Woher habe ich mein Gottesbild?

Wir sollen uns nicht in den Sinn kommen lassen, Gott irgendwo anders zu suchen als nur in seinem heiligen Wort oder über ihn etwas zu denken als allein unter Leitung seines Wortes oder etwas zu reden als allein das, was aus seinem Wort kommt.

Johannes Calvin (1509–1564), Institutio Christianae Religionis, Bd. I, 13, 21
Titelseite der letzten Ausgabe der Institutio von 1559 (gemeinfrei)

Eine schwierige Lehre – Erwählung und Vorherbestimmung

Benedikt Peters hat sich in Vorträgen, Schulungen und Schriften über die biblische Heilslehre vielfach und stets mit Ringen um die biblische Wahrheit bewährt.

In einer Stellungnahme der BEG Hannover zum Thema „Erwählung und Vorherbestimmung“ wird eine Ausarbeitung von Peters (2003) verwendet. Diese ist biblisch fundiert und wohltuend bloß polemischer Seitenhiebe oder parteigeistlicher Angriffe. Wir empfehlen sie daher mit Verweis auf 1. Thessalonicher 5,21 und Apostelgeschichte 17,11. Der Aufbau der Ausarbeitung ist wie folgt:

  1. Eine schwierige Lehre
  2. Eine Übersicht über Gottes ewigen Heilsrat
  3. Was bedeuten die Begriffe „Auserwählung“ und „Vorherbestimmung“ und „Vorkenntnis“?

Link zum Gesamtdokument (PDF): Benedikt Peters: Erwählung und Vorherbestimmung, 2003. (Backup)

Zum Autor: Benedikt Peters, Lic. phil., Ph.D. (*1950, Arbon, CH) hat an der Universität Zürich Griechisch, Hebräisch sowie allgemeine Linguistik studiert. Er ist Ältester einer Gemeinde in Arbon (CH) und übt eine vollzeitliche Lehrtätigkeit in Gemeinden verschiedener europäischer Länder aus. Er ist Vizepräsident des Bibelbundes der Schweiz, Autor zahlreicher theologischer Bücher und unterrichtet am EBTC Zürich u. a. Bibelkunde und Systematische Theologie. Benedikt ist verheiratet und hat vier Kinder.

Für die Wahrheit Gottes einstehen

Ein Hund bellt, sobald er seinen Herrn angegriffen sieht. Ich wäre wohl lasch, wenn ich angesichts eines Angriffs gegen die Wahrheit Gottes verstummen würde, ohne etwas verlauten zu lassen.

Johannes Calvin (1509–1564), Brief an Königin Margarete von Navarra, 28. April 1545.

Geliebte, während ich allen Fleiß anwandte, euch über unser gemeinsames Heil zu schreiben, war ich genötigt, euch zu schreiben und zu ermahnen, für den einmal den Heiligen überlieferten Glauben zu kämpfen.

Die Bibel, Judasbrief 1,3 (ELBCSV)

Was ist der zentrale Gedanke des Calvinismus?

Diese Frage haben sich manche gestellt: Calvinisten, Anti-Calvinisten, interessierte Dogmatiker, Historiker und Philosophen. Sie haben teilweise Antworten erarbeitet oder zumindest Vermutungen geäußert. Da diese Antworten nicht übereinstimmen, muss es richtige und falsche Antworten geben. Hier zwei Stimmen aus dem Insider-Bereich.

H. Henry Meeter (1886–1963)

»Jemand bemerkte einmal: „So wie der Methodist die Errettung der Sünder, der Baptist das Geheimnis der Wiedergeburt, der Lutheraner die Rechtfertigung durch den Glauben, der Herrnhuter die Wunden Christi, der griechisch Orthodoxe das Mysterium des Heiligen Geistes und der Katholik die Universalität der katholischen Kirchen hervorhebt, in der Weise betont der Calvinist die Glaubenslehre über Gott.“ [Pressly, Mason W., Calvinism and Science, Article in Ev. Repertoire, 1891, S. 662.]

Der Calvinist beginnt nicht mit irgend einem Anliegen des Menschen, wie zum Beispiel seine Errettung oder Rechtfertigung, sondern richtet immer seine Gedanken wie folgt: Wie kommt Gott zu seiner Ehre! Er versucht also folgendes biblisches Prinzip zu verwirklichen: „Von ihm, und durch ihn und für ihn sind alle Dinge. Ihm sei Ehre ewiglich“ [Römer 11,36]«

H. Henry Meeter, The Fundamental Principle of Calvinism. Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans, 1930. (Vgl. dergl., The Basic Ideas of Calvinism. 6th Ed., Baker, 1990). Textquelle deutsch online: http://www.calvinismus.ch/calvinismus/ [12.08.2020]

Der zentrale Gedanke, das Grundmotiv, des Calvinismus ist also nach Meeter ein hohes Gottesbild, wie es sich in der Offenbarung Gottes in Seinem Wort darstellt.

Benjamin B. Warfield (1851–1921)

»From these things shine out upon us the formative principle of Calvinism. The Calvinist is the man who sees God behind all phenomena and in all that occurs recognizes the hand of God, working out His will; who makes the attitude of the soul to God in prayer its permanent attitude in all its life-activities; and who casts himself on the grace of God alone, excluding every trace of dependence on self from the whole work of his salvation.«

»The Calvinist is the man who has seen God, and who, having seen God in His glory, is filled on the one hand with a sense of his own unworthiness to stand in God’s sight as a creature, and much more as a sinner, and on the other with adoring wonder that nevertheless this God is a God Who receives sinners

Warfield, B. B, Calvin as a Theologian and Calvinism Today, (Philadelphia: Presbyterian Board of Publication, 1909), S. 23–24. Drei empfehlenswerte Vorträge/Papers darüber, wie ein herausragender „Calvinist“ die Theologie Calvins und den „Calvinismus“ seiner Tage sah und auf das Wesentliche konzentriert beschrieb. Textquelle online: https://thirdmill.org/magazine/article.asp/link/https:%5E%5Ethirdmill.org%5Earticles%5Ebb_warfield%5EWarfield.Calvin.html/at/Calvin%20as%20a%20Theologian%20and%20Calvinism%20Today

Der zentrale Gedanke, das Grundprinzip, des Calvinismus ist nach Warfield ein hohes Gottesbild. Der „Calvinist“ sieht Gott in seiner Herrlichkeit, nimmt in diesem Licht die eigene Unwürdigkeit wahr und kann nicht aufhören, darüber zu staunen, dass Gott Sünder rettet.

Lesestoff

  • The Fundamental Principle of Calvinism – Calvinism a Unified, All-comprehensive System of Thought. Textquelle: https://www.the-highway.com/Calvinism_Meeter.html
  • Coletto, Renato: The central principle of Calvinism? Some criteria, proposals and questions. In: In die Skriflig 49(1), Art. #1969, 8 pages. http://dx.doi. org/10.4102/ids.v49i1.1969 (Textquelle: http://www.scielo.org.za/pdf/ids/v49n1/51.pdf)
  • Warfield, Benjamin B.: Calvin as a Theologian and Calvinism Today. Philadelphia: Presbyterian Board of Publication, 1909.

Unterscheide zwischen allgemeiner Sühnung und persönlicher Stellvertretung!

Der Apostel Paulus schreibt an seinen Mitarbeiter Timotheus:

Denn Gott ist einer, und einer ist Mittler zwischen Gott und Menschen, [der] Mensch Christus Jesus, der sich selbst gab als Lösegeld für alle

1. Timotheus 2,5-6 (ELBCSV). Fettdruck hinzugefügt.

Wenn Christus das Lösegeld für alle gegeben hat, sind dann nicht alle Menschen erlöst? Es heißt doch direkt zuvor, wenn auch etwas erstaunlich formuliert (keine Tat Gottes, nur eine Willensbekundung; keine aktive, sondern passive Sprache: „errettet werden“ usw.):

Denn dies ist gut und angenehm vor unserem Heiland-Gott, der will, dass alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.

1. Timotheus 2,3-4 (ELBCSV). Fettdruck hinzugefügt.

Warum reden aber sowohl Jesus Christus als auch Seine Apostel davon, dass viele den Weg ins Verderben gehen und nicht alle Teil an der Errettung haben? Wir gehen davon aus, dass die Heilige Schrift widerspruchsfrei ist. Also müssen wir anfangen, in den Linien der Bibel nachzudenken.

Inwieweit wirkt das Sühnungswerk Christi am Kreuz mit Blick auf alle Menschen, und inwieweit wirkt es effektiv nur auf einen begrenzten Kreis von Menschen?

Hier unterscheiden sich katholische und protestantische Ansichten und Lehrmeinungen. Im reformatorischen Bereich herrschen ebenfalls sehr unterschiedliche Lehrmeinungen vor.

Ein Teil dieser Missverständnisse und resultierenden Widersprüche beruhen auf einem unvollkommenen Verständnis dessen, was am Kreuz passiert ist. Gott hat über Jahrtausende hinweg in Typen und Verordnungen vorbereitet, das Werk Christi in seiner Vielfalt und Fülle verstehen zu können. Im Alten Bund feierte Israel unterschiedliche Feste, die alle mit Opfern verbunden waren. Eine Handvoll unterschiedlicher Opfer waren zudem verordnet worden, mit denen man der Frage der Sünde, aber auch der Verehrung Gottes, gottgefällig nachkommen konnte.

Ein jährliches Fest sticht besonders heraus: der Große Sühnungstag (auch Großer Versöhnungstag oder Yom Hakippurim genannt). Es wird in 3. Mose 16 beschrieben. An diesem Tag opferte der Hohepriester des Volkes stellvertretend für das ganze Volk ein Doppelopfer zweier Ziegenböcke.

Der erste Bock, „für JHWH“ (den Ewigen), wird durch Los ermittelt. Er wird als Opfer getötet, sein Blut wird in das Allerheiligste des Tabernakels (Tempels) vor Gott gebracht und auf den „Sühndeckel“ der Bundeslade gesprengt. In der Bundeslade lagen die beiden Gesetzestafeln, das Zehnwort (Dekalog), welche Gottes heilige Ansprüche an das Volk formulierten. Gott thronte auf dieser Bundeslade. Beim Blick in Richtung der Gesetzestafeln sah Gott das Blut, es „sprach“ also in Gottes Gegenwart vom gebrachten Opfer, vom gestorbenen Stellvertreter. Dieser Teil des Rituals wurde durchgeführt, ohne dass von spezifischen Sünden des Volkes die Rede war, oder solche dem Bock durch Handauflegung übertragen worden waren. Es ging erst einmal darum, dass Gott durch den Tod (des Stellvertreters) befriedigt und geehrt wurde: seine Heiligkeit -und mithin sein Zorn über die Sünde- wurden plakativ demonstriert und durch Tod des Sünders (oder seines stellvertretenden Opfers) bedeckt.

Der zweite Bock, Asasel (hebr. für „Abwendung“), wird nicht getötet. Auf sein Haupt bekennt der Hohepriester die Sünden des Volkes. Anschließend wird der Bock in die Wüste gejagt an einen Ort, von wo er nicht mehr zurückfindet ins Lager des Volkes. Das Sinnbild ist klar: Die Sündenmenge wird durch das stellvertretende Opfer aus der Mitte des Volkes weggenommen. Das erinnert an Psalm 103,12: »so weit der Osten ist vom Westen, hat er von uns entfernt unsere Übertretungen«, den Propheten Micha 7,19: »du wirst alle ihre Sünden in die Tiefen des Meeres werfen« oder Jeremia 31,34: »Denn ich werde ihre Schuld vergeben und ihrer Sünde nicht mehr gedenken« mit den neutestamentlichen Zitaten in Hebräer: »Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken.« (8,12, vgl. 10,17). Das Ziel der Sühnung ist, dass die Sünden der Gesühnten nie mehr zum Trennungsgrund oder belastenden, bedrohlichen Gesprächsthema zwischen Gott und Mensch werden. Der gesühnte Mensch darf aufatmen und Frieden mit Gott erfahren.

Zwei Böcke – ein Opfer. Nun sind beide Böcke und die beiden Handlungen damit typologisch in dem einen Werk Christi vollkommen, effektiv und gleichzeitig realisiert worden. Trotzdem dienen diese beiden Böcke dazu, dass wir zwei Aspekte des einen Opfers Christi unterscheiden können.

Erster Bock. Christus starb also zuallererst, um die Sache der Beleidigung und Herausforderung der Heiligkeit und Majestät Gottes, wie sie durch die Sünde des Menschen geschieht, zu klären. Diese Klärung bedurfte des Todes, das Blut des Opfers musste vor Gott gebracht werden. Der Hebräerbrief liefert die verbindliche Interpretation dieses Typus auf Christus hin, er ist eine großartige Erklärung des „Großen Sühnungstages“:

Christus aber – gekommen als Hoherpriester der zukünftigen Güter, in Verbindung mit der größeren und vollkommeneren Hütte, die nicht mit Händen gemacht, das heißt nicht von dieser Schöpfung ist, auch nicht mit Blut von Böcken und Kälbern, sondern mit seinem eigenen Blut – ist ein für alle Mal in das Heiligtum eingegangen, als er eine ewige Erlösung erfunden hatte.

Hebräer 9,11-12 (ELBCSV). Fettdruck hinzugefügt.

Zweiter Bock. Nachdem diese Sache mit Gott geklärt worden war, also Gottes Heiligkeit demonstriert und sein Zorn bedeckt wurde, wendet sich das Opferritual auch den konkreten Menschen im Volk Gottes und deren Sünden zu. Das Problem der von Sünden belasteten Gewissen musste angesprochen werden. Und so wird nun im zweiten Bock erstmals die Frage der Sünde konkret angesprochen in Handauflegung und Bekenntnis. Das Bekenntnis leistet der Hohepriester stellvertretend und wirksam für die von ihm vertretenen Menschen des Volkes Gottes. Dann wird der Bock aus dem Mitte entfernt und so auch die auf ihn gelegten Sünden weggeschafft. Typologisch wurde damit vorgeschattet, dass das »Blut des Christus, der durch den ewigen Geist sich selbst ohne Flecken Gott geopfert hat, euer Gewissen […] von toten Werken, um dem lebendigen Gott zu dienen!« (Hebräer 9,14 ELBCSV) reinigt. Es entlastet und befreit zum Gottesdienst. Dass dieses an zweiter Stelle erst kommen kann, nachdem zuerst die Sache betreffs des heiligen Zornes Gottes geklärt wurde, ist einleuchtend für alle, die dem biblischen Evangelium glauben.

Ein paar hilfreiche theologische Begriffe

Der erste Bock, der für den HERRN, stellt den Aspekt der Sühnung in ihrem Gott zugewandten Aspekt dar (Fachwort: Propitiation). Hier geht es um Gottes Seite, dass Gott durch die Sünde des Menschen beleidigt wurde, dass diese Sünde eine generelle Barriere zwischen Gott und Mensch aufgebaut hat (vgl. Jesaja 59,2). Daher bedurfte es des einen Mittlers, von dem in 1. Timotheus 2,5 die Rede ist. Sühnung bedeckt also den gerechten Zorn Gottes gegenüber dem rebellischen, sündigen Menschen mit dem Blut (als Beweis des Todes) des Opfers. Aufgrund dessen kann Gott nun in Retterliebe in Christus dem Menschen nahen und ihm im Evangelium ein Friedens- und Versöhnungsangebot in Christus machen (Gott verlangt allerdings die bedingungslose Kapitulation!):

So sind wir nun Gesandte für Christus, als ob Gott durch uns ermahnte; wir bitten an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!

2. Korinther 5,20 (ELBCSV) – Auf den Unterschied zwischen Sühnung und Versöhnung gehen wir hier nicht ein.

Durch den zweiten Bock, den der Abwendung, und das Ritual damit, wird uns vermittelt, dass die Heiligkeit Gottes als gerechte Strafe verlangt, dass jeder Sünder für seine persönlichen Sünden den ewigen Tod im Gericht Gottes erleiden muss. Für den an Christus Glaubenden rechnet Gott jedoch gnädig den Tod Seines Sohnes an. In diesem Fall übernimmt Christus die Sünden dieser/s Glaubenden und stirbt stellvertretend für sie/ihn (strafrechtliche Stellvertretung; engl. penal substitution). Dies ist der dem glaubenden Menschen zugewandte Aspekt der Sühnung (Fachwort: Expiation). Stellvertretung ist eine An-Stelle-von-Beziehung: Einer tritt aus Liebe an die Stelle eines anderen (Galater 2,20) oder einer definierten Gruppe („Gemeinde“, Epheser 5,25). Diese Stellvertretung durch Christus wird im Neuen Testament stets nur zugunsten der Glaubenden gelehrt. Die Ansicht (z. B. des neo-orthodoxen Theologen Karl Barth), dass Christus als Repräsentant und damit auch als Stellvertreter der gesamten Menschheit im Gericht Gottes am Kreuz gewesen sei, ist falsch, sie führt unausweichlich zur Irrlehre der Allversöhnung (Universalismus).

Gottgewandte Sühnung und menschgewandte Sühnung, Genugtuung und Stellvertretung, Propitiation und Expiation, sind also zwei gut zu unterscheidende Begriffe und Sachverhalte im Opfer des Großen Sühnungstages, auch wenn beides in dem einen Opfer Jesu am Kreuz zu sehen und insofern zusammenzuhalten ist.

Damit wird auch deutlich, dass es stets eine korporative Seite und eine persönliche Seite des Opferwerkes Jesu gibt. Jesus starb sühnend mit Blick auf die ganze Welt, aber er starb stellvertretend effektiv (nur) für einzelne Menschen. Betont oder sieht man nur eine Seite, wird man einseitig:

  • Menschen, die von arminianischer Theologie beeinflusst sind, neigen dazu, nur die allgemeine Seite des Sühnungsopfers Jesu zu sehen, welche mit Blick auf alle Menschen geschehen ist.
  • Menschen, die von calvinistischer Theologie beeinflusst sind, neigen dazu, nur die stellvertretende Seite des Sühnungsopfers Jesu zu sehen, welche eben nicht alle Menschen umfasst, sondern nur die zum Heil göttlich Erwählten.

Die beiden Haupttheologen der „Brüderbewegung“, John N. Darby und William Kelly, haben im 19. Jahrhundert hierzu Hilfreiches geschrieben. Hier ein Exzerpt von Darby:

Die Arminianer sehen in dem Tod Christi nichts weiter als ein Opfer für alle und verbinden damit gewöhnlich auf allgemeine Weise das Tragen der Sünden. Dadurch wird alles unklar in Bezug darauf, dass Christus die Sünden des Einzelnen wirklich und vollgültig getragen oder ein besonderes Werk für die Seinigen getan hat. Sie sagen, dass, wenn Gott alle liebte, Er nicht einige insbesondere lieben konnte. Die Errettung wird somit unsicher gemacht und der Mensch nicht selten erhoben, während die Lehre des Vorbildes, die wir in dem Bock der Abwendung haben, gänzlich außer Acht gelassen wird.

Die Calvinisten dagegen halten fest daran, dass Christus die Sünden der Seinigen getragen habe und ihre Errettung somit ganz gewiss sei. Sie bleiben aber bei dem Schluss stehen, dass, wenn Er die Versammlung geliebt und sich selbst für sie hingegeben habe, seine Liebe außer ihr keinen anderen Gegenstand gehabt haben könne. Sie übersehen den unverkennbaren Charakter der Sühnung, sein Sterben für alle und alles. Sie sehen nur die Stellvertretung und berücksichtigen nicht die Bedeutung des Blutes auf dem Gnadenstuhl [d. h. des Blutes des Bockes für den Herrn].

Genau genommen lesen wir von Christus nie, dass Er die Welt, sondern dass Er die Versammlung geliebt hat, und zwar mit der Liebe eines besonderen Verhältnisses (Eph 5). Von Gott dagegen heißt es nie, dass Er die Versammlung, sondern dass Er die Welt geliebt hat (Joh 3,16), was seiner göttlichen Güte entsprach, seiner göttlichen Natur angemessen war; sein Ratschluss aber ist etwas anderes. Seine Herrlichkeit ist das Endziel von allem.

Ohne mich aber dabei aufzuhalten, möchte ich nur darauf hinweisen, welch eine Verwirrung unklare Begriffe über Sühnung und Stellvertretung in der Verkündigung des Evangeliums hervorbringen müssen, indem sie den Ruf an die Welt schwächen oder die Sicherheit des Gläubigen zweifelhaft erscheinen lassen und der Verkündigung der Wahrheit im Allgemeinen Sicherheit und Bestimmtheit rauben.

John N. Darby: Die zwei Seiten der Sühnung. Eigentlich: Sühnung und Stellvertretung. In: Halte fest, Jg. 28 (1985), S. 285ff. Deutsche Textquelle online: https://www.soundwords.de/a956.html [11.08.2020] – Was Darby damals als „Calvinisten“ bezeichnete, würde man heute differenzierter dem Hyper-Calvinismus zuordnen.

Leseempfehlungen

Eine gute Einführung und Erklärung der Rituale und Opfer am „Großen Sühnungstag“ und ihre Erfüllung im Opfer Jesu Christi liefern Bruno Oberhänsli und Willem Ouweneel. Als Angehörige der englischen „Brüderbewegung“ folgen sie im wesentlichen deren Haupttheologen John N. Darby und William Kelly.

John N. Darby über die „Arminianer“

Der anglo-irische Bibellehrer John N. Darby (1800–1882), einer der einflussreichsten Theologen der frühen „Brüderbewegung“ (sog. „Plymouth Brethren“), hatte in seiner Zeit wiederholt mit Vertretern der Denkschule der „Arminianer“ zu tun. Vor allem in der uralten Diskussion über den „freien Willen“ und die Aneignung des ewigen Heils gab es zahlreiche Auseinandersetzungen, die größtenteils in seinen Collected Writings und seinen Letters erhalten geblieben sind.

Am 9. Mai 1879 schrieb Darby aus Pau einen Brief in italienischer Sprache an G. Biava, der einen Artikel über den „freien Willen“ verfasst und wohl Darby zur Beurteilung vorgelegt hatte. Darbys Antwort ist in den Letters in englischer Sprache erhalten geblieben. Hier einige Auszüge:

DEAR BROTHER, – I am much pleased with the article on free will; I do not find that there is much to add to it. All depends on the depth of the conviction that we have of our sinful condition; and security and joy depend on it likewise. Lost and saved answer the one to the other: our condition in the old man, and our condition in Christ. But in the reasoning of Arminians there is a totally false principle, namely that our responsibility depends on our power. If I have lent £100,000 to any one, and he has squandered it all, certainly he is not able to pay, but has his responsibility come to an end with his ability? Certainly not. Responsibility depends on the right of the person who has lent it to him, not on the ability of the one who has wrongfully wasted the money.

All men have a conscience, the knowledge of good and evil, since the fall; they know how to distinguish, but that says nothing as to the will; so that since the law demands obedience, and the flesh cannot be subject, to receive the law is in fact an impossibility – not that God hinders him, as I have already said, but because man does not wish it. Further, the law forbids lust, but fallen man has lust in his flesh; and it is in this way that the apostle knew sin. Man must lose his nature before being disposed to obey the law: it is therefore necessary to be born again. Now man cannot give himself divine and eternal life. Why then the law? In order that the offence might abound; by the law sin becomes „exceeding sinful“; „the law works“ the righteous „wrath“ of God against us – not the fear of God in us; it does not give a new life, and that which we have is enmity against God. Man in the flesh cannot receive the law into his heart. …

Can the flesh receive Christ – find its pleasure in the Son of God? Then it is no longer the flesh; it has the mind of the Father Himself. If there is anything there but the flesh, then the man is already born of God, since that which is born of the flesh is flesh. If the flesh can find its pleasure in Christ, the flesh possesses the most excellent thing that is to be found, not only upon earth, but in heaven itself; it finds its pleasure where the Father finds His: it would not be necessary to be born of God; the most excellent thing that he possesses now, through grace, as a Christian, he possessed already before receiving life, in receiving Christ. The certainty of salvation is gone at the same time: if salvation is the fruit of my own will, it depends upon it; if it can be thus easily produced, it cannot be said, „Because I live, ye shall live also.“ …

It is said that faith is but the hand that receives salvation, but what disposes us to offer the hand? It is the grace that works in us.

John N. Darby, Letters, Vol. 2 (1868–1879), Nachdr., Kingston-on-Thames: Stow Hill Bible and Tract Depot, o. J., S. 501–503. Fett- und Farbdruck hinzugefügt. 
Textquelle online auch hier: https://www.stempublishing.com/authors/darby/letters/52346I.html

John N. Darby und der 17. Artikel der Anglikanischen Kirche

Der anglo-irische Bibellehrer John N. Darby (1800–1882) war zweifellos einer der einflussreichsten Denker und Theologen der frühen „Brüderbewegung“ („Plymouth Brethren“). Er verbreitete sein Gedankengut durch extensives Schreiben und Reisen in aller Welt. Seine Liebe für das Wort Gottes führte dazu, dass er an mindestens drei Bibelübersetzungen aus den hebräischen und griechischen Grundtexten maßgeblich beteiligt war: der englischen Darby-Bibel, der französischen Pau-Bibel und der deutschen Elberfelder Bibel.

Darby gehörte der Church of Ireland an, wo er 1825 als Diakon und später als Priester ordiniert wurde. Hunderte von Römisch-katholischen Kirchengliedern verließen ihre Kirche, glaubten an das biblische Evangelium und schlossen sich der Church of Ireland an. Wenige Jahre später (um 1831) verließ Darby Dienst und dann Kirche, weil der anglikanische Erzbischof in Dublin verlangte, dass Neubekehrte Georg IV. als rechtmäßigem König Irlands die Treue zu schwören hätten.

Es gab also für Darby genügend Gründe, in große Distanz zur anglikanischen Kirche zu gehen. Aber er verwarf nicht aus sektiererischen Erwägungen heraus jene Lehren der Anglikanischen Kirche, die er gut in Gottes Wort gegründet sah. Dies wird deutlich in seinem Urteil über den Artikel XVII der 39 Glaubensartikel der Anglikanischen Kirche, der kritische Punkte der Heilslehre, nämlich die Vorherbestimmung und die Erwählung, behandelt. Er lautet:

»17. Von der Vorherbestimmung und Erwählung

Die Vorherbestimmung zum Leben ist der ewige Vorsatz Gottes, wodurch er (vor Grundlegung der Welt) nach seinem uns verborgenen Ratschluss fest beschlossen hat, diejenigen, welche er aus dem Menschengeschlecht in Christus erwählt hat, vom Fluch und der Verdammnis zu erretten und sie als Gefäße der Ehre durch Christus zur ewigen Seligkeit zu bringen. Darum werden diejenigen, welche mit solch einem herrlichen Vorzug Gottes beschenkt worden sind, durch seinen Geist, der zur rechten Zeit wirkt, nach Gottes Vorsatz berufen. Durch die Gnade gehorchen sie der Berufung. Sie werden aus freier Gnade gerechtfertigt. Sie werden als Söhne Gottes an Kindesstatt angenommen. Sie werden dem Bilde seines eingeborenen Sohnes Jesus Christus gleich gestaltet. Sie wandeln heilig in guten Werken und gelangen endlich durch Gottes Barmherzigkeit zur ewigen Seligkeit.

Die gottgemäße Beachtung der Vorherbestimmung und unsere Erwählung in Christus ist voll lieblichen, angenehmen und unaussprechlichen Trostes für gottesfürchtige Menschen und für diejenigen, die in sich die Kraft des Geistes Christi verspüren. Bei ihnen werden die Handlungen des Fleisches und ihre irdischen Glieder getötet und ihr Gemüt zu himmlischen und hohen Dingen emporgehoben. Teilweise festigt und stärkt dies sehr ihren Glauben an die ewige Seligkeit, der sie sich durch Christus erfreuen, teilweise entzündet dies heftig ihre Liebe zu Gott. Doch führt auf der andern Seite die dauernde Beachtung der Vorherbestimmungslehre neugierige, fleischliche und des Geistes Christi ermangelnde Menschen zu einem sehr gefährlicher Absturz. Durch diesen stößt sie dann der Teufel entweder in große Verzweifung oder in die nicht weniger große Gefahr eines höchst unmoralischen Lebens hinein.

Weiter müssen wir die göttlichen Verheißungen so annehmen, wie sie uns in der Heiligen Schrift im allgemeinen dargestellt sind; und in unseren Handlungen muß jener Wille Gottes befolgt werden, der uns ausdrücklich im Worte Gottes offenbart wurde

»PREDESTINATION to life is the everlasting purpose of God, whereby, before the foundations of the world were laid, He hath constantly decreed by His counsel secret to us, to deliver from curse and damnation those whom He hath chosen in Christ out of mankind, and to bring them by Christ to everlasting salvation as vessels made to honour. Wherefore they which be endued with so excellent a benefit of God be called according to God’s purpose by His Spirit working in due season; they through grace obey the calling; they be justified freely; they be made sons of God by adoption; they be made like the image of His only-begotten Son Jesus Christ; they walk religiously in good works; and at length by God’s mercy they attain to everlasting felicity.
As the godly consideration of Predestination and our Election in Christ is full of sweet, pleasant, and unspeakable comfort to godly persons and such as feeling in themselves the working of the Spirit of Christ, mortifying the works of the flesh and their earthly members and drawing up their mind to high and heavenly things, as well because it doth greatly establish and confirm their faith of eternal salvation to be enjoyed through Christ, as because it doth fervently kindle their love towards God: so for curious and carnal persons, lacking the Spirit of Christ, to have continually before their eyes the sentence of God’s Predestination is a most dangerous downfall, whereby the devil doth thrust them either into desperation or into wretchlessness of most unclean living no less perilous than desperation.
Furthermore, we must receive God’s promises in such wise as they be generally set forth in Holy Scripture; and in our doings that will of God is to be followed which we have expressly declared unto us in the word of God.«

Deutsche (übersetzte) Textquelle: http://www.rekd.de/index.php?id=10#9-18 [11.08.2020] Farb- und Fettdruck hinzugefügt. »Die ursprüngliche Version der 39 Artikel wurde in lateinischer Sprache verfaßt und 1563 vom englischen Unterhaus angenommen. Erst 1571 wurden dann endlich die 39 Artikel von Elisabeth I. [unter der England endgültig protestantisch geworden war] als verbindlich in englischer Sprache für die Gesamtkirche eingeführt. … Die 39 „Artikel der Religion“ von 1562 sind das bis heute gültige offizielle Lehrbekenntnis der Kirche von England.«

Darby bezeugte bereits 1831 seine völlige Übereinstimmung mit den Inhalten des 17. Artikels in einem Pamphlet, das in Oxford herausgegeben wurde. In seinen Writings kann man lesen:

For my own part, I soberly think Article XVII. to be as wise, perhaps I might say the wisest and best condensed human statement of the views it contains that I am acquainted with. I am fully content to take it in its literal and grammatical sense.

I believe that predestination to life is the eternal purpose of God, by which, before the foundations of the world were laid, He firmly decreed, by His counsel secret to us, to deliver from curse and damnation those whom He hath chosen in Christ out of the human race, and to bring them, through Christ, as vessels made to honor, to eternal salvation. I believe therefore that those who are endued with so excellent a gift of God, are called according to His purpose working in due time; that they obey the calling through grace; that they are freely justified; that they are adopted to be children of God; that they are made conformed to the image of His only begotten Son Jesus Christ; that they do walk holily in good works; and that at length, through the mercy of God, they do attain to everlasting felicity.

John N. Darby, The Collected Writings, Bd. 3: Doctrinal, Vol. 1, (London: G. Morrish), S. 4–5. Fettdruck hinzugefügt, kursiv im Original.

Manche deuten diese Zustimmung seiner zeitlichen Nähe zum Dienst in der Anglikanischen Kirche geschuldet und insofern als unreif. Dem ist aber nachweislich nicht so, denn er schreibt fast 50 Jahre später und nahe dem Ende seines Lebens in zwei Briefen des Jahres 1880:

As to Article XVII., I quite admit that God’s predestination is secret to us, but the seventeenth Article is not: it is very plain, and I think very good. …
the seventeenth Article … is really a very wise statement as I remember it …

John N. Darby, Letters, Vol. 3 (1879–1882), Nachdr., Kingston-on-Thames: Stow Hill Bible and Tract Depot, o. J., S. 70, 71. Erster Brief vom 23.03.1880, zweiter an den selben Empfänger mit 1880 datiert. Fettdruck hinzugefügt.

Die spätere Entwicklung der Soteriologie großer Teile der „Plymouth Brethren“ zu eher arminianischem Denken ist, wie Stevenson in seiner Dissertation gründlich untersucht und ausführlich belegt hat, ein Verlassen der eigenen theologischen Wurzeln. Mit Anleihe bei Charles H. Spurgeon könnte man analog von einem „Downgrade“ sprechen. Die Gottzentriertheit des biblischen Evangeliums wurde und wird zeitgeistig beeinflusst immer mehr von der egozentrischen Denkweise verdrängt. Dies ist besonders in den „offenen“ Splittergruppen der „Brüderbewegung“ und bei Evangelisten der Bewegung zu beobachten. Der amerikanische Pragmatismus und Glaube an das Menschenmögliche fügt diesem Trend hier und da mit seiner Methodengläubigkeit besondere Duftnoten bei.

Weitere Literatur über und von John N. Darby

  • John Nelson Darby schrieb am 17.04.1872 in einem Brief aus Paris etwas ausführlicher über den „freien Willen“ des Menschen, siehe: Collected Writings of John Nelson Darby, Letters Bd. II, S. 164 ff.; verdeutscht hier.
  • Weremchuk, Max S.: John Nelson Darby. Loizeaux Brothers, 1993. (ISBN 978-0872139237)
  • Kelly, William: John Nelson Darby – as I Knew Him. Belfast, Northern Ireland: Words of Truth)
  • Cross, Edwin N.: Unknown and Well Known: A Biography of John Nelson Darby. London: Chapter Two, 2006. (ISBN 978-1853072307) – Eine Überarbeitung und Erweiterung des gleichnamigen Buches von W. G. Turner.
  • Internet Archive mit Titeln Darbys.
  • University of Manchester Special Collections (ELGAR) mit Papers of John Nelson Darby (1,85 Regalmeter).
  • Collected Writings of John Nelson Darby, 34 Bd., Hrsg. William Kelly, Dublin: G. Morrish, 1879–1883; sowie: Notes and Comments on Scripture (7 Bd.), Letters (3 Bd.), Notes and Jottings (1 Bd.), Spiritual Songs (1 Bd.), Full Indexes (1 Bd.) und Synopsis of the Books of the Bible (5 Bd.)
  • Mark R. Stevenson: The Doctrines of Grace in an Unexpected Place. Calvinistic Soteriology in Nineteenth-Century Brethren Thought. Eugene, OR: Wipf and Stock, 2007 (ISBN 978-1-4982-8111-9). Deutsch: Mark R. Stevenson: Die Brüder und die Lehren der Gnade. Wie stand die Brüderbewegung des 19. Jahrhunderts zur calvinistischen Heilslehre? Bielefeld: CLV, 2019.

Vom Wert und der Reichweite des Sühnungswerkes Christi am Kreuz

Arminianisch denkenden Menschen werfen den „Calvinisten“ oft vor, sie würden das Werk Jesu Christi am Kreuz unzulässig begrenzen und einengen. Dies entnehmen nicht wenige der unglücklichen Bezeichnung „begrenzte Sühnung“ (engl. limited atonement), die als Begriff eine geraume Zeit nach Calvin einem der sog. „Fünf Punkte des Calvinismus“ (den „Lehren der Gnade“ Gottes) zugeordnet wurde. Dieser Vorwurf beruht meistens auf einem Missverständnis, einer Nichtkenntnis oder einem willentlichen Verzerren dessen, was die Reformierten tatsächlich lehr(t)en. Einige verwenden daher lieber trefflichere Bezeichnungen wie „particular redemption“, „definite redemption“, „limited redemption“, „actual atonement“, „intentional atonement“ o. ä.

Angeblicher Höhepunkt des „Calvinismus“ war die Dordrechter Synode der reformierten Kirchen der Niederlande (1618–1619) gegen die „Remonstranten“ (die später oft nicht völlig richtig nach dem Amsterdamer Prediger Jakobus Arminius, späterem Professor in Leiden, „Arminianer“ genannt wurden). Die internationale Synode stellte die sog. „Lehrregeln von Dordrecht“ gegen die Falschlehren der Remonstranten auf. Man beachte, dass es um das zweite Lehrstück geht, nicht das dritte, was das noch später entstandene Akronym TULIP (L für limited atonement) falsch nahelegt:

»Zweites Lehrstück: Vom Tode Christi und der Erlösung der Menschen durch denselben

Artikel 3
Dieser Tod des Sohnes Gottes ist das einzige und vollkommenste Opfer und Genugtuung für die Sünden, unendlich an Kraft und Wert, überflüssig genügend, die Sünden der ganzen Welt zu sühnen.
Artikel 4
Deshalb ist dieser Tod von so großer Kraft und so großem Wert, weil die Person, welche ihn erlitt, nicht nur ein wahrer und vollkommen heiliger Mensch ist, sondern auch der eingeborene Sohn Gottes, desselben ewigen und unendlichen Wesens mit dem Vater und dem Heiligen Geist, wie unser Heiland sein musste. Sodann, weil sein Tod mit dem Gefühl des Zornes Gottes und des Fluches, den wir durch unsere Sünden verdient hatten, verbunden ist.
Artikel 5
Übrigens ist es die Verheißung des Evangeliums, dass wer an den gekreuzigten Christus glaubt, nicht verlorengeht, sondern das ewige Leben hat. Diese Verheißung muss allen Völkern und Menschen, zu denen Gott das Evangelium nach seinem Wohlgefallen sendet, gemeinschaftlich und ohne Unterschied verkündigt und vorgestellt werden mit dem Befehl zur Buße und zum Glauben.
Artikel 6
Dass aber viele, die durch das Evangelium berufen sind, nicht in sich gehen und nicht an Christus glauben, sondern durch Unglauben umkommen, das geschieht nicht, weil dem am Kreuz dargebrachten Opfer Christi etwas fehlt oder weil es nicht ausreicht, sondern durch ihre eigene Schuld.«

Die Dordrechter Lehrsätze. 400. Jubiläum der Dordrechter Synode (1618/1619), Reformations-Gesellschaft-Heidelberg e. V. (Hg.), 2019. Fett- und Farbdruck hinzugefügt.

Auswertung. Artikel 3 macht also völlig klar, dass Kraft und Wert des Opfers Christi als unendlich gesehen wird, insofern also nicht als begrenzt verstanden wird. Artikel 4 erklärt dann, dass dieser Wert in der Größe und dem Wert der Person begründet ist, die sich geopfert hat: der Mensch gewordene, heilige, eingeborene Sohn Gottes. Artikel 5 lehrt, dass die Verkündigung der Verheißung dieses Rettungswerks im Evangelium nicht begrenzt werden darf, sondern allen Völkern und Menschen verkündigt und vorgestellt werden muss. Auch hier ist keine Begrenzung, z. B. auf die Erwählten, zu lesen. Artikel 6 macht klar, dass der Unglaube und das Verlorengehen alleine die Schuld des Menschen ist, und niemals im Werk Christi (und irgendeiner Begrenzung dessen) zu finden ist.

Fazit. Die zitierte Lehrregel steht den Falschmeldungen etlicher Autoren und Redner der anti-calvinistischen Szene entlarvend entgegen: Es wird keine Begrenztheit im Wert des Sühnungswerks oder in der Verkündigung der Verheißungen des Evangeliums gelehrt. Auch die Schuldfrage und die Verantwortung des Menschen wird deutlich benannt. Dies entspricht dem klaren Zeugnis der Heiligen Schrift.

Einige beispielhafte Belege reformierter Schreiber

1. Der Reformator Johannes Calvin (1509–1564) – War er eigentlich ein „Calvinist“? – vertrat die alte Formel:

Christus passus est sufficienter pro omnibus, efficaciter [tantum] pro electis.
Deutsch.: „Christi Leiden ist ausreichend für alle, wirksam [nur] für die Erwählten.

Zitiert nach: Phillip Schaff, The Creeds of Christendom, Bd. 1, The History of The Creeds, S. 518. Auch Charles Hodge, Systematic Theology (1871; Nachdr., Grand Rapids, MI: Wm. B. Eerdmans, 1940), Bd. 2, S. 545–46, erwähnt dies als übliche Sicht der sog. Augustinianer. W.G.T. Shedd, Dogmatic Theology, erwähnt es ebenfalls. (Usw.)

Weitere Aussagen Calvins über das unbegrenzte Angebot des Opfers Christi finden sich z. B. in seinen teilweise überraschenden Kommentaren zu Johannes 3,16 und Römer 5,18 (s. u.).

2. Der nach Amerika ausgewanderte niederländische reformierte Theologe Rienk B. Kuiper (1886–1966) ist ein Beispiel dafür, dass „die Calvinisten“ eben nicht in jeder Hinsicht die Absichten und Wirkungen des Sühnungswerks Christi auf die Erwählten begrenzen. Er schrieb in seinem Buch For Whom Did Christ Die?:

»According to the Reformed faith the divine design of the atonement is in an important respect limited. But the Reformed faith also insists that in other respects it is universal. It can be shown without the slightest difficulty that certain benefits of the atonement, other than the salvation of individuals, are universal.
Therefore the statement, so often heard from Reformed pulpits, that Christ died only for the elect must be rated a careless one. To be sure, if by „for“ be meant in the place of, the statement is accurate enough … If, however, by „for“ be meant in behalf of, it is inaccurate, to say the least. Certain benefits of the atonement accrue to men generally, including the non-elect. Like all things that are, this is so by divine design.«

R. B. Kuiper, For Whom Did Christ Die?: A Study of the Divine Design of the Atonement (Wm. B. Eerdmans, 1959; Nachdr., Wipf and Stock, 2003), S. 78–79 (Kapitel 5 „Scriptural Universalism“). Fett- und Farbschrift hinzugefügt, Kursiv im Original.


3. Der amerikanische reformierte Theologe Loraine Boettner (1901–1990) schrieb 1932 in seinem Buch The Reformed Doctrine of Predestination, das aus seiner Masterarbeit (Th.M.) am Princeton Theological Seminary entstand, dass die Sühnung (Atonement) „streng genommen“ ein „unbegrenzter Vorgang“ ist, deren Anwendung jedoch (in Form der Erlösung, also der Vergebung der Sünden und Befreiung vom daraus entstandenen Fluch; Eph 1,7; Röm 3,24; Gal 3,13; 1.Pet 1,18–19 u. a.) begrenzt ist:

»The question which we are to discuss under the subject of „Limited Atonement“ is, Did Christ offer up Himself a sacrifice for the whole human race, for every individual without distinction or exception; or did His death have special reference to the elect? In other words, was the sacrifice of Christ merely intended to make the salvation of all men possible, or was it intended to render certain the salvation of those who had been given to Him by the Father? Arminians hold that Christ died for all men alike, while Calvinists hold that in the intention and secret plan of God Christ died for the elect only, and that His death had only an incidental [beiläufige] reference to others in so far as they are partakers of common grace. The meaning might be brought out more clearly if we used the phrase „Limited Redemption“ rather than „Limited Atonement.“ The Atonement is, of course, strictly an infinite transaction; the limitation comes in, theologically, in the application of the benefits of the atonement, that is in redemption. But since the phrase „Limited Atonement“ has become well established in theological usage and its meaning is well known we shall continue to use it.«

Loraine Boettner, The Reformed Doctrine Of Predestination, Thirtieth printing 1989 (Phillipsburg, NJ: Presbyterian and Reformed Publishing Company, 1932), S. 150 (Kapitel 12 „Limited Atonement“). Fett- und Farbschrift sowie Text in eckigen Klammern hinzugefügt.

Kommentar: Die vom reformierten Theologen Boettner getroffene Unterscheidung zwischen der universalen Sühnung und der definitiven, begrenzten Erlösung (o. Vergebung, Stellvertretung im Gericht usw.) bzgl. des Opfers Jesu haben etliche Autoren der „Plymouth Brüder“ (in D.: Elberfelder Brüderbewegung) früher exklusiv für sich reklamiert. Man bewertet dies heute als ihren kreativ-theologischen Beitrag zur Soteriologie (Heilslehre) des 19. Jahrhunderts (s. z. B. Mark R. Stevenson in The Doctrines of Grace in an Unexpected Place, 2017). Wenn allerdings heute immer noch behauptet wird (meist durch ungeprüftes und unreflektiertes Abschreiben aus alten Quellen, wie z. B. den Schriften der Cheftheologen der „Brüderbewegung“, John N. Darby und Wm. Kelly): »Während Calvinisten in der Sühnung häufig nur den Aspekt der Stellvertretung sehen…«, oder: »Die calvinistisch geprägte Vorstellung von Sühnung kennt die Seite der Genugtuung oder dass Gott im Hinblick auf die ganze Welt unbegrenzt zufriedengestellt wurde, nicht.« (Dirk Schürmann auf soundwords.de [2015, 2021]), irrt jedoch, wie oben gezeigt. Man sollte nicht Dinge behaupten oder gar bewerten, die man nicht studiert hat oder die völlig veraltet sind.

Eine unsaubere Terminologie der Heilsbegriffe stiftet zudem manches Missverständnis: Mal redet man von Sühnung, mal von Versöhnung, Erlösungswerk, Opfer Jesu, Vergebung, Errettung, Heil usw. Diese Begriffe bezeichnen jedoch zumeist unterschiedliche Aspekte des Werkes Jesu am Kreuz. Wenn die Begriffe aber nicht geklärt sind, ist das Gesagte (Geschriebene) oft nicht das Gemeinte und – fataler Weise – nicht das Verstandene. Beachtet werden muss auch, dass die Heilige Schrift diese Begriffe nicht immer gleichartig verwendet. Um den Sinn eines Begriffs an einer Stelle zu erfassen, muss vor allem der Kontext aufmerksam beachtet werden, reine „Wortstudien“ oder konkordante Vergleiche und Gleichsetzungen reichen nicht aus. Stevenson beobachtete auch bei dem erwähnten Theologen der frühen „Brüderbewegung“ (Plymouth Brethren), John N. Darby (1800–1882), dass dieser sein Verständnis in der Heilslehre schärfen und entsprechend Nuancen beachten musste. Stevenson sieht es daher als notwendig an, in der Soteriologie (Heilslehre) den „Calvinismus“ der „Brüder“ und vieler reformierter Theologen vom unbiblischen „Hyper-Calvinismus“ strikt zu trennen:

»As Darby’s views developed, his position on the atonement became more nuanced. He made a crucial distinction between propitiation and substitution. Propitiation is Godward and thus in the work of Christ there is ‘an adequate and available sacrifice for sin for whoever would come.’61 But Darby did not believe that Christ bore, as a substitute, the sins of all people. He wrote, ‘I can address all, and declare to them that this satisfaction [for sin] has been made… But I cannot say to all that Christ bore their sins, because the word does not say it anywhere. If He had borne their sins, they would certainly be justified.’62 Darby explained how this impacted his preaching, ‘I can say to all, that propitiation has been presented to God. They have but to look there, and going to God by that blood they will be received; they have nothing to wait for. They will not go unless the Father draw them, but this is a matter of sovereign grace, with which I have nothing to do in my preaching—in my teaching, yes, but not in my address to unconverted souls.’63 It is reasonable to conclude that Darby was a strict Calvinist who saw a particularity in the atonement but did not share the hyper-Calvinist refusal of a universal gospel offer.«

Mark R. Stevenson, „Early Brethren Leaders and the Question of Calvinism“, in: Brethren Historical Review 6:2–33 [2010]. – FN61: »[Darby], CW, 29, p.287.«; FN62: »[Darby], Letters, vol.1, p.98.«; FN63: »Ibid.«. Fett- und Farbdruck hinzugefügt. Link zu einem PDF-Exzerpt.

Weitere Untersuchungen

Eine weitere Untersuchung könnte sich der Frage widmen, inwiefern die Wirksamkeit und effektiven Anwendung der Sühnung begrenzt ist. Denn begrenzt ist sie, wenn wir den klaren Lehren Jesu und seiner Apostel folgend nicht an die Irrlehre der Allversöhnung (sog. Universalismus) glauben.

Die eher „calvinistische“ Deutung sieht das Sühnungswerk (Boettner folgend genauer gesagt: die Erlösung, also die Anwendung) Jesu in Zielsetzung und Absicht (engl. purpose) begrenzt, zumindest im Aspekt der persönlichen Stellvertretung im Gericht, die nur für die Erwählten stattfand und diese effektiv rettete. Dies ist auch die traditionelle Position der „Brüderbewegung“ (Plymouth Brethren, KLC Brethren), die allerdings immer mehr in Richtung arminianischer Falschlehren verlassen wurde und wird.

Die eher „arminianische“ Deutung hingegen begrenzt die Wirksamkeit des Sühnungswerkes Christi auch, aber nun vielmehr darin, dass dieses Sühnungswerk die Rettung von Menschen nur möglich mache („Die Tür aufstieß“, eine/n Chance/Weg eröffnete), aber die Rettung keines einzigen Menschen effektiv vollbrachte. Jeder sollte einmal die Heilige Schrift unter Gebet studieren, um zu verstehen, was Christus gemeint hatte, als Er am Kreuz ausrief: „Tetélestai! – Es ist vollbracht!“

Quellen

  • Die Dordrechter Lehrsätze. 400. Jubiläum der Dordrechter Synode (1618/1619), Reformations-Gesellschaft-Heidelberg e. V. (Hg.), 2019. Download: https://reformationsgesellschaft.de/wp-content/uploads/2018/05/2018-05-04-Dordrechter-Lehrsaetze-WEB.pdf [10.08.2020]
  • Calvin über Römer 5,18: https://www.ccel.org/c/calvin/comment3/comm_vol38/htm/ix.x.htm, http://www.calvinismus.ch/wp-content/uploads/roemer.html
    »Christi Gerechtigkeit und Gehorsam kam nicht seiner Person allein zugute, sondern greift weit darüber hinaus und macht die Gläubigen reich, welche sie zum Geschenk empfangen. Ein Gemeinbesitz für alle Menschen ist die Gnade nun deshalb, weil sie für alle öffentlich ausgeboten ward, nicht etwa weil alle sie wirklich hinnähmen. Christus hat zwar für die Sünden der ganzen Welt gelitten, und alle empfangen unterschiedslos das Angebot der Güte Gottes: aber nicht alle nehmen es an
  • Calvin über Johannes 3,16: https://www.ccel.org/c/calvin/comment3/comm_vol34/htm/ix.iii.htm
    »That whosoever believeth on him may not perish. It is a remarkable commendation of faith, that it frees us from everlasting destruction. For he intended expressly to state that, though we appear to have been born to death, undoubted deliverance is offered to us by the faith of Christ; and, therefore, that we ought not to fear death, which otherwise hangs over us. And he has employed the universal term whosoever, both to invite all indiscriminately to partake of life, and to cut off every excuse from unbelievers. Such is also the import of the term World, which he formerly used; for though nothing will be found in the world that is worthy of the favor of God, yet he shows himself to be reconciled to the whole world, when he invites all men without exception to the faith of Christ, which is nothing else than an entrance into life.«

Kopfglaube reicht nicht

Dann muss aber das, was der Verstand aufgenommen hat, auch in das Herz selbst überfließen. Denn Gottes Wort ist nicht schon dann im Glauben erfasst, wenn man es ganz oben im Hirn sich bewegen lässt, sondern erst dann, wenn es im innersten Herzen Wurzel geschlagen hat, um ein unbesiegliches Bollwerk zu werden, das alle Sturmwerkzeuge der Anfechtung aushalten und zurückwerfen kann!

Wenn es wahr ist, dass das wirkliche Begreifen unseres Verstandes die Erleuchtung durch Gottes Geist ist, so tritt Seine Kraft noch viel deutlicher in dieser Stärkung des Herzens in Erscheinung; die Vertrauenslosigkeit des Herzens ist ja auch soviel größer als die Blindheit des Verstandes, und es ist viel schwieriger, dem Herzen Gewißheit zu verleihen, als den Verstand mit Erkenntnis zu erfüllen. Deshalb ist der Heilige Geist wie ein Siegel: Er soll in unserem Herzen die gleichen Verheißungen versiegeln, deren Gewissheit Er zuvor unserem Verstande eingeprägt hat.

Johannes Calvin (1509–1564), Institutio Christianae Religionis, Bd. III, 2, 36