Was dem Psalter des AT für den Gläubigen heute mangelt

Der Psalter, das Fünfbuch der Psalmen, ist ein großartiges und wichtiges Element der Poesieliteratur des Alten Testaments (AT) und damit der gesamten Heiligen Schrift. »Die Psalmen entstanden als Antwort des Glaubens auf Gottes Reden zu seinem Volk«[1] zu Zeiten des AT. Als Teil der Heiligen Schrift ist der Psalter genauso Gottes fehlerfreies, autoritatives, weil inspiriertes, Wort, wie jeder Teil des Neuen Testaments (NT).

Der Zusammenhang zwischen AT und NT ist durch einige Aussagen der Schrift explizit gesichert (z. B. Römer 15,4), wird aber auch durch eine Großzahl von Zitaten des AT im NT exemplarisch realisiert.[2] Auch Jesus Christus und seine Apostel haben immer wieder das AT zitiert und zur Verbreitung des Evangeliums von Jesus Christus verwendet (s. z. B. Apostelgeschichte 2,14–36; 8,30–35; 17,11).

So werden auch viele Psalmen (z. T. mehrfach) im NT zitiert und gedeutet, ca. 50 Psalmen des Psalters werden im NT wörtlich oder in Anspielung verwendet. Der Psalter ist damit das im NT am häufigsten zitierte Buch des AT. Eine Untersuchung jener Stellen zeigt, dass im Psalter zeitlose Grundwahrheiten stehen und dass der Psalter viele prophetische Aussagen enthält, insbesondere über Christus (den Messias) und die Zukunft Israels. Der Gläubige des NT findet im Psalter Wichtiges über Christus und Nützliches, das ihn belehrt, überführt, zurechtweist und unterweist (2. Timotheus 3,16; Johannes 6,39f).

Allerdings gehört zur richtigen Auslegung dieser Psalmtexte das Bewusstsein, dass die Offenbarung Gottes fortschreitend war: Was erst nur angedeutet und verschleiert gesagt wurde, wurde später immer klarer geoffenbart. Wenngleich Gläubige des AT und Gläubige des NT auf dieselbe Weise gerettet werden (alle nur durch Christi Opfer, nur aus Gnade, nur durch Glauben) und beide sowohl irdische wie himmlische Hoffnung haben, sind deutliche Unterschiede und Verschiebungen in den Schwerpunktlegungen zu beobachten.

Insbesondere folgende besonderen Offenbarungen sind im AT –wenn überhaupt– nur versteckt oder als Samenkorn enthalten, werden daher im Psalter meist vergeblich gesucht:

  • Das vollbrachte Erlösungswerk war nicht bekannt. Die Gläubigen das AT blickten voraus auf den verheißenen Erlöser und seine Erlösung, aber die Erlösung war noch nicht vollendetes Geschehnis. Eine Argumentation wie z. B. in Kolosser 2,12ff war noch nicht möglich. Umso mehr war der Glaube an die Zusagen Gottes gefordert.
  • Gott war den Glaubenden noch nicht als persönlicher Vater geoffenbart. Wir finden im Psalter vereinzelt den Begriff »Vater« für Gott (z. B. Psalmen 68,6; 89,27; 103,13). Wir Christen dagegen kennen Gott-Vater als den »Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus« (Römer 15,6; 1. Korinther 1,3; Epheser 1,3 usw.). Diese Bezeichnung der in Christus Jesus so eng und intim gewordenen Beziehung zu Gott-Vater wird typisch für die Glaubenden des NT. Jesus hat seine Nachfolger das Beten gelehrt mit der Anrede: »Unser Vater…« (Matthäus 6,9ff). Später bezeichnete er Gott-Vater als »mein Vater« und erntete dafür massiven Widerspruch seitens der Rabbis (Johannes 5,17ff u.v.a.). Nach der Auferstehung nahm Christus die Jünger ausdrücklich in diese Beziehung mit herein: »Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater und meinem Gott und eurem Gott.« (Johannes 20,17b). Hier wurde etwas Erstaunliches und Neues geoffenbart.
  • Der Heilige Geist wohnte noch nicht ewig bleibend in den Gläubigen. Zumindest war dies so nicht geoffenbart, vielmehr fürchtete man sich davor, dass man vom Heiligen Geist verlassen werden konnte (s. David in Psalm 51,13). Der Heilige Geist war zwar bekannt, aber nicht in ausdrücklichen Lehraussagen zur Trinität, wie wir sie z. B. im Johannes-Evangelium oder im Römerbrief finden. Der Heilige Geist befähigte die Glaubenden des AT zu ihrem Schriftverständnis, gab ihnen geistliche Gaben und Kraft zum Dienst. Aber von ihnen wird nicht gesagt: »…er [Gott-Vater] wird euch einen anderen Sachwalter geben, dass er bei euch sei in Ewigkeit, den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht noch ihn kennt. Ihr kennt ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch sein.« (Johannes 14,16b–17). – Entsprechend muss man dann Psalm 51,13 verstehen.
  • Die Glaubenden kannten noch nicht eine lebendige Verbindung zu einem verherrlichten Menschen im Himmel. Dies war schon deshalb nicht möglich, weil noch kein Mensch im Himmel war. Dies ist erst seit der Himmelfahrt Jesu Christi der Fall. Psalm 110,1 spricht prophetisch von der Thronbesteigung Christi: »Jahwe sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde hinlege als Schemel für deine Füße!«, Fakt wurde sie erst rund 1.000 Jahre später. Kolosser 1,26ff redet vom Geheimnis, dass diese lebendige Verbindung durch »Christus in euch« realisiert wird.
  • Das Geheimnis der Einheit der Gemeinde Gottes mit Jesus Christus war unbekannt. Das NT bezeichnet die Gemeinde und ihre Einheit mit Christus als ein »Geheimnis« (Epheser 3,1ff; 5,32). Sie war folglich im AT völlig unbekannt und nicht geoffenbart. Die Gemeinde Israels in der Wüste (4. Mose 16,9) ist nicht gleichzusetzen mit der Gemeinde des NT, die erst zu Pfingsten durch Herniederkunft und Innewohnen des Heiligen Geistes gegründet wurde. Die neutestamentliche Gemeinde ist auch kein Ersatz oder die Nachfolgerin der alttestamentlichen Gemeinde.
  • Die Entrückung der Gemeinde und der genauere Ablauf des »Tages des Herrn« waren unbekannt. Diese Sachverhalte wurden erst im NT durch die inspirierten Mitteilungen des Apostels Paulus genauer bekannt. Die »selige Hoffnung« ist daher Sondergut der neutestamentarischen Offenbarung, nicht der Psalmen. Was die Schreiber des AT jedoch geoffenbart haben, sind die sicheren Tatsachen des »Tages des Herrn« und der leibhaftigen Rückkehr Jesu Christi, um seine Feinde zu besiegen und sein Reich sichtbar aufzurichten.
  • Cave: Selbst wenn einige Tatsachen den Schreibern des AT durch Inspiration zum Aufschreiben gegeben wurden, bedeutet dies nicht, dass sie völlig verstanden, auf wen und wann prophetische Aussagen Bezug nahmen.

[E]ine Errettung, über welche die Propheten nachsuchten und nachforschten, die von der Gnade euch gegenüber geweissagt haben, forschend, auf welche oder welcherart Zeit der Geist Christi, der in ihnen war, hindeutete, als er von den Leiden, die auf Christus kommen sollten, und von den Herrlichkeiten danach zuvor zeugte; denen es offenbart wurde, dass sie nicht für sich selbst, sondern für euch die Dinge bedienten, die euch jetzt verkündigt worden sind durch die, die euch das Evangelium gepredigt haben durch den vom Himmel gesandten Heiligen Geist – Dinge, in welche die Engel hineinzuschauen begehren.

1. Petrus 1,10-12 (ELBCSV)

Die oben genannten (und weitere) typisch christlichen Segnungen waren den Schreibern des Psalters nicht bekannt und sind daher im Psalter nicht zu finden. Auch andere Aussagen waren ihnen zur Niederschrift anvertraut, aber sie kannten deren Einordnung in die Heilsgeschichte nicht.[3] Wer das beim Lesen der Psalmen (wie des gesamten AT) nicht beachtet, kommt schnell zu falschen Schlussfolgerungen.

Natürlich kann und soll (!) der Christ viel Kraft aus den Psalmen schöpfen, denn der Gott des AT ist auch der Gott des NT – Er hat sich nie geändert– aber der Christ muss gut bedenken, dass manche Aspekte, wie die Racherufe und Verzweiflungsworte alttestamentlicher Autoren, nicht der christlichen Position vor Gott entsprechen. Sie waren damals angemessen, sie werden z. T. wieder einmal angemessen sein, aber die Zeit der Gemeinde Jesu Christi ist eine Zeit besonderer Offenbarungen und Vorrechte – es ist eine ganz besondere Gnadenzeit:

Und das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns (und wir haben seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit als eines Eingeborenen vom Vater) voller Gnade und Wahrheit. … Denn aus seiner Fülle haben wir alle empfangen, und zwar Gnade um Gnade. Denn das Gesetz wurde durch Mose gegeben; die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden.

Johannes 1,14.16-17 (ELBCSV)

Man tut also gut daran, beim Lesen des Psalters den vielzitierten Leitspruch zur progressiven Offenbarung von Augustinus zu beachten:

Novum Testamentum in Vetere latet, Vetus Testamentum in Novo patet.
Das Neue Testament ist im Alten verborgen, das Alte Testament wird im Neuen offenbart.

Augustinus, Quaestiones in Heptateuchum 2,73: PL 34, 623 (um 419–420)

John G. Bellett (1795–1864) aus Dublin schreibt am Ende seines Kommentars zum Matthäus-Evangelium, das ja die Kontinuität, Harmonie und Einheit beider Testamente der Heiligen Schrift überwältigend deutlich belegt, freudig Folgendes:

»And as we thus listen to the voices of prophets and evangelists, as in concert, we may remember those two happy lines:
„In vetere Testamento novum latet,
In novo Testamento vetus patet.

The lights of God which sweetly dawn 
In earliest books divine,
As morning hours to noonday lead, 
Along the volume shine.

‚Tis but the same, tho‘ bright’ning sun, 
Which clearer, warmer glows;
The clouds which veiled his rising beam, 
Fly ere the evening close.«[4]

Literaturverweise und Endnoten

[1] Benedikt Peters, Das Buch der Psalmen – Teil 1: Psalm 1–41 (Dillenburg: CVD, 2004), S. 8.
[2] Beale, G. K., Carson, D. A., Commentary on the New Testament Use of the Old Testament. Grand Rapids, MI; Nottingham, UK: Baker Academic; Apollos, 2007.
[3] Dies widerlegt die hermeneutische Regel, dass die Bedeutung einer Schriftstelle im AT nur genau jene sei, die der Autor bewusst ihr gegeben hat, den sog. authorial intent. – »Authorial Intent. In literary theory and aesthetics, authorial intent refers to an author’s intent as it is encoded in their work. Authorial intentionalism is the view that an author’s intentions should constrain the ways in which a text is properly interpreted. Opponents have labelled this position the intentional fallacy and count it among the informal fallacies.« (https://en.wikipedia.org/wiki/Authorial_intent; 21.09.2022).
Eine der Bibel angemessene Hermeneutik muss zuallererst versuchen, die Schreibabsicht des Autors zu erfassen und den Text entsprechend zu verstehen und ggf. anzuwenden. Aufgrund der Aussage in 1. Petrus 1,10ff darf jedoch die Deutung heute nicht auf den Erkenntnishorizont und die Vorstellungskraft des ursprünglichen menschlichen Autors begrenzt werden. Vielmehr muss berücksichtigt werden, dass der stets und gleichzeitig aktive göttliche (Haupt-)Autor, der Heilige Geist, die Niederschrift so lenken konnte und gelenkt hat, dass z. B. ein prophetischer Text durchaus weiterreichende Bedeutung hat, als der menschliche Autor erfassen oder erforschen konnte. Studiert werden kann dies u. a. anhand der Zitierweise und Zitatsverwendung alttestamentlicher Stellen in neutestamentlichen Schriften, siehe Endnote [2] oben.
[4] John Gifford Bellett, On the Gospel by Matthew, New Edition, Rouse, 1903.

Rezension: Schöne Neue Welt (?)

Im Jahr 1932 erschien das Buch »Brave New World« von Aldous Leonhard Huxley (1894–1963).[1] In ihm beschreibt der Agnostiker und Oxford-Absolvent für Englische Literatur vor dem Hintergrund der damals bekannten sozialistischen und kommunistischen Staats- und Gesellschaftsentwürfe den perfektionierten Staat der Zukunft, wie er sich in ideologischer Fortsetzung der sozialistischen Ideen darstellt. Er schrieb dies damals nicht als reine Prophetie, sondern eher kritisch in satirisch überhöhter Form als mögliche Fortsetzung des geschichtlich offenbar Gewordenen.

Leider erweisen sich seine Vorstellungen und Projektionen, die lange Zeit als Utopie oder Dystopie eingeordnet wurden, heute teilweise als beklemmend zutreffend, wenn man zeitgenössische Parteiprogramme und Zukunftsideologen studiert. Es scheint also machtvolle Menschen zu geben, die sein Werk nicht als Abschreckung, sondern vielmehr als politisch anzustrebendes Ideal ansehen. Brave New World gehört daher für jeden wachen Menschen zur Pflichtlektüre.

Inhalt: Wie sieht die „Schöne Neue Welt“ aus?

Der Staat der Zukunft kommt mit dem Versprechen einer stabilen Gesellschaft, die alle Nachteile bisheriger Staatsformen, Gesellschaften, Sozialstrukturen und Religionen überwunden hat und allen Bürgern ein schmerzloses, glückliches Leben bietet: eine Brave New World (im Folgenden: BNW), eine „Schöne Neue Welt“ (so der deutsche Titel[1]). Dieses Versprechen kann aber nicht darüber hinweg täuschen, dass dieser weltweite Wohlfahrtsstaat im Wesen für die Nicht-Elite eine Tyrannei ist. Nur in bestimmten „Reservaten“ leben noch „Wilde“ nach der alten Lebensweise in den Jahrtausende lang erprobten Strukturen und traditionellen Werten.

Die BNW zählt ihre Zeit nach dem Erfinder und Industriellen Henry Ford, der gottähnlich verehrt wird. Die Geschichte spielt im 7. Jhdt. A. F. (Anno Ford). Technologie (HighTech) und Ökonomie (wirtschaftlicher Wohlstand) wird durch auf Konsum programmierte Menschen gesichert.

Die BNW ist gekennzeichnet von folgenden Merkmalen und Ideen (man bemerke Parallelen zu zeitgenössischen Parteiprogrammen):

  • Aufgabe der Wahrheit.
    Wahrheit ist in der BNW kein durch Forschung oder Nachdenken anzustrebender und zu vervollkommnender Erkenntnisschatz mehr, vielmehr ist das, was für alle „wahr“ sein soll, bereits offiziell definiert worden. Entsprechend darf diese vom Staat definierte „Wahrheit“ nicht durch neue Erkenntnisse gefährdet oder verändert werden. Auch dies wird mit dem Leitwert der „sozialen Stabilität“ begründet: »Truth is a menace, science is a public danger.« („Wahrheit ist eine Bedrohung, Wissenschaft ist eine öffentliche Gefahr.“; S. 155). Andere alternative Wahrheitsquellen, wie beispielsweise Bücher vergangener Kulturen (Bibel, christliche und weltliche Philosophen, Poesie oder Literatur), werden von den obersten Controllern der Gesellschaft im Tresor aufbewahrt. Nur diese obersten Lenker der Gesellschaft dürfen und können (von ihrer Programmierung her) solche Literatur lesen.
  • Auslöschung der Geschichte (geschichtlichen Identität) als Kulturgut
    Geschichte liefert nur noch Erinnerungen an jene Übel, die man in der BNW überwunden zu haben glaubt. Konsequenter Weise werden alle geschichtlichen Aufzeichnungen gelöscht, Museen geschlossen, historische Monumente gesprengt und alle Bücher vor A.F. 150 (ca. 2060 n. Chr.) unterdrückt (S. 34). Jede emotionale Bindung an Geschichte und Tradition ist verabscheuenswürdig. Da kein Mensch eine Mutter oder einen Vater hat, sind familiäre Traditionen, Bindungen und Identitäten ausgelöscht. Der BNW-Bürger soll geschichtlich ungebunden, seiner Herkunftsidentität beraubt und kulturell entwurzelt sein. Anstelle dessen werden dem so auf Makro-  wie Mikroebene geschichtlich Entwurzelten das dem globalen Staat gerade Nützliche an kollektiver Identität und Werten eingeprägt.
  • Auslöschung der sozialen Strukturen von Ehe, Familie und Sippe.
    Die im Vor-BNW-Zeitalter jahrtausendelang geübten sozialen Strukturen von Ehe, Familie und Sippe gaben einem Individuum präferierte Beziehungen und Bindungen zu Einzelpersonen oder Gruppen. Diese individuellen und familiären Bindungen werden in der BNW rein negativ bewertet und sind daher aufzulösen im nach Kasten strukturierten Kollektiv: Das Ich wird durch das Wir ersetzt, die Familie durch das Kollektiv oder die Kaste. Der vereinheitlichte Gruppengeist ersetzt den individuellen Geist. Es gibt keine Eltern, Väter und Mütter mehr, analog keine Kinder und Geschwister. Schon der Gebrauch dieser Bezeichner wird als skandalös und eklig empfunden. Kinder werden industriell in der Retorte erzeugt und prädestiniert und programmiert für ihre Rolle in der Gesellschaft (s. Kastensystem). Der BNW-Bürger soll ungebunden und entwurzelt von persönlichen Beziehungen sein, selbst zu sich kein individuelles Bewusstsein aufbauen und keine Unabhängigkeit anstreben. Daher werden alle Situationen vermieden, in denen ein Mensch alleine ist, man programmiert ihn darauf, Einsamkeit zu hassen.
  • Abschaffung der monogamen Sexualität zugunsten von Freiem Sex.
    Der Körper jedes Menschen gehört allen Menschen. Nach diesem Prinzip wird weitläufige Promiskuität (dieser Begriff hat in der BNW seine Bedeutung verloren), freier Sexualverkehr mit beliebigen Partnern beliebigen Geschlechts, von Kind auf praktiziert. Jede Regel oder Restriktion ist aufgegeben, außer der, dass eine länger andauernde oder auf eine Person beschränkte Beziehung unerwünscht ist. Schein-Schwangerschaften werden hormonell simuliert, weil bekannt ist, dass sich eine Schwangerschaft positiv auf die schwangere Frau auswirkt. Alle Frauen werden gedrillt, echte Schwangerschaft zu vermeiden; im „Pannenfall“ wird abgetrieben. Die Technologie sichert, dass keine Sexualkrankheiten entstehen oder übertragen werden. Der BNW-Bürger soll sexuell ungebunden und aktiv sein, ohne das Ziel der Sexualität, die Reproduktion, anzustreben oder zu erleben. Tatsächlich ist der Mensch jedoch nicht frei, sondern steht unter Beobachtung und ideologischem Zwang (Erwartungshaltung, Kritik), beständig Promiskuität praktisch auszuleben. Die Freiheit der fortschrittlichen „Freien“ ist also Zwang.
  • Verhinderung jeder Veränderung, denn Veränderungen bedrohen die Stabilität des Systems.
    »Every change is a menace to stability.« („Jede Veränderung ist eine Bedrohung für die Stabilität.“; S. 153). Daher ist alles, was Veränderung bringen kann: neue Erkenntnisse, neue Beziehungen, neue Ziele, neue Ideen, neue Wahrheit, neue Kasten usw. sehr restriktiv zu handhaben, ggf. zu unterdrücken. Viele Regelungen sind von diesem Gedanken getrieben und führen zur Unterdrückung bzw. Eingrenzung von Wissenschaft, Kunst, Philosophie, Religion, Einsamkeit (bietet Gelegenheit zum Nachdenken) und allen negativen Erlebnissen (denn diese motivieren im Menschen Wünsche und Gedanken zur Veränderung des status quo). Kommentar: Mit diesem Bekenntnis zum Stillstand (aka „Stabilität“) demaskiert sich die BNW als totalitäre, reaktionäre, faschistische Ideologie, mithin als wissenschaftsfeindlich, anti-aufklärerisch und menschenverachtend.
  • Einrichtung einer utilitaristischen, fixierten Kastenstruktur.
    Da Wirtschaft und Gesellschaft Aufgaben mit unterschiedlichen Herausforderungen an Kraft und Geist bieten, werden Menschen mit entsprechenden Eigenschaften in der Retorte produziert und programmiert. Die Alpha-Klasse regiert das System, entsprechend tiefer liegen die Kasten der Betas, Gammas, Deltas usw. Für gleichartige Aufgaben werden gleichartige Menschen mittels Klontechniken erzeugt. Jeder wird so programmiert, dass er sich in seiner Klasse/Kaste wohlfühlt und keinen gesellschaftlichen Kastenwechsel anstrebt. Damit soll die gesellschaftliche Stabilität gesichert werden. Die Struktur wird vorgegeben von der kleinen herrschenden Klasse der sog. Controller. Kommentar: Mag der Kommunismus und Sozialismus von einer klassenlosen Gesellschaft als Zielvorstellung reden, praktisch haben sich in entsprechend ideologisierten Systemen weltweit stets harte Gesellschaftsschichten etabliert: das (arbeitende) Volk, die Partei und die Parteibonzen (Elite). Diese Kastenstruktur wurde gepflegt und verteidigt.
  • Polytheistische Religion.
    Die religiösen Bedürfnisse der Menschen werden durch Rituale bedient, in denen der Kollektivgeist und der als Gott verehrte (Henry) Ford zelebriert werden. Am Unification-Day werden in Kleingruppen abendmahl-ähnliche Riten abgehalten. Christus wird neben anderen Figuren, wie Heiligen oder Gottheiten, verehrt. Die antichristliche Natur dieser „Religion“ wird symbolisch daran offenbar, dass alle (christlichen) Kreuze so gekappt werden, dass sie nur noch ein „T“ darstellen. Keine Religion hat Wahrheitsanspruch, es gibt keine religiösen Bücher, die als Wahrheitstexte oder Traditionsschätze gegen die BNW-Kultur wirken könnten oder in Widerstreit zueinander geraten könnten. Auch dies wird mit dem Leitwert der „sozialen Stabilität“ begründet. Kommentar: Der Widerspruch ist erkennbar: Keine Religion sei wahr oder verbindlich, aber der T-Kult ist alternativlose Religion der BNW?
  • Oberster Wert ist ein Wohlfühlen, wie es den Kasten jeweils bestimmt wurde.
    »Happyness« ist das oberste Ziel, dem alles andere geopfert oder untergeordnet wird. So ist alle Arbeit simpel und nichtanstrengend (sonst wird sie an Maschinen abgegeben) und dauert täglich 7,5 Stunden. Experimente hätten gezeigt: Jede weitere Reduzierung der Arbeitszeit würde zu geringerem Wohlgefühl führen. Jeder bekommt die Wunderdroge Soma, Spiele, unbegrenzten Sex und Gefühlstheater(»feelies«; 3D-Shows mit allerlei Sinnesreizen): »What more can they ask for?« („Was können sie mehr verlangen?“; S. 152). Jedes negative Gefühl wird mit der Droge Soma ausgelöscht. Sie bewirkt ein passives Wohlgefühl in phantasievollen Träumen und verhindert damit alles Leiden der Seele an Realzuständen. Soma wirkt wie die alten Drogen Alkohol und Heroin, ohne aber deren Nebenwirkungen zu haben. Wer allerdings zu viel davon konsumiert, stirbt eher. Kommentar: Ein pervasiver Alkohol- und Drogenmissbrauch – gerade auch als Wohlfühl- und Lifestyle-Droge – ist Dank Drogenkartellen, Politik und Pharmaindustrie heute weltweit zu beobachten. Offenbar ist die BNW nicht schön genug, um allen Menschen ein frohes, erfülltes, menschenwürdiges Leben bieten oder ermöglichen zu können. Was für ein Offenbarungseid.
  • Die Menschen dienen der Wirtschaft und der Technologie.
    In einer menschlichen Kultur dienen Wirtschaft und Technologie dem Menschen. Entsprechend werden diese Systeme dem Menschen bestmöglich angepasst. Nicht so in der BNW: Hier dienen die Menschen dem Konsum und der Technologie, werden schon bei ihrer Erzeugung in der Retorte für ihre industriellen Aufgaben geistig wie körperlich konditioniert und schicksalshaft prädestiniert und zu übermäßigem Konsum konditioniert (»You can‘t consume much if you sit still and read books.», S. 33). Die Controller würden kein neues Spiel für die Gesellschaft freigeben, wenn es nicht noch mehr technische Geräte erforderte, als das in diesem Sinne bisher anspruchsvollste Spiel (S. 20). Die herrschende Klasse setzt Wirtschaft und Technologie so ein, dass damit die Stabilität der Gesellschaft, der Kasten und damit ihre unangefochtene Herrschaft gesichert werden. Kommentar: Die Durchseuchung der Gesellschaft mit „Smartphones“ nimmt immer mehr Zeit und Aufmerksamkeit von Milliarden von Menschen in Anspruch und hat den Unternehmen der Unterhaltungs- und der Konsumindustrie Billionenwerte beschert. Perfide ist die Kombination von Techniknutzung und Drogeneffekten (klassisch: Endorphin-Pushs), die hier gezielt realisiert wurde.

Versuch einer Einordnung und Bewertung aus christlicher Sicht

Es ist beeindruckend, wie konsequent der Atheist Huxley die sozialistische Ideologie und Utopie entwickelt und in die Zukunft projiziert. Was dem einen oder anderen vielleicht noch als Fiktion oder Satire erschien, ist heute ausdrücklich Teil von Partei- und Regierungsprogrammen und wird als „modern“und „fortschrittlich“ deklariert. Wenn jemand sich mantraartig des Slogans „Vorwärts!“ oder „Fortschritt“ als positive Wertklasse bedient, sollte man immer genau hinschauen, in welche Richtung dieser Progressivist fortschreiten will. Sagte ein Vorsitzender: „Gestern noch standen wir vor dem Abgrund. Heute sind wir einen Schritt weiter…“

Eine erste Zusammenfassung und Einordnung. Schon die Indogermanen nutzten den Effekt einer künstlichen Geschichtserzählung (heute: Narrative) und eine Kastenstruktur aus, um sich „ewig“ die Macht zu sichern. Die herrschenden Römer wussten sich das Volk still und geneigt zu halten mit dem Rezept „Panem et circensis“ („Brot und Zirkusspiele“; nach der Satire des röm. Dichters Juvenal). Huxley fügt diesem die (seinerzeit) modernen Erkenntnisse der Technologie (Hubschrauber), Medizin (keine Krankheiten mehr), Pharmakologie (Wunderdroge Soma), Psychologie und mehr hinzu, soweit sie in seiner Zeit vorstellbar waren. Letztlich sei seiner Satire nach eine stabile Weltgesellschaft nur zu erreichen durch Entmenschlichung der meisten Menschen, einem starren Kastensystem (Gesellschaftsschichten) unter der Regierung einer Eliteklasse, die allein noch selbstständig denken kann und allein noch Zugang zu den Quellen der Geschichte, Kunst, Wissenschaft und Wahrheit hat. Die „Young Global Leader“ des WEF, die Jura-Absolventen von Harvard (und so vieler anderer Eliteschulen) werden ausdrücklich für die Weltführungsrolle ideologisch programmiert und strategisch vernetzt.

Eine erste Bewertung. Aus der judäo-christlichen Weltsicht und Werteordnung heraus ist diese als schön und neu verkaufte Welt nichts anderes als der Inbegriff der Entmenschlichung. Sie ist weder schön (und damit attraktiv und erfüllend), noch neu (das klassische Wertmotiv des Fortschrittsglaubens, des Progressivismus). Denn zum Menschsein gehört zu allererst die lebendige Beziehung zu Gott, dem Schöpfer und Erhalter des belebten wie unbelebten Kosmos, die dankbare Verehrung des sich (in der Heiligen Schrift, im Sohn Gottes, sowie in Schöpfung, Geschichte usw.) selbstoffenbarenden Gottes. Ferner gehören unabdingbar dazu das Selbstbewusstsein und das Bewusstsein des Eigenwertes, weil man im Bild und Gleichnis Gottes geschaffen wurde, sodann die Werteordnung, wie sie im Dekalog (den 10 Geboten) und weiteren Wertaussagen der Heiligen Schrift verankert sind. Unverzichtbar (unveräußerbar) sind auch die dem Menschen vorpolitisch von Gott verliehenen Rechte und Freiheiten (sog. unveräußerliche Menschenrechte). Entscheidend für das Schicksal (Teleonomie) und das letztendliche Heil-sein des Menschen ist die frohmachende Botschaft davon, wie der Mensch von seiner Schuld und Sünde völlig befreit und in ungetrübte Gemeinschaft mit Gott und den Mitmenschen wiedereingesetzt werden kann (Evangelium, Die Gute Botschaft von Jesus Christus). 

Lüge und Tod. Es ist bezeichnend, dass der tyrannische Staat seinen Bürgern den Himmel auf Erden verheißt (vermittelt durch sein Wirken), aber den Himmel und seinen Regenten negiert und das Wissen vom Weg dorthin (Christus) beseitigt. Verkündete und gelebte (Zweck-)Lüge steht anstelle von Wahrheit, wird aber als Wahrheit und Wert indoktriniert und eingeübt. Dazu dienen auch Fälschungen und Imitationen wahrhaftiger Worte, Symbole und Rituale. Die Botschaft vom Opfer des Gottessohnes wird verschwiegen, aus dem christlichen Symbol des Kreuzes wird das Gegensymbol des Tammuz (wohl Nimrod, des Widersachers Gottes zur Zeit des Turmbaus zu Babylon; Genesis 10). Die schöne neue Welt, wie Huxley sie satirisch-futuristisch aufmalt, trägt einen tragischen, finsteren Schimmer von Lüge und Tod, denn es gibt keine (Er-)Lösung, sondern nur lebenslange Ablenkung durch oberflächliches Vergnügen und die Wunderdroge Soma. Es ist die beste Welt, die der Teufel, der nach Aussage Christi „der Urvater der Lüge“ und „der Menschenmörder von Anfang“ ist, aufbauen kann: Er verspricht viel, hält wenig und nimmt alles. Das ist die Bilanz jeder gottlosen Regierung, die gar nicht anders kann, als zur Tyrannei zu entarten, weil dies das Wesen des hinter ihr treibenden Geistes ist.

Zum Abschluss ein Aufruf und eine Warnung

Die Heilige Schrift sagt entlarvend und motivierend: »Denn unser [der Christen] Kampf ist nicht gegen Fleisch und Blut [also gegen Menschen], sondern gegen die Fürstentümer, gegen die Gewalten, gegen die Weltbeherrscher dieser Finsternis, gegen die geistlichen Mächte der Bosheit in den himmlischen Örtern« (Epheserbrief 6,12) und: »Denn obwohl wir im Fleisch wandeln, kämpfen wir nicht nach dem Fleisch; denn die Waffen unseres Kampfes sind nicht fleischlich, sondern göttlich mächtig zur Zerstörung von Festungen, indem wir Vernunftschlüsse zerstören und jede Höhe, die sich erhebt gegen die Erkenntnis Gottes, und jeden Gedanken gefangen nehmen unter den Gehorsam des Christus« (2Korintherbrief 10,3–5). Diese Aussagen sind Normen, denen (wahre) Christen absolut verpflichtet sind.

Das bedeutet: Wir müssen allen gott- und menschenverachtenden Ideologien entgegentreten: verbal, intelligent, schriftverankert – und immer Christus-zentriert. Ganz anders als die Revolutionäre des Sozialismus (seien es rote, braune, grüne, blaue, schwarze… Sozialisten) kämpfen Christen niemals »wider Fleisch und Blut«, niemals gegen den verführten und in Ideologien gefangenen Mitmenschen, niemals physisch gewaltsam, sondern begegnen ihm stets mit mitmenschlicher Zuneigung und christlicher Menschenliebe. In der Sache allerdings müssen wir von dieser Menschenliebe motiviert hart und klar sein, denn der alte wie der neue Sozialismus und ein menschenwürdiges Leben schließen sich einander aus. Ohne den Schöpfer ist das Geschöpf schnell erschöpft. Das mögen die Eliten, die „Controller“, die Machtbesessenen anders sehen. Die Schwabs und Hararis dieser Welt meinen ja, dass sie mit dem von ihnen propagierten Trans-Humanismus die Spezies Mensch überwinden und sich damit über den Schöpfer-Gott stellen könnten.[3] Schöne neue Welt? Für wen?

Der im Himmel thront, lacht, der Herr spottet ihrer.
Dann wird er zu ihnen reden in seinem Zorn, und in seiner Zornglut wird er sie schrecken.

Psalmen 2:4-5 (ELB03)

Abschließend: Wer meint, in diesem Buch von Huxley gehe es ja „nur“ um Ideen, dem sei entgegnet: „Ideen haben Konsequenzen!“ Lesen bildet.[4]

Endnoten

[1] Rezensionsexemplar: Aldous Huxley: Brave New World. New York, NY, USA: Harper & Row, 1946. First Perennial Library Edition, 1969. – Deutsche Fassung: Schöne Neue Welt: Ein Roman der Zukunft. Reihe Fischer Klassik. 9. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 2014 (nach der Originalausgabe von 1932). Die Titel deutscher Übersetzungen waren auch schon Welt – Wohin? (1932) und Wackere neue Welt (1950).

[2] Martin Erdmann: Siegeszug des Fortschrittsglaubens. Band 3: Progressivismus als Triebfeder des amerikanischen Imperialismus. Worthington, OH, USA: Verax Vox Media, 2020. – Auch die anderen Bände dieser Serie von Dr. Erdmann über den Fortschrittsglauben sind lesenswert, man muss allerdings etwas Zeit mitbringen.

[3] Yuval Noah Harari: Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen. 16. Aufl. München: C. H. Beck, 2020. (Orig.: Homo Deus. A Brief History of Tomorrow, 2016.)

[4] R. C. Sproul: The Consequences of Ideas: Understanding the Concepts That Shaped Our World. Wheaton, IL, USA: Crossway Books, 2000. – John MacArthur et al.: Right Thinking In A World Gone Wrong. Eugene, OR, USA: Harvest House Publ., 2009. – Ergänzende Lektüre: George Orwell: 1984. New York, NY: Harper & Row, 1946.

Wenn Bibelstellen nur noch vorgefasste Meinungen belegen sollen – Ein Kommentar zu einem Kommentar in »Fest & Treu« (01/2022)

In Fest & Treu (FuT 177) wurde ein Kommentar/Leserbrief von zwei Autoren »in unserem CLV-Team« (Alexander Struck und Gerrit Alberts, im Folgenden mit „S&A“ abgekürzt) abgedruckt, der sich auf den Beitrag »Glaubensprüfung« von Friedemann Wunderlich in FuT 176 (S. 4–5) bezog.[1] Dieser Kommentar wirft Fragen auf, denen man nachgehen sollte. Die Autoren verwenden m. E. Argumente, die weder der Chronologie noch den von ihnen als Beleg angegebenen Bibelstellen gerecht werden. Sachliche und biblische Wahrheit im Argument ist in der Tat keine nebensächliche, sondern eine Hauptsache, um die wir kämpfen müssen. Hier einige der m. E. anzusprechenden Behauptungen oder Meinungen (M) und mein bescheidender Beitrag auf der Suche nach tragfähigen Antworten.

M1 | Paulus lehre, dass man selbst einem tyrannischen, Christen verfolgenden und tötenden Nero zu folgen habe

Die Autoren S&A schreiben: »Die Apostel […] ermahnten die Gläubigen sogar dann dazu [zur Unterordnung unter die staatlichen Autoritäten], als der äußerst willkürliche, moralisch verdorbene Despot und Christenmörder Nero an der Macht war.«

  • Aus dem Basiswissen zum NT zunächst ein paar wesentliche chronologische Daten: Paulus schrieb seinen Brief an die Gemeinde in Rom um 55–58 n. Chr., wahrscheinlich 57 n. Chr. (s. J. MacArthur, Basisinformationen; E. Mauerhofer, Einleitung NT, Bd. 2). Neros Kaiserzeit war 54–68 n. Chr. Mit seinem Regierungsantritt 54 n. Chr. wurde das Edikt des Claudius, das die Vertreibung der Juden und Judenchristen aus Rom verfügte (49 n. Chr.), aufgehoben (F. F. Bruce, Basiswissen), also eine positive(re) Situation für die Gemeinde geschaffen. Der Brand Roms war 64 n. Chr. Die Neronische Christenverfolgung und die damit verbundenen Gräuel geschahen in den Jahren 64– 65 n. Chr., fanden also erst etliche Jahre nach der Abfassung des Römerbriefes statt. 
  • S&A stellen dies aber chronologisch und argumentativ verkehrt herum dar. Als Paulus die Gläubigen zur Unterordnung ermahnte, war Nero noch lange nicht als »Christenmörder« aufgetreten. Paulus war sicherlich nicht naiv bezüglich böser Herrscher und Tyrannen, wie beispielsweise jene zivilen und religiösen Obrigkeiten, die seinen und unseren Herrn ermordeten (Apg 3,13–15; 4,26–30). Angesichts der chronologischen Fakten kann man wohl nur sagen, dass Paulus beim Schreiben von Römer 13 Neros (oder anderer Tyrannen) Bosheit weder ignorierte noch beschönigte, aber von Neros Christenverfolgung als Hintergrund seines Briefes an die Römer zu reden, ist jedenfalls ein AnachronismusDas Argument der Brüder S&A ist damit m. M. n. hinfällig.[2]

M2 | Das Gesetz im AT lehre, dass man alle – auch gesunde – Geschwister nach Bibelstellen, die nur von einzelnen symptomatischen und ansteckenden Kranken reden, zu behandeln habe

  • Die Verwirrung ist hier mehrfach: (1) Behandlung von Einzelfällen werden mit Zwangsmaßnahmen gegenüber der Allgemeinheit verwechselt; (2) Gesunde, asymptomatische Menschen seien so zu behandeln, wie erkenntlich kranke und fachmännisch als krank diagnostizierte Menschen. Es ist zu befürchten, dass hier der ungesetzliche Missgriff, dass Gesunde wie Erkrankte, Ansteckende (und letztlich wie „Gefährder“) zu behandeln seien, unreflektiert kolportiert wird. Dies alles sind Missgriffe, die eigentlich jedem auffallen sollten, der mitdenkt und am Text der Heiligen Schrift untersucht, »ob sich dies so verhalte«.
  • Wunderlich schreibt: »„Lockdown“ und „Social Distancing“ sind Fremdworte für die Gemeinde Jesu und stehen immer entgegen der Gebote Gottes.« Die von ihm gemeinten »Gebote Gottes« konkretisiert er im nächsten Satz mit dem zweit-höchsten Gebot der Nächstenliebe: »Es gibt keine Nächstenliebe ohne körperliche Nähe.«
  • Dies provoziert S&A wohl zum Widerspruch und so greifen sie ins AT zurück, um das Gegenteil zu beweisen. Sie verpassen dabei aber das hier Entscheidende, dass diese beiden englischen Neologismen der Pandemiesprache obrigkeitliche Maßnahmen bezeichnen, die stets allgemein und unterschiedslos auch Gesunden auferlegt werden/wurden (Ausnahmen nur für „systemrelevante“ Menschen), während die angezogenen AT-Stellen ausschließlich symptomatisch Erkrankte und fachlich sorgfältig diagnostiziert erkrankte Einzelpersonen betreffen (auch jener Fall, der eine weitere Beobachtung unter Isolation erforderte). Schauen wir uns die angegebenen Bibelstellen an:

(1) 3.Mose 13,46 (»Isolation im Krankheitsfall«)

  • Die Maßnahme der „Isolation“ (»allein soll er wohnen« und »außerhalb des Lagers soll seine Wohnung sein«) wird erst ergriffen, wenn »das Übel« an der Person äußerlich erkenntlich ist. 
  • Gesunden Menschen ohne einschlägig ärztlich diagnostizierte Symptome den Gottesdienstbesuch zu untersagen oder zu verwehren, nur weil sie 1G, 2G, 2G+ oder 3G nicht erfüllen, fällt nicht in die Fallkategorie der angegebenen Bibelstelle. 
  • Die Generalverdächtigung durch die obrigkeitlichen Verordnungen, dass jeder Gesunde potenziell ein „Gefährder“ sei, also jemand, der beabsichtige oder billigend in Kauf nehme, anderen Schaden zuzufügen, „denn er könnte ja krank sein und andere anstecken“, würde das ganze Lager Israels zum Quarantänelager gemacht haben. Das ist absurd, mit dem biblischen Text nicht belegbar und sollte daher nicht für Gemeindeveranstaltungen als Eintrittsr(i)egel vorgeschoben werden.

(2) 3.Mose 13,4 (»Quarantäne bei Infektionsverdacht«)

  • Das »sieben Tage einschließen« erfolgte, wenn Symptome erkenntlich waren, die Diagnose des Priesters jedoch nicht klar und sicher genug zu leisten war. War sie hingegen klar, wurde das »unrein« direkt erklärt (13,3), die Erkrankung lag dann vor. In jedem Fall gilt auch hier: Die Maßnahme erfolgte erst nach einer Untersuchung von Symptomen, nicht bei Symptomlosen oder Gesunden. Ohne Symptome war diese Maßnahme des „isolierten Abwartens“ nicht zu ergreifen.
  • Von S&A wird ja offenbar auf die natürliche Bedeutung dieser biblischen Anweisung im AT abgezielt. Die Anwendung der Stelle 3.Mose 13,4 auf obrigkeitliche COVID-19-Maßnahmen geht an der Tatsache vorbei, dass hier nicht Gesunde unter Generalverdacht weggesperrt werden, sondern symptomatisch Erkrankte. Damit wird hier keine Berechtigung für die Abweisung von Gesunden und Genesenen von der Gottesdienstteilnahme vor Ort geliefert.

(3) 3.Mose 13,44 (»Mund- oder Bartschutz«)

  • Vorweg: Die Versangabe ist wohl falsch, vom »Lippenbart verhüllen« ist erst in V. 45 die Rede. Zweitens: Nicht »Mund«, sondern »Bart« (ELBCLV; aber ESV: upper lip).
  • Auch hier ist klar ein Fall beschrieben, bei dem erkenntlich »das Übel an ihm ist«, nicht: »in« ihm ist; es war also äußerlich symptomatisch.
  • Der verordneten Maßnahme lag eine durch sorgfältige Untersuchung ermittelte Symptomatik vor (»Und besieht ihn der Priester, und siehe…«; 13,43).
  • Fachlich: Die sehr begrenzte und daher mangelnde Schutzwirkung von Gesichtsmasken (medizinische oder FFP2-Masken) gegen Empfang oder Verbreitung von Viren ist von fachlicher Stelle vielfach untersucht, bestätigt und verkündigt worden. Unvollkommener Schutz ist auch da festzustellen, wo wir das Phänomen virentragender Aerosole bedenken. Dass es dazu neben ignoranten auch absichtliche Falschmeldungen gibt, war und ist angesichts der unterschiedlichen Interessenslagen zu erwarten. Dass dauerhaftes Maskentragen erheblichen medizinischen und psychischen Schaden anrichten kann (von CO2-Übersättigung bis Mikrofaserinhalation; verbale und nonverbale Verständnisprobleme bei Jung und Alt, usw.), ist mittlerweile in mehreren Studien belegt worden. Wer sich bemüht, kann das Hin und Her der öffentlichen Verlautbarungen zum Maskentragen herausfinden. Tipp: Follow the money.
  • Interessante Nebenfrage: Was ist bei Frauen zu tun? Auch sie können m. W. an COVID-19 erkranken. Sollen also Frauen keinen „Mund-Nasenschutz“ tragen nach dem „biblisch belegten“ Argument von S&A? Denn das generische Maskulinum kann im Bibeltext ja nicht gemeint sein, wenn (nach S&A) vom Bart die Rede ist.

(4) 2.Chronik 26,21 (»Ausschluss vom Tempel-Gottesdienst bei Infektion«)

  • Hier war der Betreffende (König Ussija) »aussätzig bis zum Tag seines Todes« und »wohnte in einem Krankenhaus (FN: O. in einem abgesonderten Haus) als Aussätziger«. Da Aussatz an den äußerlich erkennbaren Symptomen festzustellen war (26,20: »an seiner Stirn«) und es ein konkreter Einzelfall ist, ist auch diese Stelle für die Abweisung von Gesunden oder von COVID-19 Genesenen wegen einer obrigkeitlich verordneten generellen 1/2/3G-Verordnung inhaltlich völlig ungeeignet.
  • Das AT bespricht (auch hier) den Einzelfall eines akut Erkrankten, dessen Erkrankung symptomatisch ist und die fachlich festgestellt wurde. Wunderlich bespricht mit »Lockdown« und »Social Distancing« jedoch obrigkeitliche Maßnahmen, die die Allgemeinheit treffen. Die Brüder S&A reden völlig am von Bruder Wunderlich Gesagten vorbei.

M3 | Christen würden die biblischen Maßnahmen, die in Israel im Falle eines Aussätzigen verordnet waren, in Frage stellen

S&A schreiben: »Dass ausgerechnet Christen nun diese Maßnahmen in Frage stellen, erschließt sich uns nur schwer.« Da der Kommentar von S&A sich auf den Artikel »Glaubensprüfung« von Friedemann Wunderlich bezieht, muss zuerst einmal festgestellt werden, dass Wunderlich mit keinem Satz die Maßnahmen, die Israel damals verordnet wurden, in Frage stellt. Dieser Vorwurf zielt also ins Leere. Aber es gibt mehr zu beanstanden:

  • Das Argument von S&A setzt stillschweigend (unbewiesen und unbegründet) voraus, dass man den Fall von Aussatz (vermutlich Lepra,  Morbus Hansen) mit dem von COVID-19 vergleichen könne bzgl. Erreger, Ansteckung, Inkubation, Behandlung usw. – Ich vermute, hier reden keine Mediziner.
  • Wunderlich hat nicht getan, was ihm hier unter der generalisierten Adresse »Christen« unterstellt wird. Unterstellungen und Übertreibungen sind kein gutes Mittel, eine sachliche Debatte zu führen, sondern Strohmann-Angriffe. Diese sind fehlerhaft, liefern mithin nichts Gültiges oder gar Widerlegendes zur behaupteten Sache (Näheres zu Straw Man bei en.wikipedia.org).
  • Die Verallgemeinerung auf »Christen« bei bleibendem Verweis auf die von S&A genannten Stellen, die ausdrücklich für das Volk Israel vor ca. 3.400 Jahren galten, muss theologisch und hermeneutisch hinterfragt werden (die medizinische Diskussion lasse ich hier außen vor). Genauso gut könnte man von allen männlichen Christen heute per Mandat und Zwang verlangen, dass sie sich beschneiden lassen, und wohin eine solche Zwangsforderung führt, kann man in der Bibel nachlesen.
  • Mir ist nicht bekannt, dass Gott allgemein allen »Christen« die Vorschriften des Gottesvolkes im Alten Bund auferlegt hätte. Das gilt auch nicht in übertragener und modifizierter Weise gegenüber einer Obrigkeit, die sich heute als Zivilreligion versteht, als Heilsvermittlerin auftritt und im Gegenzug strafandrohend Gehorsam für ihre Maßnahmen einfordert.
  • Mir ist momentan keine ernst zu nehmende christliche Gruppe oder Stimme bekannt, die die zitierten damaligen Maßnahmen bei Aussatz als Unsinn oder als fraglich hinstellen. Eben, eine Strohmann-Attacke. Da sollte man nachbessern.

M4 | Der Lockdown sei in den angezogenen Bibelstellen in 3.Mose und 2.Chronik zu finden, sogar: die Heilige Schrift sage dazu »eine beachtliche Menge«

Was S&A bzgl. des staatlich verordneten »Lockdowns« und seiner Begründung in der Heiligen Schrift behaupten, bedarf schon einiger wilder semantischer Sprünge, um einen Anschein von Gültigkeit zu erwecken. Hinterfragen wir jedoch, was wirklich der Fall ist, zerfällt das Argument.

  • Selbst die WHO erklärte „Lockdown“ zu einem »eher unglücklichen Begriff« (siehe de.wikipedia.org, sub verbo, FN 28).
  • Leonard Mboera et al. definieren den Begriff so: »eine Reihe von Maßnahmen zur Reduzierung der COVID-19-Übertragungen, die ihren Ursprung in der Allgemeinbevölkerung haben, die obligatorisch sind und unzielgerichtet auf die Allgemeinbevölkerung angewendet werden« (ibid).
  • Da alle genannten Bibelstellen von konkreten Einzelfällen mit erkennbarer Symptomatik reden, ist ihre Verwendung für das, was mit dem Begriff Lockdown gemeint ist, völlig verfehlt. Der Begriff Isolation oder Quarantäne wäre u. E. besser geeignet, und er betrifft wiederum nur fachlich erkennbare symptomatisch Erkrankte.
  • Festzuhalten ist: Die genannten Stellen reden inhaltlich nicht vom Sachverhalt eines Lockdowns (s. o.). Damit zerfällt das Argument von S&A.
  • Wo die »beachtliche Menge« von Stellen über Lockdown und Social Distancing in der Bibel sein soll, wird nicht deutlich, zumal schon das halbe Dutzend gelieferte Stellen diese Behauptung nicht belegen kann.
  • Man könnte auch einmal überlegen, warum man Social Distancing sagt, wenn man in den Maßnahmen damit räumliche Distanz – angegeben in Metern (!) – meint. Einen räumlichen oder materiellen Hygieneabstand gegenüber konkreten Ansteckenden einzuhalten ist eine einsichtige Maßnahme, aber wer das Soziale in einer Gruppe gesunder Menschen in Metern (be-) misst, dem ist wohl schwer zu helfen.

Versuch einer Bewertung

1. Sachlichkeit

Die Autoren Strunk und Alberts sind sicher geliebte Brüder im Herrn, wir werden die Ewigkeit miteinander in Glückseligkeit verbringen. Ich schätze Gerrit Alberts langjährig gezeigte Bibeltreue, wohltuende Sachlichkeit und Ausgewogenheit in seinen Beiträgen in FuT. (Den Mitautor Struck und den angegriffenen Bruder Wunderlich kenne ich nicht persönlich.) In diesem Leserbrief konnte ich Bibeltreue oder Sachlichkeit leider nicht wie erwartet, gewohnt und m. M. n. erforderlich feststellen. Ich kann kaum glauben, dass dieser »Kommentars« bzw. »Leserbriefs« (beide Bezeichner werden von S&A verwendet) in FuT erschienen ist.

2. Brüderlichkeit

Der auslösende Artikel von Bruder Wunderlich ist emotional und nicht kühl-sachlich formuliert. Sein Anliegen und sein persönliches Mitgenommensein und Leiden an der Situation ist selbst mit kleinen Herzensohren unschwer herauszuhören. Wenn er z. B. unter »„Kommt her, alle ‚3G‘!“« pointiert schreibt: »Wer so denkt und handelt, hat nichts mehr mit einem Heiland zu tun, der seine Nachfolger auffordert…«, dann versucht Wunderlich hier nicht, jemand »das Heil abzusprechen«, wie S&A ihm dies unterstellen. Der Kontext nach Stil und Inhalt legt m. E. vielmehr nahe, dass Wunderlich hier zum Ausdruck bringt, dass er in solchem Denken und Handeln nicht mehr das Wesen und den Geist Jesu erkennen kann – und dies ist sein Schmerz und seine Klage. Das ist aber etwas völlig anderes, als S&A hier unzulässig überzogen behaupten, um Wunderlich damit argumentativ ins Abseits zu stellen. Ein Argument des Gegenübers ins Absurd-Extreme zu verzerren (und dann zu verdammen) ist ein unzulässiger Kunstgriff der Streitdialektik (nach Arthur Schopenhauers Eristische Dialektik eine Erweiterung; Manuskript 1830), der m. M. n. nicht angewendet werden sollte, zumal nicht unter Brüdern, die alle Den lieben, der Die Wahrheit ist. Leider ist das nicht der einzige Beigeschmack einer Strohmann-Attacke.

3. Christuspriorität

Es gab einmal jüdische Top-Theologen, die behaupteten: »Wir haben keinen König als nur den Kaiser.« (Joh 19,15b). Das ist das Bekenntnis zur Zivilreligion und damit die finstere Antithese zum christlichen Basis-Bekenntnis, dass Christus alleine Haupt seiner Gemeinde ist. Kein „Cäsar“ hat je irgendein Mandat von Gott erhalten, in die Inhalte (Bekenntnis, Lehre, Verkündigung), Abläufe, Strukturen usw. der Gemeinde Christi hineinzuregieren. Vielmehr ist die Obrigkeit von Gott dazu eingesetzt, dass sie das Gute belohnt und das Böse bestraft. Was gut und böse ist, verordnet letztlich Gott, nicht das Verfassungsgericht oder der Gesundheitsminister. Mit gebeugten Knien werden alle Richter und Minister einst Christus Rechenschaft abgeben müssen. Sie daran freundlich und deutlich zu erinnern, ist Christenpflicht.

Dass S&A noch nicht einmal ansatzweise würdigen, dass wir heute in der BRD nicht im römischen Cäsarenreich als Untertanen oder Sklaven leben (s. o.), sondern 2.000 Jahre später als Bürger in einem Rechtsstaat mit grundgesetzlich geschützten – aber vorpolitisch erhaltenen – Grundrechten, ist ein weiterer Anachronismus in der Anwendung des Bibeltextes.

Die Beispiele/Belege der Autoren für die Autorität des Staates, wie Brandschutzgesetz oder DSVGO-EU, sind beliebt, aber kategorial danebengegriffen, denn niemand bestreitet das Mandat der Obrigkeit in diesen grundsätzlich zivilen Dingen. Überhaupt: Meines Wissens hat Brd. Wunderlich nichts gegen das Brandschutzgesetz o. ä. gesagt: Hier riecht es wieder nach Strohmann-Attacke. Ich habe noch gute Erinnerungen an unsere Glaubensgeschwister im Osten vor der Perestroika, die sich verbotener Weise im Wald versammelten und von denen viele in Straflagern aufgerieben wurden. Für mich waren das Glaubenshelden, nicht „ungehorsame Untertanen“, die (angeblich nach Römer 13) Gottes Gericht auf sich gezogen hätten.

Zum Abschluss

Es ist enttäuschend, dass Bruder Wunderlichs Beitrag seitens S&A in FuT keine biblisch treffliche und sachlich hilfreiche Entgegnung oder Kommentierung gegenüber (oder an die Seite!) gestellt werden konnte. Der Kontrast beider Beiträge mag aber auch erhellend sein, wenn man unter den vielen Stimmen Orientierung suchend heraushören will, was (eher) nach der Stimme des Guten Hirten klingt. 

Die Veröffentlichung dieses »Kommentar«s meiner Glaubensbrüder Strunk und Alberts ist zu bedauern, denn –entgegen ihrer Vorrede– rüttelt ein derartiger Beitrag m. M. n. eben doch exemplarisch an den Fundamenten unseres Glaubens, nämlich daran, wie wir Gottes Wort recht auslegen und (dann) trefflich anwenden.


Endnoten

[1] Beide Hefte sind noch als PDF-Download erhältlich auf https://clv.de/ (13.03.2022).
[2] Nicht eingegangen werden kann hier aus Platzgründen: 1. Auf die vielfältigen weiblichen und männlichen Glaubenshelden der Bibel, deren Glaube sich gerade da strahlend und vorbildlich zeigte, als sie die (normal gepflegte) Gefolgschaft und Gehorsam gg. der Obrigkeit verweigerten. 2. Auf die verschiedenen Glaubensbekenntnisse seit der Reformation (in unterschiedlichen Gruppen von Christen), in denen schriftlich niedergelegt wurde, dass absoluter Obrigkeitsgehorsam nicht biblisch ist, dass er vielmehr relativ, d. h. mit Grenzen versehen ist. 3. Auf die wichtige Rolle des individuellen Gewissens, und dass von einem Handeln gegen das Gewissen biblisch stets abzuraten ist. 4. Dass man eine klare Unterscheidung zu machen hat zwischen dem verordneten Amt der Obrigkeit und deren konkreten, jeweiligen Amtsinhabern. Während die römische und jüdische Obrigkeit und deren Gesetzesnormen zur Zeit Jesu als Autoritätsstruktur und damit –in Grenzen– als Mittel der allgemeinen Gnade Gottes angesehen werden müssen (Römer 13), ist Jesu Urteil über die Amtsinhaber und ihren dämonischen Hintergrund (Spiritus Rector) auch klar: »dies ist … die Gewalt der Finsternis.« (Lukas 22,53). Das Recht zur Kapitalstrafe bestand zu Recht, aber das minderte nach apostolischem Zeugnis mitnichten die Schuld der jeweiligen Amtsinhaber am Justizmord am menschgewordenen Sohn Gottes (Apg 2,22–23; 3,14).

Redaktionsstand

30. März 2022. Links zu Straw Man und Schopenhauers Werk Eristische Dialektik eingefügt, da nicht jeder parat hat, was unter einer „Strohmann-Attacke“ oder Eristik zu verstehen ist. Zudem einige kleine Textkorrekturen.

Rezension: Kein König außer dem Kaiser? (Stefan Felber)

Stefan Felber
Kein König außer dem Kaiser? –
Warum Kirche und Staat durch Zivilreligion ihr Wesen verfehlen

Freimund Verlag, 2. Aufl., 2021. Brosch., 244 Seiten |
ISBN 978-3946083603

Herausgeber des Buchs ist ein kleiner Verlag im mittelfränkischen Neuendettelsau, der vor allem Bücher und Kleinschriften lutherischer Prägung erscheinen lässt (Website).

Zum Autor. Pfr. Dr. Stefan Felber hat in Deutschland und Kanada evangelische Theologie studiert und 1997 mit einer Arbeit über das Christuszeugnis im Alten Testament promoviert. Er ist (bis Sommer 2020) Dozent für Altes Testament am Theologischen Seminars St. Chrischona (CH) und seit 2016 Gastdozent für Altes Testament an der Staatsunabhängigen Hochschule Basel. Seit Juni 2022 leitet er den Gemeindehilfsbund in Deutschland. Seine Website gibt detaillierter Auskunft über seine Veröffentlichungen und Vorträge.

Zum Inhalt. Stefan Felber belegt und diskutiert, warum und inwiefern sowohl die Gemeinde Gottes als auch der Staat (die „Obrigkeit“) ihr jeweils von Gott zugewiesenes Wesen – und mithin göttliches Mandat mit Auftrag und Autorität – gefährden oder gar verlieren, wenn sie ihre gottgegebenen Mandatsgrenzen überschreiten: In solcher Entartung und Perversion wird Kirche dann zur diesseitigen, politischen Veranstaltung und der Staat zur Ersatzreligion mit immer größerem Absolutheitsanspruch, zur sog. Zivilreligion. Die bittere Ironie ist greifbar: Ein Staat, der seine Legitimierung durch den einen wahren Gott leugnet und in einem falschem Verständnis der Trennung von Kirche und Staat Gott als ganz entbehrlich (oder gar schädlich) deklariert, macht sich unausweichlich selbst zu Gott, denn ein gottloses Vakuum bietet dem Menschen und seinem friedvollen Miteinander keine Überlebensatmosphäre. Unsere Freiheit und Menschenwürde ist nicht realisierbar getrennt von Dem, der uns diese Freiheit und Menschenwürde gegeben und anvertraut hat, damit wir sie leben, wahren und beschützen. Es ist alarmierend, wenn Vertreter des Staates davon sprechen, dass sie (zumal unbescholtenen) Bürgern deren (gottgegebenen und damit vor-politischen und unveräußerlichen) Grundrechte „wieder geben“ oder „einschränken/nehmen“ wollen.
Karl Baral, der Autor von Zivilreligion oder Christusnachfolge? (Nürnberg 2019) schreibt über dieses sachliche und gut fundierte Buch: »Manche Vorgänge sind hochwirksam, aber wenig bekannt und selten benannt. Dazu zählt auch „Zivilreligion“, wodurch Staat und Kirche vermischt werden. Dabei sieht eine breite Zeugenschaft aus Bibel, Luther, Barmen 1934 und die deutsche Verfassung eine klare Unterscheidung vor. Staat und Kirche sind unaustauschbar und unersetzlich, doch Zivilreligion verwischt die Grenzen mit fatalen Folgen. Es ist Felber sehr zu danken, wie er in diese Problematik einführt. Sein Weg zur Klärung verdient breite Beachtung!« [Fettdruck hinzugefügt].
Prof. Dr. Dr. Daniel von Wachter, Philosoph und Theologe, bringt den Inhalt so auf den Punkt: »Viele Staaten entfalten in unserer Zeit einen religiösen Charakter wie einen Gottesersatz oder Heilsbringer. Sogar Kirchen dienen sich solchen Staaten an. Stefan Felber hilft dem Leser, sich darüber im Lichte des Alten und des Neuen Testaments ein Urteil zu bilden. Hochaktuell!« [Fettdruck hinzugefügt].

Merk-Punkte aus der biblisch-theologischen Besinnung (Langzitat)

Stefan Felber liefert nach ausführlicher Analyse und biblischer Begründung eine Zusammenfassung seiner (Zwischen-) Ergebnisse in 16 Punkten, die m. E. wert sind, gelesen zu werden. Ich erlaube mir daher ein Langzitat, empfehle jedoch dem Interessierten unbedingt die Lektüre des gesamten Buches, da es neben der wertvollen Herleitung auch viele Referenzen und weiterführende Zitate bietet.

»1.    „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe“ (2. Mose 20,2): Gott offenbart sich, sein Recht und sein Heil nicht nur einzelnen Menschen, sondern gerade auch im Gegenüber zum Staat und zu Staaten. Er kann sein Volk preisgeben oder befreien und erretten aus der Hand aller Großmächte der biblischen Zeit: der Ägypter, Assyrer, Babyionier, Perser und Römer (von den kleineren Nachbarstaaten Israels abgesehen189). [Endnoten s. u.]

2.    Der Glaube, den das Volk Israel, geprägt durch seine Zeit in Ägypten, durch die Erfahrungen der Plagen, des Auszugs, geprägt vor allem durch die Sinai-Offenbarung und die Wüstenwanderung – bzw. in Gestalt des Pentateuch – mitbrachte, unterscheidet sich von der ägyptischen Religion markant: Israel war viel diesseitiger orientiert, pflegte keinen Totenkult, keinen Herrscherkult, kein weibliches Priestertum. Die völlig andere Gestalt der israelitischen gegenüber der ägyptischen Religion gegen alle religionswissenschaftliche Wahrscheinlichkeit ist ein starkes Indiz für das Eingreifen des redenden Gottes in einem Meer von stummen, aber politisch und religiös sehr einflußreichen Götzen. 

3.    Nach dem Neuen Testament sind die dem Bürger übergeordneten Mächte gottgegebene, aber vorläufige, ja im Argen liegende Gebilde (Eph 6,12; 1. Joh 5,19). Sie werden von Christen also weder prinzipiell negiert noch kritiklos hingenommen. Anders als die Zeloten zahlen Christen Steuern nicht zähneknirschend, sondern als Gottesdienst. Die Steuer dem Staat, das Leben Gott: Von Gleichrangigkeit beider kann keine Rede sein, ein staatlicher Totalitätsanspruch ist von vornherein abgewiesen.190 „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen!“ (Apg 4,19; 5,29) 

4.    Von Staatsbeamten muß nicht Förderung und Privilegierung des christlichen Glaubens erwartet werden. Religion ist nicht Aufgabe der Herrschenden! Auch ein heidnischer Staat besitzt ein relatives Wissen um Gut und Böse. Was das Gute und das Böse ist, ist dem Staat im Wesentlichen vorgegeben und nicht neu zu erfinden (Röm 13,3f., Konkretion durch die Gebote des Dekalogs: V. 8-10). 

5.    Damit können nur Recht und Gerechtigkeit die Legitimationsgrundlage des Staates bilden, nicht ein König, der angeblich das Heil bringt wie in Ägypten oder Rom, nicht das Volk (wie im konsenstheoretischen Ansatz, siehe das folgende Kapitel), kein Nationalismus und keine Geschichtsphilosophie (wie im Marxismus). Anerkennt der Staat diese Vorgegebenheit, dann kann er sein, was er im Wesen sein soll: Rechtsstaat (wie Augustin betonte) und darin Gottes Diener. Für das Recht, für das Gute und gegen das Böse ist ihm Macht (griech. exousia) von oben her gegeben (Joh 19,11; Röm 13,1), also nicht von unten her, sei es vom Volk oder in der besonderen Eignung einzelner Führer. Das Recht begrenzt den Staat nicht nur, sondern konstituiert ihn auch. Solange der Staat dies anerkennt, haben Christen in ihm jedenfalls für ihr Christsein nichts zu fürchten. 

6.    Er ist von oben her, aber sein Standort ist nicht oben, sondern unten. Die Mosebücher erwuchsen in Abgrenzung zur pharaonischen Selbstvergottung, das Neue Testament in Abgrenzung zum römischen Kaiserkult, um dessentwillen ungezählte Christen in den Tod gingen. Man denke auch an den kommunistischen Personen-und Parteikult! Diese Staatsüberhöhungen waren Versuche, den eigenen Standort ins überirdische zu erheben, und sie sind zugleich modellhaft für das Wirken der antichristlichen Tiere von Offb 13ff. 

7.    Ein guter Staat ist nicht Wohlfahrts-oder Sozialstaat, der eine gleichmäßigere Verteilung von Gütern, Bildung oder die Hebung der Gesundheit erzwingt (Nanny- oder Bevormundungsstaat, „Nudging“). Hier würde das Gewaltmonopol für alle möglichen, auch wechselnden Zwecke mißbraucht werden, die willkürlich von Obrigkeit oder Volk festgelegt werden. 
Die christliche Erwartung an den Staat wirkt im Vergleich zum antiken wie zum heutigen Gefüge höchst sparsam. Wie beim rechtstheoretischen Ansatz (s. 3.2.1) sieht Paulus das staatliche Gewaltmonopol begrenzt auf die Durchsetzung von Recht und Frieden. Der Kult gehört definitiv nicht zu den staatlichen Aufgaben.

8.    Christen werden ihrem Staat in kritischer Solidarität  zugewandt sein, d. h. ein Wächteramt wahrnehmen, wie er sich zu den göttlichen Ordnungen verhält. Es ist der Liebesdienst der Kirche am Staat, seinen Vertretern die göttliche Schöpfungs- und Erhaltungsordnung mit allem Ernst der Gebote zu sagen, sie über das Gesetz staunen (5. Mose 4) oder daran scheitern zu lassen (2. Kön 17; 24f.).

9.    Die Verhaltensweisen des Pilatus und des Judentums beim Prozeß Jesu offenbaren Abgründe des Menschseins: Abgründe, die der Religion wie dem Staat möglich werden, wenn ihre Vertreter die Verpflichtung zur Wahrheit – hier: die Unschuld des Angeklagten – unter die Verpflichtung zum sozialen Frieden stellen. Pilatus fürchtet Menschen mehr als er dem Recht Ehre gibt; so wird sein Staat zum Spielball wechselnder Interessen. Nicht mehr das Recht, sondern die Gunst regiert.

10.  Indem die jüdischen Führer sagen „Wir haben keinen König außer dem Kaiser“ (Joh 19,15), verabschieden sie sich von der Messias-und Erlösungshoffnung des Alten Testaments. Sie legen ihre Zukunft in die Hand eines heidnischen Staates. Jesu Tränen über sein Volk und die herannahende Zerstörung Jerusalems sind wohlbegründet. 

11.  Der Staat überschreitet seine Grenzen, wenn er religiös-ideologisch auf Glauben und Gewissen seiner Bürger zugreift (Staatsreligion, Zivilreligion), sein Gewaltmonopol zur Expansion der Landesgrenzen mißbraucht oder seine Zuständigkeit auf immer mehr Felder von Gesellschaft, Familie und erst recht bei Eingriffen in den Gottesdienst ausdehnt. Aus dem Rechtsstaat wird dann der Gewaltstaat. Seien wir wachsam! 

12.  Jesu Ankündigung, daß die Jünger vor Fürsten und Könige geschleppt werden „um meinetwillen, ihnen und den Völkern zum Zeugnis“ (Mt 10,18) besagt nicht, die Kirche werde immer vom Staat verfolgt werden, wohl aber, daß sie immer damit zu rechnen hat. Tut sie es? 

13.  Alle Mächte dieser Erde stehen unter dem Auferstandenen, der sie ihrer Macht entkleidet hat (Kol 2,15; vgl. 1. Kor 15). Das durch die Menschwerdung Jesu nahe gekommene Gottesreich stellt alle weltlichen Ordnungen unter einen „eschatologischen Vorbehalt“, ihre Legitimität bleibt vorläufig, ja auf göttlichem Prüfstand. 

14.  Der christliche Gehorsam gegenüber dem Staat ist also unbedingt hinsichtlich des vorfindlichen Staates als Institution, aber inhaltlich nicht unbegrenzt, sondern konkretisiert durch die Gebote (Röm 13,8-10), ferner zeitlich begrenzt durch den bald wiederkommenden Christus als Herrn aller Herren (V. 11-14). 

15.  In der Obrigkeit begegnen uns fehlbare und sterbliche Menschen, auf die Juden und Christen nicht vertrauen sollen.191 Politik ist ein menschliches, irdisches Geschäft, nicht ein religiöses. Beanspruchen Herrscher und Staaten die Stelle Gottes, z. B. indem sie das kirchliche Personal bestimmen, gottesdienstliches Leben inhaltlich füllen, reglementieren oder auch verhindern wollen, werden sie zu Dämonen, gewinnen antichristliehe Züge, und verfallen dem Gericht.192

16.  Röm 13 und Offb 13 bilden, wie Cullmann gezeigt hat, keinen Gegensatz. Unsere Deutung der Vorgegebenheit von Gut und Böse für den Staat bei Röm 13 bewährt sich bei Offb 13. Die christliche Haltung zur Obrigkeit wird gemäß beiden Kapiteln von „Geduld und Glaube“ (Offb 13,10) geprägt sein, von kritischer Vorsicht gegenüber einer Obrigkeit, die Gott dienen kann, aber einst gewaltig über ihre Grenzen hinauswachsen und so zum endzeitlichen Instrument antichristlicher Verführung und Verfolgung werden wird. Dem Staat der Gegenwart sollen Christen mit kritischer Solidarität begegnen, dem Verfolgerstaat der Endzeit mit der Bereitschaft zum Martyrium (Offb 12,11; vgl. unten Epilog). 

In der spätmodernen Theologie werden diese Ergebnisse der biblischen Besinnung vielfach unwirksam gemacht, weil man die eigene Zeit und Erkenntnislage als eine höhere Norm ansieht.193 Damit öffnen sich die Kirchentore und lassen die kalte Luft der zivilreligiösen Moden hereinströmen…«

Ein Trost und eine Aufgabe. Wer bzgl. der öffentlichen Verlautbarungen der Obrigkeit frustrierend wiederkehrend Psalm 5,10 erlebt hat, muss unbedingt auch die Verse 12–13 lesen. Der gottesfürchtige Bibelleser weiß: Die Rettung wird nicht von irgendeiner „Obrigkeit“ kommen, sondern „von Oben“! Der Ausgang des „Endspiels“ steht nämlich göttlich fixiert fest, siehe Psalm 2. Bis dahin gilt für alle Glaubenden der dringende Appell des Apostels Paulus: »Ich ermahne nun vor allen Dingen, dass Flehen, Gebete, Fürbitten, Danksagungen getan werden für alle Menschen, für Könige und alle, die in Hoheit sind, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und würdigem Ernst.« (1.Timotheus 2,1-2). Solche Glaubenden sind die besten Bürger, die sich eine Obrigkeit wünschen kann – und wünschen und beschützen sollte.


Endnoten

189  Vgl. Ps 136,10-24; die Geschichtspsalmen (bes. 78; 105; 106) und die weitgespannten und kritischen Blicke der Propheten über die Nachbarn Israels.
190  Cullmann aaO. 25f.
191  Ps 62,10; 118,8-9; 146,3; Jes 2,22; 30,2; 31 ,1; 36,6; Hes 29,7; Has 5,13; Hiab 12,21 ; 34,18.
192  Vgl. Dan 3+6; 2. Thess 2; Offb 13.
193  Über den Progressivismus ausführlich: Martin Erdmanns „Siegeszug des Fortschrittsglaubens“, vier Bände.

Rezension: Biblische Lehre (J. MacArthur, R. Mayhue)

J. MacArthur & R. Mayhue
Biblische Lehre: Eine systematische Zusammenfassung biblischer Wahrheit
EBTC, 2. Aufl. 11/2020, geb., 1.360 Seiten | ISBN: 978-3947196500

Der Herausgeber, der Berliner Verein Europäisches Bibel Training Center (EBTC), hat mit dieser Übersetzung des amerikanischen Werkes Biblical Doctrine: A Systematic Summary of Bible Truth einen wertvollen Beitrag für die deutschsprachigen Gemeinden geliefert. Der Verlag schreibt: »Es gibt nicht viele systematische Theologien auf Deutsch, die von einem eindeutig bibelgläubigen Standpunkt heraus geschrieben sind. Diese Dogmatik geht davon aus, dass die Bibel irrtumslos und verbal inspiriert ist, und darum argumentiert sie im Verlauf der ganzen Entfaltung der theologischen Themen immer mit der Bibel. Ein weiterer Grund, warum dieses Werk für die deutschsprachige Welt so wichtig ist, ist die Tatsache, dass diese Systematik auch einen eindeutig heilsgeschichtlichen Standpunkt einnimmt. Die Epochen der Heilsgeschichte werden deutlich voneinander unterschieden und dementsprechend dargestellt – so wie auch die Schrift es tut.« (Fettdruck hinzugefügt).

Ich habe mir die Frage gestellt: Wozu und wie (ge-)braucht man Biblische Lehre? Hier mein Kommentar dazu, der fast eine Rezension geworden ist.

Ohne Wahrheit verstehen wir weder uns noch die Welt

Jeder Mensch braucht und hat eine generelle Vorstellung, mithilfe derer er alles, was er wahrnimmt, interpretiert, begreift und vermeintlich versteht. Wir nennen diese grundlegende, alles umfassende Vorstellung eine Weltanschauung. Manche wählen ihre Weltanschauung sehr bewusst, andere hingegen sind sich ihrer nicht bewusst oder setzen sich mit ihr nicht auseinander, aber alle haben eine solche als Denkrahmen (Paradigma) und persönlichen „Ich verstehe!“-Interpretationsschlüssel.

Warum ist das so? Weil wir Menschen nicht damit zufrieden sind zu wissen, was der Fall ist (Zahlen, Daten, Fakten), sondern danach streben, auch zu verstehen, was diese Zahlen, Daten und Fakten bedeuten. Menschen fragen nach dem Wozu, nach dem Sinn. Sinn im Sein und Tun zu suchen, ist uns Menschen ureigen, daher ist uns Sinnklärung und Sinnstiftung tiefes Bedürfnis. Wo aber diesen Sinn finden? Wer sagt uns zu Sinn und Sollen verlässlich Wahres? Wo finde ich objektive Wahrheit, die von der eigenen Existenz, Prägung und Begrenztheit unverfälscht, ungefärbt und uneingeschränkt ist?

Angesichts großartiger technischer Errungenschaften glauben viele, in einer Zeit reiner Vernunft und objektiver Wissenschaft zu leben. Der Fortschrittsglaube ist längst zur Religion vieler geworden. Und so sucht man Wahrheit und die Antwort auf die Fragen des Seins und Sollens in der angeblich neutralen Wissenschaft: Harald Lesch wird uns sicher alle Fragen objektiv beantworten können! Dieser Astrophysiker kann ja in einer Stunde so beeindruckend über 4,5 Milliarden Jahre Erdgeschichte reden, dass man fast vergessen könnte, dass er 99,9999987 % dieser Zeit gar nicht dabei war. Das nennen wir in der Wissenschaft extrapolieren (hier mit viel Extra und viel medialer Politur). Nach Max Weber kann sich die wissenschaftliche Analyse aber nur dem Seienden widmen, die Klärung von Werturteilen und das Fragen nach dem Sollen (dem „Seinsollenden“) bleibe reine Glaubenssache. Auf der Suche nach einer tragfähigen Weltanschauung müssen wir also woanders suchen. Aber wo?

Wahrheit, objektive, ewige, vollständige Wahrheit, ist in der Tat die größte Mangelware unserer post-faktischen und post-postmodernen Zeit. Wir brauchen aber klare Aussagen darüber, was der Fall ist, wie alles zu verstehen ist und wie wir es zu bewerten haben. Am besten aus einer Quelle, die sich nicht täuschen kann und die nie lügen wird. Damit ist aber auch gesagt: Der Ursprung solcher Wahrheit kann nicht ein Mensch sein.

Angesichts des pervasiven (alles durchdringenden) Mangels an Wahrheit wundert es uns nicht, dass wir in einer Zeit der moralischen Beliebigkeit und des Glauben an die Konstruierbarkeit aller sozialer und ethischer Normen leben. Es fehlt nicht nur an Wissen, sondern auch an ethischer Orientierung, an sichernder Grenzziehung, an Gottbewusstsein. Die selbstgewählte Gottesfinsternis hat die Vernunft des Menschen verhüllt, verdreht und verkrüppelt (Röm 1,21–22; Eph 4,17–19; vgl. Joh 3,19; Apg 16,18). Auch wir Christen brauchen umso mehr die biblische Wahrheit des geschriebenen Gotteswortes, um unseren Glaubensweg coram Deo (vor dem Angesicht Gottes) in demütiger Weisheit und echter Heiligung gehen zu können.

Der dritte Mangel, den wir leidvoll beklagen, ist Liebe, jene Grundessenz, die der Schöpfer in die Textur unseres Menschseins fest verwoben hat. Wie viele Verzerrungen und Karikaturen von „Liebe“ geistern umher und lassen den Menschen mit teuer glitzernden Plastikfälschungen unbefriedigt und enttäuscht zurück? Wo gibt es echte Liebe, und wie sieht sie in Wahrheit aus? Ist es nicht Gott allein, der den Pascal‘schen »unendlichen Abgrund« unserer Seele (Pensées, Sec. VII, 425) wirklich ausfüllen kann?!

Unser Fragen wirft uns wieder zurück auf Platz 1: Wo finde ich „wahre Wahrheit“?

Biblische Lehre ist eine Wohltat

Das Werk Biblische Lehre fasst in zehn wesentlichen Stücken zusammen, was die Heilige Schrift über die Wahrheit, das Heil, die Heiligung und die Liebe sagt, und beantwortet dabei grundlegende Fragen über Gott, den Menschen, die Sünde, das Gericht, die Barmherzigkeit Gottes und die Erlösung. Der Leser wird gefördert, (1) biblische Wahrheit zu ergreifen, die befreit, (2) göttliche Weisheit zu erwerben, die heiligt, und (3) wahre Liebe zu erfahren, die jenseits von Sentimentalität und Gutmenschentum das Herz erfüllt. Das tut der Seele des Glaubenden wohl.

Die Autoren reden in ihrem Werk wohltuend begreifbar, biblisch nachvollziehbar und so erfreulich klar, dass der Glaubende Korrektur und Erstarken seines Glaubens erfahren kann. Biblische Lehre wurde nicht in geschraubter Theologensprache kodiert, welche allzu oft die Wahrheit der Schrift dem nicht-akademischen Bibelstudenten verschleiert und verdunkelt, sogar Aversionen gegen die „trockene Theologie“ erzeugt. Wie oft werden damit emotional aufgeladene Sprüche und Dogmen wie: „Lehre trennt, Liebe eint“ befördert, welche die Verkündigung der Wahrheit in der Gemeinde nachhaltig durch Mangel und Vernachlässigung beschädigen. 

Auch ein zweites Wohltuendes erfährt der Leser: Biblische Lehre versucht nicht, den Glaubenden mit dem ganzen schillernden Spektrum falscher Lehren aus der Feder toter (und lebender) Theologen zu belasten (was manche als wahre Kunst und Mark der Theologenarbeit und christlichen Hochschulausbildung verstehen). Nein, Biblische Lehre ist anders: Es will dem Glaubenden, der seine Glückseligkeit darin findet, dass er »seine Lust hat am Gesetz des Herrn und über sein Gesetz sinnt Tag und Nacht« (Psalm 1,2), weiterhelfen im geistlichen Wachstum. Es will jenen helfen, die ihrem Herrn und Retter in Gemeinde und Mission dienen und sich darin durch Gottes Gnade weiterentwickeln wollen. 

Gemeinden und Mitgläubige in solchem Anliegen zu fördern, ist Herzblut und DNA des Herausgebers EBTC. Ein Schweizer Missionsleiter hat Biblische Lehre trefflich so beschrieben: »Ein vollständiges „Bibelschul-Programm“ in einem einzigen Buch, das die gesamte biblische Theologie abdeckt. Ein hervorragendes Nachschlagewerk, zusammengestellt von erfahrenen Bibellehrern, empfehlenswert für jeden, der geistlich weiterkommen möchte.« 

Biblische Lehre belebt und stärkt den Glauben

Die Protestanten des 16. und 17. Jahrhunderts verstanden biblische Lehre und Theologie nicht als akademischen Elfenbeinturm, sondern begriffen sie als das Herzstück im Leben eines jeden Nachfolgers Christi. Der Puritaner Thomas Watson schrieb in seiner posthum veröffentlichten Predigtreihe „A Body of Divinity“, dass die biblische Lehre »dem Christentum die Richtung weist, wie das Auge den Körper leitet. … [sie] ist für die Seele wie der Anker eines Schiffes, der es mitten in wogender See des Irrtums und im heftigen Sturm der Verfolgung festhält«. Sie verstanden, dass das Haupt gemacht wurde, um dem Herz zu dienen, dass Theologie unsere Seele erfreuen, Anbetung und Gebet anfachen und dabei die Seele verändern soll. Sie waren weit davon entfernt, dem landläufigen Irrtum zu verfallen, Theorie und Praxis, Theologie und Nachfolge seien Gegensätze.

Biblische Lehre fördert das Verständnis der biblischen Lehre, der göttlichen Wahrheit. Und wer sich der Wahrheit des Wortes systematisch und beständig aussetzt, kann tiefgehende, guttuende Wirkungen erleben: im Denken und Fühlen, im Reden zu Gott und zu Menschen, im Handeln und Wandeln als Nachfolger Jesu Christi. Das wird zeugnishaft sichtbar und beeindruckend lebendig:

  • Sie informiert es unser Denken mit der Wahrheit über Gottes Wesen und Werke, ergreift unser Herz, entzündet unsere Gegenliebe und lässt unsere Lippen in vom Geist und der Wahrheit geprägtem Gotteslob überfließen.
  • Sie informiert unser Wissen und Denken mit der Wahrheit über den Menschen, über seinen hoffnungslosen, gefallenen Zustand, und bringt uns auf die Knie vor unserem barmherzigen Retter-Gott, der einzig und alleine diesen Zustand beenden und zum Besten wenden kann und will.
  • Sie prägt unsere Weltanschauung durch die Wahrheit des Wortes, damit wir das, was wir in dieser Welt wahrnehmen, mit Gottes Augen sehen und so erst recht verstehen. Das alleine ist eine menschenwürdige und gottesverehrende Weltanschauung. Sie trägt durch die Zeit und in die Ewigkeit Gottes hinein.
  • Sie treibt uns ins Gebet, erfüllt uns mit rechter Demut vor Gott und lässt uns alles von Dem erwarten, der die Seinen schon vor aller Zeit geliebt, erwählend an Sein Vaterherz gezogen und eine herrliche Zukunft an der Seite Seines Sohnes in Seiner ewigen Welt verheißen hat.
  • Sie liefert uns wahren Sinn, echte Erfüllung und unfehlbare Gewissheit über den Sinn und das Ziel unseres Lebens, so dass wir es coram Deo in hingegebener Widmung an Gott, in praktischer Weisheit und in ganzheitlicher Heiligung leben wollen und Schritt für Schritt unter Seinem liebenden Auge und seiner erziehenden Hand leben lernen. Als der Sohn Gottes zu seinem Vater betete: »Heilige sie durch die Wahrheit« (Joh 17,17), machte er deutlich, dass es ohne Belehrung in der göttlichen Wahrheit kein gottgefälliges Leben gibt.
  • Sie motiviert uns am Beispiel Jesu und der Apostel, unseren Zeitgenossen in aller Welt das zu bringen, was ihnen am meisten mangelt: die Wahrheit, Gottes gute Botschaft von der größten Tat und dem größten aller Wunder, das durch den menschgewordenen Gottessohn zur Rettung von Sündern auf Golgatha geschehen ist und jedem Glaubenden zuteil wird.
  • Sie motiviert uns, unseren Glaubensgeschwistern das Wort Gottes immer wieder als das „Brot des Lebens“ darzureichen, liebevoll vorbereitet und zubereitet für die Menschen und ihre Situation, in die das Wort unnachahmlich mit Wahrheit, Kraft und Klarheit hineinredet. Es mit Entschiedenheit und Furchtlosigkeit zu predigen, sei es mit Rückenwind oder gegen den Wind. Es mit Klarheit verständlich und begreifbar zu machen, denn alle gute Wirkung des Wortes beginnt mit der biblischen Lehre (2Tim 3,16f).

Meine Erfahrungen mit Biblische Lehre

Ich habe das amerikanische Original komplett durchstudiert und die deutsche Übersetzung inzwischen zweimal komplett aufmerksam durchgelesen. Ich bin sehr dankbar, dass wir das Werk „Biblische Lehre“ nun auch in deutscher Sprache nutzen können. Nach Angabe des Herausgebers waren dazu tausende von Stunden intensiver Arbeit im Übersetzen, Übertragen, Formulieren, Prüfen und Indizieren nötig. Diese Liebesarbeit für die Gemeinde Jesu hat sich gelohnt:

  • Biblische Lehre bringt die Wahrheit der Bibel wohlgeordnet und biblisch gegründet vor Verstand und Herz des Glaubenden. Zahlreiche Bibelstellen, Zitate und Fußnoten verweisen auf den Felsen des Wortes Gottes und ermutigen so zum „Beröer-Test“ (Apg 17,11) mit der geöffneten Bibel des Studierzimmers. Die systematische Ordnung und Gliederung des Materials und vor allem die umfangreichen Verzeichnisse (Stich- und Fachwörter, Bibelstellen) erschließen das Werk und erleichtern das Arbeiten damit außerordentlich, sei beim Durchlesen, beim gezielten Nachschlagen, beim persönlichen Bibelstudium, bei der Vorbereitung einer Bibelarbeit oder Predigt, oder beim Durchdenken von schwierigen Lehrfragen.
  • Biblische Lehre reiht sich ein in die Linie jener Lehrbücher, die die volle und verbale Inspiration, die Fehlerlosigkeit und die Unfehlbarkeit der Heiligen Schrift festhalten. Damit ist dieses Werk geistlich geeignet zur biblischen Festigung der Gemeinde und zur Auferbauung ihrer Glieder. Bibeltreue Gemeinden werden daran ihre Freude finden und geistlichen Nutzen ziehen. 
  • Biblische Lehre ragt aus dieser Linie jedoch heraus, weil es eine klare, biblisch begründete Position in umstrittenen Fragen des Glaubens einnimmt: Siebentageschöpfung, junge Erde, reformatorische Heilslehre, Gläubigentaufe, Gemeindeleitung durch Älteste, komplementäre Sicht von Mann und Frau, Ende der apostolischen Zeichengaben, biblischer Dispensationalismus, zukünftige Wiederkehr Christi, Tausendjähriges Königreich, Unterscheidung von Gemeinde und Israel u.a.m. Damit lässt sich das Herausgeberteam John MacArthur und Richard Mayhue keinem der traditionellen theologischen Systeme zuordnen. Die Herausgeber und ihr Autorenteam zeichnen sich vielmehr dadurch aus, dass sie von Genesis bis Offenbarung einer konsistenten biblischen Hermeneutik (Lehre von den Grundsätzen der Textauslegung) folgen, wohin auch immer diese sie führt. Das ist wohl der sicherste und demütigste Ansatz, die Wahrheit der Schrift zu studierend zu erkennen, entschieden zu tun und in Folge auch lehrenzu können (vgl. Esra 7,10).
  • Biblische Lehre ist keine Lektüre der „leichten Muse“, sondern Schwarzbrot- und Vitamin-Kost. Sorgsam Kauen erschließt auch hier Genuss und Gewinn: »Wie groß sind deine Werke, Herr! Sehr tief sind deine Gedanken.« (Ps 92,6). Das Wort Gottes fordert zum Mit- und Nachdenken heraus. Die alte Weisheit: »Ohne Fleiß kein Preis!« gilt auch hier, vor allem mit Blick auf die über tausend Buchseiten. Eine bequem gewordene Fast-Food- und Tiefkühlkost-Mikrowellen-Generation darf wieder Freude am Denken und Nachdenken entdecken und Ausdauer beim Forschen und Lernen in der Schrift entwickeln. Der didaktische Grundsatz: »Was schnell und billig erworben wurde, wird auch schnell und billig vergessen« gilt immer noch. Wer aber tief gräbt, kann stabile Fundamente legen. Ob man das getan hat, wird sich beim beständigen Rostfraß des Zeitgeistes, in der bitterkalten Frostnacht des Unglaubens und im Sturm der Widergöttlichkeit erweisen.

    Jenen, die vergeblich versuchen, unter Umgehung des Denkens und Schlechtreden des Verstandes das glaubende Herz der Zuhörer zu treffen, gibt R. C. Sproul zu bedenken: »Das Wort Gottes kann im Verstand sein, ohne im Herzen zu sein; aber es kann nicht im Herzen sein, ohne zuerst im Verstand zu sein.«

Das Ziel von Biblische Lehre

Biblische Lehre strebt von Gottes Liebe und Wahrheit getrieben ein großes Ziel an: den Glaubenden zu fördern, dass er für Gottes lebendiges Wort vertieften Dank und Ehrfurcht empfindet, dass er unseren großen Heiland-Gott im Geist und in der Wahrheit gegründet anbetet, und dass er seinem Herrn und Retter Jesus Christus entschiedener nachfolgt. 

Es ist ja ein geistliches Grundgesetz: Je mehr wir die Herrlichkeit Gottes in Seiner Selbstoffenbarung im Wort sehen, umso mehr werden wir Ihn von ganzem Herzen lieben und ehren wollen. Das bewirkt der Heilige Geist im Glaubenden. Und so wird dann unser »Herz und Mund und Tat und Leben« immer mehr »von Christo Zeugnis geben/ ohne Furcht und Heuchelei,/ dass er Gott und Heiland sei.« (Salomon Franck, 1717; BWV 147). 

Es gibt keine Abkürzung: Die Tiefe unserer Theologie wird die Höhe unserer Anbetung und die Widmung unseres Herzens und Lebens bestimmen. Das ist der edelste Nutzen dieses Buches über die biblische Lehre. Und solche Bücher liebe ich.

Im Mai 2020 (Update März 2022)

Die fünf Bücher Mose (Pentateuch) – Ein Überblick (I)

Fundament. Die fünf Bücher Mose (Pentateuch von altgr. pentá »fünf« und teûkhos »Gefäß«, also: »Fünfgefäß«; auch: Thora von hebr. ‏תּוֹרָה‎ »Gebot«, »Weisung«, »Belehrung«, von jarah »unterweisen«) bilden das Fundament der ganzen biblischen Offenbarung beider Bibelteile (AT und NT). Die Linien, die in der Genesis aufgenommen werden, ziehen sich durch die gesamte biblische Offenbarung und finden im Buch der Offenbarung Ziel und Vollendung.

Überblickstabelle unter Verwendung von Daten aus Wikipedia (de.wikipedia.org/wiki/Tora; 01.03.2022) 

Überblick. Der Pentateuch skizziert – zumindest als Schattenbild oder Verheißung – die Botschaft der ganzen Bibel. Diese Botschaft beschreibt, wer Gott ist (Selbstoffenbarung seines Wesen), was Gott tut (Beschreibung seiner Werke) und was er vorhat (Plan, Teleonomie = Sinn und Ziel). Der folgende Überblick soll dies verdeutlichen.

»Der Pentateuch ist eine notwendige Einführung in das gesamte Wort Gottes. Er stellt das vor, was anschließend entfaltet wird, und führt uns immer tiefer in die Hoffnung auf die Vollendung hinein, die zwar noch weit entfernt, aber doch sicher ist.«

Samuel Ridout, The Pentateuch. New York: Loizeaux Brothers, 1919.1

Das erste Buch Mose (Genesis)

Name und Thema. Das erste Buch Mose heißt in der hebräischen Bibel nach dem einleitenden Wort Bereschit (»im Anfang«). Es ist das Buch der Anfänge und Ursprünge. Der Anfangssatz »Im Anfang schuf Gott die Himmel und die Erde« markiert den Anfang von Raum, Zeit und Materie und benennt als Erste Ursache und Schöpfer aller Dinge den Ewigen. Die Aussage »Im Anfang schuf Gott« ist gleichzeitig Programm für die ganze Heilsgeschichte. Sie gilt für die materielle erste Schöpfung und erst recht für die geistliche zweite Schöpfung, die Neuschöpfung, die Erlösung in Christus. Römer 11,36 beschreibt den großen Bogen und die Teleonomie des Ganzen: »Denn von ihm und durchihn und für ihn sind alle Dinge; ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen.« Alles Tun Gottes ist Selbst­offenbarung und geschieht notwendig und wesensartig zu seiner ewigen Anbetung.

Inhalte. Wir erfahren in Genesis von Gott und vom Menschen, vom Ursprung der Schöpfung, der Sünde wie auch der Erlösung. Obwohl historisch verlässlich, erfahren wir mehr als nur Historie.

a. Offenbarung Gottes und des Menschen. Hier wird uns geoffenbart, dass Gott als Schöpfer alles ins Dasein rief, wie er es tat, zu welchem Zweck es geschah und vor allem, welchen Platz der Mensch in der Schöpfung hat. Wir erfahren, wie der Mensch – Höhepunkt und Krone aller Schöpfung – fiel, und wie Gott, der Schöpfer, seiner Natur gemäß die Sünde strafen muss, denn er ist als Schöpfer auch Richter. Aber im gleichen Atemzug wird uns in diesem einzigartigen Buch gesagt, dass der allmächtige und heilige Gott, der Schöpfer und Richter, auch der Erlöser ist. Er gibt dem Menschen, kaum ist dieser in Sünde gefallen, bereits Verheißungen der Errettung vom Urheber und damit von der Macht der Sünde und des Todes (3,15). Damit lernen wir bereits im ersten Buch der Bibel alle wichtigen Grundwahrheiten über Gott, den Menschendie Sünde und die Errettung:

  • Gott ist der Schöpfer: Er ist ewig, er ist unendlich weise und er ist allmächtig (Röm 1,20). Als Urheber aller Existenz handelt er absolut souverän. Er erschafft alles durch sein Wort. Er allein ruft das Wahrnehmbare aus Nichtseiendem (Heb 11,3).
  • Gott ist Richter: Er ist Licht, er ist heilig, wahr und gerecht (1Joh 1,5).
  • Gott ist Retter: Er ist Liebe, er bereitet dem Menschen Heil (1Joh 4,16).
  • Gottes Weisheit und Allmacht enthüllt sich in seinen Schöpfungswerken (Kap 1-2).
  • Gottes Heiligkeit zeigt sich in der Vertreibung aus dem Paradies (3), im Tod, der alle Nachkommen Adams ereilt (5), im Gericht der weltweiten Flut (6–8; »Sintflut« = Große Flut), im Gericht der Sprachverwirrung (11).
  • Gottes Liebe zeigt sich in der Errettung Noahs und seiner Familie. Er findet Gnade vor Gott (6,8). Sie zeigt sich in der Gnadenwahl und Berufung Abrahams (12), in der Erfüllung der Verheißung eines Sohnes (21), in der Bewahrung Isaaks und Jakobs (26–36), in der Errettung der Söhne Jakobs durch Joseph (37–50). Darin zeigt sich in strahlender Klarheit, dass das Böse, das der Mensch mit der Sünde in die Schöpfung gebracht hat, Gottes Absichten der Gnade und des Segens nicht zu vereiteln vermag: »Ihr zwar hattet Böses gegen mich im Sinn; Gott aber hatte im Sinn, es gut zu machen, damit er täte, wie es an diesem Tag ist, um ein großes Volk am Leben zu erhalten.« (50,20). Gott hat und braucht keinen »Plan B«, da er allweise und allmächtig ist.

b. Errettung. Das Buch der Anfänge lehrt uns auch die fundamentalsten Wahrheiten über den Weg der Errettung: Sie hat ihren Grund in der göttlichen Gnadenwahl und sie geschieht durch Glauben an Gott: »Noah aber fand Gnade in den Augen Jahwes« (6,8); »Abraham glaubte Jahwe; und er rechnete es ihm zur Gerechtigkeit« (15,6; vgl. Röm 4,3). Epheser 2,8 sagt dies so: »Denn durch die Gnade seid ihr errettet, mittelst des Glaubens; und das nicht aus euch, Gottes Gabe ist es«. Diese Heilswahrheiten gelten seit der Vertreibung aus dem Paradies für alle nachkommenden Geschlechter und Heilszeiten. Hebräer 11 mit seinem Überblick über den Glauben aller je Geretteten bestätigt diesen Grundsatz.

Bei aller Gnade Gottes, die dieses Buch offenbart, offenbart sich diese stets vor dem Hintergrund des Niedergangs. Alles beginnt überaus herrlich, mit der Herrlichkeit des Schöpfergottes und dem Leben, der Herrschaft und der Wonne des ersten Menschenpaars im Segensraum des Garten Eden. Das Buch endet aber überaus betrüblich: Mit einem Toten in der Enge eines Sarges in Ägypten, fern der Segensheimat (50,26). Wir sehen: Der Lohn des Sünde ist der Tod (1Mo 2,17; Röm 6,23).

Merkhilfe

Urgeschichte und Patriarchengeschichte

  • 1–11: Urgeschichte (4 »S«): Von Unschuld zum Fall zum Leben als Sünder
    SchöpfungSündenfallSintflutSprachverwirrung.
  • 12–50: Patriarchengeschichte (4 Personen): Das Leben der gnädig Berufenen
    Abraham, IsaakJakob (Israel)Joseph.

Das zweite Buch Mose (Exodus)

Name und Thema. Das zweite Buch Mose heißt in der hebräischen Bibel nach einem der ersten Wörter Schemot (»Namen«). Es berichtet uns davon, wie Gott die Nachfahren Abrahams gemäß seiner an ihn gemachten Verheißungen mit Namen ruft. Dieses Buch der Errettung par excellence beginnt bedeutungsvoller Weise nicht mit der Not der Israeliten, sondern mit den Namen derer, die seit den Tagen ihrer Väter der Gegenstand göttlicher Verheißungen gewesen waren. Gott hatte Abraham verheißen, seine Nachkommen sollten zur bestimmten Zeit aus ihrer Knechtschaft befreit werden und das verheißene Land ererben (1Mo 15,16). Und er hatte ihm und Isaak und Jakob verheißen, dass ihr Same überaus zahlreich werde (1Mo 46,3–4).

Exodus lehrt uns, dass Gottes Errettung nicht mit der Not des Menschen beginnt, auch nicht mit dem Willen des Menschen errettet zu werden, sondern mit dem Vorsatz und Willen Gottes: »Nach seinem eigenen Willen hat er uns durch das Wort der Wahrheit gezeugt, damit wir eine gewisse Erstlingsfrucht seiner Geschöpfe seien« (Jak 1,18). Die, welche er zuvorerkannt (d. h. in ewiger Liebe erfasst) hat, die hat er nach Vorsatz berufen (Röm 8,28–30), und zwar mit Namen (d. h. persönlich) berufen: »Und nun, so spricht Jahwe, der dich geschaffen hat, Jakob, und der dich gebildet hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein« (Jes 43,1). In diesem Buch sind aber nicht allein die Namen der Erlösten wichtig (siehe 1,1–4 usw., 28,9–30), sondern noch wichtiger ist der Name des Retter Gottes, der sich in ihm offenbart: »Da sprach Gott zu Mose: Ich bin, der ich bin. Und er sprach: Also sollst du zu den Kindern Israel sagen: ›Ich bin‹ hat mich zu euch gesandt« (3,14) und »Und Jahwe ging vor seinem Angesicht vorüber und rief: Jahwe, Jahwe, Gott, barmherzig und gnädig, langsam zum Zorn und groß an Güte und Wahrheit, der Güte bewahrt auf Tausende hin, der Ungerechtigkeit, Übertretung und Sünde vergibt – aber keineswegs hält er für schuldlos den Schuldigen…« (34,6-7a).

Zusammenhang. Das zweite Buch Mose ist die Fortsetzung des ersten Buches, erkenntlich am Anfangswort »Und«. Exodus setzt da ein, wo Genesis aufgehört hatte: Josephs Nachkommen sind in Ägypten und werden bald der Willkür eines ihnen feindlich gesinnten Despoten ausgeliefert. Das Volk wird von diesem geknechtet (1,13–14) und dem Tod verschrieben (1,16.22). Das Buch endet aber mit Leben und Herrlichkeit: Gottes Herrlichkeit wohnt unter seinem erlösten Volk, und das Volk folgt der Herrlichkeit, die es beständig vor Augen hat (Kap 40). Damit ist Exodus im Gegensatz zu Genesis ein Buch des Aufstieges. Es führt von der Schande der Knechtschaft zur Herrlichkeit der Sohnschaft und von der Bitterkeit des Todes zur Wonne des Lebens. Wie ist dieser Aufstieg erklärbar? Sicherlich nicht durch gesellschaftliche Evolution oder durch moralische Höherentwicklung, sondern einzig durch Gottes Macht: Er hat in Erlösung und Errettung eingegriffen und den unerbittlichen Abstieg in einen unwiderstehlichen Aufstieg gewendet.

Christus (Typologie). In Exodus erfahren wir, dass Gott, um den Menschen zu retten, »herabgekommen« ist (3,8). Das ist nichts anderes als ein bereits hier abgegebenes Versprechen, dass er »in der Fülle der Zeit« (Gal 4,4) vollständig zu uns herabkommen, dass er Mensch werden (Joh 1,14) und als Mensch für uns leiden und sterben sollte (Phil 2,5–8). Exodus lehrt dies zumeist in »Schatten der himmlischen Dinge« (Kol 2,17; Heb 8,5; 10,1).

Das Passah (12) lehrt uns: Der Retter sollte nicht allein Mensch werden, sondern als Mensch an unserer Statt durch das Feuer des Gerichts des gerechten Gottes gehen. Nur auf diesem Weg konnte er sein sündiges Volk aus der Macht seines Tyrannen befreien und zu sich führen (19,4): »Denn es hat ja Christus einmal für Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, damit er uns zu Gott führe« (1Pet 3,18); »unser Passah, Christus, ist geschlachtet worden« (1Kor 5,7b).

Das erlöste Volk baut seinem Gott und Erlöser nach dessen Anweisungen ein Heiligtum: »Und sie sollen mir ein Heiligtum machen, damit ich in ihrer Mitte wohne« (25,8). Damit kommt er zu ihnen und öffnet ihnen den Zugang zu ihm, um bei ihm zu sein und ihm zu dienen. Gottes Forderung an den Pharao erfüllt sich: »Lass meinen Sohn ziehen, damit er mir dient!« (4,22b). Entsprechend lässt sich Exodus in Worten des Römerbriefs so zusammenfassen: »Freigemacht aber von der Sünde, seid ihr Sklaven der Gerechtigkeit geworden« (Röm 6,18).

In Exodus wird erstmals in der Bibel von Gottes Herrlichkeit gesprochen. Im letzten Kapitel lesen wir: »…und die Herrlichkeit Jahwes erfüllte die Wohnung« (40,34b). Einen ähnlichen Satz suchen wir im Schöpfungsbericht vergeblich. Damit will uns der Geist Gottes sagen, dass Gottes Herrlichkeit erst in der Erlösung voll und frei aufscheint. Ist das nicht ein Wunder?! Der Mensch hat gesündigt und damit unermesslich Böses getan. Dieses Böse, das zur Schande und zur Pein des Menschen in die Schöpfung eingedrungen ist, wird Gott zum Anlass, seine Herrlichkeit in einer Weise zu entfalten, wie das durch die Schöpfung nie geschehen konnte, und dem Menschen Höheres zu geben, als er sich durch die Sünde eigenhändig verscherzt hatte (vgl. Joh 9,3; 11,4; 17,22; Off 21,11).

Merkhilfe

Errettung und Erlösung – Von Knechtschaft und Tod (1) zu Gott gebracht (40)

1: WORAUS gerettet (Situation):
(a) aus der Knechtschaft (1,8–14); 
(b) 
aus dem Tod (1,15–22).

2–12: WIE gerettet (Methode):
(a) durch die Geburt, Vorbereitung und Sendung eines Retters (2–11);
(b) den Tod des Retters (12, Passah);
(c) nur mittels Glauben (4,1ff; 5x).

13–40: WOZU gerettet (Ziel):
(a) Um sich Gott hinzugeben, Gott zu leben und Gott zu dienen (13–15);
(b) Um zu Gott gebracht zu werden (16–24);
(c) Damit der Retter-Gott unter seinem erlösten Volk wohne (25–40).

Fortsetzung hier (Levitikus–Deuteronomium), Gesamtdokument (PDF) hier.

Endnotizen

1– Samuel Ridout, The Pentateuch. Chapter 1: Introductory. »But all this will suffice to show us that the Pentateuch is an essential introduction to the entire word of God. It opens up that which is afterward unfolded, and ever leads us on in hope to a consummation which, though distant, is certain.« (Orig.: New York: Loizeaux Brothers, 1919. Quelle: www.bibletruthpublishers.com/the-pentateuch/s-ridout/lbd24119; abgerufen 01.03.2022. PDF: www.brethrenarchive.org/media/364855/ridout-s-_-pentateuch.pdf)

Die fünf Bücher Mose (Pentateuch) – Ein Überblick (II)

Erster Teil hier (Genesis–Exodus), Gesamtdokument (PDF) hier.

Das dritte Buch Mose (Levitikus)

Name und Thema. Das dritte Buch Mose heißt in der hebräischen Bibel nach dem ersten Wort: Wajjiqra’ (»und er rief«). Es ist das Buch der Berufung zur Heiligkeit: Die Heiligen sind dazu berufen, da zu sein, wo er ist (Joh 14,3; 17,23), und so zu sein, wie er ist (1Joh 3,3). Gott selbst bereitet ihnen den Weg in seine Gegenwart und er trifft Vorkehrungen und gibt Weisungen, damit sie für seine Gegenwart passend gemacht sind. Damit kann das Thema des Buches in einem Wort angegeben werden: Heiligkeit (>80-mal). »Denn ich bin Jahwe, der euch aus dem Land Ägypten heraufgeführt hat, um euer Gott zu sein: So seid heilig, denn ich bin heilig.« (11,45; vgl. 1Pet 1,16).

Zusammenhang. Levitikus ist die Fortsetzung des zweiten Buches, erkenntlich am Anfangswort »Und«. Es knüpft dort an, wo Exodus aufgehört hatte, beim Haus Gottes, und führt dann weiter. In Exodus wurde der Sünder gerettet und zu Gott gebracht, in Levitikus wird der so Erlöste gerufen, nun Gott zu nahen, Gemeinschaft mit Gott zu haben, in sein Haus (Tempel) einzutreten. Diese Gemeinschaft ist möglich durch vermittelnden Priesterdienst – insbesondere des Hohenpriesters – und beständigen Opferdienst. Levitikus ist das Buch der Priesterdas Buch der Anbetung. Es ist das Schattenbild dessen, was Petrus so umschreibt: »…auch ihr selbst [werdet] als lebendige Steine aufgebaut, ein geistliches Haus, zu einer heiligen Priesterschaft, um darzubringen geistliche Schlachtopfer, Gott wohlangenehm durch Jesus Christus« (1Pet 2,5; vgl. 2,9 mit der königlichen Priesterschaft). 

Es gibt auch bemerkenswerte Unterschiede zwischen Exodus und Levitikus: Anders als in Exodus ruft Gott Mose weder aus dem Dornbusch (2Mo 3) noch von dem Berg Sinai (2Mo 19), sondern er ruft ihn »aus dem Zelt der Zusammenkunft«. Denn dort wohnt Gottes Herrlichkeit und der Erlöste soll zu ihm eingehen; dies ist die höchste Bestimmung der Erlösten. Das dritte und damit mittlere der Mosebücher führt uns damit ins Herz und auf den Gipfel unserer Bestimmung: Wir werden ewig beim Herrn sein, und wir werden ewig den anbeten, der auf dem Throne ist, und das Lamm. Und so wie das Lamm in der Mitte des Thrones Gottes steht (Off 5,6), so steht dieses Buch in der Mitte der fünf Bücher Mose. Der Dreh- und Angelpunkt aller Wege Gottes ist Menschwerdung, Tod und Auferstehung des Herrn Jesus Christus. 

Christus (Typologie). Die in den ersten sieben Kapiteln beschriebenen blutigen Opfer sind allesamt ein Schattenbild unseres Herrn, der als Lamm Gottes in diese Welt kam (Joh 1,29), »der durch den ewigen Geist sich selbst ohne Flecken Gott geopfert hat« (Heb 9,14). Auf Grund dieses Opfers können wir Gott nahen und ihm dienen (Heb 9,14b; 10,19). Er ist aber nicht allein Grund, sondern auch Substanz (Inhalt) und Gegenstand aller Anbetung. Die sich anschließenden Kapitel 8 und 9, welche die Weihe der Priester zum Dienst beschreiben, finden ihre Erfüllung in unserem Hohen Priester Jesus Christus. Er ist nicht allein das Opfer, das Gottes Ehre wiederhergestellt und den Sünder gerechtfertigt hat, sondern er ist auch der Hohe Priester, der allein das Recht und die Macht hat, sich für die Seinen vor Gott zu verwenden, damit diesen sein Opfer zugerechnet wird (Heb 8,1–2). Er ist der Priester, der den Aussätzigen für rein erklären und so vor Gott stellen kann (Kap 13–14): »Und siehe, ein Aussätziger kam herzu, warf sich vor ihm nieder und sprach: Herr, wenn du willst, kannst du mich reinigen. Und er streckte seine Hand aus, rührte ihn an und sprach: Ich will; werde gereinigt! Und sogleich wurde er von seinem Aussatz gereinigt.« (Mt 8,2–3). Und er ist der große Sachwalter, der persönlich dafür sorgt, dass alle Sünden seines Volkes vor Gott bekannt und vor Gott gesühnt werden (16,15–16.21–22): »Meine Kinder, ich schreibe euch dies, damit ihr nicht sündigt; und wenn jemand gesündigt hat – wir haben einen Sachwalter bei dem Vater, Jesus Christus, den Gerechten. Und er ist die Sühnung für unsere Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die ganze Welt.« (1Joh 2,1–2).

Merkhilfe

Heiligung – Gemeinschaft mit Gott und untereinander

  • 1–10: Wie kann man Gott nahen?
    (a) durch den Opferdienst (1–7); 
    (b) 
    durch den Priesterdienst (8–10).
  • 11–15: Wie soll man Gott nahen? (Reinheitsgesetze für Nahrung, Krankheit)
  • 16–17: Der Große Sühnungstag (jährliches Zentralopfer) und weitere Gesetze
  • 18–22: Wie soll man einander nahen? (Reinheitsgesetze für Gemeinschaft)
  • 23: Wie feiern wir Seine Gegenwart miteinander? (Feste Jahwes)
  • 24–27: Wie sieht die Gemeinschaft der Erlösten aus? (Soziale Verordnungen)

Das vierte Buch Mose (Numeri)

Name und Thema. Das vierte Buch Mose heißt in der hebräischen Bibel wiederum nach einem der ersten Wörter Bemidbar (»in der Wüste«). Es geht um die dem Exodus und der Zeit am Horeb folgende Wüstenwanderung des Volkes Gottes, die wegen vieler Rebellionen (10–25; insbes. 14,22) und fortgesetztem Götzendienst größtenteils (38 der 40 Jahre) ein Irrweg unter Gottes gerechtem Zorn war (vgl. Hes 20,4–26). In diesem Buch des Zornes Gottesfinden sich die uns so geläufigen Geschichten von den Wachteln (vgl. Ps 106,13–15), von der aussätzigen Mirjam, vom geschlagenen Felsen, von den feurigen und von der ehernen Schlange, von Bileam und von Pinehas. Wegen der beiden auffälligen Musterungen und Zahlenangaben bzgl. der ersten (1) und der zweiten (26) Generation (Männliche ab 20 J.) wird das Buch auch »Numeri« (Zahlen) genannt.

Zusammenhang. Numeri ist die zeitlich und vor allem inhaltlich schlüssige Fortsetzung des dritten Buches: Das unter Knechtschaft schmachtende Israel war erlöst und zu Gott gebracht worden, Gott hatte das Volk zu sich gerufen, damit es gleich ihm heilig sei und ihm priesterlich diene. Nun muss Israel als ein von Gott Erwählter, Erlöster und Geheiligter den Weg ziehen, der es durch eine feindliche Welt ans Ziel bringen muss. Sie hätten diesen Weg nicht aus eigener Kraft und eigenem Willen geschafft.

Typologie. Das neutestamentliche Gegenstück wird von Petrus so gesagt: »Geliebte, ich ermahne euch als Fremdlinge und als solche, die ohne Bürgerrecht sind, euch der fleischlichen Begierden zu enthalten, die gegen die Seele streiten, und dass ihr euren Wandel unter den Nationen ehrbar führt, damit sie, worin sie gegen euch als Übeltäter reden, aus den guten Werken, die sie anschauen, Gott verherrlichen am Tag der Heimsuchung« (1Pet 2,11-12). Numeri beschreibt unseren »Wandel unter den Nationen«, spricht von Erprobung und Bewährung (Jak 1,12), von Widersachern und von Kampf, der uns wider diese verordnet ist (Eph 6,12; Jak 4,7; 1Pet 5,8). 

Numeri spricht von mannigfaltigem Straucheln (Jak 3,2; vgl. Ps 105), aber auch von Gottes gnädigen Vorkehrungen, welche dafür sorgen, dass Sein Volk trotz Versagen und trotz Verzögerung doch am Ziel ankommt: Er nährt es täglich durch das vom Himmel fallende Manna (vgl. Eph 5,29). Er segnet es priesterlich (6,24–26). Er führt es und ist bei ihm bis an das Ende des Pilgerweges (Mt 28,20). Der von ihm erwählte Hohepriester (17) erhält es in der rechten Beziehung zu Gott und rettet es durch eine feindliche Welt hindurch (Heb 7,25). Den Israeliten war als Erbe ein Land in dieser Schöpfung bereitet; auf uns wartet ein himmlisches Erbe (1Pet 1,4). Dieses Erbe kann uns nicht verloren gehen. Dafür sorgt Gottes Macht und Gottes Treue, worauf der zweitletzte Satz des Buches hinweist: »Und so verblieb ihr Erbteil beim Stamm der Familie ihres Vaters« (36,12b). Gott sorgt dafür, dass wir auf dem Weg durch die Wüste unser Erbe nicht verlieren, wiewohl wir schwach sind wie die Töchter Zelophchads, die, auf sich gestellt, das väterliche Erbe verloren hätten. Allein die Heirat mit einem Mann aus ihrem Stamm (36,5–9) vermochte deren Erbe sicherzustellen. Auch wir, die Braut und die Ehefrau des Lammes, verlören auf unserem langen Weg zum Ziel alles, was uns Gott bereitet hat, hätte sich Christus nicht als unser Bräutigam mit uns verbunden und verbürgte nicht er für die Sicherheit unseres Erbes.

Merkhilfe

Dienst und Wandel auf der Wüstenreise

  • 1,1–25,18: Das Ende der ersten Generation in der Wüste (Buchteil 1)
    (a) Die Treue Israels am Sinai (1,1–10,10); 
    (b) 
    Die rebellische Generation in der Wüste (10,11–25,18).
  • 26,1–36,13: Die neue Generation, Ausblick ins Verheißene Land (Buchteil 2)
    (a) Die Vorbereitung der neuen Generation Israels (26,1–30,16); 
    (b) 
    Die Vorbereitung für Krieg und Einzug ins Verheißene Land (31,1–36,13).

Das fünfte Buch Mose (Deuteronomium)

Name und Thema. Das fünfte Buch Mose heißt in der hebräischen Bibel nach den einleitenden Worten ʾēlleh haddeḇārîm (»Dies sind die Worte«), kurz: Debarim (»die Worte«). Das Thema dieses den Pentateuch (»Fünfbuch«) abschließenden Buches ist die Zuverlässigkeit der Aussprüche Gottes und die Bedeutung dieser Worte im Leben der erwählten Nation, es ist das Buch des ins Herz eingepflanzten Wortes Gottes. Alle Worte Gottes werden sich mit Gewissheit erfüllen, sei es zum Segen, sei es zum Fluch (28). Daher wird dem Volk in jedem Kapitel (und in manchen Kapiteln wiederholt) eingeschärft, auf dieses Wort zu hören, es zu bewahren und ihm zu gehorchen. Der geforderte Gehorsam ist kein rein äußerlicher, sondern Frucht eines durch das Wort Gottes erneuerten Herzens (ca. 47x lêḇâḇ»Herz«; im Pentateuch insges. 55x, im AT 252x). Im Neuen Bund wird dies realisiert werden: »[So] spricht Jahwe: Ich werde mein Gesetz in ihr Inneres legen und werde es auf ihr Herz schreiben; und ich werde ihr Gott, und sie werden mein Volk sein« (Jer 31,33b; vgl. 2Kor 3,3, Heb 10,10; 15–16).

Das Buch ist nicht, wie der griechische Titel »Deuteronomium« (»zweites Gesetz«) will, eine »Wiederholung des Gesetzes«. Es ist nach (1,5) vielmehr eine Auslegung (be’erdes Gesetzes. Mose liest nicht nur vor, er hält drei Predigten aus dem Wort Gottes (vgl. 2Tim 3,16–4,2). Darin erklärt er dem Volk Gottes, wie ihr Glück sich am (praktischen) Glauben oder Unglauben gegenüber Gottes Wort entscheidet. Zum Beleg liefert er zuerst einen Rückblick über das Ergehen der Kinder Israel seit dem Auszug (1–4). Im Rückblick stellt er dem Volk vor Augen, wie es Gottes Macht zum Fluch erfahren hatte, als es Gottes Wort nicht glaubte (1), danach, wie es Gottes Macht zum Segen erfahren hatte, als es Gottes Wort vertraute (2–3). In den Endkapiteln (28–33) zeigt Mose, dass das Volk eine herrliche Zukunft haben muss, wenn es diesem Wort vertraut und gehorcht, ebenso sicher, wie es eine schreckliche Zukunft haben wird, wenn es diesem Wort nicht vertraut und gehorcht. Mit dem ganzen Gewicht dieses Rückblickes und dieses Ausblickes ermahnt Mose im großen Mittelteil des Buches zum Hören auf Gottes Wort und zum Gehorchen. Das, was man das israelische Glaubensbekenntnis (»Schma Jisrael«, šma‘ yiśra’el = »Höre, Israel!«) zu nennen pflegt, könnte man das Motto des ganzen Buches nennen: »Höre, Israel: Jahwe, unser Gott, ist ein Jahwe! Und du sollst Jahwe, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen auf deinem Herzen sein« (6,4–6).

Zusammenhang. Mit Deuteronomium schließt sich der Kreis, der mit Genesis eröffnet worden war. In Genesis hatten wir erfahren, wie Gottes Wort alles erschaffen und wie die Auflehnung gegen dieses Wort den Menschen in den Ruin gestürzt hatte. In Deuteronomium erfahren wir, wie alle Worte Gottes in Erfüllung gehen und wie Segen oder Fluch sich an unserem Glaubensgehorsam gegen dieses Wort Gottes entscheidet (vgl. bzgl. des Evangeliums, Röm 1,5 und 16,26). Ebenso aber, wie Gott als der souveräne Schöpfer alles nach seinem Willen schuf (vgl. Off 4,11), ohne dass ihn dabei jemand beriet oder er irgend jemandem etwas schuldig war, so wird er am Ende als der souveräne Retter das Heil an einem unwürdigen Volk vollenden (33), das ihm dabei ebenso wenig beraten hat noch ihm etwas gegeben hat, so dass er ihm die Errettung schuldete (Röm 11,34–36). Gott ist das Alpha und das Omega. Er, der im Anfang schuf, wird am Ende alles vollendenIhm sei die Herrlichkeit von Ewigkeit zu Ewigkeit!

Typologie und Prophetie. Deuteronomium wird im NT mehr als 40x zitiert und zusätzlich häufig angespielt, auch Christus verwendete häufig Zitate daraus. Israels Sehnen nach einem König wird hier von Moses vorhergesagt (17,14–20). Das Kommen des Herrn Jesus als Prophet wird angekündigt (18,15.18 mit Apg 3,22–23; 7,37). Weiterhin lesen wir von Weissagungen bezüglich der Zukunft Israels. Auffallend oft (21x) wird der von Gott erwählte Ort für den Gottesdienst (»der Ort, wo Gott seinen Namen wohnen lässt«, also persönlich anwesend ist) angekündigt (noch ohne Ortsangabe; es ist Zion, vgl. Ps 132,13–14). 

Merkhilfe

Herzensgehorsam gegenüber Gottes Wort (Joh 14,21.23)

  • 1,1–5: Vorwort
  • 1,6–4,43: Erste Predigt: Der Blick zurück (Wüstenreise)
  • 4,44–28,68: Zweite Predigt: Verpflichtungen des Bundesvertrages und dessen Ratifizierung
  • 29,1–30,20: Dritte Predigt: Die Bundesbedingungen
  • 31,1–34,12: Abschließende Erzählungen

Abschlusszitat zur Inspiration des Pentateuch

»Die modernen Kritiker haben es gewagt, fast alle Bücher der Heiligen Schrift anzugreifen und zu untergraben, allerdings keines mit einer solchen Dreistigkeit wie den Pentateuch (außer vielleicht die Prophetien Daniels). […] Lassen Sie uns an der weitreichenden, tiefgehenden und endgültigen Tatsache festhalten, dass die Autorität Christi diese Frage für jeden, der ihn als Gott und Mensch anerkennt, beantwortet hat.«

William Kelly, Lectures Introductory to the Bible: 1. Pentateuch. Introduction.2

Endnotizen

2– »Modern criticism has ventured to undermine and assail almost all the books of Holy Scripture, but none with such boldness as the Pentateuch, unless it be the prophecy of Daniel. […] Let us take our stand on the fact, broad, deep, and conclusive, that the authority of Christ has decided the question for all who own Him to be God as well as man.« William Kelly (1821-1906), Lectures introductory to the study of the Pentateuch. Chapter 1: Introductory (London: W. H. Broom, 1871), S. VII. VIII . (Textquelle: https://bibletruthpublishers.com/introduction/william-kelly-wk/lectures-introductory-to-the-bible-1-pentateuch/la76920; abgerufen 01.03.2022. PDF: https://www.brethrenarchive.org/media/360163/lectures_introductory_to_the_study_of_the-pent.pdf).

Anhang: Die Offenbarung Gottes im Pentateuch

Jedes Buch des Pentateuch zeigt uns eine besondere Eigenschaften Gottes (s. Tabelle). Natürlich ist Gott stets Derselbe, auch wenn er sich schrittweise und mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung offenbart. Man wird daher in jedem Bibelbuch stets sein ganzes, wahres Wesen sehen können.

Die Gnade Gottes ist erschienen … und unterweist uns, gottselig zu leben

Die 95 Reformationsthesen Martin Luthers (1483–1546) wurden durch die üble Lehre und Praxis der Römisch-katholischen Kirche provoziert, die er als Augustinermönch (1505–1521?) bestens kannte. Schon in These 1 formuliert er daher unter Verweis auf Matthäus 4,17, dass Gott gewollt habe, »dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll«. Wie aber gelingt dem ein für alle Mal Gerechtfertigten solch ein gottseliges Leben echter Umkehr? Wie ist es möglich, dass ein an Jesus Christus Glaubender praktisch lernt, »besonnen und gerecht und gottselig [zu] leben« (Titus 2,12)?

Auf diese Frage rechter Glaubenspraxis wurden und werden leider falsche Antworten gegeben und damit die Glaubenden irregeleitet. Anhand einiger Schlüsselstellen der Schrift soll daher die biblische Lehre der Heiligung, des Prozesses also, der den Glaubenden im Leben der Nachfolge praktisch in das Bild des Sohnes Gottes verwandelt, umrissen werden, um Irrwege zu erkennen, zu vermeiden und echtes Wachstum zu erleben.

Zum 500. Reformationsjubiläum 2017 veranstaltete das EBTC e. V. in Lutherstadt Wittenberg eine mehrtägige Reformationskonferenz. Am 20.05.2017 wurde ein Vortrag zum angegebenen Thema gehalten, dessen schriftliche (Lang-)Fassung hier zur Verfügung gestellt wird (PDF, 670 kB). Es ist nicht gestattet, diesen Beitrag kommerziell zu nutzen oder online im Internet zur Verfügung zu stellen.

Gliederung des Beitrags

1 Leben wir in „beständiger Reformation“?

2 Der Kontext der Heiligung

2.1 Rechtfertigung
2.2 Verherrlichung
2.3 Heiligsein und Heiligwerden (Heil und Heiligung)
2.4 Gnade
2.5 Zusammenfassung
2.6 Was ist Heiligung und wie geschieht sie?
2.6.1 Warum müssen Heilige heilig(er) werden?
2.6.2 Wie geschieht Heiligung?
2.6.3 Wie heilig müssen Heilige werden?
2.6.4 Wo geht Heiligung „schief“?

3 Die Lehre der biblischen Heiligung nach Titus 2,11–15
3.1 Biblische Heiligung ist ein Gnadenwerk des Heiland-Gottes
3.2 Biblische Heiligung hat Jesus Christus zum Vorbild
3.3 Biblische Heiligung geschieht in aktiver, dynamischer Unterweisung
3.3.1 Unterweisung im Lebensvollzug
3.3.2 Unterweisung zum Lassen (Gelassenhaben)
3.3.3 Unterweisung im Tun
3.3.4 Biblische Heiligung ist vom Zweiten Kommen Jesu motiviert
3.4 Biblische Heiligung erleben nur Erkaufte und Gereinigte
3.5 Biblische Heiligung findet Ausdruck und Lebensinhalt im Eifer für Gute Werke
3.6 Biblische Heiligung muss Gegenstand der biblischen Ermahnung sein

4 Erfolgt biblische Heiligung monergistisch oder synergistisch?
4.1 Biblische Heiligung ist keine rein passive Veranstaltung
4.2 Biblische Heiligung erfolgt in einer lebendigen Vater-Sohn-Beziehung
4.3 Biblische Heiligung ist keine rein menschlich-aktive Veranstaltung
4.4 Biblische Heiligung geschieht unter Anwendung geistlicher Mittel

5 Drei Schlussfolgerungen
5.1 Biblische Heiligung verlangt anwendungsorientierte Auslegungspredigt
5.2 Biblische Heiligung verlangt vom Glaubenden Aktivität und Eifer
5.3 Biblische Heiligung schenkt dem Glaubenden alles zum Heil Notwendige

Literaturverzeichnis

»Es ist vollbracht!« – Was denn?

Als der Herr Jesus Christus am Karfreitag am Kreuz hängend sieben bedeutsame Worte aussprach, lautete das vorletzte: »Es ist vollbracht!« (Johannes 19,30 ELBCSV; vgl. Mt 27,50; Mk 15,37; Lk 23,46). Nur der Apostel Johannes berichtet es uns im Wortlaut. Danach neigte Christus sein Haupt und übergab mit dem siebten Ausruf seinen Geist Gott: Das Lamm Gottes, »das die Sünde der Welt wegnimmt« (Joh 1,29), starb in aktiver, völliger Hingabe an Gott. Der Mensch gewordene Sohn Gottes neigte sein Haupt, nicht in Resignation oder Schwäche, sondern wie zum Schlummer[1], um es am dritten Tag in eigener Autorität wieder zu erheben (Joh 10,18).

Was heißt »vollbracht«?

Jesus sprach tatsächlich nur ein Wort: » tetélestai «[2]. Schon zwei Verse vorher gebrauchte Johannes dieses Wort in identischer Form: »Danach, da Jesus wusste, dass alles schon vollbracht war[2], spricht er, damit die Schrift erfüllt würde[3]: Mich dürstet!« (Joh 19,28). Das Wort und seine Zeitform hier bedeuten, dass eine Tat oder ein Werk zum erfolgreichen Ziel gebracht wurde und nun bleibende Auswirkungen hat. Man schrieb tetélestai auf eine bezahlte Rechnung, auf eine abgesessene Gefängnisstrafe usw., also: „Bezahlt!“, „Abgeleistet!“, „Fertig!“: Nichts ist mehr zu bezahlen, keine Forderung besteht mehr, alles ist erledigt. – Hier wurde nicht nur „eine Tür zum Heil aufgestoßen“ oder „dem Sünder eine Chance geboten“ oder „dem Menschen ein großes Vorbild gegeben“ –alles Vorstellungen des bloß Potentiellen, im Prinzip also Unvollkommenen– , sondern etwas komplett fertiggestellt! »Welches Wort enthielt jemals so viel?« (William Kelly, An Exposition of the Gospel of John ).

»Es« – Was wurde vollbracht?

Auch hier gibt uns Johannes den Schlüssel zum Verständnis in die Hand. (1) Christi Gehorsam. Er berichtet, dass die Werke, die Christus tat, seine Sendung bezeugten: »die Werke, die der Vater mir gegeben hat, dass ich sie vollbringe, die Werke selbst, die ich tue, zeugen von mir, dass der Vater mich gesandt hat« (Joh 5,36). Christi Gehorsam und Widmung wurden auf dem Kreuzesaltar völlig offenbar. (2) Offenbarung des Vaters. Der Apostel Johannes berichtet ferner, dass Christus kurz vor seiner Passion rückblickend zum Vater sagte: »Ich habe dich verherrlicht[4] auf der Erde; das Werk habe ich vollbracht[5], das du mir gegeben hast, dass ich es tun sollte.« (Joh 17,4). Als Jesus ausrief: »Es ist vollbracht!«, war jenes Werk, das ihm der Vater aufgetragen hatte, erfolgreich fertiggestellt. Bei diesem Werk des Sohnes Gottes ging es letztlich darum, den Vater auf der Erde zu verherrlichen, also die Herrlichkeit Seines wunderbaren Wesens und einzigartigen Heilswerks bekannt zu machen, denn: »Niemand hat Gott jemals gesehen; der eingeborene Sohn, der im Schoß des Vaters ist, der hat ihn kundgemacht[6]« (Joh 1,18). (3) Vollkommene Sühnung. Und letztlich sagt uns der Apostel Johannes, dass Christus »das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt«, ist (Joh 1,29.36; vgl. Offb 5,6ff; 21,22–27). Der Apostel Petrus äußert sich in ähnlicher Weise, fokussiert sich jedoch auf das Volk Gottes. Er verbindet die vollkommene Erlösung der »Kinder des Gehorsams« mit ihrem vollkommenen Erlöser: »[Ihr seid] erlöst worden … mit dem kostbaren Blut Christi, als eines Lammes ohne Fehl und ohne Flecken« (1Pet 1,18–19). In Summa: »Denn mit einem Opfer hat er auf immerdar die vollkommen gemacht[7], die geheiligt werden.« (Hebr 10,14).

Ad (2): Am deutlichsten wurde das Kundtun (Darlegen, Erklären) des Vaters durch den Sohn im Sterben Jesu am Kreuz: Jeder kann am Kreuz Jesu nun sehen, dass Gott Liebe ist (1Joh 4,7–12) und dass Gott Licht ist (1Joh 1,5), gerecht und heilig:

  • Liebe: »Denn so hat Gott die Welt geliebt«
  • Licht: »dass er seinen eingeborenen Sohn [als Opfer] gab«
  • Liebe: »damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe.« (Joh 3,16).

Wer auf Christus im Glauben schaut, wer Sein Opfer am Kreuz für sich persönlich in Anspruch nimmt, sich für seine ewige Erlösung und Rettung alleine auf Jesu Person und Werk verlässt, der ist für immer gerettet, ist ein Kind Gottes, das zeitlebens Grund zum Jubeln hat, denn: »Es ist vollbracht!«

»Es ist vollbracht!« – Das muss man besingen!

Jacques Erné (1825–1883) hat den Siegesruf des Sohnes Gottes im 19. Jhdt. (1883?) in ein schönes Loblied gefasst:

Es ist vollbracht,
das große Werk, das schwere.
Gott ist gerecht, Ihm ward nun Seine Ehre
durch Seinen Sohn, der laut verkündet hat;
„Es ist vollbracht!“, „Es ist vollbracht!“

Es ist vollbracht!
Was Gottes Liebe wollte,
was für den Sünder, den verlornen, sollte
zur Rettung und zum ew’gen Heile sein,
das ist vollbracht, das ist vollbracht.

„Es ist vollbracht!“,
durchtönt’s die Ewigkeiten
zu Gottes Lob, zu der Erlösten Freuden;
sie danken Gott, sie beten Jesus an,
dass Er’s vollbracht, dass Er’s vollbracht.

Sprachliche Notizen

[1] κλίνας – Aorist Partizip Aktiv von κλίνω = neigen, beugen. »What is indicated in the statement “He bowed His head,” is not the helpless dropping of the head after death, but the deliberate putting of His head into a position of rest, John 19:30. The verb is deeply significant here. The Lord reversed the natural order. The same verb is used in His statement in Matt. 8:20 and Luke 9:58, “the Son of Man hath not where to lay His head.”« (Vine, W. E. ; Unger, Merrill F. ; White, William, Jr.: Vine’s Complete Expository Dictionary of Old and New Testament Words, 2, s. v. »bow, bowed (Verb)«. Vgl.: Walter Bauer, Das Johannes-Evangelium, 3. Aufl. (Tübingen, 1933), S. 218.
[2] τετέλεσται – Perfekt Passiv Indikativ 3.Pers. Sing. von τελέω = vollenden (nicht nur zum Ende, sondern zur Vollendung führen). Das Verb kommt im NT 28mal vor, in dieser Form nur 2mal im Johannesevangelium (Joh 19,28.30). Die ELBCSV gibt es wieder als: vollenden, zu Ende sein, bezahlen/entrichten (!), vollbringen, erfüllen.
[3] τελειωθῇ – Aorist Passiv Konjunktiv 3.Pers.Sing. von τελειόω = vollkommen machen; »bedeutet die abschließende Erfüllung des gesamten Schriftinhaltes« (Rienecker, Sprachlicher Schlüssel, S. 246). Das Verb kommt im NT 23mal vor, und wird in der ELBCSV auch mit vollenden, vollbringen, vollkommen machen wiedergegeben. Im Vergleich zum verwandten Verb τελέω (s. o.) betont es über die Vollendung hinaus den Aspekt der erzielten Perfektion (Vollkommenheit). Das Verb ist Kennzeichenverb des Hebräerbriefes (9mal: 2,10; 5,9; 7,19.28; 9,9; 10,1.14; 11,40; 12,23). Vgl. die Verwendung bei Johannes in Joh 4,34; 5,36; 17,4.23; 19,28; 1Joh 2,5; 4,12.17.18, sowie in Apg 20,24; Php 3,12; Jak 2,22.
[4] ἐδόξασα – Aorist Aktiv Indikativ von δοξάζω = verherrlichen, erheben, preisen, Ehre geben. Es ist also Feststellung einer bestehenden Tatsache. In dieser Form nur in Joh 12,28 »Ich habe ihn verherrlicht« und hier in 17,4 »Ich habe dich verherrlicht auf der Erde«.
[5] τελειώσας – Aorist Partizip Aktiv von τελειόω = ans Ziel bringen, vollenden. Versteht man dieses Partizip periphrastisch, dann war das Vollenden der Werke (punktueller Aspekt) der Begleitumstand oder die Art und Weise, mit dem bzw. der der Sohn Gottes seinen Vater verherrlichte (= Haupthandlung). Die ESV hat: »having accomplished the work that you gave me«. Das Vollenden war jedenfalls der Zielpunkt der Sendung des Sohnes, vgl. Johannes 5,36: »die Werke, die der Vater mir gegeben hat, damit ich sie vollbringe [τελειώσω – Aorist Konjunktiv Aktiv von τελειόω; Aspekt: punktuell, also feststellend, zusammenfassend betreffs der Absicht des Handelns]«.
[6] ἐξηγήσατο – Aorist Medium Indikativ 3.Pers Sing. von ἐξηγέομαι = darlegen, auseinandersetzen, auslegen, berichten; »etwas völlig bekannt machen durch sorgfältige Erklärung oder durch klare Offenbarung« (Louw, Johannes P., Nida, Eugene Albert: Greek-English Lexicon of the New Testament: Based on Semantic Domains (New York: United Bible Societies, 1996), 28.41; Üb.d.A.).
[7] τετελείωκεν – Perfekt Aktiv Indikativ von τελειόω = ans Ziel bringen, vollenden; mit expliziter Anfügung von εἰς τὸ διηνεκὲς = »auf immerdar«, »ununterbrochen«. Die von Gott Geheiligten sind durch Christi Opfer in einen Zustand versetzt worden, in dem sie ein für allemal und ohne jegliche Unterbrechung vollkommen sind (was Auswirkungen bis heute hat). Da das Opfer Christi für immer und stets vollwirksam gilt, besteht dieser vollkommene Zustand der »Geheiligten« in gleicher Weise immer und stets vollwirksam.


Ad impossibilia nemo obligatur – Zu Unmöglichem ist niemand verpflichtet (?)

Beim Studium der Heiligen Schrift biegt man immer wieder einmal quietschend in Sackgassen falscher Vorannahmen und Denkvoraussetzungen (Presuppositionen), Interpretationsgrundsätzen (Hermeneutik) und Denkweisen (Logik) ab. Dies gilt besonders betreffs der Lehren der Schrift, die uns im Wort beschrieben, aber unserer normalen Erfahrung und „Logik  nicht vertraut, rätselhaft oder unserem menschlich-fleischlichen Denken und Empfinden sogar zuwider sind.

Heilslehre (Soteriologie) – „Logisch“ und/oder biblisch?

Dazu ein fast „klassisches  Beispiel aus der Heilslehre (Soteriologie). Peter Streitenberger schreibt –wie einige lange vor ihm– in seinem Buch Die Fünf Punkte des Calvinismus – Eine Antwort (CMD, 2007) Folgendes: »Es ist ein Fehlschluss menschlicher Logik und in sich widersprüchlich, zu unterstellen, dass das, was Gott dem sündigen Menschen eindeutig und immer wieder befiehlt, eigentlich unmöglich wäre.« (S. 26). Er kritisiert damit Theologen, die er wohl im Widerspruch zu seiner eigenen arminianischen Heilsauffassung sieht. Dank der Vernetztheit der Heilslehre mit anderen Wahrheiten der Schrift verursacht er damit allerdings auch Kollateralschäden an anderer Stelle.

Streitenberger wendet sich in der Vorrede seines Buchs noch gegen die „menschliche Logik, was ihn jedoch im Hauptteil nicht davon abhält, selbst Argumente der Logik anstelle von Aussagen der Heiligen Schrift einzusetzen, siehe Zitat. Dies ist klassische Selbstzerstörung eines vermeintlichen Arguments. Der Irrtum hier ist sogar doppelt, denn (1) beurteilt Streitenberger hier etwas als »Fehlschluss menschlicher Logik und in sich widersprüchlich«, was (2) in der Heiligen Schrift schon an anderer Stelle eindeutig und affirmativ vorkommt. Zum Ersten: Wenn es logisch (richtig) wäre, dann wäre es nicht widersprüchlich und wenn es widersprüchlich wäre, dann wäre es logisch nicht richtig. Was also meint er konkret? Kann man das auch klar sagen?

Streitenbergers Argument lautet: Wenn Gott dem Menschen etwas gebietet, dann bedeute dies, dass der Mensch auch in der Lage sei, dieses Gebot(ene) zu halten. Ein göttlich verordnetes Sollen sei mithin unmoralisch, wenn es das Können/Vermögen des Menschen überschreite. Daher beurteilt er die Aussage als falsch, dass der Mensch etwas, was ihm göttlich geboten ist (z. B. die Buße oder der rettende Glaube; Mk 1,15; Apg 17,30), nicht aus sich selbst heraus tun bzw. erbringen könne. Hier irrt Streitenberger, denn Römer 8,6-7 bezeugt diese Unfähigkeit und Unwilligkeit ausdrücklich: »Denn die Gesinnung des Fleisches ist der Tod, die Gesinnung des Geistes aber Leben und Frieden, weil die Gesinnung des Fleisches Feindschaft ist gegen Gott, denn sie ist dem Gesetz Gottes nicht untertan, denn sie vermag es auch nicht«. Noch klarer kann man wesenhaftes Unvermögen bei gleichzeitigem Verpflichtetsein kaum ausdrücken. Andere Stellen wären dem hinzuzufügen.

Streitenbergers Argument kann auch daran als fehlerhaft erkannt werden, dass uns in der Schrift anhand des Gesetzes das Gegenteil gelehrt wird. Gott hatte eindeutig und unter klarer, scharfer Androhung der ewigen Todesstrafe geboten, dass das Gebot Gottes zu halten sei (z. B. 5. Mose 28,15ff). Er meint es also absolut ernst. Aber er lässt ebenfalls als Wahrheit aufschreiben, dass (außer Jesus Christus) kein Mensch das Gesetz gehalten hat noch je hätte halten können (z. B. Apg 15,10; Römer 3,20–23; 5,20–21). Damit ist gezeigt, dass Gott sehr wohl vom Menschen etwas absolut verlangt (nämlich die Perfektion; z. B. Matthäus 5,48; Jakobus 2,10–11; Römer 3,10), was kein Mensch aus sich heraus zu erbringen vermag. Dieses Beispiel zeigt schon, dass das Argument Streitenbergers (das er mit manchem vor und mit ihm teilt) nicht aus dem Wort der Wahrheit stammen kann, denn dieses Wort ist durchgehend widerspruchsfrei.

Das falsche Argument ist ein alter Hut – aus falschen Quellen gefischt

Dem Kenner der Kirchengeschichte ist nicht verborgen, dass diese Art der Argumentation schon in der Denktradition der „Arminianer” (frühes 16 Jhdt.) oder auch später in der amerikanischen „New Haven-Theology” nach Nathaniel W. Taylor (frühes 19. Jhdt.) auftaucht. Berüchtigt ist auch der angebliche „Erweckungsprediger“ Charles Grandison Finney (1792–1875) und das Bibelseminar in Oberlin (OH, USA, gegr. 1833), dessen zweiter Präsident er war, die die selben falschen Behauptungen vertraten und verbreiteten (jeder könne völlig frei und aus eigenen Kräften das Heil erwerben und absolute Heiligung erreichen).

Die Behauptung »Sollen impliziert Können« ist jedoch als weltlich-heidnisches Rechtsprinzip um einiges älter. Als Grundsatz taucht sie schon in den Digesten (lat. digesta = Geordnetes; didaktische Zusammenstellung von Rechtssätzen) des römischen Rechts auf. Sinnverwandte Prinzipien und Rechtsgrundsätze lauten: »Ad impossibilia nemo obligatur/tenetur« (»Zu Unmöglichem ist niemand verpflichtet«; vgl. BGB § 275 Abs. 2-3); »Lex cogit neminem ad impossibilia« (»Das Gesetz zwingt niemand zu Unmöglichem«); »Ultra posse nemo obligatur« (»Über sein Können hinaus wird niemand verpflichtet«).

Der ungläubige Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) schreibt Ähnliches in seiner Critik der praktischen Vernunft (1788): »Denn, da sie [die reine Vernunft] gebietet, dass solche [Handlungen nach sittlicher Vorschrift] geschehen sollen, so müssen sie auch geschehen können.« (A807, B835). Autonomie ist damit bei Kant Bedingung dafür, dass Moral möglich ist. Autonomie in diesem Sinne ist die Freiheit, nach einem selbst bestimmten Willen zu handeln. Die Absolutsetzung der Autonomie müssen wir aber als Vergottung des Menschen als ethischem Wesen sehen. Kant selbst sagte: »Gott ist also keine ausser mir befindliche Substanz sondern blos ein moralisch Verhältnis in Mir.« ([sic!] Akademie-Ausgabe XXI, S. 149). Damit wird aber die widergöttliche Denkbasis und Denkrichtung schon bloßgelegt. Wo ist Kantsche Philosophie, wo biblische Wahrheit im Argument von Streitenberger?

Dieses im menschlichen Recht gerechterweise oft anzuwendende Prinzip ist aber weder kausale noch logische Implikation: Das Sollen garantiert niemals das Können. Und der Bibelleser weiß zudem sicher: Wenn Gott etwas als Sollen (oder Sein) fordert, ist es stets »heilig, gerecht und gut« (Römer 7,12)!

Es gibt bessere Erklärungen, biblische nämlich

Einige Bibellehrer haben den biblischen Sachverhalt besser ergriffen und mit Begriffen und Metaphern der Bibel erklärt (Schuld, Erlösung, Zurechnung usw.): Nehmen wir an, ein Mensch bekäme für eine gewisse Zeit eine größere Geldsumme anvertraut. Er nimmt hocherfreut die große Summe an, verprasst aber das ganze Geld in Saus und Braus. Zur vereinbarten Zeit kommt der Geber wieder zu ihm und fordert sein Geld zurück. Der Mensch kann aber nichts zurückgeben, ganz einfach deswegen, weil er nichts mehr hat. Außerdem will er gar nichts zurückgeben und streitet jede Forderung ab. Es ist aber völlig klar, dass er die geliehene Summe zurückzahlen muss, denn es war geliehenes Vermögen, es gehört einem anderen. Das faktische Unvermögen liefert hier nicht die Freistellung aus der moralischen Schuld, sondern begründet und vertieft diese zusätzlich. Anders gesagt: Die Forderung des Gläubigers besteht weiter und ist völlig rechtens, auch wenn dem Schuldner die Erfüllung der Forderung faktisch unmöglich ist.

To the Point: Die Forderung nach Rückzahlung der Schuld bedeutet eben nicht, dass diese dem Schuldner faktisch möglich sei. Trotz der Unfähigkeit des Schuldners ist die Forderung des Eigentümers juristisch unanfechtbar und gerecht. – Nun, dies gilt übertragen auch im diskutierten Kontext der biblischen Heilslehre mit Blick auf das menschliche Elend, die Gerechtigkeit Gottes und die Notwendigkeit eines freien Gnadengeschenks vonseiten des Heiland-Gottes. (Das Metapher der Schuld und des Schuldners ist direkt biblisch.)

Ein wesentlicher Denkfehler scheint mir zu sein, dass man die Situation des Sünders, die zu seiner faktischen Unfähigkeit und Unwilligkeit zur Umkehr geführt hat, moralfrei beurteilt, während doch die Heilige Schrift lehrt, dass die Unfähigkeit und Unwilligkeit des in Sünde gefallenen Menschen eine selbstverschuldete ist. Buße und Glauben oder anderen Aktivitäten des Herzens (Willen, Entscheidungen) oder der Hand (Werke) sind nach göttlichem Zeugnis einem Menschen innerlich erst möglich, wenn er diese vorher von außen her empfangen hat. Münchhausen funktioniert auch hier nicht.

Mit Empfang der göttlichen Rettungsgaben ändert sich alles: Es ist alles »aus Gott«, aber durch die freie Gabe Gottes sind im beschenkten Menschen nun Fähigkeit, Wille und gute Tat vorhanden und sein eigen: Es ist dann seine Fähigkeit (Vermögen), sein Wille (Motivation) und seine Tat (Vollbringen). Solange aber das Herz geistlich tot und in der Sklaverei der Sünde verkettet ist, gilt ohne göttliche „Operation am Herzen” (Hesekiel 11,19; 36,26) weiter: »Ihr wollt nicht zu mir kommen, damit ihr Leben habt«, und: »Ihr seid aus dem Vater, dem Teufel, und die Begierden eures Vaters wollt ihr tun« (Johannes 5,40; 8,44). Der ganze Vorgang wird in den Texten von den Segnungen des Neuen Bundes beeindruckend für Israel vorschattend beschrieben (s. z.B. Hesekiel 36,25–36) und im Johannesevangelium vom Sohn Gottes ausgelegt und auf den Glaubenden des NT angewandt. Im Heil kommt es danach nicht zuerst auf die Fähigkeit des Sünders an, sondern auf die Fähigkeit des rettenden Gottes. Er fordert – aber er gibt auch das, was er fordert. Glauben wir das? Dann werden und können wir zugreifen und dann sind wir ewig gerettet.

Gott aber sei Dank, dass ihr Sklaven der Sünde wart, aber von Herzen gehorsam geworden seid dem Bild der Lehre, dem ihr übergeben worden seid! Freigemacht aber von der Sünde, seid ihr Sklaven der Gerechtigkeit geworden.

Römer 6,17-18 (ELB03)


Bekehre mich, damit ich mich bekehre, denn du bist der Jahwe, mein Gott.

Jeremia 31,18b