinungen gedeihen. (Natürlich reden wir hier ausdrücklich nicht von Aufforderungen zu strafbaren oder unmoralischen Handlungen.) Der Angriff auf die Freiheit des Menschen, insbesondere seiner Denk- und Redefreiheit, fördert weder Freiheit noch Demokratie, sondern führt, wie viele rote und braune Beispiele zeigen, in den ideologischen und tyrannischen Staat.

In einem Interview mit John Starke erklärte Carson den Unterschied zwischen alter Toleranz und neuer Toleranz und das unvermeidliche Paradox der neuen Toleranz, das aber im Denken der Postmoderne nicht als schädlich erkannt, sondern vielmehr als wertvoll begrüßt wird:

»The old tolerance presupposed another system of thought already in place—Christianity, communism, Naziism, Buddhism, secularism—whatever. The issue then became how much deviation from that system could be tolerated before coercive force is applied. To the extent that one allowed deviation, one was tolerant; correspondingly, where one judges that deviation has gone too far (e.g., almost everyone agrees, even today, that pedophilia goes beyond the pale), then coercive force—in short, intolerance—is a virtue. It was quite possible to disagree strongly with what a person was saying, but still tolerate the opinion that was perceived to be aberrant, on the ground that it was better for society to allow such opinions than to coerce silence from those articulating them.

But invariably, tolerance has its limits. The new tolerance (1) tends to insist that those who merely disagree with others, at least in several spheres, are intolerant, even if no coercive force is applied; (2) tends to make such tolerance the supreme good, independently of surrounding systems of thought; and (3) tends to be remarkably blind in regard to its own intolerant condemnation of everyone who disagrees with its own definition of tolerance. The result is that in many domains, in many discussions, the question is rarely “Is this true?” but “Is anyone offended?” Rigorous discussion of content soon shuts down; truth is demoted; various forms of class warfare are encouraged; in some domains it becomes wrong (supreme irony) to say that anyone is wrong.«

Zitiert nach: https://www.thegospelcoalition.org/blogs/justin-taylor/the-intolerance-of-tolerance/ [19.02.2021] Fett- und Farbschrift hinzugefügt.

Seit der Antike verstanden die Menschen Wahrheit als Angleichung des Verstandes an das Sein (Wirklichkeit). Bibelkennende Christen wissen, dass es Gott Selbst ist, der Sein und Wirklichkeit in Raum, Zeit und Materie erschaffen hat (1Mose 1,1) und diese höchstpersönlich und beständig aufrecht erhält (Hebräer 1,3). Christen glauben auch, dass die Heilige Schrift Gottes Wort und mithin die Wahrheit ist, stammend aus einer zur Lüge und Täuschung unfähigen Quelle (5Mose 32,4; 1Petrus 2,22): Was Gott mitteilt, ist Wahrheit (Psalm 119,60; Johannes 17,17). Die Wahrheit ist erkennbar (Römer 1,19ff; 1Korinther 2,12–16) und diese Wahrheit macht frei, sagte der Sohn Gottes (Johannes 8,32). Diese Fakten widerlegen die Grundannahmen von Atheismus und Agnostizismus.

Der radikale Konstruktivismus und die neue Toleranz hingegen leugnen sowohl die Existenz objektiver Wahrheit als auch die Erkenntnismöglichkeit derselben. Damit sind wir scheinbar in subjektive Beliebigkeit und Gleich-Gültigkeit entlassen, bemerken aber bald, dass dieses Wahrheitsvakuum schnell und oppressiv von der herrschenden Klasse mit Ideologie und Narrativen (samt unterstützenden Fake-News) gefüllt wird. Die modernen Massenmedien verstärken diese Wirkkräfte ungemein. Die Quelle und das Interesse solcher Leugnung ist unschwer zu erkennen (Johannes 8,44). Ergebnis ist stets Versklavung.

Prayer of Repentance 1996

Pastor Joe Wright sprach vor dem Kansas House of Representatives (USA) am 23. Januar 1996 ein Gebet, das für einigen politischen Aufruhr sorgte. Schon während des Gebets verließen einige Abgeordnete unter Protest den Saal, einige Abgeordnete der Partei der „Demokraten“ machten ihrem Ärger Luft („Intoleranz, „radikale Ansichten). Es wurde unzählig oft in anderen Bundesversammlungen (state legislatures), Rundfunk und Fernsehsehsendungen wiederholt und debattiert. Die Kirche des Pastors, die Central Christian Church in Wichita, erhielt in den folgenden sechs Wochen mehr als 6.500 Anrufe, davon nur 47 negative, und so viel Post, dass die Mitarbeiter der Kirche keinen Raum mehr fanden, sie unterzubringen. Anfragen aus aller Welt baten um Kopien des Gebetstextes, es wurde in Hunderten von Zeitungen und Kirchenblättern abgedruckt und bei vielen Anlässen gebetet. Eine deutsche Bezugnahme fand ich im Buchkalender „Leben ist mehr!” (Bielefeld: CLV, 2020) unter dem Datum 20.01.2021 (Autor: Daniel Zach). Was war so bemerkenswert an diesem Gebet? Sehen Sie selbst:

»Heavenly Father,
we come before you today to ask Your forgiveness and to seek Your direction and guidance. We know Your Word says, „Woe to those who call evil good,“ but that is exactly what we have done. We have lost our spiritual equilibrium and reversed our values.

We confess:
We have ridiculed the absolute truth of Your Word and called it pluralism.
We have worshipped other gods and called it multiculturalism.
We have endorsed perversion and called it alternative lifestyle.
We have exploited the poor and called it the lottery.
We have rewarded laziness and called it welfare.
We have killed our unborn and called it choice.
We have shot abortionists and called it justifiable.
We have neglected to discipline our children and called it building self-esteem.
We have abused power and called it politics.
We have coveted our neighbor’s possessions and called it ambition.
We have polluted the air with profanity and pornography and called it freedom of expression.
We have ridiculed the time-honored values of our forefathers and called it enlightenment.

Search us, Oh God, and know our hearts today; cleanse us from every sin and set us free. Guide and bless these men and women who have been sent to direct us to the center of your will.

I ask it in the Name of Your Son, the living Savior, Jesus Christ.
Amen.«

Eine ähnliche Fassung stammt von Rob Russel, der diese ein Jahr vorher (1995) beim Kentucky Governor’s Prayer Breakfast in Frankfort, der Hauptstadt des Commonwealth of Kentucky, betete.

Prayer of Woke Ideology 2021

Am 3. Januar 2021 betete Reverend Emanuel Cleaver II, Mitglied des Repräsentantenhauses, Parteimitglied der „Demokraten“, Geistlicher der United Methodist Church, ehemaliger Bürgermeister von Kansas City, Missouri, bei der Eröffnung des 117. Kongresses der USA folgendes Gebet:

»Eternal God, noiselessly we bow before Your throne of grace as we leave behind the politically and socially clamorous year of 2020. We gather, now, in this consequential Chamber to inaugurate another chapter in our roller coaster representative government. The Members of this august body acknowledge Your sacred supremacy and, therefore, confess that without Your favor and forbearance, we enter this new year relying, dangerously, on our own fallible nature.

God, at a moment when many believe that the bright light of democracy is beginning to dim, empower us with an extra dose of commitment to its principles. May we, of the 117th Congress, refuel the lamp of liberty so brimful that generations unborn will witness its undying flame. And may we model community healing, control our tribal tendencies and quicken our spirit that we may feel Thy priestly presence even in moments of heightened disagreement. May we so feel Your presence that our service here may not be soiled by any utterances or acts unworthy of this high office. Insert in our spirit a light so bright that we can see ourselves and our politics as we really are––soiled by selfishness, perverted by prejudice and inveigled by ideology.

Now, may the God who created the world and everything in it bless us and keep us. May the Lord make His face to shine upon us and be 
gracious unto us. May the Lord lift up the light of His countenance upon us and give us peace––peace in our families, peace across this land and dare I ask, O Lord, peace even in this Chamber, now and evermore. We ask it in the name of the monotheistic God and Brahma and God known by many names by many different faiths.

A–men and a–woman

Ein methodistischer, „christlicher Geistlicher betet also in einem Atemzug zu dem allein wahren Gott und zu allen Götzen und Göttern dieser Welt. Er scheitert also bereits am Ersten Gebot. Und so macht er damit erst den einen wahren Gott lächerlich und dann sich selbst zur weltweiten Lachnummer: »Amen« hat keinen Sexus – und ganz sicher keine Genderform. Wie sagte er selbst-trefflich: »inveigled by ideology«!

Exzellenz in allem

»Ein ausgezeichneter Klempner ist viel bewundernswerter als ein inkompetenter Theologe. Eine Gesellschaft, welche Exzellenz im Klempnern verachtet, weil Klempnern eine niedrige Tätigkeit sei, aber Schludrigkeit in der Theologie toleriert, weil dies eine erhabene Tätigkeit sei, wird weder gute Wasserleitungen noch gute Theologien haben. Du wirst dich weder auf ihre Leitungen noch auf ihre Theologien verlassen können.«

Adaptiert von John W. Gardner, Excellence. Rev. Ed. (New York, NY (USA), London (GB): W. W. Norton Company, 1995), S. 102. – Gardner redet indessen nicht von Theologen, sondern Philosophen: »An excellent plumber is infinitely more admirable than an incompetent philosopher. The society which scorns excellence in plumbing because plumbing is a humble activity, and tolerates shoddiness in philosophy because it is an exalted activity, will have neither good plumbing nor good philosophy. Neither its pipes nor its theories will hold water.«


Leseempfehlung: Andreas J. Köstenberger, Excellence: The Character of God and the Pursuit of Scholarly Virtue. Crossway Books, 2011. (ISBN : 978-1581349108)

C. H. Spurgeon: Freunde muss man nicht versöhnen

Ich habe mich bemüht, eine biblische Begründung für das Handeln Gottes mit dem Menschen zu geben. Er rettet den Menschen aus Gnade. Wenn der Mensch ewig verloren geht, so geht er durch seine eigene Schuld zurecht zugrunde. Fragt jemand: »Ja, wie wollen sie denn diese beiden Lehren miteinander versöhnen?« Meine lieben Brüder, ich versöhne niemals zwei Freunde, niemals. Diese beiden Lehren sind miteinander befreundet; denn sie stehen beide in Gottes Wort und ich werde nicht versuchen, sie miteinander zu versöhnen. Erst wenn du mir zeigst, dass sie tatsächlich Feinde sind, dann werde ich sie versöhnen.

»Aber«, sagt einer, »es gibt eine Menge Schwierigkeiten mit ihnen.« Kannst du mir sagen, welche Wahrheit es gibt, die keine Schwierigkeiten mit sich bringt? »Aber«, sagt er dann, »ich kann diese Wahrheit nicht erkennen.« Nun, ich verlange nicht, dass du diese Wahrheit siehst; ich verlange, dass du sie glaubst. Es gibt viele Dinge in Gottes Wort, die schwierig sind und die ich nicht sehen kann, aber sie sind da, und ich glaube sie. Ich kann nicht sehen, wie Gott allmächtig und der Mensch frei sein kann; aber es ist so und so ich glaube es. Sagt ein anderer: »Ich kann es einfach nicht verstehen.« Meine Antwort lautet: Ich bin verpflichtet, diese Lehren ihnen so deutlich wie möglich zu machen, aber wenn sie überhaupt nichts verstehen, dann kann ich ihnen auch nicht weiterhelfen. Dann lassen wir das. Aber nochmals: Es ist keine Frage des Verständnisses, sondern des Glaubens. Diese beiden Lehren sind wahr; ich sehe nicht, dass sie sich in irgendeiner Weise widersprechen. Selbst wenn sie widersprüchlich erscheinen würden, so würde ich sagen, dass sie einander nur zu widersprechen scheinen, es aber nicht wirklich tun, denn Gott widerspricht sich niemals.

Charles H. Spurgeon, Jacob and Esau. Predigt (Nr. 239) am 16.01.1859 in der New Park Street Chapel in Southwark zum Text Römer 9,13 (»Jakob habe ich geliebt, aber Esau habe ich gehasst.«). In: Spurgeon’s Sermons, Vol. 5 (1859); zitiert nach der Online-Version der Christian Classics Ethereal Library (CCEL) hier.

Originalzitat

»I have endeavoured to give a scriptural reason for the dealings of God with man. He saves man by grace, and if men perish they perish justly by their own fault. “How,” says some one, “do you reconcile these two doctrines?” My dear brethren, I never reconcile two friends, never. These two doctrines are friends with one another; for they are both in God’s Word, and I shall not attempt to reconcile them. If you show me that they are enemies, then I will reconcile them.

“But,” says one, “there is a great deal of difficulty about them.” Will you tell me what truth there is that has not difficulty about it? “But,” he says, “I do not see it.” Well, I do not ask you to see it; I ask you to believe it. There are many things in God’s Word that are difficult, and that I cannot see, but they are there, and I believe them. I cannot see how God can be omnipotent and man be free; but it is so, and I believe it. “Well,” says one, “I cannot understand it. My answer is, I am bound to make it as plain as I can, but if you have not any understanding, I cannot give you any; there I must leave it. But then, again, it is not a matter of understanding; it is a matter of faith. These two things are true; I do not see that they at all differ. However, if they did, I should say, if they appear to contradict one another, they do not really do so, because God never contradicts himself.« 

Querverweise

10 Gründe, warum das gemeinsame Singen wesenseigen zum christlichen Gottesdienst gehört

Joe Lum, Senior Pastor der Living Hope Bible Church in Issaquah, WA (USA), hat im Dezember 2020 einen interessanten und hilfreichen Blogartikel auf The Cripplegate zum Singen im gemeinsamen Gottesdienst veröffentlicht: 10 reasons why singing is essential to worship.

Folgende 10 Gründe hat Joe Lum der Heiligen Schrift entnommen:

  1. Das Singen Einzelner und der Gemeinde wird von Gott ausdrücklich befohlen
  2. Echte Anbetung im Lied ist vom Heiligen Geist bewirkt
  3. Singen ist eine Antwort auf die Verkündigung des Wortes Gottes
  4. Im Lied zueinander reden ist ein Gebot der Schrift für die Gottesdienste
  5. Jesus Christus selbst singt im Gemeindelobpreis mit uns mit
  6. Gott Selbst singt unter seinem Volk
  7. Zusammen zu singen erinnert uns daran, allein in Gott Sicherheit zu finden
  8. Die Bibel ermutigt uns zum gemeinsamen Singen und zum Aufsuchen des Gottes, der unsere Ängste wegnimmt
  9. Gemeindliche Anbetung soll eine Widerspiegelung unserer zukünftigen Erfahrung im Himmel sein
  10. Singen kann uns dabei helfen, Wörter zu verwenden, die unsere Einheit demonstrieren und zum Ausdruck bringen

Der Artikel ist hier zu finden.

TULIP – Wer hat’s erfunden?

Es ist üblich geworden, „den Calvinismus” anhand des Akronyms „TULIP” zu beschreiben und zu beurteilen. Von „TULIP” wussten jedoch weder der angebliche Urheber des „Calvinismus“, Johannes Calvin (1509–1564), etwas, noch die reformierten Verfasser der „Lehrregel von Dordrecht“ (1619) in den Niederlanden, noch die reformierten Verfasser der berühmten „Westminster Confession of Faith“ (1647/1648), noch andere dem reformatorischen Glaubensgut folgende Bekenntnisse, wie z. B. die „London Baptist Confession” (1677). Kein Reformator hat „TULIP“ je verwendet. Woher stammt also diese (anachronistische) Idee, „TULIP“ zur Beschreibung des „calvinistischen“ (reformierten) Glaubens heranzuziehen?

Nach einem Beitrag von William H. Vail im New Yorker Wochenmagazin The Outlook aus dem Jahr 1913 gebrauchte ein gewisser Dr. McAfee aus Brooklyn das Akronym „TULIP“ 1905 als erster, um „Die fünf Punkte des Calvinismus” in einem öffentlichen Vortrag in der Presbyterian Union of Newark darzustellen (William H. Vail, The Five Points of Calvinism Historically Considered, in: The Outlook, Vol. CIV (May-August 1913), (New York: The Outlook Company), S. 394–395 (21.06.1913)). – Bei diesem „Dr. McAfee“ handelt es sich wohl um Cleland Boyd McAfee, einem Pastor der Lafayette Avenue Presbyterian Church und späteren Professor für didaktische und polemische Theologie am McCormick Theological Seminary in Chicago. Er war auch Direktor des Presbyterian Board of Foreign Missions. Soweit wir wissen, war dies (1905) der erste Gebrauch des Akronyms „TULIP” als mnemotechnische Hilfe für die Darstellung der reformierten Heilslehre, wie sie in der „Dordrechter Lehrregel” 1619 als Antwort auf fünf Infragestellungen der Heilslehre durch die arminianischen „Remonstranten“ aus dem Jahr 1610 formuliert wurde. McAfee erfand und verwendete das Akronym „TULIP“ 1905 wie folgt (nach W.H. Vail, a. a. O., S. 394):

  • TTotal Depravity
  • UUniversal Sovereignty
  • LLimited Atonement
  • IIrresistible Grace
  • PPerseverance of the Saints.

William H. Vail liefert im o. g. Artikel von 1913 eine Übersicht über fünf damalige Vertreter der reformierten Heilslehre (A bis E, s. Tabelle unten), die er befragt hatte, welches denn ihrer Meinung nach die „Fünf Punkte” seien (1 bis 5, s. Tabelle unten). Bis auf den 5. Punkt (P) ergaben sich bemerkenswerter Weise recht unterschiedliche Bezeichnungen und Reihenfolgen, die in keinem Fall das Akronym „TULIP” ergeben.

Autoren: A = Abbott’s „Dictionary of Religious Knowledge“ | B = Dr. Francis L. Patton, Präsident des Princeton Theological Seminary | C = Dr. Hugh Black, Union Theological Seminary | D = Rev. George B. Stewart, D.D., Präsident des Auburn Theological Seminary | E = Rev. Isaac N. Rendall, D.D., Präsident em. der Lincoln University in Pennsylvania.

Der amerikanische reformierte Theologe Loraine Boettner (1901–1990) wird als nächster angesehen, der das Akronym „TULIP” 1932 für die Darstellung der „Dordrechter Lehrregel” im Speziellen –und der reformatorischen Heilslehre im Allgemeinen– verwendete: »The Five Points may be more easily remembered if they are associated with the word T-U-L-I-P; T, Total Inability; U, Unconditional Election; L, Limited Atonement; I, Irresistible (Efficacious) Grace; and P, Perseverance of the Saints.« (Loraine Boettner: The Reformed Doctrine of Predestination, 1. Auflage, Januar 1932).

Wenn man sich mit der Lehrentwicklung der 500 Jahre seit der Reformation beschäftigt, fällt auf, dass die Darstellung der reformierten Heilslehre mithilfe von „TULIP” weder die Bezeichnungen der fünf „Lehrstücke” in der „Dordrechter Lehrregel” (1619) übernimmt, noch ihrer Aufbaureihenfolge folgt. (Das 5. und letzte Stück macht dabei eine gewisse Ausnahme.) William H. Vail schreibt dazu: »Selbstverständlich zwingt die Übernahme des Kunstwortes [„TULIP”] die fünf Punkte in eine gewisse Reihenfolge und wirft sie damit möglicherweise aus ihrer angemessenen Ordnung und ihrer logischen Reihenfolge (»Of course the adoption of this word [„TULIP”] restricts the order of the five points, and perhaps throws them out of their proper order and logical sequence.«; a.a.O.).

Auch inhaltlich sind die „Fünf Punkte” nicht mit dem reformierten Glauben oder dem sog. „Calvinismus” gleichzusetzen. Der reformierte Theologe Dr. Hugh Black schrieb Anfang des 20. Jahrhunderts: »Ich glaube nicht, dass Calvin sein System in diesen [fünf] Punkten zusammengefasst hätte.« (a.a.O., S. 395). Loraine Boettner schrieb 1932: »Möge der Leser sich gegen eine zu enge Gleichsetzung der Fünf Punkte mit dem calvinistischen Lehrsystem wappnen. Während diese [Fünf Punkte] wesentliche Bestandteile sind, schließt das System doch viel mehr ein. … das Westminster Bekenntnis ist eine recht ausgewogene Darstellung des reformierten Glaubens (oder des Calvinismus) und es gibt auch den anderen christlichen Lehren den ihnen angemessenen Raum.« (a.a.O.). Leonard J. Coppes schrieb 1980 eine Zusammenfassung des reformierten Glaubens mit dem Titel: »Are five points enough? The ten points of Calvinism«. Joel R. Beeke schrieb 2008: »Seine [Calvins] Absicht war es, jeden Bereich der Existenz unter die Herrschaft Christi zu bringen, so dass das gesamte Leben zur Verherrlichung Gottes gelebt werden könne. Darum kann der Calvinismus nicht einfach durch eine Hauptlehre oder mit fünf Punkten oder –wenn wir sie denn hätten!– mit zehn Punkten erklärt werden. Calvinismus ist so komplex wie das Leben selbst.« (Living for God’s Glory: An Introduction to Calvinism, S. XII). Sinclair Ferguson schreibt 2008 in einem Beitrag über das Gotteslob (Doxology): »…die sogenannten fünf Punkte des Calvinismus … [sind] mit Blick auf ihre Entstehung zutreffender als „Die fünf Korrekturen für den Arminianismus” zu bezeichnen« (in: Living for God’s Glory: An Introduction to Calvinism, S. 388).

Auch in unserer Zeit verwenden reformierte Theologen für die Darstellung der reformierten Heilslehre andere Punkte und Bezeichnungen als das verkürzte McAfeesche „TULIP”. Bei Kritikern des sog. „Calvinismus” ist diese anachronistische und verfälschend verkürzte Darstellung allerdings recht beliebt und liefert Material für manchen „Strohmann”. Gehen wir daher besser zurück zum Ursprung der theologischen Auseinandersetzung.

Lehrregel statt TULIP

Weder die Synode in Dordrecht 1619 noch die reformierten Theologen der folgenden Jahrhunderte haben einstimmig „TULIP” gelehrt. „TULIP” ist erstens eine klare Fehlübersetzung, zweitens inhaltlich eine starke Verkürzung und drittens –historisch und dogmengechichtlich gesehen– ein Anachronismus, wenn jemand damit die „Dordrechter Lehrregel” von 1619 oder die calvinistische (Heils-)Lehre beschreibt. Hier eine tabellarische Gegenüberstellung der Lehrstücke von 1619 und der TULIP-Verkürzung durch McAfee 1905:

Die „Dordrechter Lehrregel” (1619)TULIP (nach McAfee, 1905)
Erstes Lehrstück:
Von der göttlichen Vorherbestimmung
1. Total Depravity
(Völlige Verderbtheit)
Zweites Lehrstück:
Vom Tode Christi und der Erlösung
der Menschen durch denselben
2. Universal Sovereignty
(Allumfassende Souveränität)
Heute auch:
Unconditional Election
(Unbedingte Erwählung)
Drittes und viertes Lehrstück:
Von der Verderbnis des Menschen und
seiner Bekehrung zu Gott und
der Art und Weise derselben
3. Limited Atonement
(Begrenzte Sühnung)

4. Irresistible Grace
(Unwiderstehliche Gnade)
Fünftes Lehrstück:
Vom Beharren der Heiligen
5. Perseverance of the Saints
(Ausharren der Heiligen)

Es wäre der Sache angemessener und einer fruchtbaren Diskussion dienlicher, wenn man sich direkt mit dem offiziellen Lehrdokument der Synode in Dordrecht beschäftigen würde, anstatt irgendwelchen „Fünf Punkten” –Jahrhunderte nach Calvin entstanden!– zu folgen, insbesondere, wenn diese aus Darstellungen von Anti-Calvinisten stammen. Was gewinnt man dabei?

Der Student der „Dordrechter Lehrregel” hat in Lehrstück 2, Artikel 1 bereits vom Wesen und Charakter Gottes, von der Allgenugsamkeit Christi, von der weltweiten Verkündigung des Evangeliums (Mission) und der Notwendigkeit des Glaubens gelesen, bevor er in Artikel 2 zur Frage der Zielsetzung und beabsichtigten Reichweite der Sühnung gelangt. Didaktisch richtig wird ihm in der „Dordrechter Lehrregel” zuerst das Wesen der Sühnung erklärt, bevor die Reichweite der Sühnung besprochen wird. Die Zielgerichtetheit und Bestimmtheit der Sühnung wird direkt aus der Gerechtigkeit Gottes und dem völlig genügsamen, zielgerichteten Opfer Christi (Artikel 3-4) abgeleitet. Gleichzeitig wird die Notwendigkeit, allen Menschen ohne Unterschied das Evangelium zu predigen, betont (Artikel 5). Artikel 6 bestätigt, dass Gott gerecht ist, wenn er den Ungläubigen verdammt, und Artikel 7 lehrt, dass die Quelle des rettenden Glaubens die Gnade Gottes ist, »die uns in Christus Jesus vor ewigen Zeiten gegeben« worden ist (2. Timotheus 1,9). – Dieser biblisch richtige und didaktisch kluge Aufbau sollte genutzt und nicht ohne guten Grund aufgegeben werden.

Was macht das „L” in „TULIP”?

Viele evangelikale (früher: dem sola scriptura verpflichtete) Glaubende streiten sich heute anhand von „TULIP”-Darstellungen um die rechte Heilslehre. Etliche Lager haben sich in den letzten Jahrhunderten gebildet, geradezu einander bekämpfende Sekten innerhalb des christlichen Zeugnisses geformt. Ein besonders umstrittener Aspekt von „TULIP” ist das „L”, das für limited atonement, also begrenzte Sühne/Sühnung, stehen soll. Allein dieser Begriff ist ein bitteres, missverständliches Etikett, welches keiner der Reformatoren ohne weiteres so verwendet hätte. Zudem ist weder der (engl.) Begriff „limited” noch der Begriff „atonement” klar und definitiv genug, um die Lehre der Heiligen Schrift eindeutig und klar darzustellen. William D. Barrick urteilt, dass „begrenzt” bzw. „unbegrenzt” vielleicht jene Begriffe sind, welche in der Heilslehre am häufigsten missbraucht werden („The Extent…“, S. 4–5). Und der biblische Begriff „Sühnung” (engl. atonement) wird ebenfalls nicht klar und biblisch verwendet (oft mit der falschen Deutung eines „at-one-ment”, einer Einsmachung oder Zusammenführung), zudem oft als Sammelbezeichnung für alles, was Jesus Christus am Kreuz bewirkt hat. Man muss fragen: Gibt es denn überhaupt eine Begrenzung der Sühnung Jesu Christi? Und wenn ja: Wo wird diese in der Schrift gezogen? Beim Wert oder bei der Reichweite der „Sühnung” (wenn überhaupt die biblische Sühnung gemeint ist)? Die Zentralität und Wichtigkeit des Werkes Christi verlangt nach biblischen, klaren Antworten. Das kann hier nur angerissen werden.

Bibelstudenten aller Zeiten sollte klar sein, dass das Sühnopfer des menschgewordenen Gottessohnes entscheidender Mittelpunkt eines ewigen Planes der Gottheit ist, und dass Gott im Opfer Jesu ein klares Ziel verfolgte (s.z.B. 1Petrus 1,18–21: »zuvorerkannt [proginōskō] ist vor Grundlegung der Welt«). Das Ziel war weder, dass alle Sünder im Feuersee für ihre Schuld ewig von Gott getrennt und gestraft werden (was absolut gerecht wäre), noch dass alle Sünder letztlich errettet und in Gottes herrlicher Ewigkeit leben werden (sog. Universalismus). Das Heilswerk Gottes (im Zusammenwirken des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes) richtet sich vielmehr in ewiger, erwählender Liebe auf »die Seinen« (s. Johannes 17,2.6.9.24.26).

Die gesamte Schrift gibt vom planmäßigen und zielorientierten Handeln Gottes in der Menschheits- und Heilsgeschichte beredt Zeugnis. Also sollte man sich tiefgehende Fragen stellen: (1) Welches Ziel verfolgt Gott mit dem Opfer Jesu? (2) Was bezeichnete Jesus Christus mit dem »Es«, als Er am Kreuz ausrief: »Es ist vollbracht!« (Johannes 19,30)? (3) Wie ergänzen sich das Werk des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes im trinitarischen Heilswerk (sog. opera ad extra)? (4) Haben die drei Personen der Gottheit eine identische Zielsetzung im Heilswerk? (5) Haben die drei Personen der Gottheit im Erlösungswerk den selben Personenkreis im Blick? (usw.)

Wer diese Fragen anhand der Heiligen Schrift beantwortet, muss von einer Begrenzung der Sühnung ausgehen, da der Universalismus keine Lehre der Schrift ist, das Heil aller Glaubenden jedoch fest bezeugt ist. Nachdem der Glaube faktisch und biblisch nicht aller Teil ist (2. Thessalonicher 3,2b), ist die Menge der durch Jesu Opfer Erretteten jedenfalls begrenzt. Das Sühnungswerk Jesu Christi sah auch nicht vor, dass Er hypothetisch für alle Menschen aller Zeiten stellvertretend im Gericht Gottes war, also effektiv deren persönliche Schuld bezahlt und Gottes Zorn für sie getragen habe, und es nun alleine am jeweiligen Menschen läge, diesen unterschiedslos allen Menschen im Evangelium ausgehändigten „Blankoscheck” (=Scheck ohne Namen des Empfängers) auch persönlich einzulösen. – Gott verwendet in der Heiligen Schrift Alten wie Neuen Testaments vielmehr ein anderes Bild, um sein Rettungswerk als Liebeswerk darzustellen: das von Bräutigam und Braut (z. B. Jesaja 61,10; 62,1–5; Jeremia 31; Epheser 5,23–32; Offenbarung 21,2.9; 22,17). Wie die erwählende Liebe eines Bräutigams selektiv und exklusiv ist –und sein muss– ist Gottes ewige Retterliebe selektiv und exklusiv. Dies bedeutet keine Ungerechtigkeit oder einen Mangel an „Fairness“. (Von „Fairness“ zu reden ist begrifflich ein Fehlgriff, der einen Mangel an biblisch geprägtem Denken offenbart. Wir dürfen sicher sein, dass alles, was Gott tut, absolute –ja, normative– Gerechtigkeit ist.)

Die o. g. Fragen können also anhand der Heiligen Schrift noch tiefer ins Verständnis des Heilswerks Gottes führen. Dabei wird man die biblischen Lehren des ewigen Vorsatzes Gottes, der persönlichen (namentlichen) Erwählung und Berufung durch Gott, der persönlichen(!) Stellvertretung im Gericht, der Sohnschaft, der Adoption, der monergistischen Wiedergeburt, des Einsgemachtseins mit Christus, der Innewohnung und der Versiegelung mit dem Heiligen Geist (usw.) kennenlernen. Sie bezeugen harmonisch und vielfältig, dass der dreieinige Gott von Ewigkeit her das ewige Heil „der Seinen” zu Seiner Verherrlichung gewollt und geplant hat und in der Zeit mit exakt festgelegtem Ziel ausführt. Auch kann wohltuende Klarheit entstehen, wenn man den biblisch gelehrten Unterschied zwischen Sühnung und persönlicher Stellvertretung zu beachten lernt. Weil das Heilswerk Gottes ein göttlich großes Werk ist, wundert es uns nicht, dass wir es nicht gänzlich umfassen können. Aber wir können und müssen es auf der Grundlage der Heiligen Schrift erforschen und glauben und bezeugen. Die Heilige Schrift, die Wahrheit (Johannes 17,17), liefert auch die Wahrheit über das Heil.

Am Buchstaben „L” kann man u. E. gut beobachten, wie mangelhaft übermäßig vereinfachte Darstellungen der biblischen Lehre (hier: à la „TULIP”) sind, und wie mangels Klarheit und Präzision mancher Anlass zu Streitigkeiten und Aneinandervorbeireden fast zwangsweise geliefert wird.

Fazit

Mit diesen kurzen Überlegungen und Hinweisen soll zweierlei nachdrücklich gesagt sein:

  • fundamental: Die Frage nach der Reichweite und Zielsetzung des (Sühnungs-) Werkes Jesu Christi sollte eben NICHT anhand von „TULIP”-Darstellungen beantwortet werden, sondern anhand der Heiligen Schrift selbst, welche alleine die Wahrheit ist (Johannes 17,17b). Unbiblische Darstellungen gibt es leider schon genug.
  • sachlich: Wir sollten auch über „Dordrecht” und „Die 5 Punkte des Calvinismus” nicht schreiben und reden, ohne die Ergebnisse jener Synode studiert zu haben und sie in der jeweiligen Darstellung wahrheitsgetreu zu verwenden. Anders gesagt: Primärquellen vor Sekundär- und Tertiärquellen! Unsachliche, verfälschte und falsche Darstellungen gibt es leider schon genug.

Die Synode in Dordrecht hat einen biblisch gesättigten und seelsorgerlich hilfreichen Text geliefert, der über vielem steht, das in den vergangenen vier Jahrhunderten über die angesprochenen Fragen des Heils geschrieben wurde. Und anstelle zu betonen, was Christus am Kreuz nicht zustande gebracht habe, lehrt das zweite Lehrstück von Dordrecht, was Vater, Sohn und Heiliger Geist miteinander vollbracht haben, um sich ein „Volk des Eigentums/zum Besitztum” zu erwählen, es in Jesu Opfer zu erlösen und es ewig zu erwerben (s. 5. Mose 7,6 mit 1. Petrus 2,9). Mit solcher Theologie wird Gottes Volk eher auferbaut, als mit Streitigkeiten über den „freien Willen“ des Menschen und der Souveränität Gottes im Heil. Denn im einzigartigen Heilswerk Gottes geht es um eine großartige Liebesbeziehung:

»Dieser Entschluss, der aus der ewigen Liebe zu den Erwählten hervorgegangen ist, ist von Anfang der Welt bis auf die gegenwärtige Zeit, indem die Pforten der Hölle sich vergeblich widersetzten, mächtig erfüllt und wird auch noch fortlaufend erfüllt, und zwar so, dass die Erwählten zu seiner Zeit zu einer Vereinigung versammelt werden sollen und dass immer eine Kirche der Gläubigen auf das Blut Christi gegründet ist, welche jenen ihren Heiland, der für sie, gleich wie ein Bräutigam für die Braut, sein Leben am Kreuz hingab, beständig liebt, fortwährend verehrt und hier und in alle Ewigkeit preist

„Dordrechter Lehrregel” (1619), Erstes Lehrstück, Artikel 9. Zitiert nach der übersetzten Ausgabe der Selbständigen Evangelisch-Reformierten Kirche: Bekenntnisbuch (Heidelberg, 2010), S. 229. Farbmarkierung hinzugefügt.

Der Apostel Paulus liefert am Ende seiner sorgfältigen Darlegung des Evangeliums Gottes im Römerbrief einen wunderbaren Lobpreis (Doxologie) Gottes. Wir sehen daran, dass wahre Anbetung auf wahrer Heilslehre basiert. Hier wären also größte bibelgebundene Anstrengungen im Ergreifen, Verstehen und Verkündigen des Heils Vorbedingung und Basis wahrer Anbetung. Das sollte alle Erlösten des Herrn beständig motivieren, wahre „Theologie“ zu betreiben, die nicht Traditionen repliziert und verteidigt, sondern die Wahrheit des Wortes reden lässt.

O Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich sind seine Gerichte und unergründlich seine Wege! Denn wer hat den Sinn des Herrn erkannt, oder wer ist sein Mitberater gewesen? Oder wer hat ihm zuvor gegeben, und es wird ihm vergolten werden? Denn von ihm und durch ihn und für ihn sind alle Dinge; ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen.

Römer 11,33-36

Literaturhinweise

William H. Vail, The Five Points of Calvinism Historically Considered, (21. Juni 1913). In: The Outlook, Vol. CIV (May-August 1913), (New York: The Outlook Company), S. 394–395. [Quelle: babel.hathitrust.org; Backup]

Daniel Montgomery und Timothy Paul Jones: PROOF, (Zondervan, 2014, Kindle-Version), S. 210, Fn 22.

David Schrock: Definite Atonement at Dort and the Unity of the Trinity – Put Down TULIP and Pick Up the Canons of Dort, in: CREDO Magazine Vol. 9 (Sept. 2019), Issue 3 [https://credomag.com/article/definite-atonement-at-dort-and-the-unity-of-the-trinity/].

Ed Sanders: The Origin Of The Acronym TULIP – The Five Points Of Calvinism [https://theologue.files.wordpress.com/2014/08/originoftheacronym-tulip.pdf].

Peter Benyola: 400 years after Dort: Why does the human-centric view of salvation persist?Segment 3 | The Canons of Dort (08.09.2018) Copyright 2018, Benyola.net. All rights reserved. Used by permission [http://benyola.net/400-years-after-dort/4/].

Bekenntnisbuch – bestehend aus dem Heidelberger Katechismus, dem Niederländischen Glaubensbekenntnis sowie der Lehrregel von Dordrecht, Übersetzte Ausgabe der Selbständigen Evangelisch-Reformierten Kirche (Heidelberg, 2010) [http://www.serk-heidelberg.de/wp-content/uploads/2010/08/Bekenntnisbuch.pdf].

Loraine Boettner: The Five Points of Calvinism, in: The Reformed Doctrine of Predestination (1932, 13th Printing, Phillipsburg, NJ: Presbyterian and Reformed Publishing Company, 1989), S. 59–201. (eBook: Grand Rapids, MI: Christian Classics Ethereal Library).

James Montgomery Boice und Philip Graham Ryken, The Doctrines of Grace. Wheaton, IL: Crossway, 2002. Deutsch: James Montgomery Boice und Philip Graham Ryken, Die Lehren der Gnade. Oerlinghausen: Betanien, 2009. – Die Autoren beschreiben kurz „Die fünf Punkte des Arminianismus” (a.a.O., 2009, S. 24ff) sowie ebenso kurz (a.a.O., 2009, S. 30ff) und dann ausführlich „Die fünf Punkte des Calvinismus” (a.a.O., 2002, S.67–176 ; a.a.O., 2009, S. 71–197).

William D. Barrick, The Extent of the Perfect Sacrifice of Christ. Sun Valley, CA: GBI Publishing, 2002.

Joel R. Beeke: Living for God’s Glory: An Introduction to Calvinism. Lake Mary, FL: Ligonier Ministries (Reformation Trust), 2008.